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Komakinder

    • Fertig gestellt
    • Campino
  • Campino
  • 4. März 2015 um 09:16
  • Campino
    Kriminaloberkommissar
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    • 14. April 2015 um 01:44
    • #21

    Semir's Haus - 16:45 Uhr

    Andrea sah nicht gut aus. Sie war bleich, sie hatte Tränenspuren im Gesicht und saß nun in ihrem Wohnzimmer auf der Couch. Lilly hatte sie nach oben zum Spielen geschickt, sie wollte, dass Aydas Schwester so wenig wie möglich von der Tragödie mitbekam. In ihrer Hand hielt sie ein Taschentuch, und sie war so froh, dass Semir endlich nach Hause kam. Doch als sie die schlechten Neuigkeiten, den Fund von Aydas Haarspange am Spielplatz erfuhr, konnte sie ihre Emotionen, auch vor Ben, nur sehr schwer unterdrücken. Mehrere Minuten lag sie in Semirs Armen, der nun mit aller Macht versuchte, souverän und ruhig zu bleiben, um seiner Frau einen Fels in der Brandung zu bieten, an dem sie sich in dieser schweren Situation festhalten konnte. Äusserlich gelang ihm dies, und so redete er Andrea gut zu. "Bleib ganz ruhig, mein Schatz. Die werden anrufen, die bekommen das Geld und Ayda kommt gesund wieder nach Hause." Seine Frau hatte von dem Fall der Komakinder nichts mitbekommen, sie war bei dem Gespräch mit dem LKA nicht dabei, und so verschwieg der Polizist, dass bisher jedes Kind im Koma gefunden wurde, und nur die wieder aufwachten, bei denen das Geld pünktlich und sicher übergeben wurde. "Aber Semir... wer weiß was die verlangen von uns? Du weißt doch selbst, was bei uns los ist, seit wir das Haus gekauft haben. Oh Gott, meine arme Ayda..." Ben trat einen Schritt heran und meinte: "Andrea, mach dir doch darüber jetzt erst mal gar keine Gedanken. Das bekommen wir schon hin. Wichtig ist, dass wir Ayda gesund wieder bekommen." Andrea blickte den jungen Polizisten dankbar an. Ben stammte aus gutem und reichem Hause, sein Vater war erfolgreicher Unternehmer und Multi-Millionär. Der Polizist selbst hielt zwar nicht besonders viel vom luxuriösem Leben, aber für seinen besten Freund in diesesr Situation würde er schon Geld aufbringen, um Aydas Leben zu bezahlen.

    "Mamaaa...!", ertönte Lillys Stimme von oben, und Semirs Frau wischte sich, so gut es geht, die Tränen aus den Augen, bevor sie nach ihrer Tochter sah.Ben nutzte die Situation, als Andrea aus dem Raum war, und zog Semir bei Seite. "Wir wissen beide, was passiert, wenn wir uns an die Anweisungen halten.", sagte er leise mit gedämpfter Stimme. Semir nickte düster, er hatte die gleichen Gedanken ebenfalls schon. "Ayda wird dann im Koma liegen... und wir können nur hoffen, dass sie wieder aufwacht. Aber was willst du stattdessen tun?" "Wir müssen die Geldübergabe überwachen. Ich werde zufällig dort sein, wahrscheinlich wieder am Domplatz, wo die Übergabe stattfindet. Dann werde ich den Typen verfolgen, und wir nehmen ihn fest." Sein erfahrener Partner runzelte die Stirn: "Weißt du denn, was die mit Ayda machen, wenn ihr Bote nicht mehr zurückkommt? Die bringen sie um!", zischte er und sah sofort in Richtung der Treppe, um zu sehen wann Andrea wieder die Treppen herunter kam. "Wenn wir ihn aber laufen lassen, haben wir keinerlei Chance sie zu finden. Wir wissen doch rein gar nichts, oder willst du dich auf das LKA verlassen?" Semir sah sich in einer schrecklichen Zwickmühle. Entweder, sie taten nichts und mussten auf die Entführer hoffen, die Ayda nur in einem normalen Koma mit der Chance auf ein schadenfreies Aufwachen zurückbrachten... oder sie riskierten ihr Leben und ihre Gesundheit, um die Entführer auffliegen zu lassen.
    "Wenn wir nichts tun... dann legst du ihr Schicksal in ihre Hände. Wenn wir aber einen der Entführer haben..." Bens Stimme wurde ein bisschen leiser: "Dann können wir ihn vielleicht gegen Ayda austauschen. Gegen eine Ayda, die wach ist und gesund ist." Der erfahrene Polizist schluckte bei dem kühnen Plan seines jungen Kollegen... aber er fand Gefallen daran, so schwer es ihm fiel Ayda zu gefährden. Taten sie aber nichts, würden sie dem kleinen Mädchen ebenfalls einem gesundheitlichen Risiko aussetzen. "Wenn es mehrere sind, wird der Anführer des Ganzen sicher nicht erfreut sein, wenn sein Mitarbeiter bei uns plaudert.", vermutete der dreifache Vater, und diesmal nickte sein bester Freund. "Du verstehst meine Gedanken."


    Altes Krankenhaus - 17:00 Uhr

    "Ein was???", brüllte Reuter fassungslos durch den großen Saal des alten Krankenhauses, so dass die verbliebenden alten Fensterscheiben zitterten. Zange und Cablonsky wollten am liebsten im schmutzigen Boden mit den gerissenen Fliesen versinken, als sie gerade die Infos ihres Hackers überbrachten. "Ihr entführt nicht nur das falsche Kind... ihr entführt auch noch ausgerechnet das Kind eines Polizisten???" "Mensch Reuter... das ist ein echter Zufall. Da könntest du Lotto spielen, und die Möglichkeit zu gewinnen wäre...", wagte Zange als erstes seine Stimme zu erheben, und wurde von Reuter direkt unterbrochen: "Ihr wärt auch noch zum Lotto spielen zu blöd. Mein Gott...", stöhnte er und fuhr sich mit den Fingern durch die Augen. Reuter fühlte sich den beiden Profi-Kidnappern geistig haushoch überlegen, weshalb er sich erlaubte, so mit ihnen umzugehen. Doch während Zange eher der zahme Handlanger war, war Cablonsky ein skrupelloser und mitunter auch brutaler Verbrecher, der sich so selten gängeln ließ. "Nun halt mal die Luft an, Mediziner.", knurrte er. "Die Beschreibung war mehr als vage, und dass es ausgerechnet die Tochter eines Bullen ist, stand auch nicht auf ihrer Stirn geschrieben." Vor Cablonsky hatte Reuter nicht unbedingt Angst, auch keinen Respekt... aber er würde sich nicht mit ihm anlegen. Der Mann war Mediziner, war in seinem Wesen auch kriminell, aber nicht brutal, so dass er sich körperlich gegen Cablonsky wehren könnte. "Also: Hier sind die Infos von unserm IT-Spezi über den Bullen. Mach was draus, oder sag uns Bescheid, was wir mit der Göre anfangen sollen." Missmutig knallte er ihm einen ganzen DIN-A4-Hefter auf den Tisch, so dass die komplizierten Glaskolben klirrten und erzitterten. Reuter rückte seine Brille zurecht und schlug den Ordner auf. "Na schön...", meinte er mit beruhigter und souveräner Stimme. "Wir werfen kein Geld zum Fenster raus. Wenn der Bulle zahlen kann, soll er zahlen. Und danach verschwinden wir von hier."

    Zange und Cablonsky schauten etwas erstaunt auf. "Wir... verschwinden?", fragte Zange zuerst ein wenig missverständlich, und Reuter drehte sich von den Akten wieder weg. "Ja. Wir brechen ab, verstehst du? Wir packen zusammen und setzen uns ins Ausland ab, in ein Land, das kein Auslieferungsabkommen mit Deutschland hat. Dort werde ich meine Forschungen zu Ende führen, denn eventuell reicht uns das Geld dann. Wenn nicht, müssen wir warten." "Warum?", fragte nun Cablonsky und Reuter verdrehte ein wenig die Augen. "Wisst ihr, wozu Väter in der Lage sind?", fragte er eine rhetorische Frage und blickte in zwei kinderlose Gesichter. "Nein, das wisst ihr nicht. Aber ich weiß es. Väter würden töten für ihre Kinder. Ärzte, Geschäftsmänner, Ingenieure... können das normalerweise nicht. Aber ein Bulle..." Er unterbrach den Satz für einen Moment und sah die beiden Männer ausdruckslos an. "Der wird uns jagen, bis er uns hat. Und das wird er nicht können, wenn wir nicht mehr da sind." Das leuchtete nun auch den beiden Kidnappern ein und sie nickten. Reuter las alles, was der IT-Spezialist über Semir rausbekommen hatte. Adresse, Bilder in Zeitungen, dazu seine Dienststelle und alle Kollegen, die dort arbeiteten. Ein Online-Bericht über den Geburtstag der Dienststelle. "So können wir sichergehen, dass bei der Übergabe niemand dabei ist, der von den Bullen kommt. Ausserdem weiß der Bulle, wozu wir fähig sind, wenn nicht alles so läuft, wie wir das wollen.", sagte Reuter zufrieden. Er warf den beiden das Bild hin. "Prägt euch die Gesichter ein. Wenn ihr einen davon irgendwo bei der Übergabe zu Gesicht bekommt, brecht ihr das ganze ab." Die beiden Kidnapper nickten ihrem Boss zu. "Und denkt dran, was wir besprochen haben, wenn einer von euch gefasst wird." Wieder nickten die beiden. Reuter hatte ihnen eingehämmert, wie sie sich dann zu verhalten hätten, was sie verraten sollten und was nicht.

    Er war zufrieden. "Na schön. Dann ruft ihr unseren Freund und Helfer gleich an. Übergabe morgen früh, 100.000 Euro. Das sollte für einen Beamten zu schaffen sein." Er klappte die Notizen zu, genauso wie seine Aufzeichnungen. Wenn sie die Tage nun hier weg mussten, musste er noch einige Vorbereitungen treffen.
    "Boss?", fragte Zange noch, bevor die beiden Kidnapper aus dem Raum traten. "Was denn noch?" "Was machen wir mit den drei Kindern in dem Haus?" Reuter dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. "Dazu haben wir keine Zeit mehr. Nach der Übergabe morgen müssen wir verschwinden. Wir lassen den Bullen seine Tochter finden, und das Haus wird sich..." er lächelte kurz... "von selbst erledigen. Da habt ihr hoffentlich alles vorbereitet?" Die beiden bestätigten dies, und verließen endgültig den alten Saal.
    Draussen knurrte Cablonsky: "Der Sack bildet sich echt ein, mit mir so reden zu können. Na warte... morgen werden wir ja sehen, wie der Hase läuft."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen

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    • 15. April 2015 um 03:55
    • #22

    Semir's Haus - 17:30 Uhr

    Sie hatten es alle zusammen besprochen... Semir, Ben und Andrea. Sie saß im Sessel, hatte die Hände gefaltet und hörte beinahe atemlos die Worte ihres Mannes. Semir sagte immer noch nichts von ihren Kenntnissen zu den Komakindern, aber er brachte seine Erfahrung ein bei Entführungen. "Die werden verlangen, dass wir die Polizei nicht verständigen. Natürlich werden wir nicht das SEK einschalten, aber lass uns die Chefin einweihen, damit wir freie Hand haben, wenn wir einen der Geiselnehmer festnehmen können." Vorher hatte er Andrea in den Plan eingeweiht, den er vorher mit Ben besprochen hatte, bzw den Ben vorgeschlagen hatte. Die zweifache Mutter war alles andere als begeistert davon, und sie protestierte wegen des großen Risikos um Ayda. Der erfahrene Ermittler hatte ihr gut zu geredet und an Andrea's eigene polizeiliche Erfahrung appeliert. Wie oft passierte es, dass Geiselnehmer ihre Geiseln einfach wieder freigelassen hatten? War es nicht besser, selbst aktiv zu werden, so wie es die Polizei, die man einschalten sollte, auch tun würde. Unzählige Studien hatten die beiden Beamten in ihrer Ausbildung darüber lesen müssen. Andrea war überzeugt, und stimmte dem Plan letztendlich zu.
    Die Minuten verronnen, und kamen dem Ehepaar wie Stunden vor. Ben wich nicht von ihrer Seite, er war müde und hungrig, doch die Angst um Ayda betäubte jegliche menschliche Empfindungen. Sie hatten zweimal auf dem Handy der Chefin versucht anzurufen, doch sie war nicht dran gegangen. Das Handy hielt Semir fest umklammert, als hätte er Angst, nicht schnell genug abzuheben, wenn sich die Entführer melden würden.

    Als es klingelte, schien der Polizist aufzuschrecken. "Ja, Gerkhan!", rief er hastig in den Hörer, ohne auf das Display zu schauen. "Semir? Sie haben mich zweimal versucht anzurufen. Was gibts denn so Dringendes?", hörte er die Stimme seiner Chefin am Ohr, und atmete auf. "Chefin... ich muss ihnen etwas sagen." Er blickte sich kurz um, und bemerkte dass Andrea wieder bei Lilly in ihrem Zimmer war... er konnte offen reden. "Chefin, anscheinend ist meine Tochter entführt worden.", sagte er ohne Umschweife und ohne große Erklärungen. "Was sagen sie da?", war die durchaus geschockte Reaktion der Chefin. Sie kannte Semir schon seit Ewigkeiten und war natürlich auch in der Familie ein gern gesehener Gast, sie kannte auch die Kinder. "Sie meinen... diese Koma-Geschichte?", fragte sie dann nach und Semir nickte, was die Chefin freilich nicht sehen konnte. Er ging, wie ein Tiger im Käfig durch den Raum während des Telefonats und konnte keine Sekunde still stehen. "Dann müssen wir das LKA informieren." "Nein!", sagte Semir sofort energisch. "Genau das dürfen wir nicht. Das ist mir zu gefährlich." "Aber Semir... das LKA hat die meisten Infos über den Fall. Die können ihnen viel effektiver helfen." "Chefin, ich vertraue das Leben meiner Tochter nur mir selbst an oder höchstens Ben. Und niemandem vom LKA. Ich rufe sie an, weil ich hoffe, dass sie uns unterstützen, wenn es hart auf hart kommt." Er konnte die Chefin hörbar ausatmen hören, ein Geräusch, als würde sie sich erst einmal hinsetzen müssen. "Okay, Semir. Was haben sie sich ausgedacht?" "Wir warten momentan noch auf den Anruf. Bei der Übergabe wird Ben den Boten, der das Geld holt, verfolgen und wir versuchen ihn zu verhaften. Wir bringen ihn auf die Dienststelle und versuchen mit den Geiselnehmern ein Tauschgeschäft... Ayda im wachen Zustand gegen ihren Mann." "Semir... sie wissen, dass das gegen jegliche Regeln verstößt, wenn wir einen gesuchten Geiselnehmer laufen lassen." "Wir versuchen erst Ayda im gesunden Zustand zurück zu bekommen. Dann kann das LKA machen was es will.", sagte der erfahrene Ermittler und spürte, dass die Chefin noch viel zu sachlich dachte.

    "Und sie denken, die steigen darauf ein? Halten sie das alles nicht für zu riskant?", fragte die Stimme der Chefin aus dem Handy. "Chefin, sie haben es doch heute mittag gehört. Jedes Mädchen, ob bezahlt wurde oder nicht, wurde im Koma gefunden. Manche wachen auf, manche wachen nicht mehr auf. Aber dass sie im Koma liegt, ist sicher. Wenn wir die Bande mit einem ihrer Männer unter Druck setzen können, haben wir wenigstens eine Chance." Semirs Stimme klang verzweifelt, und es bereitete im Magenschmerzen, die Gesundheit von Ayda zu riskieren. "Glauben sie mir, Chefin... ich habe dabei selbst kein gutes Gefühl. Aber es ist immer noch besser, als den Gangstern einfach zu vertrauen." Frau Engelhardt konnte Semir gut verstehen, und sie nickte am Telefon. "Na schön. Mein Okay haben sie. Holen sie sich Hartmut zur technischen Unterstützung ins Boot, und halten sie mich auf dem Laufenden.", sagte sie nach kurzer Bedenkzeit. Semir war froh, dass er sich auf seine Chefin verlassen konnte, sie würde ihre Männer decken, falls etwas von dieser illegalen Aktion bis zum LKA durchdringen würde. "Danke, Chefin."
    Nach diesem Telefonat wählte Semir mit zittrigen Fingern die Nummer von Hartmut Freund, dem Leiter der KTU. Er war ein Computer-Genie und mit verfügte über ein breites Fachwissen von Chemie und Physik... ein moderner MacGyver, wie Ben zu sagen pflegte. Er sagte den beiden Polizisten sofort Unterstützung zu, wenn es zur Übergabe kommen würde, und zapfte sofort Semirs Telefon- und Handyanschluss an. "Du weißt aber auch, dass du damit in Teufels Küche kommen kannst, wenn das rauskommt.", warnte ihn Semir noch. "Ach Semir... mit euch kann mich nichts mehr schocken.", meinte der rothaarige Beamte und lachte. "Danke, mein Freund.", sagte Semir erleichtert, und trennte die Verbindung.

