Rausch der Rache

  • Nicht zum Lesen hier


    Während Semir im Keller Finn befreite, durchsuchten Ben und Alex leise das Erdgeschoß des Mehrfamilienhauses. Sie fanden zwar ein Matratzenlager vor und Getränkekisten, aber Personen hielten sich dort nicht auf. Als sie die Treppen in die obere Etage hinauf schlichen, hörten sie, wie Semir und Finn das Haus verließen. Ben atmete auf, Finn war aus der Schusslinie, dachte er bei sich. Aber als kurz darauf eine polternde Stimme durch das Haus schallte, nämlich als Mario Torres Semir und Finn auf der Straße entdeckt hatte, zischte er: „Fuck“ und verstärkte den Griff um seine Waffe, jederzeit damit rechnend, sich einem die Treppe hinab stürzenden Gegner stellen zu müssen. Aber es kam niemand. Stattdessen hörten sie mehrere Stimmen und laute Tritte in der oberen Wohnung. Mit wie vielen Gegnern hatten sie es hier zu tun? Mario Torres und vier weitere Männer, so wie ihnen Alvarez im Wagen verraten hatte, oder doch mehr?


    Als sie vor der Tür der oberen Wohnung standen und sich zum Stürmen bereit machten, klangen Schreie und Schüsse von der Straße zu ihnen hinauf. Alex lief noch bis zur Tür zur Feuertreppe und blickte hinaus. Er hob drei Finger in Bens Richtung. „Drei Männer sind draußen“, flüsterte er, als er wieder bei seinem Partner war, „vielleicht nur noch zwei hier“. Ben nickte. Das hoffte er auch. Und er hoffte auch, dass es Semir noch gelungen war, Verstärkung zu rufen und vor allem mit dem Jungen zu entkommen. Dann ging er drei Schritte zurück, um mit Anlauf die Tür einzutreten.


    Mit Alex gemeinsam stürmte er in die Wohnung. Die Überraschung war auf ihrer Seite. „Hände hoch, Polizei!“, schrie Alex, „Waffen weg!“ Er unterstrich seine Worte mit einem Warnschuss in die Decke und einem weiteren dicht neben einem Mann der ihm im Flur entgegen kam. Ben rannte an diesem vorbei und warf einen schnellen Blick in die weiteren Räume der Wohnung. Im Wohnzimmer lauerte ein weiterer Mann hinter der Tür und griff ihn an.


    Während Alex kein Problem hatte, seinen Gegner auszuschalten und ihm Handfesseln anzulegen, zu groß war dessen Angst vor Alex‘ Waffe und doch so sehr klein sein Mut in der Abwesenheit von Mario Torres, entfachte sich zwischen Ben und dem anderen ein erbitterter Kampf. Ben hatte Mühe, die Oberhand zu gewinnen und musste einige empfindliche Schläge einstecken.


    Gerade als Alex seinen Gegner kampfunfähig gemacht hatte und Ben zu Hilfe eilen wollte, rollte dieser mit seinem Kontrahenten über den Fußboden und stieß dabei so heftig gegen ein Bücherregal, dass sich eine Lawine von Taschenbüchern über die Kämpfenden ergoss und eine Staubwolke in Richtung Decke schickte. Alex griff den Komplizen von Mario Torres am Kragen und befreite Ben von dessen Griff. „Jetzt ist Schluss“, befahl er, „wir sind schließlich nicht zum Lesen hier!“


    Ben rappelte sich rasch auf und konnte den Mann übernehmen und ebenfalls fesseln. Die Suche nach weiteren Gangmitgliedern im restlichen Haus blieb ohne Ergebnis. So führten Alex und Ben die beiden Festgenommenen aus der Wohnung.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Vom Erdboden verschluckt


    So schnell sein verletztes Bein es zuließ, lief Semir mit Finn an der Hauswand entlang. Hinter ihm hörte er die dröhnende Stimme Torres‘: „Er hat den Jungen! Schnappt ihn euch!“ Semir bog um eine weitere Hausecke, gerade als eine Kugel in diese einschlug und einige Steinbrocken sich aus dem getroffenen Ziegel lösten. Finn schrie erschrocken auf und Semir drückte dessen kleine Hand fester. Sein linker Arm schmerzte, aber er musste diese Hand für Finn benutzen, denn in seiner rechten Hand hielt er seine Pistole. Er drehte sich blitzschnell um und gab schnell zwei oder drei Schüsse ab. Einer ihrer Verfolger fiel auf den Asphalt und regte sich nicht mehr, Torres‘ zweiter Komplize kümmerte sich einige Sekunden um seinen Kumpel, Sekunden, die Semir einen kleinen Vorsprung einbrachten und ihn eine kleine Gasse erreichen ließ, in der er mit Finn verschwand.


    Torres, den es selbst nichtkümmerte, einen seiner Leute verloren zu haben, scheuchte seinen übrig gebliebenen Mann weiter. „Er ist tot! Gerkan lebt! Also kümmre dich um ihn und finde ihn. Er kann ja schließlich nicht vom Erdboden verschluckt sein“, drang sein südamerikanischer Akzent polternd durch die Nacht an Semirs Ohr. ‚Das ist es!‘, dachte der Hauptkommissar. Finn, immer noch an seiner Hand, zitterte vor Angst. Er schaute hoch zu Semir, doch dessen Blick suchte die Gasse ab, bis er gefunden hatte, wonach er Ausschau hielt. „Komm Finn“, sagte er leise, „ich weiß, wohin wir gehen.“ Er zog den Jungen hinter sich her und stoppte mitten auf der Straße, wo er sich hinkniete, seine Waffe auf das Kopfsteinpflaster legte und die Finger in die Löcher eines Kanaldeckels versenkte. „Los, Finn, du musst mir helfen, ich schaffe es nicht mit einer Hand.“ Mit vereinten Kräften schafften Sie es, den Kanaldeckel zu heben und auf die Seite zu schieben. „Wollen Sie da etwa runter?“ – „Ja, Finn, und du zuerst!“ Finn zögerte, aber Semir trieb ihn an. „Es ist unsere einzige Chance, zu entkommen. Hier oben kriegen sie uns, ich bin nicht schnell genug.“


    Der Junge kniete sich am Kanalschacht nieder und ertastete rückwärts mit seinen Füßen die oberste Sprosse der Eisenleiter, die in die Kanalisation führte. Semir wartete und hielt die Gasse im Blick. Dann tat er es Finn gleich und kletterte ebenfalls in den Schacht. Mit seiner unverletzten Hand zog er den Kanaldeckel noch zurück, was ihm mit größter Anstrengung auch gelang. Aber der Versuch, seine linke Hand auch zu benutzen, dankte sein frisch operierter Arm und seine Schulter mit einem stechenden Schmerz, der ihn bewog seinen linken Arm an seinen Oberkörper zu pressen. Kurz meinte er Sterne zu sehen, konnte dann aber mit einigen langen Atemzügen bei geschlossenen Augen dem Schmerz Paroli bieten.


    Semir stieg hinab zum Grund des Kanalschachts, wo ihn nicht nur Finn, sondern auch der feuchte modrige Geruch der Kanalisation erwartete. Gemeinsam gingen sie den unterirdischen, gemauerten Gang entlang. „Vom Erdboden verschluckt, genau wie Torres sagte“, sprach Semir leise zu dem Jungen. In einer Mauernische setzten sie sich und verschnauften.


    Semir zog sein Handy aus der Jackentasche: Mist! Kein Empfang!


    Als Ben und Alex den von Kugeln durchlöcherten Wagen sahen, erschraken sie. Die Reifen und Scheiben waren zerschossen, das Blech von unzähligen Kugeln durchsiebt und Martino Alvarez tot in sich zusammengesunken, die Arme nach oben gestreckt wie zu einem letzten Gruß, erschossen von seinem Cousin Mario Torres oder einem seiner Leute.


    „Was ist hier passiert? Semir?“, stieß Ben aus und Alex setzte die Fragenreihe fort: „Wo ist Finn?“ – „Torres ist hinter ihm her“, mutmaßte Ben, „der will sich jetzt Semir und den Jungen holen.“ – „Wo können sie sein?“ Ben und Alex lauschten in alle Richtungen. „Wir teilen uns auf“, beschloss Ben. „Du willst mich allein lassen?“, fragte Alex mit gespielt entsetztem Gesichtsausdruck. Ben antwortete trocken:


    „Bedenke Alex: Erst auf sich allein gestellt, zeigt sich der wahre Held!“


    „Das hast du sehr schön gesagt, Ben. Du links, ich rechts?“ Sie fesselten die Festgenommen und ließen sie neben Alvarez im Auto zurück.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Showdown


    Alex und Ben hatten sich kaum getrennt, als ein scharrendes Geräusch ihre Aufmerksamkeit erregte. Verursacht wurde es von einem Kanaldeckel, der über Kopfsteinpflaster gezogen wurde. Semir war es nicht gelungen, den Deckel lautlos zurück an seinen Platz zu bewegen, um so zu vermeiden, Torres sein Versteck im Untergrund zu verraten. Nun war Torres ihm mit seinem Komplizen, der gerade den Kanalschacht wieder freilegte, dicht auf den Fersen.