    Wieder war Warten angesagt... und es machte Semir beinahe wahnsinnig. Er lief von der Küche ins Wohnzimmer, sah aus dem Fenster in den Garten, wo es bereits dunkelte, weil die Tage immer kürzer wurden. Dann saß er mal auf der Sofalehne, stand wieder auf um durch den Flur wieder ins Wohnzimmer zu gehen. Ben, der selbst nervös war, sah seinem Partner hinterher. "Semir, bitte sitz mal still... das ist ja nicht zum Aushalten.", sagte er irgendwann. Der Beamte sah auf die Uhr und hätte schwören können, es wäre schon nach 9, dabei war es gerade mal viertel nach 6.
    Das Telefon klingelte, als gerade Andrea mit Lilly auf dem Arm, die es im Kinderzimmer nicht mehr ausgehalten hatte, ins Wohnzimmer kam. Sie blieb, kreidebleich wie sie war, im Türrahmen stehen während Lilly unbeschwert und frei von Sorge auf Bens Schoss sprang. "Gerkhan...", meldete sich der Polizist und ging in die Küche, damit Lilly nichts mitbekam. Andrea folgte ihm und sie hatte dabei das Gefühl, als würden ihr die Beine nachgeben. "Herr Gerkhan... es freut mich, sie kennen zu lernen.", hörte er eine computerverzerrte Stimme am Telefon, die ohne Dialekt und hochdeutsch sprach. "Wer sind sie?", war der erste Affekt, der Semir in den Sinn kam. "Mein Name tut nichts zur Sache. Und ich denke, sie interessiert es viel mehr, wie es ihrer Tochter geht." Ein Zucken ging durch Semirs Muskeln, als endgültig und unumstößlich klar war, dass Ayda entführt wurde. Er musste sein Blut unter Kontrolle halten, um dem Mann nicht die schlimmsten Verwünschungen durch den Hörer zu schicken, die er auf Lager hatte. "Was ist mit Ayda?", fragte er mit zusammengepressten Zähnen. "Es geht ihr gut... noch. Alles Weitere hängt von ihnen ab.", sagte die Stimme, als hätte sie den Text einstudiert.

    Semir war bereit für die Forderungen, und wollte den Geiselnehmer in keinster Weise provozieren. "Was wollen sie?" "100.000 Euro. Morgen früh um 9 Uhr an der Domplatte. Ihre Frau bringt das Geld in einer Sporttasche. Ohne Sender, wenn es geht." Semir unterbrach die Stimme sofort: "Nein! Ich werde ihnen das Geld bringen, und..." "Herr Gerkhan... ich glaube, sie sind nicht in der Lage irgendwelche Forderungen zu stellen.", wurde wiederum der Polizist unterbrochen. "Ausserdem wissen wir über sie Bescheid, und das Risiko ist uns zu groß. Ihr Frau wird das Geld übergeben. Sie wird von einem Mann angesprochen, und erfährt alles Weitere." Semirs Herz schlug ihm bis zum Hals, als er seine Frau ansah, die irritiert den Blick erwiederte. AUch Ben stand mittlerweile im Türrahmen, nachdem er Lilly einen Zeichentrickfilm angeschaltet hatte. "Na schön...", willigte Semir schließlich ein. "Achja, und noch etwas. Natürlich beobachten wir sie dabei. Wenn wir allerdings einen ihrer Kollegen, etwa ihren zotteligen Partner, den Dickwanst oder die dürre Bohnenstange oder sonst irgendjemand von ihrem Revier auch nur zufällig in der Nähe ihrer Frau sehen, wird ihre Tochter das Licht der Sonne nie wieder erblicken. Wir haben uns über ihren Arbeitsplatz erkundigt. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt." Dem Polizisten rutschte nun das Herz in die Hose, und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Die Stimme trennte die Verbindung und ersparte sich das obligatorische "Keine Polizei", dass er ja mit der Aufzählung von Semirs engsten Kollegen schon abgehandelt hatte. Langsam ließ Semir das Handy vom Ohr sinken.
    "Was hat er gesagt?", fragte Andrea sofort und sah ihren Mann flehend an. "Er ... er hat gesagt, dass du... das Geld übergeben sollst. Morgen früh auf der Domplatte." Auch Andreas Herz schlug nun schneller als zuvor, aber für ihre Tochter würde sie durchs Feuer gehen, und nickte stark.

    Semirs Handy klingelte erneut, diesmal war Hartmut dran: "Ich habe mitgehört. Tut mir leid, Semir. Der Anruf kam über einen VOIP-Anbieter aus dem Internet. Das Signal wurde über Proxys aus Arabien umgeleitet. Keine Chance zurück zu verfolgen. Braucht ihr etwas für morgen?" Semir verneinte und bedankte sich bei Hartmut für dessen Hilfe. Dann blickte er zu Ben rüber: "Die Kerle kennen unser Revier... und jeden, der da arbeitet. Wenn sie einen in der Umgebung des Übergabeortes sehen, bringen sie Ayda um.", sagte er mit leiser Stimme. Andrea wurde wieder blasser, und Ben entglitt ein leises "Scheisse." Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. "Dann muss jemand Anderes die Übergabe beschatten.", sagte er dann, aber Semir schüttelte den Kopf: "Niemals. Es geht um meine Tochter, Ben. Du bist der Einzige, dem ich in dieser Situation vertrauen würde." Ben fühlte sich geehrt, aber er schüttelte überzeugt den Kopf. "Nein... da gibt es noch Jemand. Und der würde uns garantiert helfen!"

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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    • 16. April 2015 um 00:23
    • #23

    Semir's Haus - 2:00 Uhr

    Semir wälzte sich in seinem Bett hin und her, und wollte einfach keinen Schlaf finden. Er hörte Andrea neben sich atmen, sich im Bett umherwälzen, auch sie wollte einfach nicht einschlafen. Immer wieder begannen sie zu reden, über Ayda, über den morgigen Tag. "Glaubst du, sie werden ihr was tun?", war dabei Andrea's häufigste Frage. Die Ungewissheit, war das Schlimmste, was sie quälte. Was würde morgen passieren, wenn sie das Geld übergeben musste? Würden sie ihre Tochter sofort zurückbekommen? Würden sie weiter auf eine harte Geduldsprobe gestellt werden? Die Frau malte sich die Übergabe hundert und tausend Mal im Kopf aus... und immer wieder überkam sie die Gänsehaut der Angst. Semir versuchte sie zu beruhigen. "Tu einfach nur, was die Stimme am Telefon sagt... und alles wird gut werden, mein Schatz.", sagte Semir leise und hielt unter der Decke die eiskalte Hand seiner Frau, die einfach nicht zur Ruhe kommen wollte, und zitterte wie Espenlaub. Es war erstaunlich, dachte Semir, wie ruhig und souverän er war, wenn jemand bei ihm war, der noch ängstlicher war. Sobald er mit Ben alleine war, so hatte er das Gefühl, das Nervenbündel zu sein.
    Die Eheleute sprachen nochmal alles durch. Semir würde seine Frau morgen früh an der Domplatte absetzen und dann zu Ben in einen Lieferwagen steigen, der mehrere Straßen entfernt stand. Dort konnten sie mit Kevin kommunizieren, der die Geldübergabe beobachten sollte, und den Boten danach verfolgen sollte. Ben hatte die Idee, nachdem klar wurde, dass die Entführer alle Beamten der Dienststelle kannten, Kevin anzurufen und zu fragen, ob er ihnen helfen konnte.

    Ben hatte sich vor dem Anruf erst geziert, weil zwischen ihm und Kevin immer noch die Sache mit Jenny stand... auch wenn er es mittlerweile wusste, und scheinbar auch als okay einstufte. Trotzdem war Ben ein wenig mulmig, als er Kevins Nummer gewählt hatte. "Ja?", meldete sich die, meist etwas gelangweilte, und diesmal auch nicht wirklich gut gelaunte Stimme von Kevin am Handy. "Hey Kevin... hier... ist Ben." Dem jungen Polizisten schien es länger vorzukommen, bis er die Stimme seines Freundes wieder hörte. "Ben? Was gibts?", fragte er. Kein "Wie gehts?", kein "Was machst du so?", und auch die Frage, die er stellte hörte sich eher so an, als müsse er sie jetzt unbedingt stellen, damit das Gespräch weiter geführt werden konnte. Ben fühlte sich unwohl. "Wir... wir brauchen deine Hilfe.", kam er ohne Umschweife aufs Thema, und wartete auf eine Reaktion. Als keine Reaktion des schweigsamen Polizisten kam, räusperte sich Ben kurz und erklärte in knappen Worten, was vorgefallen war. Kevin hatte bisher keine besondere Bindung zu Semirs Töchtern, jedoch fühlte er sich mit dem erfahrenen Polizisten sehr verbunden, so dass er gebannt zu hörte. "Wir wollen den Kerl schnappen, weil wir uns nicht darauf verlassen wollen, dass sie Ayda einfach freilassen. Allerdings ist das keine offizielle Polizeiaktion. Deswegen könnte es Probleme für uns geben, wenn das rauskommt.", warnte er seinen Kollegen, der bereits einige Akteneinträge in der Personalakte hatte, vor.
    Doch Kevin überlegte nicht lange... für ihn war es gar keine Frage, ob er half oder nicht. "Wann gehts los?", fragte er sofort und Ben atmete auf. Kevin stellte seine persönliche Aversion, die er vielleicht gegen Ben hegte, nicht in den Vordergrund, was er aber auch nicht erwartet hatte. "Die Übergabe ist morgen früh um 9 Uhr. Wir treffen uns aber um 8 bei dir, um dich zu verkabeln. Dich kennen die Geiselnehmer nicht, und wir sind nicht sicher, ob sie vielleicht Semirs Haus oder die Dienststelle beobachten." "Alles klar.", sagte der junge Polizist, und Ben bedankte sich bei ihm. Und er wusste, dass die beiden, wenn diese Sache vorbei war, unbedingt ein klärendes Gespräch führen mussten.

    Andrea schien eingeschlafen zu sein, wie Semir jetzt hören konnte. Ihr Atmen war leise und gleichmäßig, sie wälzte sich nicht mehr im Bett umher. Die Zahlen seines Digitalweckers zeigten bereits halb 3, als er ein Geräusch vernahm. Es war ein leises Knarren, wie von einer Tür, und ließ seine Augen weit aufreissen. Langsam erhob sich der Polizist aus dem Bett und stand auf. Gerade, als er im Dunkeln zu der Schlafzimmertür tapste, hörte er ganz deutlich, wie die Haustüre unten ins Schloß fiel. Dem Polizisten rutschte das Herz in die Hose, aber er musste nachsehen... wollte da jemand auch noch Lilly entführen? Die Gangster vielleicht?
    Aus dem Tresor im Schlafzimmer nahm sich Semir seinen privaten Trommelrevolver, ohne Andrea zu wecken, und trat auf den Flur. Im Flur war es dunkel, nur das Mondlicht erhellte ein wenig den Gang bis zur Treppe. Von unten waren keine Geräusche zu hören, als der Polizist den Revolver mit festem Griff umklammerte und sich langsam zur Treppe fortbewegte. Die Stufen schienen lauter zu knarren als sonst, der Revolver in seiner Hand fühlte sich glühend heiß an, er hielt ihn vor sich, zielte blind in die Dunkelheit, bereit sofort abzudrücken, wenn jemand vor ihm stand. Er spürte einen kalten Lufthauch an seinem Schlaf-Shirt, als er unten ankam, und sein Atem stockte, als er die offene Haustüre sah... und was vor ihr lag.
    Sie war ein blutiges Bündel. Ihr weißes Oberteil, was sie an diesem Tag in der Schule an hatte, war mit blutüberströmt. Ihre Haare waren zersaust, ihre Augen offen und ihr Blick klar. Ihr kleiner Brustkorb hob und senkte sich noch, aber von ihrem Körper ging keinerlei Reaktion aus. "Um Gottes Willen...", rief Semir laut, und seine Beine wollten nachgeben, als er Ayda direkt vor der offenen Haustüre da liegen sah. Es kam ihm vor, als könne er sich nur langsam zu ihr bewegen, als würde irgendetwas ihn aufhalten, als er vor ihr auf die Knie fiel. Sie lebte, zeigte jedoch keine Reaktion, ihr Gesicht war makellos und Semir konnte nicht sagen, woher das ganze Blut kam, was ihr Shirt getränkt hatte und um sie auf dem Boden verteilt. Sie blickte mit stummen Blick ihrem Vater in die Augen, der sie leicht schüttelte und in Panik geriet.

    Wie in Trance schreckte Semir auf. Sein Gesicht war schweißüberströmt, und es dauerte einen Moment bis er sich orientierte, und wahrnahm, dass er in seinem Bett saß. Seine Wecker zeigte 4:15 Uhr an, und Andrea schlief neben ihm, nachdem sie sich eine Schlaftablette genommen hatte. "Oh Gott...", seufzte Semir, und begriff endlich, dass es ein entsetzlicher Alptraum war, den er hatte. Er stieg aus dem Bett, ging ins Badezimmer und schlug sich zwei Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht. Dabei sah er im Schein des Spiegellichtes in eben diesen, er sah seine braunen Augen, mit leichten Augenringen. Die Sorge um seine Tochter, diese Ungewissheit, machte ihn fertig. Es war der zweite Alptraum innerhalb zweier Nächte, seit er in diesen Fall der Komakinder involviert war. Niemals hatte ihn ein Fall so sehr mitgenommen, und jetzt war seine eigene Tochter entführt worden. "Ich rette dich, Ayda.", sagte er leise zu seinem Spiegelbild, als würde er es vor einer unsichtbaren Macht schwören müssen. "Ich lasse dich nicht alleine, mein Schatz." Seine Augen zeigten Entschlossenheit, als er auf dem Waschbecken gebeugt in die Spiegel sah, und sich das Licht über dem Spiegel in seinen Pupillen brach...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    • 16. April 2015 um 23:16
    • #24

    Domplatz - 8:45 Uhr

    Es schien ein herrlicher sonniger Herbsttag zu werden, denn der Morgen begrüßte alle mit Sonnenschein und bunten Farben, sogar die Vögel trauten sich noch einmal heraus in den Tau. Vergessen war der Sturm und der Regen vor einigen Tagen, doch keinem der Polizisten war wirklich nach guter Laune zu Mute. Semir ließ seine Frau gerade in der Nähe der Domplatte aus dem Auto steigen, und die beiden umarmten sich noch einmal innig. "Mach dir keine Sorgen. Kevin ist in deiner Nähe, und es wird nichts passieren.", sprach Semir Andrea noch einmal leise Mut zu. Sie wollte stark sein, sie wollte mutig sein und nickte tapfer, ohne weitere Tränen zu verdrücken. Die Sporttasche mit den 100.000 Euro, die sie gestern abend noch fix von Ben's Konto geholt hatten, hatte sie fest an sich gedrückt. "Ich liebe dich...", sagte sie leise, bevor sie ihren Mann noch einmal küsste. "Ich liebe dich auch, mein Schatz.", antwortete der Polizist, und erst jetzt konnten sie sich aus der innigen Umarmung lösen. Es fiel dem Polizisten schwer, seine Frau alleine in diese "Mission" gehen zu lassen, aber auch er versuchte stark zu sein. Andrea schritt mit schnellen Schritten in Richtung Domplatz, Semir fuhr einige Straßen von dem Domplatz weg, dort wo er sich sicher fühlte.
    Mit einem vereinbarten Klopfzeichen klopfte er gegen die Hintertür eines schwarzen Transporters, aus dem Ben ihm die Tür öffnete. Ihnen saßen er und Hartmut, der dafür sorgte, dass sie über Funk mit Kevin sprechen konnten. "Und, wie siehts aus?", fragte Semir sofort, aber Ben beruhigte ihn: "Alles in Ordnung. Wir haben Kontakt zu Kevin, er behält alles im Blick."

    Andrea kam auf der Domplatte an, und blickte sich um. Viele Menschen waren unterwegs, viele Touristen, junge Männer, ältere Frauen, Menschen mit Fotoapparate, die Bilder des prächtigen Kölner Doms machten. Die Frau kam sich etwas verloren vor, sie spürte ihre feuchten Handinnenseiten vor Aufregung. Immer wieder blickte sich Andrea um, ob ein Mann oder eine Frau sie mit festem Blick ansah, auf sie zukam, oder ihr zuwinkte. Mit einer Hand hielt sie dann die Sporttasche fest, die andere presste sie immer wieder auf ihre Hosentasche, in der das Handy ruhte, falls der Geiselnehmer noch einmal anrufen würde. Immer wieder erblickte sie auch einige kleine Mädchen, die auf dem Domplatz fangen spielten, und sie hoffte so sehr, dass ihr plötzlich Ayda laut lachend entgegen laufen würde, damit dieser Alptraum endlich ein Ende hatte.
    Dann bemerkte sie einen Mann, der sie ansah. Er saß auf dem Boden vor einem Kleidergeschäft, seine Jeans war zerissen, ein Bein hatte er angewinkelt, das andere darunter und auf das Angewinkelte hatte er einen Arm gelegt. Die Flasche neben ihm enthielt jenen hochprozentigen Alkohol, der von der vorabendlichen Sauftour übrig geblieben war, doch diesmal würde der Mann neben der Flasche einen Teufel tun auch nur einen Schluck davon zu trinken. Kevin hatte in Kalles Schrank eine uralte Lederjacke von ihm gefunden, aus Jugendzeiten, mit Parolen und Sprüchen bemalt. Er sah aus wie ein Penner aus der Gosse, seine abstehenden Haare taten ihr Übriges dazu. Mit seinen hellblauen Augen verfolgte er Andrea mit jedem Schritt, und von diesem Geschäft aus hatte er eine hervorragende Übersicht über den kompletten Domplatz. Das einzige, was nicht zu einem Penner passte, war der mikrokleine Knopf im Ohr, und der nicht sehbare Knopf an seiner Lederjacke. Man hätte ihm wohl direkt in die Lauscher gucken müssen, um den Hautfarbenen Ohrstecker wirklich erkennen zu können. "Kevin, wie siehts bei dir aus?", hörte er Bens Stimme klar und deutlich in seinen Kopf dringen. "Bis jetzt alles ruhig.", gab er lakonisch zurück, als gerade niemand an seinem Platz vorbei ging.

    Andrea fühlte sich eine Nuance wohler, als sie nun registrierte, wo Kevin sich befand. Sie wusste, er hatte sie im Auge und würde jederzeit eingreifen können, wenn etwas passierte. Aydas Mutter brach den Augenkontakt zu Semirs Kollegen sofort ab, falls sie beobachtet wurde, und richtete den Blick stattdessen auf eine digitale Uhr, die ganz in ihrer Nähe stand und 8:58 Uhr anzeigte. Die Minuten kamen ihr vor wie Stunden, sie zogen sich in die Länge wie Kaugummi. Pünktlich, als die 9:00 auf der Uhr umschlug, erhob sich ein Mann von der Bank, der offenbar besonders kalt hatte an diesem frischen Morgen. Er hatte eine modische Winterjacke mit Pelzkapuze an, die er über den Kopf gezogen hatte. Erst im letztem Moment sah Andrea, wie der Mann auf sie zu kam. "Frau Gerkhan? Haben sie das Geld?", fragte er mit leiser Stimme ohne Umschweife, und Andrea sah ihn mit weiten Augen an. Unter der Kapuze konnte sie zwar sein Gesicht im Dunkeln erkennen, doch es sah aus wie ein Allerweltsgesicht. Ein Mann mittleren Alters, vielleicht noch etwas jünger als Semir, sie sah nur einen dunklen Haaransatz, weder Ohren noch konnte sie in der dicken Jacke seine Figur beschreiben. Auf die Frage nickte sie und wollte schon die Sporttasche öffnen, doch der Mann griff ihr ans Handgelenk. "Nicht hier. Folgen sie mir.", sagte er fast mechanisch und ging voraus.
    "Es geht los.", murmelte Kevin ins Mikrofon, und Semir saß stocksteif in dem Transporter. Es war schrecklich nur zu wissen, in welcher Situation sich Andrea befand, aber nicht zu sehen, was vor sich ging. Seine Frau hatten sie vorsichtshalber weder mit Mikros noch mit Kameras versehen, falls sie durchsucht werden würde. Der junge Polizist, als Penner getarnt, verfolgte mit den Augen die beiden Personen, wie sie über den Domplatz in Richtung des Doms schritten. Kevin musste nun aufstehen, sonst würde er sie aus dem Blick verlieren. Dies tat er aber nur langsam und unauffällig, er nahm seine Whiskey-Flasche mit und bewegte sich mit unsicheren Schritten und leicht torkelnd über den Platz, als würde er einen neuen Platz zum Betteln suchen.

    Der junge Polizist ging in die Richtung, in der Andrea mit dem Mann verschwunden war. Offenbar fühlte er sich in den engen Gassen hinter dem Dom am sichersten, hier waren nur selten Fußgänger oder Touristen. Kevin ließ sich an einer Häuserwand nieder, von wo aus er den Ausgang der Gasse im Blick hatte. Er fand es zu gefährlich mit hinein zu gehen, denn er wusste nicht, ob die beiden vielleicht sofort hinter einer Ecke standen.
    Der Mann, dem Andrea gefolgt war, packte eine eigene Tasche aus. "Packen sie alles hier rein." Natürlich hatte er die Befürchtung, die Tasche von Andrea hätte einen Sender, oder Farbbeutel würden explodieren, wenn sie die Tasche öffnete. "Wo ist meine Tochter?", zischte Semirs Frau fordernd, ohne Anstalten zu machen, die Tasche zu öffnen. "Ich gebe ihnen keinen einzigen Schein, ohne zu wissen, was mit meiner Tochter ist.", wiederholte sie scharf, und erschrak über ihren eigenen Mut. Doch der Mann ließ sich in keinster Weise aus der Ruhe bringen, und wiederholte erneut mechanisch: "Packen sie das Geld da rein. Wenn ich das Geld habe, wird ihre Tochter freigelassen." Er sagte es ohne eine Gefühlsregung in der Stimme, was Andrea erschaudern ließ.
    Letztendlich gehorchte sie und packte Bündel für Bündel in die andere Sporttasche. Ihre Hände zitterten dabei und die Augen des Mannes glitten über jeden Schein, den er zusammenzählte. Am Ende war er zufrieden, als er die Sporttasche zuzog. "Sie gehen jetzt zurück zum Domplatz. Dort bleiben sie noch mindestens eine Stunde. Wenn ihr Mann, oder ein Kollege ihres Reviers in dieser Zeit auf dem Platz zu sehen ist, wird ihre Tochter sie nie mehr sehen." Dann wandte er sich von Andrea ab, die über die eigenartige Formulierung der Drohung gar keine Gedanken verlieren konnte. Sie stand da mit leerer Sporttasche, und sah dem Mann hinterher, wie er seelenruhig den Weg zurück antrat.

    Er bog aus der engen Gasse wieder in die Schlucht zwischen Dom und einer Reihe Häuser, wo sich gerade niemand, ausser einem Penner an der Hauswand, befand. Er durchschritt den Weg, schenkte dem Kerl keine Beachtung und bog nach links in eine weitere enge Gasse ein. Dort fühlte er sich wiederrum alleine und zog sein Handy: "Alles klar, es hat alles funktioniert. Sie war pünktlich und das Geld ist auch in Ordnung.", sagte er mit leiser Stimme, nach dem er sich mehrfach nach hinten umgedreht hatte, und sich vergewissert hatte, dass ihm niemand folgte. "Okay Zange, gute Arbeit. Ich räume hier noch auf, behandel das Mädchen und veranlasse alles Weitere. Wir treffen uns wie geplant.", hörte er die Stimme des Mediziners, dann wurde die Verbindung getrennt.
    Zange nickte zufrieden, bog aus der Gasse auf den Gehweg einer Hauptstraße. Er hatte sich zu wenig umgdreht, denn Kevin folgte ihm wie ein Schatten. Jetzt, auf dem breiten Gehweg, wo eine Menge Leute waren, konnte er ein problemlos Abstand halten, ohne aufzufallen. "Er hat sofort danach telefoniert... vielleicht hat er Bericht abgeliefert.", gab er leise per Funk durch. "Was jetzt? Zugriff?" Semir hörte die Frage im Lieferwagen, und sah plötzlich unentschlossen drein. Ben blickte ihn an, er gab Kevin keine Antwort, denn den Befehl zum Zugriff sollte einzig und alleine Semir entscheiden, so hatten sie es ausgemacht. Mit hilflosem Blick sah der erfahrene Polizist seinen Partner an. "Semir, was ist?" "Ich... ich weiß nicht... sollen wir... vielleicht lassen sie Ayda doch frei.", stammelte er auf einmal. Den Polizisten verließ der Mut, was wenn sie mit dem Zugriff nur noch alles schlimmer machten? Was, wenn Kevin den Kerl nicht erwischte, und er seine Komplizen warnen konnte? "Semir... wir hatten das doch besprochen... die Kerle werden sie ins Koma spritzen, wie jedes Kind auch. Nur so haben wir eine Chance.", sagte der junge Kommissar leise. Semir wurde schwindelig, sein Atem ging schneller, sein Herz klopfte laut gegen den Brustkorb. "Semir..." "Leute, was ist los? Wenn der Kerl in den Bus steigt, haben wir verloren.", hörten sie beide Kevins Stimme durch den Lautsprecher. Die Lippen des älteren Polizisten zitterten, wie seine Hände, die sich um das Pult klammerten. "Ben... ich habe Angst.", sagte er leise und Ben konnte sich nicht erinnern, seinen Partner in diesem Zustand schon einmal gesehen zu haben. Er hatte Angst um seine Tochter... Angst, über ihr Leben zu entscheiden...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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    • 18. April 2015 um 02:25
    • #25

    Domplatz/Lieferwagen - 9:15 Uhr

    Kevins Herz klopfte gegen seinen Brustkorb, während er im mäßigen Tempo den mutmaßlichen Geiselnehmer verfolgte. Er hatte die Augen weit geöffnet, sah immer mal über die Köpfe oder zwischen den Körpern der anderen Passanten hindurch, um den Kerl nicht aus den Augen zu verlieren. Er atmete erleichtert auf, als er die erste Bushaltestelle ignorierte und weiterging. Über seinen Knopf im Ohr konnte er bruchstückhaft die Diskussion zwischen Semir und Ben mithören, und er brauchte so langsam eine Entscheidung. Sollte er den Kerl festnehmen, oder laufen lassen? Sollte er vielleicht selbst die Entscheidung treffen? Nein, das würde Kevin niemals tun. Es ging um das Leben von Semirs Tochter, und alleine Semir hatte die Befugnis zu bestimmen, wie sie nun verfahren würden.
    Im Lieferwagen spitzte sich die Stimmung zu, und vor allem Ben wusste nicht, wie er auf Semir reagieren sollte. Der sonst so souveräne, erfahrene Kommissar stand gebückt mit der Hand am Funkgerät da, als hätte er Todesschmerzen. "Ich kann verstehen, dass du Angst hast.", versuchte sein junger Partner mit ruhiger Stimme zu sprechen, doch ganz konnte der seine Aufregung auch nicht verbergen. Ben wollte nun der Souveräne sein, der Semir sonst für ihn war. "Aber wenn wir ihn laufen lassen... dann haben wir nichts mehr in der Hand. Dann können wir nur hoffen." "Semir, Ben? Was ist denn los bei euch?", hörten sie Kevins unterdrückte, aber leicht ungeduldig klingende Stimme. Der erfahrene Polizist schob die Zähne übereinander, sah zwischen dem Funkgerät, Ben und Hartmut immer wieder hin und her. Letzterer zuckte nur hilflos mit den Schultern, er war in dieser Frage der völlig falsche Mann. Er würde die beiden Polizisten in allem unterstützen, was sie vor hatten, so sehr er konnte... aber eine Entscheidung fällen, das konnte er nicht.

    Ben griff seinen Partner fest am Unterarm. Dabei sah er ihm direkt in seine braunen, oft warmherzig blickenden Augen... die jetzt nur noch pure Verzweiflung ausstrahlten. "Semir! Ich versprech dir: Wir werden die Kerle kriegen. Wir werden das Versteck aus diesem Typen herausquetschen, wo Ayda ist, und wir werden deine Tochter befreien! Ich verspreche es dir!", sagte er mit fester Stimme und weiten Augen, wobei er den Arm seines Freundes ein wenig schüttelte. Es wirkte, denn Semir vertraute Ben mehr als irgendjemand anderem auf dieser Welt. Seine Lippe zitterte zwar immer noch, als er sie aufeinanderpresste, aber er nickte zuckend. "Ja... du hast recht.", flüsterte er beinahe und nahm das Mikro dicht an den Mund. "Kevin?", fragte er zuerst, als bräuchte er noch eine Bestätigung, dass ihr junger Kollege überhaupt noch am Funk war. "Ja?" "Schnapp dir den Kerl.", konnte Kevin auf der Straße die diesmal viel sicherer klingende Stimme seines älteren Kollegen hören, worauf er murmelte: "Na endlich..."
    Semir ließ das Mikrofon langsam sinken und biss sich auf die Lippen. Es fühlte sich an, als hätte er gerade ein Urteil über Ayda gefällt, und er würde selbst nicht wissen, wie dieses Urteil ausgehen wird. Sein Partner nickte ihm aufmunternd zu, wollte ihm zeigen dass es die richtige Entscheidung war. Mit dem Kerl hatten sie es in der Hand, und sie mussten sich nicht auf eine Ungewissheit verlassen, wenn die Kerle über alle Berge waren. "Wir tun das Richtige, Semir.", sagte er noch leise, während sie ungeduldig auf eine Erfolgsmeldung ihres jungen Straßenpolizisten warteten.

    Kevin beschleunigte seinen Gang etwas, als er von Semir das Signal zum "Fassen" bekam. Langsam aber sicher wurde der Abstand zwischen den beiden Männern immer kleiner, und Kevin ließ den Kidnapper keine Sekunde mehr aus den Augen. Beinahe automatisch zog der Polizist den Reissverschluss seiner verschlissenen Lederjacke etwas auf, da er im Inneren der Jacke seinen Halter mit der Waffe hatte, falls er die brauchen würde. Ausserdem hatte er in der Innentasche auch ein paar Handschellen und seinen Dienstausweis.
    Einmal sah der Kerl sich um... doch es waren so viele Leute auf dem Gehweg, und er blickte nur kurz hinter sich, dass sich die Gestalt, die ihm jetzt schon eine Weile lang folgte, nicht in seinem Blick manifestiert hatte. Er schulterte seine Tasche mit dem Geld etwas höher, und fühlte sich abermals erleichtert, die Übergabe gut über die Bühne gebracht zu haben. Noch drei Häuserecken weiter, und dort würde Cablonsky ihn abholen kommen. Der Schreck fuhr dem Mann durch Mark und Bein, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte, die ihn festhielt. "Entschuldigen sie, Polizei.", hörte er eine scheinbar gelangweilte Stimme neben sich, die ihm auch noch einen Dienstausweis unter die Nase hielt. "Dürfte ich vielleicht mal einen Blick in ihre Tasche werfen?" Zange sah dem Penner, den er eben am Dom schon gesehen hatte direkt ihn die eisig blauen Augen, und der Herzschlag des Verbrechers setzte für einen MOment aus. Nein, das konnte jetzt unmöglich ein Zufall sein, dass ein als Penner verkleideter Polizist, der eben bereits am Domplatz war, wissen wollte was in seiner Sporttasche ist. "Ich... ich...", begann er kurz zu stammeln, und erinnerte sich daran, was er von dem Mediziner eingeredet bekam, für den Fall dass er verhaftet werden würde. Der Kerl ließ langsam die Sporttasche von der Schulter rutschen, bis sie klatschend auf den Boden fiel. "Keine Dummheiten...", warnte Kevin den Mann und schob die Jacke etwas zur Seite, um seine Waffe zu zeigen, als er sich bückte und einen Blick in die Tasche warf. Die Bündel lagen verstreut herum, er wollte nur sicher gehen, dass er nicht den Falschen verhaftete.

    "Sie sind vorläufig festgenommen.", sagte Kevin und wunderte sich insgeheim, dass der Mann keinerlei Widerstand leistete. Bereitwillig drehte er sich zur Häuserwand, stemmte die Hände dagegen und ließ sich von dem jungen Polizisten abtasten. Der wiederum fand bei dem Geiselnehmer keinerlei Waffen, keinerlei Papiere, nicht mal einen Autoschlüssel. Dann legte er dem Mann Handschellen auf dem Rücken an, und drehte ihn wieder zu sich. "Wo habt ihr Ayda versteckt?", fragte er sofort, denn je eher sie wussten, wo sie war, desto besser. Ohne eine Miene zu verziehen, sah der Mann Kevin ins Gesicht, als hätte er die Frage nicht gehört, oder verstanden. "Wo habt ihr Ayda versteckt, habe ich dich gefragt!", wiederholte Kevin, diesmal etwas lauter und deutlicher, doch die Reaktion des Mannes war die Gleiche. Ben und Semir konnten im Lieferwagen alles mithören. "Was sagt er?", fragte Semir aufgeregt, weil er vermutete, dass der Kerl vielleicht zu weit weg vom Mikrofon an Kevins Jacke war. Sein Herz schlug wie kurz vor einem Herzinfarkt, er war nun einerseits froh, dass Kevin den Typen festgenommen hatte, aber auf der anderen Seite machte er sich weiter furchtbare Sorgen um seine kleine Tochter. "Nichts sagt er...", war Kevins schmallippige Antwort, und griff den Mann von hinten am Genick, um ihn vor sich her zu treiben. "Wir werden es schon rauskriegen, verlass dich drauf.", meinte der Polizist mehrdeutig, und es klang wie eine Drohung.
    Es sah merkwürdig aus, wie Kevin mit seinem "Gefangenen" durch die Stadt ging. Ein Penner, der einen normal gekleideten Mann in Handschellen durch Köln führte, das bekamen die Touristen nicht alle Tage zu sehen. Ein Halbstarker wollte sich mit Kevin anlegen, weil er dachte, dass dieser einen Mann belästigte, doch kaum hatte Kevin ihm den Dienstausweis unter die Nase gehalten, trollte sich der Typ auch sofort wieder.

    Ben legte das Funkgerät zur Seite, und nickte dem, immer noch blassen, Semir aufmunternd zu. "Wir haben ihn. Jetzt werden wir ihn verhören, und er wird uns das Versteck sagen... Der Typ will sich nur seine Haut retten." Doch Semir sah nicht mehr ganz so positiv drein, wie noch gerade eben. Das stoische Schweigen auf Kevins Fragen hatten ihn misstrauisch gemacht. Wenn der Typ wirklich vehement schwieg, hätten sie Aydas Leben vielleicht umsonst aufs Spiel gesetzt. "Ich werde ihn verhören.", sagte Semir sofort, und schwor sich, dass er das Versteck notfalls aus dem Kerl herausprügeln würde. Doch genau dies befürchtete auch Semirs Partner, und biss sich auf die Lippen. Herr Gott, wie brachte er das Semir jetzt bei: "Semir... vielleicht ist es besser, wenn du bei dem Verhör nicht dabei bist." Semirs Augen wurden tellergroß, sein Mund stand leicht offen, als er seinen langjährigen Partner anblickte. "Sag mal, hast du sie noch alle? Der Kerl hat meine Tochter entführt? Denkst du, ich fahre nach Hause und guck den Blumen beim Wachsen zu, während er ihn verhört?", sagte er sofort mit aufgebrachter Stimme.
    Ben bemühte sich um Sachlichkeit, und darum, seine Stimme möglichst ruhig zu halten. "Ich weiß, wie dir zu Mute ist. Und ich weiß, dass du dem Kerl am liebsten die Zähne einschlagen würdest, wenn er dir dafür das Versteck verrät. Aber du weißt, dass wir hier nicht offiziel ermitteln. Und wenn wir später doch noch das LKA brauchen, und der Typ sitzt da wie durch den Fleischwolf gedreht... dann haben wir verloren, Semir." Der erfahrene Polizist schüttelte den Kopf. Er konnte das nicht... er konnte doch jetzt nicht einfach still und stumm daneben sitzen, und nichts tun. "Semir, sei bitte vernünftig. Du vertraust mir und Kevin. Oder?" Natürlich tat er das, und das würde er auch nicht abstreiten. Aber hier ging es ums Prinzip. Er war Aydas Vater! Er war für ihre Sicherheit verantwortlich, und er würde den Kerl verhören. "Bleib bitte ruhig... es nützt uns nichts, wenn wir den Typ jetzt sofort bedrohen. Dann wird er komplett dicht machen." Semir nahm Bens Worte kommentarlos hin, während er die Lippen zusammenpresste, und irgendwann leise sagte: "Ich gehe Andrea abholen..." Eine Stunde war fast vorbei. Nur wenige Minuten, nachdem Semir den Lieferwagen verlassen hatte, tauchte Kevin mit Zange auf...