    Ben und Alex sahen sich nur kurz an und rannten dann gemeinsam in die Richtung des Geräuschs. Sie kamen gerade rechtzeitig, um den Kopf des letzten Mannes in der Öffnung verschwinden zu sehen.Als Ben gerade auf der Leiter stand, um den Abstieg zu beginnen, hörte er Schüsse aus mehreren Waffen in der Kanalisation. Mist, Semir und der Junge waren in höchster Gefahr.


    „Gerkan, wir wissen, dass Sie hier unten sind, besser Sie geben auf! Ihre Freunde sind schon tot!“, versuchte der Bolivianer Semir zu entmutigen. Beim letzten Satz zog sich Semirs Brust zusammen, aber er glaubte Torres nicht. Dem Gangster war nicht zu trauen, das konnte er sich auch ausgedacht haben, nur um ihn einzuschüchtern.


    Wieder peitschten Schüsse durch das Gewölbe. Sie verrieten Ben und Alex die Richtung, in die sie sich wenden mussten, um Semir zu helfen. Sie tasteten sich voran. Hinter der nächsten Biegung sahen sie sie. Zwei Männer hatten ihnen den Rücken zugekehrt. Links stand Torres. Er gab wieder Schüsse in den Gang ab, in dem er Semir vermutete. Die Antwort ihres Partners folgte auf dem Fuß. Dann gab seine Waffe nur noch ein „Klick“ von sich, das untrügerische Zeichen, dass das Magazin leer war. Semir war jetzt unbewaffnet und konnte nichts weiter tun, als in Deckung zu bleiben. Er kauerte in einer Mauernische so vor Finn, dass der Junge eingeklemmt zwischen der Mauer und Semirs Rücken saß.


    Der Südamerikaner hielt sich dicht an der Wand und schritt nach vorne. Er gab dabei eine weitere Schussreihe ab.


    Ben blickte den dunklen Gang entlang, wo irgendwo Semir hocken musste, er hörte von seinem Partner nichts mehr. Sollte ihm seine Munition ausgegangen sein? Er und Alex mussten Torres und seinen Komplizen überwältigen, bevor sie Semir erreichten. Ben sah, dass Alex die gleiche Idee hatte und machte sich selbst auch zum Angriff bereit.


    Alex hatte sich langsam dem anderen Mann von hinten genähert, sprang ihm katzengleich auf den Rücken und drehte ihn so, dass er hinter ihm Deckung vor Torres fand. „Torres!“, schrie Alex den Gangsterboss an, als Ben direkt hinter dem Südamerikaner stand „es ist vorbei!“ – „Ach ja? Wer sagt das?“ Torres drehte sich bei diesen Worten zu Ben und Alex um, blickte in deren zwei Waffen und kehrte dabei Semir den Rücken zu. „Brandt“, stieß er wütend aus. „Lassen Sie Ihre Waffe fallen, Torres. Sie kommen hier nicht raus. Geben Sie auch nur noch einen einzigen Schuss ab, sind Sie ein toter Mann!“, befahl Ben.


    Während Torres seine Arme ausstreckte und seine Waffe fallen ließ, erhob sich Semir langsam und schob sich mit seinem Rücken an der Mauer in den Stand. Mit einer Hand bedeutete er Finn in der Nische hocken zu bleiben. Torres hob seine Hände über den Kopf in seinen Nacken. „Keine Bewegung!“, rief Ben und machte einen Schritt auf Torres zu.


    Semir sah es als erster, aber noch bevor sein Mund die Warnung formulieren konnte, hatte der Bolivianer ein Messer hinter seinem Kopf hervorgezogen und auf Ben eingestochen, der überrascht von dem Angriff und dem plötzlichen Schmerz in seinem rechten Oberarm, einen kurzen Augenblick abgelenkt war, Zeit, die Torres zu nutzen wusste, indem er sich kurzerhand zu Boden warf, seine zuvor weg geworfene Waffe ergriff und nun in Richtung Alex schoss.


    „Ben“, schrie Semir vor Entsetzen, als er sah, dass sich auf dessen Oberarm ein blutiger Fleck ausbreitete.