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    Einmal editiert, zuletzt von Campino (18. April 2015 um 12:15)

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    • 20. April 2015 um 00:08
    • #26

    Dienststelle - 10:30 Uhr

    Die Spannung in der Dienststelle war zum Schneiden. Natürlich hatten Ben und Semir ihre wichtigsten Freunde in den Plan eingebunden, und alle hatten geschworen, nichts davon nach draussen dringen zu lassen. Alle Beteiligten gingen bewusst ein hohes Risiko ein, denn sie hielten den kompletten Vorgang vor dem LKA geheim, die den Fall der Komakinder eigentlich betreuten. Die Chefin saß in ihrem Büro, und bei jedem Vorgang, den sie begann zu bearbeiten, schweiften ihre Gedanken zur Geldübergabe ab. Auch die beiden Streifenpolizisten Bonrath und Herzberger hielten ihre Touren heute kürzer als gewohnt, um nichts zu verpassen, wie die Geldübergabe ausgegangen war. Und vor allem Jenny war nervös, und blickte immer wieder aus dem Fenster. Sie wusste, dass Kevin bei der Übergabe dabei sein würde, und machte sich einerseits um ihn Sorgen, andererseits aber natürlich auch um die kleine Ayda. Das Mädche war auch der Grund, warum jeder der Cobra-Familie das Risiko eines Disziplinarverfahrens auf sich genommen hatte.
    Bonrath und Herzberger kamen gerade herein und legten ihre Polizeimützen auf dem Schreibtisch ab. "Und, gibts schon etwas Neues?", fragte der dicke Polizist sofort in Jennys Richtung, die aber wortlos den Kopf schüttelte. Sein langer dürrer Kollege blickte derweil auf die Uhr und meinte: "Die Übergabe müsste doch längst durch sein... oder es ist etwas schief gelaufen." Sofort wurde er von Hotte angestoßen: "Mensch Dieter... denk doch nicht immer so negativ." "Schon gut, schon gut.", wiegelte der ab und begab sich an seinen Schreibtisch.

    Dann war es endlich soweit... Ben kam mit seinem Dienstwagen vor der großen Fensterfront vorgefahren und parkte auf seinem Parkplatz. Hinter ihm saß Kevin, der auf den festgenommenen Zange aufpasste, und ihn nun aus dem Wagen zog. Sie hatten dem Verbrecher die Hände auf dem Rücken mit Handschellen fixiert. "Sie kommen.", rief Jenny, und sofort blickten ihre Kollegen gespannt auf, und richteten die Köpfe in Richtung des Flurs, der durch führte nach hinten zu den Verhörräumen.
    Im Großraumbüro wurde es mucksmäuschenstill, als die Zwischentür zum Flur aufging, und die drei Männer hereinkamen. Zange ging voraus und hielt den Blick stur geradeaus, Kevin ging in seiner zerrissenen Jeans und alten Lederjacke hinter ihm und hatte dem Mann warnend eine Hand auf die Schulter gelegt. Ben kam danach und meinte zu seinem Kollegen: "Ich komm sofort.", bevor er nochmal ins Büro abbog. Er nickte seinen Streifenkollegen kurz zu, ohne sofort zu erzählen und streckte den Kopf ins Büro der Chefin. "Wir haben den Typ, der das Geld in Empfang nehmen wollte, verhaftet.", sagte er ohne große Begrüßung. "Hat er schon etwas gesagt?", fragte seine Vorgesetzte sofort, doch ihr Beamter schüttelte den Kopf. "Noch nicht." "Ben, auch wenn wir diese Aktion ausserhalb unserer Zuständigkeit gefahren haben... wir können uns nicht wie im wilden Westen benehmen, das gilt besonders für das Verhör. Sie wissen, was ich damit meine.", mahnte Anna Engelhardt mit erhobenem Zeigefinger. Ben zog ein wenig eine Schnute, und legte den Kopf ein wenig schief. Der Blick der Chefin wurde strenger: "Sie wissen, was ich damit meine. Sie dürfen kein Geständnis aus ihm herausprügeln. Und deswegen will ich nicht, dass Semir den Kerl vernimmt, ist das klar?" "Aber Chefin... Sie wissen doch genau, wie Semir ist. Der Kerl ist beteiligt an der Entführung seiner Tochter, da werde ich ihn nicht davon abhalten..." "Und genau, weil ich ihn kenne, und weil mir dieser Umstand bewusst ist, halte ich es für zu gefährlich, dass Semir in seinem jetzigen Zustand ein Verhör führt.", wurde er von seiner Chefin unterbrochen. "Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt." Ben nickte, und verschwand.

    Kevin hatte Zange per Hand bis zu dem Stuhl im Verhörzimmer geführt. Dort nahm er ihm die Handschellen ab, nicht ohne die kurze und prägnante Warnung: "Mach ja keinen Blödsinn." Der junge Polizist war eigentlich ein geduldiger Zeitgenosse, der es verstand seine Arroganz und äusserliche Ruhe als Druckmittel einzusetzen. Doch vor dem Hintergrund, dass dieser Kerl die kleine Tochter seines Freundes entführt hatte, würde seine Hemmschwelle sicherlich etwas heruntergesetzter sein als sonst... und Ben würde es wohl ähnlich gehen. Zange schien ebenfalls die Ruhe selbst, hin und wieder sah er mit seinen flinken Augen nach rechts und links, sah neugierig auf das Mikrofon vor ihm und dann wieder zu Kevin, der sich ihm gegenüber hinsetzte.
    Der Polizist wartete allerdings auf Ben, der auch sofort dazu kam, und sich neben Kevin setzte. "Wir sollen nett zu ihm sein.", flüsterte er seinem jungen Freund noch schnell ins Ohr, was diesen etwas verständnislos aufblicke ließ. "Sind wir doch immer." Sonst hatten sie immer irgendwelche Akten mit Informationen vor sich, um ein Verhör zu führen, doch jetzt interessierte sie eigentlich nur eine Frage, und Ben richtete sich sofort an den Verdächtigen. "Wo ist das Mädchen?" Zange blickte unsicher, er bewegte die Lippen, als würde er Kaugummi kauen, bevor er antwortete: "Das darf ich ihnen nicht sagen." Dabei wirkte er ruhig, als würde er gerade sein Mittagessen bestellen. "Hier hört dir, ausser uns niemand zu. Wo ist das Mädchen?", wiederholte Ben mit noch ruhiger Stimme. "Geben sie mir das Geld, und lassen sie mich gehen. Dann wird das Mädchen freigelassen." Ben und Kevin blickten sich verständnislos an, ob dieser Unverfrorenheit des Mannes gegenüber. "Ich weiß nicht, ob du es noch nicht gemerkt hast, aber du hast hier nichts zu fordern, mein Freund.", sagte der Polizist mit dem Wuschelkopf und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte.

    Ben war etwas nervös... er wusste, dass er keine Fehler machen durfte, denn jetzt war er verantwortlich für Aydas Leben, solange Semir nicht da war. Wurde er zu bockig, würde der Kerl vermutlich schweigen. Jetzt schien er noch naiv und unsicher, doch war das vielleicht nur gespielt? Verfolgte der Typ einen Plan? "Also nochmal: WO ist Ayda?", fragte er erneut mit Nachdruck, aber freundlicher Stimme. Zange fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und blickte zur Uhr an der Wand. "Ich habe Durst... könnte ich vielleicht einen Becher Wasser haben?" Kevin hob bei der Frage den Kopf ein wenig höher, und sein Mund öffnete sich etwas vor Empörung, auch Ben schnappte nach Luft. Noch bevor sein Kollege eine Antwort geben konnte, sagte er: "Kevin, holst du bitte einen Becher Wasser?" Mit fast ungläubigen Blick wendete der Polizist seinen Kopf nun zu Ben. "Was soll ich?", fragte er, als hätte er sich gerade verhört, und Ben wiederholte seine Bitte: "Holst du BITTE einen Becher Wasser?" Geräuschvoll Luft holend, stand Kevin ruckartig vom Tisch auf und ging wortlos aus der Tür hinaus, während Zange lächelnd nickte, und sich bei Ben mit gespielt trockener Stimme bedankte.
    Kevin musste draussen auf dem Flur erstmal tief durchatmen, als er von der Chefin, die im Nebenraum das Verhör beobachtete, aufgehalten wurde. "Kevin, ich weiß, was sie jetzt denken...", begann sie. "Dass ich dem Kerl da drinnen liebend gerne die Zähne einschlagen möchte?" Den tadelnden Blick von Anna Engelhardt konnte er ihr nicht verübeln. "Das auch. Aber Ben macht das richtig. Wir müssen vorsichtig sein, denn sie merken doch sicherlich, dass diese Naivität nur aufgesetzt ist. Wenn wir ihn bedrohen oder wütend werden, bringt uns das gar nichts. Spielen sie das Spiel mit." Anna Engelhardt hatte eine hervorragende Eigenschaft, ihren Männern oft in den Kopf blicken zu können, und es war genau die Ansprache, die Kevin jetzt brauchte, um sich zu beruhigen. Er ging zu dem Wasserspender auf dem Flur, füllte einen Plastikbecher und trug ihn zurück in den Verhörraum. Dort stellte er ihn vor Zange auf den Tisch, ohne einen Tropfen zu verschütten. "Danke sehr...", sagte dieser lächelnd und begann hastig zu trinken.

    "Gut... dann sagen sie mir wenigstens, wer sie sind? Wie heißen sie?", fragte Ben, der alle Kraft in sich aufbringen musste, um gegen den Mann ruhig zu bleiben. Der Typ, den sie Zange nannten, blickte kurz auf die Tischplatte. "Das tut nichts zur Sache. Wichtig ist nur, dass sie mir das Geld geben, damit das Mädchen freigelassen werden kann." Die Sätze wurden immer von einer Stille im Raum unterbrochen, die etwas Unheimliches hatte. Zange war äusserlich so ruhig, und doch schien er so sehr überzeugt davon, dass Ben und Kevin ihm die Tasche mit dem Geld wieder gab, und ihn hier raus spazieren ließ. "Wir wissen, dass ihr die Kinder irgendwie ins Koma befördert, bevor ihr sie freilasst.", sagte Ben, wobei er von einer Mehrzahl sprach... was er ja nicht wusste, und auch Zange hatte bisher nie eine Mehrzahl an Tätern genannt. Bei dem Vorwurf zuckte er nur mit den Schultern und nuckelte erneut an seinem Becher Wasser. "Wo ist Ayda?" "Tut mir leid... das darf ich ihnen nicht sagen. Geben sie mir das Geld, und sie kommt frei."
    Ben atmete tief durch und lehnte sich zurück, während er in das vollkommen ruhige Gesicht des Mannes blickte. Er besah sich seine Fingernägel, kratzte sich im Gesicht und faltete die Hände dann auf dem Tisch. "Wer verbietet ihnen denn, über das Mädchen zu sprechen?", fragte nun Kevin, der sich bisher mit Fragen zurückgehalten hatte. Zange blickte ihn nun an, und lächelte etwas naiv: "Oh, ich darf über sie sprechen. Ich darf ihnen nur nicht sagen, wo sie sich befindet, bis sie mich mit dem Geld gehen lassen. Dann wird sie freigelassen." Es schien, als würde er eine Schallplatte abspielen, die einen gewaltigen Sprung hatte. Ben stand vom Tisch auf, streckte den Kopf heraus und rief einen Beamten in den Verhörraum. "Pass mal auf ihn auf.", sagte er kurz, dann winkte er Kevin zu, dass die beiden den Verhörraum verließen.

    Wenn Engel hassen

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    • 20. April 2015 um 22:47
    • #27

    Semir's Wagen - zur gleichen Zeit

    Semir spürte in sich eine unendliche Müdigkeit aufsteigen, als er sich in sein Auto setzte und in der Nähe des Domplatzes auf Andrea wartete. Es fühlte sich schrecklich an, so hilflos zu sein. Er sah immer wieder auf sein Handy, ersehnte sich eine kurze SMS von Ben, der vielleicht schrieb: "Wissen wo Ayda ist.", oder "Der Typ redet." Irgendetwas, was ihm Mut machte, was die Verzweiflung ein wenig zur Seite schob. Doch das Handy blieb stumm, es blieb bewegungslos. In Semirs Auto vergingen Sekunden wie Stunden, bis Andrea endlich mit eiligen Schritten an den silbernen BMW herankam und die Beifahrertür aufriss. "Und? Hast du schon was gehört?", fragte sie sofort, als die Tür ins Schloß fiel, doch Semir schüttelte nur stumm den Kopf. "Nein... Kevin hat ihn erwischt, aber er hat noch nichts gesagt."
    Andrea's hoffungsvoller Gesichtsausdruck wandelte sich sofort in Traurigkeit, in Resignation. Haben sie es wirklich richtig so gemacht? War die Entscheidung, den Kerl festzunehmen, wirklich die Richtige? "Was... was wenn er nicht redet?", fragte sie leise, als Semir den Motor anließ und den BMW in Bewegung setzte. "Der wird reden...", war seine kurze Antwort, die voll Überzeugung kam. "Ist dir etwas aufgefallen an ihm?" Andrea dachte kurz nach, als die Innenstadt von Köln langsam an ihrem Auge vorbeizog. Sie wurde bald wahnsinnig vor Angst und Sorge um Ayda. Lilly ließ sie nicht mehr in den Kindergarten, bis die Kerle hinter Schloß und Riegel waren, die jüngste Tochter war momentan bei den Großeltern, den Eltern von Andrea.

    "Eigentlich ... nichts. Er sprach hochdeutsch. Er war sehr ruhig und höflich.", sagte Andrea nach einigen Minuten Bedenkzeit, die Semir ihr auch ließ. Sie klammerte sich mit der rechten Hand an den Türgriff, als wäre das eine Art Hoffnung, an die sie sich klammerte. "Er sagte, dass Ayda freigelassen wird.", sagte sie dann noch hinterher, und es klang als würde sie sich selbst die Schuld geben, dass sie ihm die Gelegenheit nicht gab, mit dem Geld zu flüchten um dieses Versprechen wahr zu machen. Semir nickte nur stumm.
    Der Polizist würde Andrea zu ihren Eltern waren. Sie war mit den Nerven fertig und hatte nicht die Kraft, dem Mann noch einmal gegenüber zu treten, der ihre Tochter entführt hatte. Als er gerade kurz vor dem Wohngebiet war, fiel Andrea doch noch was ein. "Warte mal... er sagte: 'Wenn etwas schief läuft, wird ihre Tochter sie nie wiedersehen.'" Dabei sah sie ihren Mann fest an. "Ja und?", fragte der, denn er hatte nicht genau auf die Formulierung geachtet. "Na... das klingt doch merkwürdig. Normalerweise sagt man doch, dass wir unsere Tochter nie wieder sehen. Aber er sagte, dass unsere Tochter mich nie wieder sieht. Das kam mir komisch vor, aber ich habe nicht weiter drüber nachgedacht." Jetzt fiel auch Semir diese eigenartige Formulierung auf, und er wusste sofort, was damit gemeint war. Würde etwas schief gehen, würde Ayda nie mehr aus dem Koma erwachen. Andrea und er würden Ayda zwar wiedersehen, sie ihre Eltern aber nicht mehr. Als ihm diese Erkenntnis auffiel, lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken.

    Er wandte sich an Andrea, als er vor dem Haus seiner Schwiegereltern parkte, und fasste Andrea's Hände. "Schatz, ich habe dir etwas verschwiegen... weil ich wollte, dass du einigermaßen klaren Kopf behälst.", sagte er und sah seine Frau dabei fest an. Sie schluckte und war auf jede schlimme Überraschung gefasst. "Diese Männer haben bereits mehrere Mädchen entführt. Sie wurden alle gefunden... und alle lagen im Koma. DIe einen mehr, die anderen weniger." Er konnte sehen, wie das Entsetzen in dem Blick seiner Frau wuchs. "Deswegen hat der Kerl gesagt, dass Ayda uns nie wieder sehen wird. Wir werden sie finden, aber sie wird uns dann nicht sehen." Bei den letzten Worten stockte selbst dem Polizisten, der alles gesehen hatte, der Atem, während sich Andrea's Augen mit Tränen füllten. Sie begann den Kopf zu schütteln, ihre Hände begannen zu zittern. "Bitte Andrea... verlier nicht den Mut. Deswegen mussten wir den Kerl festnehmen, weil wir hoffen, dass wir Ayda so schneller finden und die Typen überraschen. Wenn wir ihn mit dem Geld hätten laufen lassen...", wieder stockte er kurz, und die ersten Tränen seiner Frau fielen auf die Mittelkonsole "... dann hätte Ayda garantiert im Koma gelegen. So haben wir eine Chance."
    Die zweifache Mutter sah in diesem Moment nicht die Chance, Ayda bei Bewusstsein zu retten. In diesem Moment, als Semir ihr die Tragweite des Falles offenbarte, sah sie vor ihrem inneren Auge nur ihre kleine Tochter, wie sie bewusstlos irgendwo lag... im Gebüsch, auf einer alten Matratze, in einem sauberen Krankenhausbett. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, die Worte ihres Mannes nahm sie gar nicht mehr wahr, und sie wurde von einem fürchterlichen Weinkrampf erfasst. Ihr Gesicht verzerrte sich, sie presste die Augen zusammen und ließ allen Emotionen freien Lauf, während Semir sie über die Mittelkonsole in den Arm schloß. "Meine kleine Tochter...", schluchzte Andrea herzzereissend und all die angestaute Angespanntheit, die Emotionen von heute Morgen, brachen aus ihr heraus. Nichts konnte diesen Sturzbach aushalten, und nur die Tatsache, dass sie von ihrem Mann gehalten wurde, half ihr ein wenig. Sie würde niemals die Entscheidung Semirs in Frage stellen, denn sie vertraute ihrem Mann, dass dieser nur das Beste für Aydas Gesundheit entscheiden würde... doch Semir vertraute sich selbst nicht...