    Alex hatte durch einen Befreiungsversuch des Komplizen, den er im Arm hielt, nur für einen winzigen Augenblick die Deckung verloren und bot Torres ein freies Schussfeld. Nur der Bewegung im Kampf ist es zu verdanken, dass Alex lediglich einen Streifschuss an der Hüfte erlitt. Er schlug seinem Gegner kurzerhand die Waffe an den Kopf, so dass dieser bewusstlos zusammensackte, dann zielte er wieder auf Torres, der sofort nach seinem Schuss herumgefahren war und nun auf Semir anlegte, der nur einige Meter entfernt stand. Zum Abdrücken kam er aber nicht mehr, denn Ben hatte schon reagiert, mit der Hand des unverletzten linken Arms seine Waffe gefasst und Torres in den Rücken geschossen.


    Nun blickte er über den gestürzten Torres hinweg direkt auf Semir, der vor Erleichterung an der Wand lehnte und sich auf einem kleinen Mauervorsprung niederließ, und senkte langsam den Arm mit der Pistole. Ihre Augen trafen sich. „Semir, bist du in Ordnung? Finn auch?“ – „Ja, puh, das war knapp.“ Semir drehte seinen Kopf in Richtung der Mauernische um. „Finn, du kannst rauskommen, es ist vorbei!“ Der Junge ließ sich von ihm in den Arm nehmen. „Jetzt kommst du wieder nach Hause.“


    Ben erblickte das vom Blut getränkte T-Shirt von Alex. „Alex!“, entfuhr ihm, doch der winkte ab, „Ist nur ein Streifschuss. Was ist mit Torres, ist er tot?“


    Ben trat zu dem unbeweglich am Boden liegenden Südamerikaner und drehte ihn auf den Rücken. Seine Augen waren gebrochen. Tot. Vom Mörder Walter Paulsens und der Familie Heinrich ging keine Gefahr mehr aus. Sein Racheplan an Semir und Alex ist ihm nun selbst zum Verhängnis geworden.


    Ben nickte Alex zu. „Ja, Torres ist tot.“ Er ging rüber zu Semir und Finn.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Alles gut


    Nachdem sich auch Ben und Alex vergewissern konnten, dass es Finn gut ging und Ben sich sein Shirt um seinen Oberarm gebunden hatte, um die Blutung aus der Stichverletzung zu stillen, rief Semir mit Bens Handy Frau Schubert an. Diese hatte mit ihrem Mann die Nacht schlaflos im Schwesternzimmer verbracht. „Frau Schubert? Gerkan hier. Hier ist jemand, der Sie sehr gerne sprechen möchte.“ Damit gab er sein Handy an Finn weiter. „Mama!“ Dann brach er in Tränen der Freude aus, „ich komme nach Hause.“


    Semir nahm das Handy zurück. „Wir bringen Ihnen Ihren Sohn zurück, Frau Schubert. In etwa zwei Stunden sind wir bei Ihnen.“


    „Was hast du jetzt vor, Alex?“, fragte Ben. „Was schon, aufräumen, ins Büro fahren, den Bericht schreiben. Wir haben einen strengen Chef, du weißt?“ – „…dem wir soeben das Leben gerettet haben?“ – „Stimmt“, kam nachdenklich von Alex, „und der den Bericht eh‘ nicht vor der übernächsten Woche lesen wird“, spielte er auf Semirs Verletzung an, „wir können uns also durchaus noch etwas Zeit lassen und lieber…“ –„ ... nett und gemütlich frühstücken gehen?“, ergänzte Ben den begonnenen Satz. „So deutlich wollte ich es jetzt nicht ausdrücken, aber das wäre auch meine Idee gewesen, Ben. Ich bin dabei.“


    Semir lauschte dem Dialog seiner Partner und musste schmunzeln, er wusste, dass er sich auf die beiden verlassen konnte und gönnte ihnen den freien Tag. Er selbst wollte jetzt nur eines: mit Andrea und den Kindern nach Hause in ihre eigene Wohnung und ein weiteres dunkles Kapitel ihres Lebens abhaken. Und als hätte Ben seine Gedanken erraten, schlug er vor: „Komm Alex, wir fahren Finn zu seinen Eltern und unseren Chef zu seiner Familie, und dann suchen wir uns ein schönes Café mit einem großen Frühstücksbüffet.“


    Er hielt Semir, der immer noch auf dem Mauervorsprung saß und sich an die Wand lehnte, die Hand hin. Semir schaute ihm ins Gesicht, nickte dann, ergriff die ausgestreckte Hand und ließ sich in die Höhe ziehen. Als er wieder sicher stand, umarmte er seinen Freund und fasste seine Gedanken in zwei Worte zusammen: „Danke Partner!“



    Aufräumarbeiten



    Ben organisierte die Aufräumarbeiten. Mehrere Streifenwagen rückten an, um die Festgenommenen mitzunehmen, mittlerweile war auch der von Alex niedergeschlagene Mann wieder zu sich gekommen. Hinzu kamen drei Leichenwagen für Torres, Alvarez und dem von Semir auf der Straße erschossenen Komplizen.