    Dienststelle - 11:00 Uhr

    Ben und Kevin wurden von 6 neugierigen Augen empfangen, als sie das Großraumbüro betraten. Der Polizist, mit den Händen in den Wuschelhaaren, ging voraus und spürte, wie sein Herz ihm bis zum Hals schlug und ihn langsam eine unangenehme Übelkeit überkam. Er spürte, dass die Situation nicht so lief, wie sie es sich erhofft hatten, nach nur 20 Minuten Verhör. Sein junger Kollege Kevin ging hinter ihm her und meinte mit lauter Stimme: "Sollen wir uns jetzt weiter von dem zum Narren halten lassen?" Bonrath, Hotte und Jenny spürten sofort, dass sich noch kein Erfolg eingestellt hatte, als sie Kevins Stimme hörten, und Ben sich sofort zu ihm herumdrehte: "Was willst du denn machen? Ihn zusammenschlagen?" "Das wäre mal ein Anfang."
    Beide Polizisten atmeten tief durch, als auch die Chefin im Büro auftauchten. "Ich weiß, dass ihnen das nahe geht. Aber wir müssen jetzt unbedingt einen kühlen Kopf bewahren, sonst war alles umsonst.", sagte sie mit strenger Stimme, vor allem in Kevins Richtung. Bei Ben hatte sie dieses Mal eher weniger Bedenken, auch wenn sie spürte dass dessen Nerven so langsam auch am Ende waren, denn er hatte eine stärkere emotionale Bindung zu Semir und Ayda als Kevin. "Sie müssen den Mann jetzt bearbeiten. Verwickeln sie ihn in Gespräche, sie müssen versuchen, ihn zum Reden zu bewegen, egal über was. Irgendwann wird er einen Hinweis geben.", sagte die Chefin mit erhobenem Zeigefinger, als würde sie zweien Schülern eine schwere Matheaufgabe erklären. Und die beiden Polizisten gehorchten, sie nickten aber sie waren selbst nicht zufrieden. Ben überkam das ungute Gefühl, mit der Verhaftung doch vielleicht einen Fehler gemacht zu haben, wenn der Kerl sich standhaft weigerte, auch nur irgendwas zu sagen.

    "Wir müssen herausbekommen, wer er ist.", sagte Kevin dann. "Hotte... mach zwei drei Bilder von ihm, und schick die Bilder an alle LKA-Dienststellen im Bundesgebiet." Hotte nickte sofort, und nahm aus seiner Schreibtischschublade eine kleine Digital-Kamera, die sie auch zu Unfällen auf der Autobahn immer mitnahmen. Auch wenn die Welt von Smartphones und mobilem Internet für den dicken Polizisten ein Fremdwort war, so modern war er bereits. "Hartmut soll die Bilder durch seine Gesichtserkennungssoftware jagen. Die gleicht an bestimmten Gesichtspunkten die Bilder mit der Vorbestraften-Kartei.", sagte Ben, und Jenny nickte sofort. "Ich ruf ihn an, und sage ihm schon mal Bescheid, dass er alles vorbereiten soll.", sagte sie und griff zum Telefon.
    Dann sah Ben seinen Partner an. "Lass uns wieder reingehen. Die Chefin hat recht... wir müssen ihn mürbe machen. Der Typ weiß genau, was er tut... mit Drohungen werden wir ihn nicht einschüchtern können." Kevin konnte nichts anderes, als ihm zu zu stimmen, bevor die beiden wieder zurück in den Verhörraum gingen.

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    • 21. April 2015 um 22:35
    • #28

    Verlassenes Krankenhaus - 11:30 Uhr

    Cablonsky war aufgeregt. Er wusste genau, dass irgendetwas schief gelaufen war, denn Zange war immer ein verlässlicher Kerl gewesen. Niemals jemand, bei dem man Angst haben musste, dass er mit der Kohle einfach durchbrennen würde. Er hatte über zwei Stunden am Treffpunkt gewartet, um ihn abzuholen, und niemand war gekommen. Allerdings hatte Cablonsky auch keinerlei Polizeisirene oder sonstige Beamte vernommen. Verdammt, dachte er grimmig und schlug aufs Lenkrad, bevor er zum alten Krankenhaus aufbrach.
    Cablonsky und Zange waren Freunde, nicht einfach nur Verbrecherkollegen, die zufällig zusammen mehrere Dinger drehten, so wie es Reuter für ihn war. Die beiden kannten sich schon von Jugendtagen an, zusammen drehten sie die ersten Einbrüche und "spezialisierten" sich später dann auf Entführungen und simple Lösegelderpressung. Einmal wurden sie gefasst, weil sie zu gierig waren, und saßen gemeinsam im Knast. Sie ergänzten sich hervorragend, der bullig gebaute Cablonsky, der keine Gewalt scheute und Opfer wie Verwandte des Opfers perfekt einschüchtern konnte, und auf der anderen Seite Zange, der so unscheinbar erschien, dass er der perfekte Lockvogel für die Entführungsopfer war. Wenn man Zange sah, sah man einfach einen Durchschnittstyp, einer der einfach nichts Böses im Schilde führen konnte. So kam es dann auch, dass Zange im Knast häufiger in Schwierigkeiten geriet, weil einige dachten, dass er ein kleines Opfer war, das sich nicht wehren konnte, doch sie hatten alle nicht mit dem Freund des "kleinen Opfers" gerechnet. Sie probierten es alle nur einmal, und ließen Zange dann in Ruhe nachdem Cablonsky die ersten Nasen im Knast gebrochen hatte. Dass sie gemeinsam weiterarbeiten würden, war für sie glasklar, und so stellte Cablonsky an Reuter die Bediengung, dass Zange mit von der Partie war.

    Doch jetzt war etwas schief gelaufen. Der Geiselnehmer hielt auf dem Braschenparkplatz vor dem einsamen, halb verfallenen Krankenhaus und stieg hastig aus. Er wetzte durch die zerbrochene Eingangstür, den Eingangsbereich, in dem keinerlei Licht mehr funktionierte hin zu den verkommenen und knarzenden Treppen. Rechts und links waren die Wände voll Graffiti und Sprüchen beschmiert, bis er endlich in dem großen Saal ankam, den Reuter als Labor genutzt hatte. Freilich sah er jetzt wieder komplett leer und verlassen aus, denn der Mediziner hatte bereits aufgeräumt. "Wo bleibt ihr denn? Seid ihr soweit?", fragte er ungeduldig. Er kam gerade von dem Haus, in dem die letzten Mädchen noch waren, die sie als Geisel genommen hatten, die man jetzt nicht mehr gegen Geld eintauschen konnte. Nachdem Reuter erfahren hatte, dass sie irrtümlicherweise die Tochter eines Polizisten gekidnappt hatten, fürchtete er nicht nur das Gesetz, sondern vor allem die Rache eines Vaters, und war darauf erpicht, so schnell wie möglich das Land zu verlassen.
    "Reuter, es ist was schiefgelaufen...", berichtete Cablonsky etwas japsend. "Schiefgelaufen?", wiederholte Reuter und seine Stimme klang nicht nach guter Laune. "Zange ist nicht am Treffpunkt erschienen... ich habe fast zwei Stunden dort gewartet." Der Mediziner sah überrascht auf, und sah kurz auf die Uhr. "Er hat mich angerufen, dass alles geklappt hat. Um zehn nach neun. Also war die Übergabe da schon durch... oder?" "Oder was?" "Oder er will uns bescheissen und ist mit der Kohle abgehauen." Reuter sah Cablonsky beinahe herausfordernd an, doch der schüttelte sofort den Kopf. "Ich kenne Zange schon seit über 20 Jahren. Und wenn wir beide dich bescheissen wollen würden, wäre ich kaum hier." Der gebildete Reuter, der körperlich keine Chance gegen Cablonsky gehabt hätte, nickte verkniffen. Die Nachricht war nicht gut, denn 100.000 Euro fehlten ihm nun, letztendlich war die Entführung des Mädchens ein kompletter Reinfall. Es gefährdete sie, und jetzt war nicht mal Geld dafür rausgesprungen.

    "Na gut, dann ist es halt so. Lass uns fahren.", sagte der Mann und nahm einen großen Schalenkoffer in die Hand. Dort waren all seine Aufzeichungen drin, alle wichtigen Dokumente und Ordner zu seinen Forschungen. In seiner Jackentasche brannten drei Flugtickets nach Brasilien, ein Land das kein Auslieferungsabkommen mit Deutschland hat, und wo sie erstmal untertauchen wollten, weiter forschen wollten bis das Geld knapp wurde. Dann wären einige Jahre ins Land gegangen, und man könnte noch einmal beginnen. "Wohin?", fragte Cablonsky etwas ratlos und stemmte die Hände in die Hüften. "Ja, wohin wohl? Zum Flughafen. Unser Flug geht in zweieinhalb Stunden." Reuter ging bereits mit strammen Schritten zum Ausgang des großen Saales. "Auf keinen Fall!", schmetterte Cablonsky ihm hinterher. "Ich lasse meinen Freund nicht einfach hier sitzen, und verpiss mich."
    Reuter fühlte sich Cablonsky zwar körperlich unterlegen, geistig jedoch meilenweit voraus. Er seufzte, ließ den Koffer sinken und legte, beinahe übertrieben väterlich gespielt, den Kopf etwas schief. "Mein Junge...", sagte er mit ruhigem Ton. "Was stellst du dir denn vor? Sollen wir deinen Freund befreien? Mit zwei Pistolen in ein Polizeirevier stürmen? Oder sollen wir warten, bis die Polizei uns findet?" "Nein... wir rufen den Bullen an, und sagen ihm, dass seine Tochter stirbt, wenn er Zange nicht laufen lässt." "Ja, gute Idee. Dann schicken sie uns Zange direkt mit einem Peilsender hierher.", meinte Reuter sarkastisch und lachte auf. "Pass auf. Wenn Zange sich an die Regeln hält, wird er die Bullen hinhalten. So ist es vereinbart, dass der Rest dann verduftet. Also halt dich jetzt gefälligst an die Regeln." Cablonsky biss die Zähne aufeinander, dass die Kiefern schmerzten. Klar hatten sie das ausgemacht, aber an den Ernstfall hatte nie jemand gedacht. Er schüttelte den Kopf. "Na gut. Ich meine, ich nehme es euch nicht übel, dass durch eure Amateurhaftigkeit wir jetzt unsere Zelte hier abbrechen müssen, und noch nicht mal bei dieser Entführung Geld für uns herausgesprungen ist. Aber wenn du nicht mit willst, bitte." Reuter nahm zwei Tickets aus seiner Jackentasche und lag für Cablonsky auf den Tisch. "In ein paar Jahren werde ich sicher andere Leute finden, die für Geld alles machen... und es besser machen.", sagte er verächtlich und wandte Cablonsky den Rücken zu, der seine Knarre zog.


    Dienststelle - zur gleichen Zeit

    Semir parkte den BMW auf seinem Stammparkplatz und atmete tief durch. Er war noch vollkommen aufgewühlt von dem Weinkrampf seiner Frau, von dem sie sich erst nach mehreren Minuten beruhigte. Andrea's Mutter kam heraus, und redete ihrer Tochter gut zu, nahm sie in die Arme und führte sie langsam ins Haus. Sie nickte Semir dabei freundlich zu als Zeichen, dass er sich ganz auf seinen Job und die Befreiung von Ayda konzentrieren solle... Andrea wäre hier in guten Händen. Semir war dafür dankbar, doch die Gedanken um seine Frau und seine Tochter konnte er nicht verscheuchen. Dabei dachte er auch an Lilly, die heute mittag spätestens, wenn sie aus dem Kindergarten kam, merken würde, dass etwas nicht stimmt, wenn Ayda wieder nicht nach Hause kommt.
    Mit leicht zitternden Händen stieg er aus und durchschritt die Eingangstür zur Dienststelle. Im Großraumbüro hielten sich nur Hotte und Bonrath auf, die beide aufblickten als Semir eintrat. "Hallo Semir... wie... wie gehts dir?", fragte Herzberger vorsichtig, denn er konnte sich denken, wie Semir sich jetzt fühlte. Der erfahrene Kommissar versuchte ein Lächeln. "Es... es geht." Er versuchte nun stark zu sein, auch wenn hier niemand seine Schulter benötigte wie Andrea. "Sind... sind Kevin und Ben beim Verhör?", fragte er mit vorsichtiger Stimme und deutete mit dem Daumen auf die hinteren Räume. Während Bonrath stumm nickte, meine Hotte vorsichtig: "Du sollst aber erst mit der Chefin reden... sie ist im Nebenzimmer."

    Der kleine Polizist konnte sich bereits denken, was die Chefin ihm zu sagen hatte. Seine Handflächen schwitzten, bei dem Gedanken daran, dass der Entführer seiner Tochter nur einen Raum weitersaß, und er versuchte, seinen Puls herunter zu kriegen. Er ging in den kleinen Raum neben dem Verhörzimmer, wo Anna Engelhardt und Jenny beieinander standen und in den Verhörraum blickten. "Semir... was machen sie hier?", fragte die Chefin sofort, und wandte ihren Blick vom Spiegel weg. "Na, Chefin... ich will...", begann er verständnislos, als sein Blick durch die Glasscheibe, in den Verhörraum schweifte. Er sah Ben am Tisch sitzen, sah Kevin dahinter mit verschränkten Armen an der Wand stehen. Er bemerkte, dass nur Ben redete und der Kerl, mit den kurzen brauen Haaren, der aussah wie ein völlig gewöhnlicher Kerl, der keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte, kein Wort sagte. Er saß gerade auf dem Stuhl, hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet und schien aufmerksam den Fragen zu lauschen, schüttelte aber immer wieder den Kopf.
    "Ist das der Kerl?", fragte Semir mit scheinbar ruhiger Stimme, ohne den Blick von dem Spiegel zu wenden. Jenny wurde mulmig, denn sie spürte, dass Semirs Puls gerade hochkochte, als er den Geiselnehmer sah. Scheinbar brach gerade jeder gute Vorsatz, ruhig zu bleiben, in sich zusammen. "Semir... wir sollten...", sagte die Chefin ruhig, als sie erneut von Semir unterbrochen wurde: "IST das der KERL?", wiederholte er seine Frage, diesmal lauter, diesmal mit direktem Blick auf die beiden Frauen, wobei Jenny innerlich zusammenzuckte. Als hätte er das leichte, und stumme Nicken der Chefin nur abwarten wollen, verließ der Polizist das Nebenzimmer mit lautem Knall, um nebenan zu gehen. Das laute: "SEMIR!" der Chefin hörte er gar nicht mehr.

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    • 23. April 2015 um 23:14
    • #29

    Dienststelle - 11:50 Uhr

    Ben hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützte, um sich mit beiden Händen durch die Haare zu greifen, er schien zu verzweifeln, an dem Mann der ihm gegenüber saß. Die Frage, wo sich Ayda aufhielt, hatte er nun bis zum Erbrechen gestellt, doch in den Antworten Zanges regte sich keinerlei Einsicht, keinerlei Zeichen davon, einzuknicken. Er saß immer noch entspannt, manchmal mit verschränkten Armen, manchmal die Hände auf dem Tisch gefaltet Ben gegenüber und wiederholte seine Forderung, ihm das Lösegeld zu überlassen, damit man Ayda freilassen konnte. Auch versuchte Ben, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, nachdem Hotte gerade eben noch Fotos von dem Mann gemacht hatte, und dabei nicht gerade zimperlich umging, als er ihn anherrschte, sich gerade hin zu setzen.
    "Was machen sie beruflich?", fragte Ben, nachdem Zange bereits zu seinem Namen geschwiegen hatte. "Das tut nichts zur Sache." oder "Das ist doch gar nicht interessant.", war stets die Antwort des Entführers, ohne dass er dabei in Rage geriet oder die Stimme erhob. "Doch! UNS interessiert es uns.", entgegnete Kevin, der mittlerweile an der hinteren Wand stand, den Fuß gegen die Wand gestemmt hatte und die Arme vor der Brust verschränkt. Er hielt sich im Hintergrund und war lange nicht so nervös, oder wurde langsam immer ungeduldiger wie zum Beispiel Ben am Tisch, der immer wieder hörbar ausatmete, seufzte oder mal etwas lauter wurde. Es war wie verhext, und der Polizist mit den wuscheligen Haaren spürte einen unbändigen Druck auf sich lasten, aus diesem Mann endlich Informationen zu bekommen. "Können wir eine Verhörpause machen?", fragte Zange irgendwann, und die beiden Polizisten sahen sich kurz an. "Eine was?", fragte Ben mit ungläubigen Blick. "Eine Verhörpause. Es ist 12 Uhr mittag, und ich bin hungrig. Laut Gesetz haben sie die Pflicht, wenn sie mich hier festhalten, auch zu verpflegen." Unrecht hatte er nicht, diese Pflicht hatten sie tatsächlich, jedoch fühlten sich die beiden Polizisten in diesem Moment fürchterlich vor den Kopf gestoßen, aufgrund seiner Unverfrorenheit.

    Plötzlich gab es einen Knall, als die Tür des Nebenzimmers zukrachte. Kevin blickte auf, sein Blick ging zur Tür und ein innerer Impuls ließ ihn sich von der Wand abstoßen. Fast als hätte er geahnt, welches Unheil gleich in den Raum gestürzt kam, in Form von Semir. Der hatte nämlich gerade mit Wucht die Tür aufgestoßen, kam mit weit aufgerissenen Augen und wütender Miene in den Raum gestürzt und ging schnurstracks auf den Festgenommenen zu. "Wo ist meine Tochter?? Was hast du mit meiner Tochter gemacht, du Ratte!!", schrie er und griff Zange sofort am Kragen, so schnell und unvorbereitet, dass in Ben und Kevin erst Bewegung kam, als Semir Zange mit dem Rücken gegen die Wand drückte. "Machs Maul auf!! Wo ist meine Tochter!", rief er dabei wie von Sinnen. "Semir, hör auf!!", hörte er die Stimme seines Partners, der versuchte, ihn von Zange wegzuzerren. "Lass mich los, Ben! Der Typ wird jetzt reden, wo Ayda ist.", knurrte Semir, als er Bens Griff um seinen Arm spürte.
    Ben wirbelte herum, zu Kevin, der beinahe immer noch am gleichen Platz stand, und es eigentlich gut fand, wenn Semir seiner ungezügelten Wut ein wenig freien Lauf ließe. "Hilf mir, verdammt nochmal!", rief der Polizist, als er merkte dass er seinen besten Freund alleine nicht von Zange wegbekam, der ein verängstigtes Gesicht machte, den Kopf wegdrehte weil er Angst hatte, Semir würde ihn schlagen. "WO IST MEINE TOCHTER??", schrie der nochmal, und in seiner Stimme mischten sich Wut und Verzweiflung, Angst um sein ältestes Kind und die Hilflosigkeit, die ihn antrieb.

    Erst jetzt kam Bewegung in Kevin, auch er packte Semir nun mit Ben zusammen an Kragen, Jacke und Arme um ihn von Zange wegzubekommen. "Lasst mich los!", schrie dieser wie von Sinnen, als er spürte dass er sich gegen zwei kräftige Polizisten nicht genügend wehren konnte, und langsam von Zange abließ. Auch die Chefin stand mittlerweile im Türrahmen, und rief mit lauter, dominanter Stimme: "Gerkhan, hören sie auf!" Es war ein lauter Krach, ein lautes Gepolter, als ein Stuhl umfiel, weil der ältere Polizist versuchte sich gegen seinen besten Freund und Kevin zur Wehr zu setzen. Angelockt davon kamen nun auch Bonrath und Herzberger, die ebenfalls mit anpackten um den wütenden Semir aus dem Verhörzimmer zu ziehen.
    An der Tür blieb Kevin zurück, denn er wollte Zange nicht alleine im Raum lassen. Bonrath, Hotte und Ben schafften es, denn langsam verließ Semir der Wille. Der Polizist war in einer emotionalen Extremlage, alle aufgestauten Gefühle der letzten Stunden kochten nun über, brachen erst in Wut, und dann in Verzweiflung aus. Als er merkte, dass ihm der Ausbruch nichts half, als er spürte dass seine Freunde ihn einerseits davon abhielten den Mann zu verprügeln, andererseits aber auch versuchten zu helfen, wich die Wut der Verzweifelung. Sie waren gerade zu viert im Knäuel im Großraumbüro angekommen, als Semir die Beine wegknickten und er auf die Knie fiel, wovon Ben ihn nicht mehr abhalten konnte, auch wenn er versuchte ihn am Arm festzuhalten. Eben war er noch die starke Schulter an Andrea's Seite und wollte sich da keine Schwäche erlauben, jetzt konnte er dieses Bild nicht mehr aufrecht erhalten. Semir brach in Tränen aus, er begann hemmungslos zu weinen, schlug sich dabei die Hände vors Gesicht. Bonrath und Hotte hatten ihn auch losgelassen und standen betreten daneben, während Ben die vollkommenste Art der Hilflosigkeit spürte. So hatte er seinen Partner noch nie gesehen... so aufgelöst, so hilflos, so vollkommen am Ende. Auch die Chefin, die hinter den Männern stand, spürte ein unbehagliches Gefühl, als sie den Mann, den sie schon seit 18 Jahren kannte, weinend am Boden der Autobahn-Dienststelle sah. Ben kniete sich zu seinem Freund, und nahm ihn in die Arme, was Semir geschehen ließ, und sein Gesicht an Bens Schulter drückte. Dabei hörte der junge Polizist die stockende und schluchzende Stimme seines Partners: "Ich will doch ... doch nur meine Tochter zurück..."

    Kevin hatte die Tür des Verhörraumes wieder geschlossen und atmete erstmal durch. Zange stand noch immer an der Wand, er war ein wenig blasser geworden und sein Gesicht zeigte verängstigte Züge. "Das... das dürfen sie nicht.", sagte er beinahe empört in Kevins Richtung, der auf ihn zu kam. Sein Gesicht gewohnt ausdruckslos, nur seine blauen Augen strahlten Kälte aus. Beinahe hatte Zange Angst, auch der schweigsame Polizist würde jetzt auf ihn losgehen, doch der deutete mit dem Kopf nur in Richtung des Stuhls. "Los, setz dich wieder.", sagte er streng, und Zange gehorchte.
    Der junge Polizist setzte sich dem Geiselnehmer wieder gegenüber und lehnte sich an die Lehne. Beide sahen sich in die Augen, wobei Kevin den Kopf ein wenig schief legte. "Haben sie Kinder?", fragte er als nächstes, es klang wie eine normale Fortsetzung des Verhörs. Zange gab darauf erneut keine Antwort, was Kevin als "Nein" wertete. "Dann wissen sie nicht, wozu ein Vater im Zorn fähig ist." Es sollte sich gar nicht wie eine Drohung anhören... und doch klang es so. Doch selbst auf die beängstigende Szene des wütenden Semirs, noch auf die versteckte verbale Drohung von Kevin reagierte Zange. "Das Ganze kostet sie nur Zeit...", sagte er mit ruhiger Stimme in das ausdruckslose Gesicht seines Gegenübers. "Was meinen sie damit?" Zange lehnte sich ein wenig nach vorne, und seine Stimme wurde ein wenig leiser, und blieb trotzdem gewöhnlich und souverän. "Wenn sie mir das Lösegeld nicht geben und mich gehen lassen, werden sie nicht erfahren, wo das Mädchen versteckt ist." Ein Satz, den er schon mehrmals sagte, doch dieses Mal schien er damit den Satz nicht zu beenden. "Und als ich das Mädchen gestern nachmittag zum letzten Mal sah, hatte sie noch eine halbe Flasche Wasser. Und ich weiß nicht, wie lange ein kleines Mädchen es ohne Wasser aushält." Er sagte es beiläufig, als wäre es eine unwichtige Information und diese Art und Weise, diesen Satz zu sagen, jagte Kevin eine Gänsehaut über den Rücken, ohne dass er es zeigte.
    Der Verbrecher lehnte sich wieder zurück, und wiederholte sein Anliegen, dass er Hunger habe und eine Pause wollte...

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    • 26. April 2015 um 04:42
    • #30

    Dienststelle - 14:00 Uhr

    Sie alle waren ratlos... sie alle waren hilflos. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt, als alle sich im Großraumbüro versammelt hatten, und schwiegen. Semir wurde nach seinem Zusammenbruch ganz still. In ihm reifte die Erkenntnis, dass die Entscheidung falsch war, den Geiselnehmer festzunehmen. Er hatte in seiner Nervosität, in seiner Sorge um Ayda, keinen Weitblick, keine ruhige Hand. Und er machte sich schrecklicke Vorwürfe, die nun auch die Wut auf den Entführer nicht mehr verbergen konnten. Nach seinem Zusammenbruch fühlte er keinen Jähzorn mehr, keine Rachegefühle, Semir spürte nur noch Leere und Resignation. Er saß auf einem Drehstuhl wie ein Häufchen Elend.
    Ben stand die ganze Zeit in seiner Nähe, war nun für ihn die moralische Stütze, die Semir sonst immer für ihn war, auch wenn Ben jetzt nicht mit hilfreichen Gesprächen unterstützen konnte, sondern einfach nur durch seine Anwesenheit. Er lehnte gegen den Schreibtisch direkt bei Semir, legte ihm hin und wieder die Hand auf die Schulter, und dachte fieberhaft nach, wie man dem Geiselnehmer nicht doch eine Information entlocken hätte können. Er fühlte sich in der Verantwortung, es war seine Idee gewesen, und nun saß er hier... ratlos. Hilflos. Und Ayda durchlebte womöglich gerade schreckliche Stunden, irgendwo allein. Ben wollte den düsteren Gedanken verscheuchen, doch es ging nicht, das Bild eines Verlieses, eines dunklen feuchten Kellers mit Semirs Tochter darin, gefesselt und hilflos, drängte sich immer wieder in sein Gedächtnis. Sie warteten fieberhaft auf ein Ergebnis von Hartmuts Recherche mit dem Bild des Verdächtigen, denn das war nun der einzige Anhaltspunkt den sie hatten.

    Die Chefin hatte sich gerade wieder beruhigt, genauso wie Hotte Herzberger. Der langjährige Streifenpolizist und die Chefin waren sich vor anderthalb Stunden böse in die Haare gekommen, was offenbarte wie blank die Nerven bei jedem Einzelnen lagen. Kevin hatte gerade den Verhörsaal verlassen und sagte mit resignierender Stimme: "Er hat Hunger und will eine Pause." Er blickte ausschließlich in empörte Gesichter, jeder war sprachlos über diese Unverfrorenheit. "Wir müssen uns an die Regeln halten. Hotte, machen sie eines unserer Besucheressen warm.", sagte die Chefin mit verkniffenen Gesicht. Doch der Widerspruch ihres Beamten erstaunte sie: "Nein, Chefin. Das werde ich nicht tun.", sagte Hotte mit all seiner Leibesruhe und sah die Chefin mit festem Blick an. "Herzberger, seien sie nicht albern. Wir wandeln mit der ganzen Sache am schmalen Grat, wir können uns keinen Fehltritt erlauben. Jeder Verdächtige hat ein Recht auf eine Mahlzeit, das ist eine Anweisung.", sagte Anna Engelhardt etwas schärfer und setzte ein: "Glauben sie, mir fällt das leicht?"
    Doch Herzberger strich sich nur mit beiden Fingern über seinen Bauch und sagte mit ruhiger Stimme: "Ayda sitzt vermutlich irgendwo alleine in einem Loch. Gott weiß, ob sie etwas zu essen hat, und dem Typen etwas zu essen machen? Nein! Lieber gebe ich hier und jetzt meine Marke ab." Die Stimmung im Großraumbüro war zum Schneiden, und innerlich bewunderte jeder Hottes Entschlossenheit, andererseits wollte man auch die Situation nicht eskalieren lassen. Die Chefin hatte recht, andererseits konnte man auch Herzberger selbstverständlich verstehen... doch nützen würde es Ayda nichts, egal was er tat. Letztendlich stand Hottes Kollege Bonrath auf und klopfte dem dicken Kollegen zweimal beruhigend auf die Schulter. Er wollte seinem besten Freund nicht in den Rücken fallen, aber er wollte auch nicht, dass sich die Kollegen gegenseitig an den Hals gingen, und so sagte er mit verkniffenem Gesichtsausdruck: "Ich mach das, Chefin.", bevor Anna Engelhardt selbst Hottes Drohung wahr machte.

    Trotz des bösen Blickes, den die Chefin ihrem konsequenten Beamten noch zu warf, beruhigte sich die Situation wieder. Kevin hatte in einem kurzen Moment von Semirs Unachtsamkeit, Ben das kleine Detail verraten, dass Ayda wohl nicht mehr viel Flüssigkeit zur Verfügung stünde... und man, verdammt nochmal, sich beeilen sollte. Sie unterhielten sich nur leise, während Semir kurz zur Toilette ging. "Ich fühl mich nicht gut dabei, Semir das zu verschweigen.", sagte sein bester Freund leise und zischend zu Kevin. "Wenn du ihm das jetzt sagst, dann wird er nicht mehr zu halten sein. Ich glaube, je mehr er sich jetzt raushält, desto besser ist es." Ben steckte in einem Gewissenskonflikt gegenüber seinem besten Freund und sah diesen kurz an, als er zurück von der Toilette kam.
    Kevin kehrte nochmal zurück in den Verhörraum, wo Zange gerade dabei war, das letzte bisschen Kartoffelpüree und Erbsen mit dem Messer auf die Gabel zu schieben. "Schmeckts?", fragte der Polizist beinahe verhöhnend, als er sich gegenüber des Kerls wieder niederließ und der nickte kauend. "Macht ihnen das gar nichts aus? Sie sitzen hier im Warmen... haben etwas zu trinken, haben etwas zu essen während ein kleines Mädchen irgendwo alleine sitzt, gefangen und vielleicht mittlerweile ohne Wasser? Weil sie glaubt, dass sie wieder zurückkommen?", fragte er und lehnte sich demonstrativ zurück, mit den Händen hinter dem Kopf. Zange blickte vom Teller auf, er kaute noch, schluckte unter und lehnte sich dann ebenso zurück. Ein leichtes Kopfschütteln ging einher, und Kevin wusste es nicht ob er es als Antwort deuten konnte. "Sie verlieren nur Zeit.", wiederholte er nochmals mit seiner ruhigen Stimme, und verharrte wieder auf seinem Stuhl, bevor er hinterher schob: "Wertvolle Zeit."

    Als das Faxgerät ansprang, sprang auch Ben. Sofort riss er das Blatt Papier aus dem Druckerfach in der Hoffnung, dass es eine Antwort von Hartmut wäre, und er wurde nicht enttäuscht. Dieter Zackowicz, genannt "Zange", war als Überschrift über dem Kurzsteckbrief. Der Kerl war tatsächlich aktenkundig, und Ben erkennte ihn sofort auf dem Papier wieder. Hartmut hatte sofort die komplette Akte mitgefaxt. "Wir haben ihn.", sagte Ben nur, und sein bester Freund blickte auf und stand augenblicklich neben ihm. "Der Kerl hat bereits gesessen wegen räuberischer Erpressung und Freiheitsberaubung. Passt ja hervorranged.", sagte der Polizist und überflog die Angaben. Er war bei einer Adresse gemeldet, seine Vorstrafen standen darin, und Informationen über die damalige Verurteilung. Mit ihm wurde ein Igor Cablonsky ebenfalls verhaftet und verurteilt, der bei der damaligen Entführung mit von der Parie war.
    "Jenny, versuch mal alles über diesen Cablonsky rauszufinden. Vorstrafen, gemeldete Adresse, Lieblingskaugummi, alles.", sagte Ben schnell, nahm die Blätter und wollte wieder zu Kevin in den Verhörraum. Semir folgte ihm wie selbstverständlich, doch Ben stoppte vor der Tür. "Semir, bitte. Ich versteh dich wirklich und ich weiß, was in dir vorgeht. Aber bitte... bitte, bleib draussen. Du bist momentan nicht in der Lage, die Kontrolle zu behalten, und du würdest uns einfach nicht helfen.", flehte er schon beinahe. Auch die Chefin war bei den beiden und nickte zustimmend. "Aber Ben... ich kann doch nicht... hier draussen sitzen, während Ayda..." "Vertrau uns doch einfach. Vertrau Kevin und mir. So wie ich dir auch vertrauen würde." "Ben hat recht. Semir, sie sind momentan keine Hilfe in ihrem Zustand. Sie sollten zu ihrer Frau..." "Nein!", wiedersprach Semir sofort. "Ich bleibe hier... ich... ich gehe nicht mit rein, aber ich bleibe hier." Bens Worte hatten ihn beeindruckt, und er wusste ja selbst, dass er die Kontrolle über sich wohl nicht im Griff hatte, wenn er jetzt wieder vor dem Geiselnehmer stehen würde, und der in arroganter Art und Weise jedes Gespräch verweigerte. Er ging stattdessen in den Nebenraum, Anna Engelhardt folgte ihm und winkte unauffällig noch Hotte und Bonrath herbei, die sich in der Nähe aufhalten sollten.

    Kevin saß noch auf seinem Stuhl, als Ben in den Verhörraum kam, und die Akte auf den Tisch warf: "So, Herr Zackowicz.", sagte Ben, während sein Kollege den Kopf nach vorne regte, um die Blätter zu lesen. "Wie ich sehe, machen sie eine Entführung nicht zum ersten Mal." Auch Zange blickte auf den kleinen Stapel Papiere, auf sein Bild und seinen Namen. Doch noch ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Kevin nahm es, und blätterte darin. "Hmm, eine 27jährige entführt... einen 32jährigen... eine 22jährige.", las er laut und ließ die Akte wieder langsam sinken: "Da hat man im Knast nicht viel zu befürchten. Aber weißt du, Ben, was man mit Kerlen macht, die kleine Kinder entführen?", fragte der Polizist auffällig in Bens Richtung, und ignorierte Zange, als sei er nicht da. "Ich glaube, ungefähr das Gleiche, was sie mit Kinderschändern machen.", meinte der Polizist gespielt nachdenklich. "Vor allem wenn herauskommt, dass die Kinder im Koma liegen, wenn sie gefunden werden... und davon nicht mehr wieder aufwachen."
    Zange bewegte sie Lippen hin und her, seine Zähne mahlten aufeinander, als würde er Kaugummi kauen, dabei hatte er nichts im Mund. Die beiden Polizisten blickten erst sich, und dann langsam wieder zu Zange, der die Blicke spürte. "Wo ist Ayda?", fragte Ben erneut mit scharfer Stimme. "Wir können sicher was für ihre Bewährungsauflagen tun, wenn sie uns helfen." Etwas nervöser als vorher blickte Zange zwischen den beiden Männern hin und her, doch keine Antwort trat über seine Lippen. "Wer ist Cablonsky? Igor Cablonsky?", war Bens zweite Frage und er tippte mit dem Finger auf den Namen auf dem Blatt. Doch statt einer eindeutigen Antwort, formulierte Zange seine Drohung erneut... dieses Mal etwas abgewandelt, und auf die Frage bezogen: "Er würde ihnen sicherlich das Gleiche sagen wie ich: Sie vergeuden nur Zeit. Geben sie mir das Lösegeld, und sie bekommen die Kleine zurück." Ben hatte sich auf den Tisch gestützt, während Kevin immer noch saß. Der junge Kommissar mit den Wuschelhaaren nickte unmerklich und nahm die Akte wieder zur Hand: "Wir bekommen es schon raus." Dann stieß er Kevin an die Schulter und ging wieder zum Flur, wo er zu Hotte und Bonrath sagte: "Bringt ihn bitte in eine Zelle." Und im Nebenraum hatte Semir die Fingernägel fest in die Tischplatte gebohrt, als er jedes Wort des Geiselnehmers hörte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    • 27. April 2015 um 22:37
    • #31

    Zange's Wohnung - 15:30 Uhr

    Sie waren mit Blaulicht gefahren... Ben am Steuer, Kevin auf dem Beifahrersitz, Semir hinten auf den Plätzen. Doch er konnte sich überhaupt nicht entspannt zurücklehnen, er saß nach vorne gebeugt in der Mitte, hatte die Arme auf die beiden Sitzlehnen vor ihm gelegt und drängte Ben immer wieder zur Eile, der bereits im Einsatztempo unterwegs war. Sie mussten jetzt alle Register ziehen, die noch möglich waren, und die hiessen nun, die Wohnungen der Verdächtigen zu durchsuchen. Jenny war dabei, alles über den Mitverurteilten von damals, Igor Cablonsky herauszufinden, und in der Zeit wollten die drei Polizisten schon mal in Zanges Wohnung nach dem Rechten sehen. Irgendetwas musste sich doch dort finden lassen.
    Und weil die drei keinerlei Durchsuchungsbeschluss hatten, ließen sie auch diesmal die Jungs von der Spurensicherung zu Hause. Das war den dreien bewusst, dass sie sich auf ganz dünnem Eis befanden mit ihren Aktionen, doch sie wussten um den Rückhalt der Chefin. Wenn es nur darum ging, Ayda zunächst zu finden ließ sie zwar Gewalt an dem Verdächtigen nicht zu, da dadurch auch das spätere Verfahren platzen könnte. Doch wenn man Ayda erstmal gefunden hatte, wäre es vermutlich leichter, den Männern die Entführung nachzuweisen, auch ohne die illegal beschaften Hinweise aus der Wohnung. So entschied sie sich, die drei Polizisten fahren zu lassen, richtete aber an Ben noch eine ernsthafte Warnung: "Passen sie auf, dass Semir keinen Unsinn macht. Sie sind mir für ihn verantwortlich." Der junge Polizist, der das sonst immer umgekehrt hörte, nickte wie selbstverständlich.