    Der Dienstwagen war nicht mehr fahrbereit. So fuhr einer der uniformierten Kollegen Alex, Ben, Semir und Finn kurzerhand in einem der Streifenwagen zum Krankenhaus. Er lieh ihnen auch jeweils ein frisches T-Shirt, die er in seiner Sporttasche im Kofferraum fand.


    In der Eingangshalle trennten sie sich. Während Semir mit Finn in sein Zimmer ging, führte Alex‘ und Bens erster Weg in die Notaufnahme. Finn wurde von seinen überglücklichen Eltern im Schwesternzimmer in die Arme geschlossen, die sich gar nicht genug bei Semir bedanken konnten. Semir packte seine Sachen in die kleine Tasche, die ihm erst vor wenigen Tagen Andreas Mutter vorbei gebracht hatte und ging noch kurz ins Bad, um wenigstens ein wenig des Kanalisationsgeruchs von seiner Haut zu spülen. Als der Arzt seine Verbände erneuerte und zu Semirs Erleichterung feststellte, dass sowohl der Arm und die Schulter als auch das Bein das nächtliche Abenteuer gut überstanden hatten, hielt ihn im Grunde nichts mehr im Krankenhaus. Erholen könnte er sich zuhause eh am besten.
    Alex ließ sich den Streifschuss an der Hüfte und Ben den Messerstich am Oberarm verarzten, sie zogen sich die geliehenen Shirts über und holten Semir ab, der mittlerweile mit den Schuberts einen Kaffee getrunken hatte und gerade im Begriff stand, sich von der Familie zu verabschieden.


    Alex‘ Dienstwagen stand noch in der Tiefgarage des Krankenhauses. Ben setzte sich ans Steuer, Semir nahm auf dem Beifahrersitz Platz, und Alex stieg hinten ein. „Jetzt ab zu Andrea“, beschloss Ben, „weiß sie eigentlich schon Bescheid, dass alles vorbei ist?“ Er erhielt keine Antwort und stieß seinen Freund an. „Semir? Hast du Andrea schon angerufen?“ – „Nein, ist doch noch zu früh, und jetzt komme ich ja auch selbst. Ben, hätte ich Alvarez retten sollen?“


    Ben, der schon den Motor gestartet hatte, schaltete den Wagen wieder aus und drehte sich zu Semir um. „Das ist jetzt nicht dein Ernst? Du machst dir jetzt nicht etwa Vorwürfe, dass du zunächst an Finns und deine Rettung gedacht hast? Mario Torres ist tot, der Albtraum vorbei, und du bist auf dem Weg zu deiner Familie. Denk daran, was mit Heinrichs Familie geschehen ist. Wenn Torres das gleiche mit Andrea, den Prinzessinnen und dir gemacht hätte, dann hätte Alvarez das bestimmt ohne mit der Wimper zu zucken geduldet. Nein, Semir, dich trifft absolut keine Schuld.“ – „Aber wir haben ihn seinem Cousin gefesselt ausgeliefert, er hatte gar keine Chance, es war wie eine Hinrichtung.“ – „Der du und Finn nur durch Glück entkommen seid. Was Alvarez bekommen hat, hat er sich selbst zuzuschreiben und auch mehr als verdient.“ – „Das sagt mir mein Verstand auch, aber …“ Dann wurde sein Blick von dem Lichtschein angezogen, den die Tür zwischen der Tiefgarage und dem Treppenhaus freigab, als sie sich öffnete. Hindurch traten Bernd und Maria Schubert, ihren Sohn Finn im Arm haltend. „Schau Semir“, sagte Alex, der bislang schweigsam auf der Rücksitzbank saß, und deutete auf die Familie, „das war es doch wert.“ Semir lächelte und nickte.