    Semir hatte Hummeln im Hintern, und er schwitzte. Was würden sie in der Wohnung vorfinden? Vielleicht sogar Ayda? Wäre der Typ so bekloppt, das Mädchen in der eigenen Wohnung zu verstecken? Würden sie Unterlagen, oder Dokumente, oder auch nur den kleinsten Papierschnipsel finden, der sie weiterbringen würde? Sein Herz pochte fest gegen seinen Brustkorb, und der Ritt durch die Stadt kam ihm wie ewig vor. Sie hielten letztendlich in einer recht heruntergekommenen Wohngegend, in denen Betonsilos das Bild dominierten. Ben parkte den Mercedes direkt an der Straße, und die Polizisten stiegen aus. Von den Hinterhöfen her hörten sie Hundegebell, während Kevin auf den Zettel sah, wo er die Hausnummer aufgekritzelt hatte. "Die 3 ist direkt da vorne.", sagte er wie selbstverständlich, und erntete von Ben einen kurzen, überraschenden Blick. "Warst du hier schon mal?" "Früher.", wich der schweigsame Polizist der Frage etwas aus. Doch sein Freund konnte sich gut vorstellen, dass Kevin mit seiner damaligen Jugendgang öfters in solchen Gegenden verkehrte. Soziale Brennpunkte, Diebstähle, Drogenverkäufe und Schlägereien waren hier an der Tagesordnung.
    Die Tür knarzte laut beim Öffnen, vorher hatten sie Zanges Nachname auf dem großen unübersichtlichen Klingelschild ausfindig machen können. "7.Stock...", murmelte Kevin und warf einen Blick auf den Aufzug, und dann einen Blick auf Ben. Der machte eine eindeutige Kopfbewegung, die der junge Polizist sofort verstand. "Lass uns die Treppen nehmen.", meinte er mit einem Blick auf Semir. "Auf das kaputte Ding warten wir ewig." Semir war viel zu sehr in Gedanken, um darüber nach zu denken, nur Ben nickte seinem Partner dankbar zu, als sie gemeinsam die Treppen hochliefen, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend.

    Nach 7 Stockwerken waren sie endlich dort, wo sie hinwollten... vor der Wohnungstür von Zange. "Sollen wir klingeln? Vielleicht ist seine Freundin zu Hause?", fragte Ben in die Richtung seines jungen Kollegen. Semir hätte er nicht fragen brauchen, der hätte am liebsten gleich die Tür eingetreten, so schnell wollte er da hinein. Kevin betätigte den altmodischen Klingelknopf mehrmals, doch hinter der maroden Holztür tat sich nichts. "Lass mich jetzt durch.", fauchte Semir und nahm bereits eine Trittstellung ein. "Moment, moment...", stoppte ihn sein Partner, während Kevin sich vor das Schloß kniete. "Wäre nicht schlecht, wenn wir die Tür nachher wieder verschließen könnten." Mit ein zwei, geübten Bewegungen mit dem Dietrich und einem kleinen Schraubenzieher gab die Tür sofort nach. Ihnen wehte ein übler Geruch, abgestandener Essensreste und schlecht geläufteter Raumluft entgegen, so dass alle drei sofort das Gesicht verzogen. Langsam traten die Beamten ein, Semir verschloß hinter sich die Tür wieder, falls jemand vorbeikäme.
    Es sah beinahe so aus, wie in Kevins alter Wohnung, nur dass hier offenbar ein menschliches Schwein hauste. Alte Konservendosen, ungespültes Geschirr, ein Boden der schon wochenlang keinen Schrubber, geschweige denn einen Staubsauger gesehen hatte. "Scheint nicht oft zu Hause zu sein.", sagte Ben, der sich umsah. "Der Kalender ist vor vier Tagen das letzte Mal abgerissen worden." Das Wohnzimmer und die Küche war ein Raum, zwei Türen waren im hinteren Teil der Wohnung. Semirs Hoffnung schwand, als er nirgends Gepolter hörte, nirgends hilflose Arme, die gegen eine Tür hämmerten oder Aydas Stimme, die um Hilfe rief, damit ihr Vater sie endlich befreien konnte. Trotzdem geisterte immer noch das Bild der bewusstlosen Ayda in seinem Kopf, und so ging er voll Spannung zur ersten Tür. Hinter ihr lag das Badezimmer, das nicht weniger dreckig und unappetitlich aussah.

    Als der erfahrene Autobahnpolizist zur zweiten Tür ging, legte er zitternd die Hand über die Klinke. Er sah Ben an, der bereits vor dem Küchenschrank kniete, und einen Blick in hinter jede Tür riskierte. Semir atmete tief durch... verharrte einen Augenblick und dachte daran, wie er sich fühlte, als sie auf der Suche nach Kevin waren, als sie befürchteten, er könnte sich etwas angetan haben. Mit einem Ruck stieß er die Tür auf, und war enttäuscht. Das Bett war verlassen und leer, nicht ordentlich gemacht, aber es sah auch nicht nach einem Kampf aus. Der Polizist kniete sich auf den Boden und sah auch unterm Bett und im Schrank nach, falls Ayda sich in panischer Angst irgendwo versteckt hatte. Doch auch dort: Fehlanzeige.
    "Sie ist nicht hier.", sagte er desillusioniert, als er aus dem Zimmer zurückkam. Kevin und Ben blickten ihren älteren Kollegen an, und konnten die Resignation und Enttäuschung deutlich spüren. "Hey, das muss doch noch nichts heißen. War doch klar, dass der nicht so blöd sein kann. Der hat Helfer.", versuchte Ben Semirs Optimismus zu kitzen, doch der setzte sich auf die Lehne des alten verkommenen Sofas. Sein Freund stand sofort auf und legte ihm beide Hände auf die Schulter: "Mann, wir dürfen jetzt nicht aufgeben. Sonst ist Ayda verloren. Wir müssen weitermachen!" "Und womit? Wir haben nichts, ausser einem Boten, der nichts sagt. Und einem Namen, der mal mit ihm ein Ding gedreht hat. Wir haben keine Hinweise auf den Aufenthaltsort von Ayda, wir wissen überhaupt kein Motiv.", sagte Semir kraft- und kampflos.

    "Vielleicht haben wir doch etwas.", meinte Kevin, der einige Blätter aus einem Küchenschrank hervorzauberte. Sofort standen Ben und Semir hinter ihm, und versuchten einen Blick darauf zu werfen. "Was ist das?" Die hellblauen Augen des Kommissaren glitten schnell über die Schrift und die Buchstaben. "Das sieht wie eine Bestellung von Chemikalien aus. Medikamente... Laborzubehör. Alles auf seinen Namen.", murmelte Kevin. "Vielleicht um die Droge herzustellen, um die Opfer ins Koma zu spritzen.", mutmaßte Ben laut und sah Semirs Gesichtsausdruck, der zwischen Schock, Wut und Angst schwandt. "Sieht ganz so aus. Aber der Typ hat doch keinerlei Anhaltspunkte in seiner Vita, dass er sowas kann. Höchstens sein Freund, dieser Cablonsky." Kevins Kollegen nickten zustimmend, und sie bewegten sich zu dritt wieder aus der Wohnung heraus. "Hoffentlich hat Jenny etwas über den Kerl herausgefunden.", meinte Semir auf dem Weg nach unten, und wählte bereits Jennys Nummer.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

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    • 29. April 2015 um 22:31
    • #32

    Dienstwagen - 16:00 Uhr

    Ben trat wieder aufs Gas. Gerade bekamen sie von Jenny die letzte gemeldete Adresse von Cablonsky durchgegeben, nachdem die junge Polizistin jedes Medium genutzt hatte, Informationen über ihn einzuholen. Die Mietwohngegend, die ein wenig gehobener ausfiel, lag allerdings am anderen Ende der Stadt, so dass es alle drei Polizisten einige Nerven kostete, bis sie sich durch den Feierabendverkehr gekämpft hatten. Ausserdem hatte Semir Jenny den Namen des Medikamenten-Versandhandels durchgegeben. Sie solle checken, ob es unter dieser Kundennummer noch weitere Bestellungen gab, und wie diese aussahen.
    Danach klingelte Semir bei Hartmut durch. Der war mittlerweile wieder in der KTU am arbeiten. "Freund?" "Hartmut. Wir brauchen dich!", kam Semir sofort ohne Umschweife auf den Punkt. "Was gibts Neues? Habt ihr Ayda gefunden?", war sofort die sorgenvolle Frage des Cobra11-Familienmitgliedes, der sich genauso wie alle anderen, natürlich große Sorgen um Semirs Tochter machte, aber oft als letztes informiert wurde, weil er räumlich gesehen weiter weg arbeitete. "Nein, wir sind noch auf der Suche. In der Wohnung eines Verdächtigen haben wir eine Bestellung von Chemikalien gefunden. Kannst du herausfinden, was der damit vor hatte... ein Medikament, ein Mittel mit dem man Menschen ins Koma spritzen kann vielleicht?" Der Stimme des erfahrenen Polizisten war aufgeregt und überschlug sich fast, das spürte auch der Rotschopf am anderen Ende der Leitung. "Puh Semir... ich kenn mich zwar etwas mit Chemie aus, aber doch nicht mit Medizin.", stöhnte er und es war ihm immer unangenehm, wenn er zugeben musste, von etwas keine Ahnung zu haben. Dabei fuhr er sich verlegen durch seine lockigen Haare. "Bitte Hartmut... wir können nicht zu einem Arzt, wir sind inoffiziell unterwegs. Du findest doch sicher alles im Internet, du musst uns helfen." Für den Polizisten zerbrach gerade eine Hoffnung, in Hartmut eine helfende Hand zu finden, um dieses Rätsel zu lösen.

    Hartmut wollte ihm diese Hoffnung nicht vollends zerstören. "Schick mir die Bestellung per Whatsapp. Ich glaube, ich habe eine Idee.", sagte er dann, und Semir atmete erleichtert auf. Wenn Hartmut eine Idee hatte, dann war das kein leeres Versprechen. Er bedankte sich und sendete die Whatsapp-Nachricht sofort nachdem er aufgelegt hatte. "Hartmut kümmert sich drum... vielleicht bekommt er etwas raus.", sagte er dabei mehr zu sich, als zu seinen beiden Kollegen, die vor ihm saßen. "Können wir nicht etwas schneller fahren?" "Semir, ich kann nicht über die Autos drüberfliegen.", beschwerte sich Ben am Steuer des Mercedes, und mühte sich dabei so gut er konnte mit Blaulicht durch den Feierabendverkehr.
    Das Pochen in Semirs Stirn wurde immer wilder, immer schmerzhafter, immer schlimmer. Mit jeder Minute, jeder Viertelstunde diese verloren, verlängerte sich Aydas Qual, die Ungewissheit. Ben und Kevin standen ebenso unter Strom, denn im Gegensatz zu Semir wussten sie um die teuflische Information von Zange, dass Ayda nicht mehr viel zu trinken hatte. Die Vorstellung, sie war irgendwo gefesselt und eine rettende Flasche Wasser stand gerade so weit weg, dass sie sie nicht erreichen konnte, dass sie verzweifelt an ihren Fesseln zerrte und schrie, um an die begehrte Flasche Wasser zu kommen... diese Vorstellung gruselte die beiden Männer. Der Weg ans andere Ende der Stadt kam ihnen allen dreien elendig lange vor, jeder brauchte heute mindestens doppelt so lange um die Spur zu wechseln, oder im Stau eine Sicherheitsgasse zu bilden. Einen besonders sturen LKW überholte Ben über den Standstreifen, wobei er sich gerade so zwischen Leitplankte und LKW vorbeiquetschte.


    Cablonsky's Wohnung - 16:30 Uhr

    Diesmal war es gefährlicher, denn bei Cablonsky wussten sie nicht... war er zu Hause? Lebte noch jemand in der Wohnung? Wurden sie irgendwann überrascht? Als sie den zweiten Stock des 6-Parteienhauses über die Treppen erreichten, kniete sich Kevin wieder vor die Wohnungstür. Diesmal mussten sie aufpassen, denn das Haus war gehobener, und einen Einbruch würde man hier nicht einfach mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nehmen und dann nicht weiter beachten. Gekonnt ließ der ehemalige Kriminelle den Schraubendreher im Schlüsselloch tanzen, und mit einem Klack war die Wohnungstür offen. Bevor er sie aufstieß, nickte er kurz als Zeichen für seine beiden Kollegen, die beide sofort die Waffen ergriffen und entsicherten. Kevin tat es ihnen gleich, und drückte dann, die Waffe im Anschlag, langsam und knarrend die Wohnungstür auf. Er blieb für einen Moment auf Knien, Semir und Ben standen hinter ihm.
    "Okay, wir schauen uns alles an. Aber schiesst nicht sofort los, wenn sich etwas bewegt.", warnte Ben eindringlich und verschloss die Tür wieder hinter sich. Anders als bei Zange standen sie hier erst in einem Flur, denn sie langsam nach vorne schlichen. Von dem Flur aus gingen zwei Türen ab, eine rechts, eine Links. Während Kevin vorne weiter bis in den Wohnraum ging, nahm sich Ben die linke, Semir die rechte Tür vor.
    Ben lehnte sich an die Wand, die Waffe in der einen Hand nach oben gerichtet, die andere führte langsam zur Klinke. Mit einem Ruck drehte er sich in den Raum und sicherte nach beiden Seiten, falls sich Cablonsky hier irgendwo aufhielt. Er stand in einem Badezimmer, das einfach eingerichtet, aber im Gegensatz zu Zanges Badezimmer, zumindest sauber war.

    Semir tat es Ben gleich, auch er schritt mit einem Ruck ins Zimmer hinein, in dem er ein Bett vorfand. Die Waffe hatte er genau auf eine Wölbung der Bettdecke gerichtet, die aussah, als würde eine Person, eine kleine Person darunter liegen. Sein Herzschlag setzte aus, und er war nicht mal fähig, Aydas Namen zu sagen oder Ben zu rufen. Wie in Zeitlupe, die Waffe langsam sinkend ging der erfahrene Polizist Schritt für Schritt auf das Bett zu. Er schluckte, und sein Herz wollte ihm zum Hals herausspringen, ohne dass er wirklich sah, was da unter der Bettdecke lag.
    Es kam ihm vor, wie ein langsames Hinschleichen zu einem Abgrund, um darüber hinaus zu schauen, ob noch jemand dort hing und sich festklammerte, ob er noch irgendjemandem helfen konnte. Nur ein Schritt zu weit, und man wurde selber ein Opfer des Absturzes. Hier hatte Semir das Ende der Klippe erreicht, als er den Zipfel der Bettdecke ergriff und langsam zog. Er erwartete alles und nichts: Eine verängstigte Ayda? Ayda im Koma? Ein anderes Mädchen? Oder sogar ... nein, daran wollte er nicht denken und die Spannung in ihm schien ihn zu zerreissen. Die Bettdecke wurde von seinem zuckenden Arm weggerissen, und er musste feststellen, dass sie lediglich in einer Wölbung lag. Unter ihr war nichts, ausser die blanke Matratze, die mit einem Spanntuch überzogen war. Semir spürte, wie ihm schwindelig vor Aufregung wurde, er musste sich am Fensterbrett neben ihm kurz festhalten. Sein Atem raste, als wäre er einen Marathon gelaufen und er fühlte, dass ihn die Angst um Ayda langsam aber sicher wahnsinning werden ließ.