    Sie verließen die Tiefgarage des Krankenhauses und das langsam erwachende Köln, dessen Welt wieder einmal etwas sicherer geworden war.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Ben und Ben



    Alex und Ben fuhren mit Semir zum Schutzhaus. Auch Semir zeigte sich wie Ben am Vortag beeindruckt angesichts der Sicherheitseinrichtungen. Sie passierten die Kontrolle am Tor ohne weitere Probleme, weil Dieter Bonrath dort gerade aushalf, und fuhren weiter zum Petershof. Diesmal machte Ben sich nicht die Mühe, den Wagen im Innenhof zu parken, sondern hielt direkt vor dem Haupteingang. Aus der Eingangstür trat ihm ein Polizist entgegen und begrüßte sie. „Die Herren Gerkan, Jäger und Brandt? Sie sind mir vom Tor gemeldet worden. Willkommen auf dem Petershof.“ Semir hielt sich nicht erst mit Höflichkeitsfloskeln auf. „Wo ist meine Familie?“, wollte er gleich wissen. „Kommen Sie mit, sie sind alle im Garten.“


    Er ging ihnen voraus durch einen langen Flur, um auf der hinteren Seite das Haus wieder zu verlassen. Hier war ein großer Garten, von einer etwa zwei Meter hohen Mauer umgeben. Einige Obstbäume standen auf der Rasenfläche, welche von einem schmalen Beet umrandet war. Unter einem der Bäume entdeckte er Andrea, die auf einer Holzbank saß, ihnen den Rücken zukehrte und in einer Zeitschrift blätterte, ohne wirklich darin zu lesen. Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich.


    Ayda und Lilly spielten mit einem kleinen Hund auf dem Rasen. Sie waren die ersten, die die Neuankömmlinge bemerkten. „Papa!“, rief Ayda und lief auf ihn zu, gefolgt von Lilly und dem kleinen Wollknäuel, das so gar nicht verstehen kann, dass seinen neuen Freunde auf einmal aufhörten mit ihm zu spielen. Andrea fuhr herum, warf die Zeitschrift auf die Bank und ging zügig auf Semir zu. Erleichterung sprach aus ihrem Gesicht.


    Semir begrüßte seine Kinder mit einer Umarmung in der Hocke, nahm nur am Rande Notiz von dem Hund, dann richtete er sich wieder auf und schritt Andrea entgegen. Einige Sekunden lang sahen sie sich schweigend in die Augen, dann öffnete Semir seinen unverletzten Arm und Andrea flog in seine Umarmung. „Es ist vorbei, Andrea“, flüsterte er, „wir können wieder nach Hause.“ – „Ist er…?“ – „Ja, vor unseren Augen. Er ist tot.“ Dass auch eine Kindesentführung stattgefunden hatte, und der Sohn der Krankenschwester von ihnen wohlbehalten aus den Fängen der Torres-Gang befreit werden konnte, das würde er Andrea später in Ruhe erzählen. „Und ihr seid alle okay?“ – „Wir sind alle hier, wie du siehst.“ Semir drehte sich um, stand jetzt neben Andrea und blickte auf Ben und Alex. Die Lederjacke verbarg den Verband an Bens Oberarm. Andrea strahlte. Alle Anspannung der letzten Tage fiel mit einem Mal von ihr ab. „Danke“, sagte sie zu den beiden. Sie war sich sicher, dass sie Semirs Leben einmal wieder dem Einsatz dieses Teams zu verdanken hatte.


    „Papa“, wurden sie unterbrochen, „nun guck doch mal.“ Semir wandte sich um. Ayda kam mit dem kleinen Hund auf dem Arm zu den Erwachsenen. „Na, wen hast du denn da?“ – „Das ist ein Hund.“ – „Ach was! Wohnt der hier?“ -„Ja. Aber er sucht ein neues Zuhause. Mama hat gesagt, wir sollen dich fragen, ob wir ihn mitnehmen dürfen.“ – „Bitte!“, bekräftigte Lilly die Worte ihrer großen Schwester. Beide Mädchen sahen ihren Vater mit großen Augen an. Semir bemühte sich ernst zu bleiben. „So so, das hat eure Mama ja clever gemacht. Aber wie stellt ihr euch das denn vor, ein Hund in unserer Wohnung?“ Andrea stieß ihm ihren Ellenbogen in die Seite, als kleinen Hinweis, sich nicht allzu lange bitten zu lassen. Ein kurzer Blick in ihr Gesicht ließ ihn wissen, dass sie dem Familienzuwachs längst zugestimmt hat. „Na, gebt ihn mir doch mal her.“


    Semir ging in die Hocke und nahm den Welpen auf seinen rechten Arm, blickte abwechselnd in die schwarzen Hundeaugen und die braunen Augen seiner Töchter. „Ihr füttert ihn, ihr geht mit ihm raus?“ – „Ja, immer, jeden Tag.“ Sie nickten kräftig, fühlten sich schon fast als Sieger. „Und du“, er blickte den Hund an, „willst du ein Gerkan werden?“ Als Antwort schleckte der Welpe ihm einmal quer über das Gesicht. Semir musste lachen. „Das war wohl ein ‚Ja‘. Willkommen in der Familie, kleiner Mann.“ – „Heißt das, wir dürfen ihn behalten?“ Ayda wollte ihr Glück kaum fassen und begann schon mit Lilly einen Freudentanz auf dem Rasen aufzuführen. „Ja, das heißt es.“


    Semir schaute Andrea an. Ihnen war klar, dass die Hauptarbeit mit dem Hund an ihnen hängen bleiben würde. Aber das nahmen sie gerne in Kauf. Und Semir hatte den kleinen Kerl vom ersten Moment an in sein Herz geschlossen.


    „Hat er denn schon einen Namen?“, fragte er Ayda und Lilly, „wie soll unser Hund heißen?“ Die beiden Mädchen sahen sich an. Das war eine schwere Entscheidung, schließlich musste der kleine Kerl sein Leben lang mit dem Namen herumlaufen. Sie merkten, wie alle Herumstehenden auf die Bekanntgabe warteten. Dann fiel Aydas Blick auf Ben, sie flüsterte etwas in Lillys Ohr und ihre Schwester begann zustimmend zu nicken, und wie aus einem Mund riefen sie: „BEN! Er soll Ben heißen.“


    „Das klingt nach einer einstimmigen Entscheidung“, befand Semir, „tja Ben, du hast jetzt einen vierbeinigen Namensvetter.“ Ben lachte auf. „Das soll mir nur recht sein.“


    Eine Stunde später, Alex und Ben hatten sich längst verabschiedet und waren zu ihrem wohlverdienten Frühstück aufgebrochen, und Ayda und Lilly waren mit dem vierbeinigen Ben beschäftigt, saßen Andrea und Semir immer noch auf der Bank im Garten des Schutzhauses und beobachteten das Spiel ihrer Kinder mit dem Hund. „Was machen wir, wenn unser Vermieter der Hundehaltung nicht zustimmt?“ – „Dann, mein Schatz“, antwortete Semir, „wird er sich neue Mieter suchen müssen, denn Ben geben wir nicht wieder her. Und das gilt für beide.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Epilog


    Mario Torres war tot, erschossen von Ben, als der Bolivianer seine Waffe auf Semir richtete. Martino Alvarez war tot, erschossen von seinem Cousin Mario Torres. Jens Neumann war tot, gestorben, weil er nicht angeschnallt war, als er in den Skoda der Familie Gerkan fuhr. Ein Komplize war tot, erschossen von Semir im Schusswechsel während seiner Flucht mit Finn.
    Drei Komplizen konnten festgenommen werden. Und diese drei packten aus. Anhand ihrer Aussagen konnten in den folgenden Tagen die Wohnungen des Verbrecher-Rings ausfindig gemacht und durchsucht werden. Dabei wurde ein ansehnliches Waffen- und Sprengstofflager entdeckt, sowie mehrere Hundert Kilo Kokain und eine knappe Million Euro sichergestellt. An einer Wand war ein Zettel mit einer handschriftlichen Liste angepinnt, auf der mehrere Namen standen.


    Walter Paulsen
    Klaus Heinrich
    Semir Gerkan
    Alexander Brandt
    Uwe Neugebauer
    Thorsten Ramm
    Kim Krüger


    Zwei von ihnen waren bereits durchgestrichen, die der toten Polizisten Walter Paulsen und Klaus Heinrich. War das die Todesliste von Mario Torres?


    Uwe Neugebauer und Thorsten Ramm waren die BKA-Beamten, die Torres damals in Bolivien aufspüren konnten und ihn dort – wie sie bis vor wenigen Tagen dachten – in einem Feuergefecht getötet hatten. Und Kim Krüger hatte die Ermittlungsgruppe damals mit geleitet. Die beiden BKA-Beamten wurden zwar durch Kim Krüger von der Rückkehr des Mario Torres unterrichtet, meinten aber, sie könnten selber auf sich aufpassen, weil ihre Namen damals auch nicht im Bericht erwähnt wurden, um sie nicht zu gefährden, und hatten sich in den Fall nicht weiter eingemischt. Dass ihre Namen jetzt auf dieser Liste auftauchten, verwundert sie dann aber doch. Das hätte eng werden können.


    Was wäre, wenn Semir den Unfall, der tatsächlich ein Unfall war, nicht gehabt hätte und Jens Neumann nicht zu Tode gekommen wäre? Wenn dadurch der Alukoffer nicht in die KTU gekommen wäre und Hartmut nicht die Fingerabdrücke eindeutig Mario Torres hätte zuordnen können? Hätte Mario Torres diese Liste weiter abgearbeitet, ohne gestoppt werden zu können? Wären ihm womöglich Semir und Alex zum Opfer gefallen, noch bevor sie überhaupt erfahren hätten, dass der Südamerikaner sich wieder in Deutschland aufhielt? War vielleicht das Bekanntwerden seiner Anwesenheit in Deutschland erst Auslöser seines Rachefeldzugs oder hatte die Durchführung seiner Rachepläne beschleunigt?


    Aber, müssen wir uns diese Fragen überhaupt noch stellen, wo doch Mario Torres jetzt bewiesenermaßen wirklich tot war?



    3 Monate später



    Die Jugendgruppe eines norddeutschen Kanu-Clubs verbrachte ihre diesjährige Sommertour auf dem Rhein. In Iffezheim hinter der letzten Staustufe des Flusses – ab dort fließt der Rhein ungehindert bis zu seiner Mündung in die Nordsee bei Rotterdam - hatten sie ihre Kajaks mit dem Campinggepäck beladen zu Wasser gelassen. Sie paddelten von einem Wassersportverein zum nächsten und hatten vor zwei Tagen Köln erreicht. Ihre Zelte schlugen sie für drei Nächte in Rodenkirchen bei einem der dort ansässigen Kanu-Vereine auf und schlenderten einen Tag lang durch die Domstadt. Die einen suchten die Sehenswürdigkeiten, andere fanden sie. Wieder andere machten sich auf, Drehorte aufzusuchen, an denen Szenen ihrer Lieblings-TV-Serie entstanden waren.


    Heute sollte nun nach zwei Tagen Pause ihre Reise auf dem Wasser weitergehen. Sie trieben gerade rheinabwärts inmitten der Strömung des mächtigen Flusses und genossen es, Köln von der Wasserperspektive aus zu betrachten, als ein Mädchen, das sich am Rande der Gruppe aufhielt, einen spitzen Schrei ausstieß. Ihr Kajak war auf ein treibendes Hindernis gestoßen, welches gleich darauf in einem Strudel in Richtung Grund gezogen und damit für die Paddler unsichtbar wurde. Sie hatte sich durch den Zusammenstoß erschrocken, war sie doch vom majestätischen Anblick des Doms und der Hohenzollernbrücke abgelenkt gewesen. „Was hast du, Fatima?“ – „Da trieb etwas im Wasser, ich bin damit kollidiert.“ – „Da ist nichts zu sehen. Bestimmt ein totes Tier, vielleicht ein Schaf, die treiben oft knapp unter der Wasseroberfläche. Oder ein Müllsack. Komm, wir müssen jetzt sowieso weiter zur rechten Flussseite paddeln, da kommt ein Schiff von achtern. Und pass auf, dass du nicht wieder ins Kehrwasser fährst, so wie neulich, bleib in der Strömung.“ Die Worte ihres Jugendwarts beruhigten Fatima, und bald war der Vorfall für die junge Kanutin vergessen.


    Doch zwei Tage später erinnerte sie sich wieder daran, als sie die Tageszeitung aufschlug und einen Bericht über das geborgene „Treibgut“ las.


    Denn noch am Abend desselben Tages, an dem es Berührung mit ihrem Kajak hatte, trieb eben dieses „Treibgut“, zumindest bildete sich Fatima ein, dass es sich um dasselbe „Treibgut“ handelte, in die Einfahrt eines kleinen Hafens, wurde dort von Motorbootfahrern entdeckt und von Fachkräften geborgen.


    Es war kein Tier, wie ihr Jugendwart ihr hatte weismachen wollen, mit dem Fatimas Boot zusammen gestoßen war, auch kein abgetriebener Müllsack, sondern der Körper eines Mannes, der bereits mehrere Tag im Wasser gelegen haben musste, wie die Gerichtsmedizin feststellen konnte. Aber er war nicht ertrunken, sondern erschlagen und anschließend dem Fluss übergeben worden.
    Seine Identität konnte anhand seiner Fingerabdrücke bereits nach kurzer Zeit eindeutig festgestellt werden: es handelte sich um Uwe Neugebauer,


    … Ermittler beim BKA …


    Ende

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