    Kevin und Ben nahmen in der Zwischenzeit den Wohnzimmerschrank auseinander, drehten jeden Topf und jede Pfanne um und blätterten in dem ein oder anderen Aktenordner. Ben fand ein Bild, dass Cablonsky und Zange Arm in Arm zeigten. "Also sind die beiden tatsächlich befreundet.", merkte Kevin an. Auf dem Bild stand kein Datum. Sie suchten weiter, bis irgendwann auch Semir sich dazu gesellte. "Alles okay?", fragte Ben etwas besorgt, denn er sah dass Semir die Stirn schweißnass hatte, was vorher noch nicht der Fall war. Er nickte nur schwach und müde.
    Der Polizist mit dem Wuschelkopf fand eine weitere Bestellung, dieses Mal auf den Namen Cablonsky. "Wieder Medikamente.", sagte er und Semir nahm ihm die Liste sofort ab, fotografierte sie und schickte sie an Hartmut. Doch wieder verließ ihn der Mut, als sich zunächst sonst keinerlei Hinweise ergaben. "Ich werde wahnsinnig. Wir finden nichts, wir suchen die Nadel im Heuhaufen.", rief er verzweifelt und warf einen Ordner, den er gerade in der Hand hatte, an die Wand. Ben stand direkt neben ihm und wollte ihn wieder beschwichtigen, doch dieses Mal wehrte sich Semir dagegen: "Du sagst mir schon die ganze Zeit, dass wir sie finden. Wir finden sie aber nicht! Wir fahren von einem Fehlschlag zum Nächsten!" Auch Ben wurde etwas lauter, er konnte Semirs Gefühle nachvollziehen, doch was sollte er machen? Er konnte doch auch nicht zaubern. "Semir, wir tun doch alles was wir können. Wir können Zange doch nicht foltern, wir müssen den Hinweisen nachgeben, wie wir sie haben." Der erfahrene Polizist hatte sich nicht unter Kontrolle, und das spürte sein bester Freund erst, als Semir ihn am Kragen packte. "In dieser Zeit sitzt Ayda vielleicht irgendwo und stirbt vor Angst!! Verstehst du das??", schrie er Ben an, der sich mit der Situation ebenfalls überfordert war, während sein Freund noch lauter, noch hilfloser, noch verzweifelter wurde: "Verstehst du das?? Ich will meine Tochter zurück!!!"

    Kevin, der einen Ordner in den Händen hielt, stand dieser Szene hilflos gegenüber. Er konnte nicht eingreifen, er verstand Semirs Gefühle, er verstand Bens Hilflosigkeit. Doch mit dem, was er jetzt las, konnte er die Situation schlichten, und so hielt er das Dokument, das er gerade gefunden hatte, etwas nach oben: "Ich glaube, wir haben etwas..."

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Einmal editiert, zuletzt von Campino (1. Mai 2015 um 01:13)

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    • 3. Mai 2015 um 23:43
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    Landstraße - 17:15 Uhr

    Ben fuhr so schnell, dass das Gras am Straßenrand der einsamen Landstraße erzitterte, das Laub aufgewirbelt wurde, das bereits von den ersten Bäumen herab gesunken war. Erst jetzt bemerkte er, dass es schon sehr herbstlich aussah, die Bäume bereits bunter waren, und das erste Laub schon fiel. Warum fiel ihm das gerade jetzt auf, fragte sich Semir? War er bereits vollkommen wahnsinnig? Eben stand er kurz davor, seinem Partner, seinem besten Freund ein zu langen, voller Verzweiflung, voller Selbstzweifel, voller Angst um seine Tochter. Sie stolperten von einer Pleite in die andere, suchten die Nadel im Heuhaufen und kamen keinen Schritt vorwärts.
    Bis, ja bis Kevin diese Besitzurkunde hochhielt, die er in einer Zwischenschublade gefunden hatte. Normalerweise benutzte man solche Zwischenschubladen, um Drogen vor Razzias zu verstecken. Kevin wusste das nur zu gut, oft genug hatte er dort viele kleine Pillen oder Beutel mit Haschisch in seiner damaligen Jugendbude versteckt... aus Angst, dass doch eines Morgens die Polizei die Haustür eintreten würde, und seine Bude auf den Kopf stellte. Seitdem dachte er immer daran, bei Hausdurchsuchungen auch die typischen Drogenverstecke zu filzen. Jetzt waren sie auf dem Weg zu der Adresse, die eigentlich keine richtige Adresse war, sondern nur die Beschreibung eines Flurstückes abseits von Köln. Jenny hatte dieses Flurstück sofort über Google Maps geortet und bestätigt, dass sich darauf so etwas wie ein Haus, oder eine größere Hütte befände, und lotste die drei Kommissare in die Richtung. Plötzlich hatte Semir Hoffnung... er wusste nicht warum, aber irgendetwas sagte ihm, dass sie dort Ayda finden würden. Vielleicht war es aber nur der dringende und unbarmherzige Wunsch, der diese Hoffnung auslöste.

    Ben bog einen Feldweg ab, der Dreck spritzte von den Reifen und die ersten Schlaglöcher ließen die Insassen des Mercedes durchschütteln. Doch sie sahen es bereits am Wegesrand stehen. Es war ein Haus... oder doch eine große Hütte. Die Größe und Bauweise war die eines Hauses, jedoch schien es uralt und komplett aus Holz gebaut. Quadratische Fenster ließen Licht ins Innere, es hatte wohl zwei Stockwerke und schien vollkommen verlassen. Ein ungutes Gefühl breitete sich in den Mägen der drei Polizisten aus, als sie es sahen und anhielten, aber keiner konnte genau sagen, weshalb. Der Himmel hinter dem Haus war düster und dunkel, der Wind frischte auf und es hatte etwas von einer Endzeitstimmung, als sie ausstiegen und die absolute Stille sie empfing. Nur das leise Rauschen eines nahen Waldes konnten sie vernehmen.
    Semir ging vor, die Polizisten hatten die Waffen wieder in der Hand weil sie auch hier nicht sicher sein konnten, dass jemand auf sie wartete. Das Schloß der Eingangstür war verrostet, hielt aber den ersten Rüttelversuchen noch stand. Allerdings war es kein kleines Schlüsselloch, sondern ein großes, für einen groben Schlüssel gemacht und Kevin würde mit seinem Werkzeug hier Probleme bekommen. "Das ist mir jetzt egal.", warf Semir ein und gab der Tür einen wütenden Tritt, was der Holzrahmen, der die Tür hielt, nicht aushielt. Ob sie diese Bruchbude nun komplett unbeschädigt verlassen würden, war ihm nun auch egal. Das Haus empfing sie ebenfalls mit Stille und muffiger Luft. Rechts zweigte eine Holztreppe nach oben ab, der Boden war aus Holz, die Wände schienen aus purem Holz. Trocken, teilweise morsch und uralt. Semir ging den Flur voran, Ben dicht hinter ihm und öffnete die erste Tür auf der rechten Seite, während Kevin die knarrende Treppe entpor stieg. Nichts war zu hören, ausser das leise Knarren und Knarzen des Holzes um sie herum.

    Als Semir die erste Tür aufstieß, die abgesperrt war, sah er sie. Er nahm sie wahr, bevor die Tür überhaupt offen war. Die Waffe sank wie in Zeitlupe, sein Mund stand weit offen und die Augen wurden groß. Eine Wasserflasche, gut gefüllt, stand direkt neben der schäbigen Matratze, ihr Körper lag, als hätte sie jemand aufgebahrt. Die Beine zusammen, die Arme zum Bauch und die Hände dort gefaltet. "Oh Gott...", hauchte Semir bloß bevor in ihn Bewegung kam und er vor der Matratze auf die Knie fiel, neben das Mädchen, das seine Tochter war. Er fasste sie sanft an ihren Schultern, und versuchte sie aufzuwecken, als würde er sie Sonntags oder am Feiertag wecken, wenn das Frühstück fertig war. "Ayda? Ayda?", sagte er und spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten, als von seiner Tochter keine Reaktion kam. Semir hielt Ayda in den Händen, wie eine leblose Puppe, ihr Kopf fiel zur Seite... aber sie atmete. Sie lebte. Er konnte spüren, wie ihre Brust sich hob und senkte, er konnte ihren Puls ertasten, der zwar schwach war, aber vorhanden. "Ayda... bitte wach auf. Bitte wach wieder auf.", flehte der Polizist sie an.
    Ben hörte die leise Stimme seines Partners und kam mit einigen Schritten zu ihm gelaufen. Er sah dem knienden Semir über die Schulter und erblickte dessen Tochter. Geschockt hielt er sich eine Hand vor den Mund, die Freude, die sie dachten zu verspüren, wenn sie das Mädchen finden würden, wollte sich nicht einstellen. Zu schlimm war dieses Gefühl der Hilflosigkeit. Doch im Gegensatz zu seinem Freund fasste Ben als erstes einen klaren Gedanken, als er die Notrufnummer wählte und sofort einen Notarzt und Krankenwagen rief. Semir bekam von alldem nichts mit. Er hatte seine leblos scheinende Tochter in den Arm genommen und an sich gedrückt, streichelte ihr sanft über die dunkelbraunen Haare und schluchzte leise.

    Kevin hörte unten nur leise Stimmen, dachte dass sich Ben und Semir unterhielten, deswegen ging er oben weiter. Er kam an eine Tür, die abgesperrt war. Er drückte die Klinke, doch die Tür gab nicht nach, stattdessen hörte er hinter der Tür ein Poltern und hastige Schritte. Beinahe wäre der Polizist erschrocken zurückgewichen. "Hallo? Wer ist da?", fragte eine junge Stimme hinter der Tür, und Kevins Herz setzte einen Moment aus. Mein Gott, hier waren noch andere Kinder eingesperrt... dann musste auch Ayda hier sein. "Hier ist die Polizei. Geht von der Tür weg.", sagte Kevin leise und die trippelnden Füße entfernten sich wieder. Er entfernte sich zwei Schritte von der Tür und ließ sie mit einem Karatetritt aus dem Rahmen brechen. Ein kleiner Junge und ein Mädchen blickten ihn von zwei Matratzen an, sie waren vielleicht 7 oder 8 Jahre alt. "Seid ihr verletzt?", fragte Kevin, und beide schüttelten zaghaft den Kopf. "Na kommt, raus mit euch.", meinte er lächelnd und ließ den beiden den Vortritt, die sofort an ihm vorbeiliefen und die Treppe herunter, als der Polizist plötzlich einen lauten "Hilfe"-Ruf, der sich ebenfalls kindlich anhörte, vernahm und es plötzlich einen fürchterlichen Schlag gab. Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte eine Sprengsatz, der in dem Zimmer der beiden Kinder positioniert war und ließ Kevin nach hinten taumeln, und zu Boden gehen. Die beiden Kinder auf der Treppe schrien laut und liefen unten Ben in die Arme.
    Auch Semir zuckte zusammen, als er die Explosion hörte. "Semir, wir müssen hier raus. Oben brennt es!", schrie Ben aus dem Flur, und sofort packte der erfahrene Polizist seine Tochter auf den Arm und verließ das Zimmer. Aus den Ritzen zwischen den Holzpanelen drückte sich bereits der Qualm nach unten ins Erdgeschoss, und im Flur konnte man das Prasseln des Feuers im Obergeschoss vernehmen. Semir sah, wie Ben zwei weitere Kinder an den Händen hielt und mit ihnen nach draussen zum Auto lief, während er seinem Freund folgte. "Wo ist Kevin?", rief er dabei und sie blickten beide zurück. Das Dach des Hauses war bereits eine Fackel im hinteren Bereich, wo die Bombe explodiert ist. "Scheisse...", fluchte Ben, ließ die beiden Kinder, die bitterlich weinten bei Semir und rannte zurück ins Haus.

    Kevin hatte sich direkt nach der Explosion hochgestemmt, und sah bereits eine Feuerwand. Unglaublich schnell frassen sich die Flammen, die die Explosion verursachte hatte, in die Holzwände hinein. Das Zimmer neben an, das im Flur durch eine zusätzliche Tür getrennt war, stand bereits im Vollbrand. Das Prasseln des Feuers war unglaublich laut und eine stechende Hitze schlug dem Polizisten entgegen. "HIIIIIILFE!!", hörte er erneut aus der Richtung der Flammen, und sein Herz begann zu rasen. Mit zwei schnellen Schritten war er bei der Zwischentür, die eiserne Klinke glühte bereits rot und dichter Qualm presste sich unter der Tür hervor. Kevin musste husten und hörte nun hinter sich an der Treppe die Stimme seines Partners. "Kevin! Was machst du denn da? Komm raus!!", schrie Ben wie ein Irrer, der wieder ins Haus gelaufen war weil er befürchtete, Kevin würde oben bewusstlos herumliegen. "Da ist noch jemand drin!", bekam er zur Antwort und lief direkt zu seinem Freund. "Das Zimmer da hinten steht in Flammen. Da kann niemand mehr dahinter sein.", redete Ben auf seinen Kollegen ein, weil er von aussen genau sehen konnte, dass das Zimmer im Vollbrand stand. "Ich hab gehört, wie jemand gerufen hat.", beharrte Kevin und trat gegen die Tür. Sofort stießen ihnen heiße Gase und Flammen entgegen, so dass die beiden Polizisten die Arme vors Gesicht halten mussten. "Komm jetzt mit! Da kann keiner mehr leben! Komm jetzt raus!", schrie Ben und zog den jungen Polizisten am Ärmel, der sich aber mit Gewalt losriss. Als wolle er horchen, um Ben zu beweisen dass er nicht verrückt war, hielt er inne und wartete auf ein erneutes Hilfe-Rufen... doch ausser dem lauten Prasseln des Feuers war nichts zu hören. "Ich hab genau gehört, dass..."
    In diesem Moment erschütterte eine weitere Explosion das Haus, diesmal unter ihnen im Erdgeschoss, so dass der dünne, morsche Holzboden zu wanken begann und beide Polizisten den Halt verloren. Flammen züngelten jetzt auch die Treppen hinauf, der einzige Fluchtweg nach draussen ins Erdgeschoss, den die beiden hätten nehmen können. Über ihnen knackte und ächzte das Holz des Daches, so dass Ben sich panisch umsah und nur den einzigen Weg nach draussen fand. "Los, komm jetzt!", sagte er, und zog den plötzlich desillusionierten Kevin mehr mit sich mit. Mit aller Kraft rannten die beiden in Richtung des Flurfensters und hofften, dass das Gras unten wirklich so hoch war, wie sie es in Erinnerung hatten. Ben sprang, die Arme vors Gesicht haltend und die Knie anziehend als erstes und durchbrach die Einfachverglasung. Der Sturz war nur wenige Sekunden, und der, vom Regen aufgeweichte Wiesenboden empfing die beiden Polizisten doch härter als gedacht, aber weich genug um sich nicht zu verletzen. Kevin landete nur wenige Millisekunden nach ihm. Beide beobachteten mit Grauen, als der brennende Dachstuhl des Hauses nachgab und mit lautem Dröhnen in sich zusammenfiel.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    • 5. Mai 2015 um 16:19
    • #34

    Freies Feld - 18:15 Uhr

    Die Rauchsäule des Feuers wurde von einem entfernten Dorf bereits gesehen, aufgrund dessen war die Feuerwehr schneller vor Ort, als dass die Polizisten sie hätte rufen können. Auch der angeforderte Krankenwagen war recht schnell da, Verstärkung traf ein... der Fall war nicht mehr geheim. Als der Notfallarzt ein Kind im Koma angab, informierte die Zentrale sofort das LKA, weil es Anweisung hatte, solche Informationen sofort weiter zu leiten. Semir hätte dagegen nichts tun können, und daran verschwendete er in diesem Moment auch keinen Gedanken. Er sah wie in einem Alptraum auf sein lebloses Kind, das von den Sanitätern auf eine Bahre gehoben wurde, eine Infusion gelegt wurde und die Vitalaktivitäten immer wieder kontrolliert wurden. "Sie ist stabil, wie es aussieht.", sagte der Notfallarzt. Stabil, instabil? Es waren für den Polizisten einfach nur Worthülsen ohne Bedeutung. In Trance folgte er der Bahre und stieg durch die Hintertür in den Krankenwagen, kein Sanitäter hinderte ihn daran, nachdem er sich als Vater bekannt gegeben hatte. Unentwegt, während der gesamten Fahrt strich er mit den Fingern über ihre kleine Handfläche, die unglaublich kalt wirkte und flüsterte: "Werde bitte wieder wach. Bitte..."
    Ben sah seinem Freund nach, als dieser in den Krankenwagen stieg. Der Polizist war, wie auch Kevin, im Gesicht verrußt und hatte bei dem Sprung durch die Fensterscheibe einige Schnittwunden an den Armen davon getragen. Eine musste von einem Sanitäter versorgt werden, doch den Schmerz spürte Ben überhaupt nicht. Er war in seinen Gedanken zu sehr bei Semir und seiner Tochter. Das bisschen Erleichterung darüber, dass sie sie gefunden hatten, wurde von dem Gedanken um das Koma erdrückt.

    Kevin hielt sich völlig abseits auf und saß am Boden im Gras. Er hatte nach dem Sprung aus dem Fenster keinen Ton mehr von sich gegeben und hatte stumm den Feuerwehrleuten beim Löschen des Hauses zugesehen, von dem bald nur noch Ruinen standen. Das Dach war vollkommen verbrannt, einige Zwischenwände und die Aussenwände standen noch, schwarz verkohlt und rauchend. Auch der Boden des Obergeschosses war nur noch teilweise vorhanden, im hinteren Teil eingestürzt. Sie hatten die KTU kommen lassen, Hartmut hatte seine beiden Freunde schon begrüßt und ebenfalls emotional gemischt auf die Nachricht reagiert, man hätte Ayda im Koma liegend gefunden. Alsbald rückten auch die Männer in den weißen Schutzanzügen an, weil man wohl doch noch jemanden im Haus gefunden hatte.
    Nach dem der Krankenwagen abgerückt war, kam Ben zu seinem Freund und beugte sich nach unten, wobei er ihm eine Hand auf die Schulter legte. "Wir hätten nichts mehr tun können, Kevin.", sagte er, denn er wusste genau, um was sich sein Partner gerade Gedanken machte. Ben kannte Kevins Vorgeschichte, er kannte sein Trauma um seine Hilflosigkeit als er mit ansehen musste, wie seine Schwester vergewaltigt und ermordet wurde. Und er konnte sich gut vorstellen, wie schnell der psychisch immer noch instabile, und generell sehr verletzliche Kevin einen Rückfall erleiden könnte, bei einer ähnlichen Situation. "Sie hat um Hilfe geschrien.", sagte der junge Polizist mit einer fremden Stimme, die sich mechanisch und kühl anhörte, und die Ben mit einem leichten Schaudern wahrnahm. Kevin drehte seinen Kopf dabei auch gar nicht zu Ben, sondern sah starr weiter auf die rauchende Ruine, die eben noch eine Hütte war. "Und wir haben ihr nicht geholfen." "Was hättest du denn machen wollen? Durchs Feuer laufen... du hast doch gesehen, wie es hinter der Tür ausgesehen hat.", merkte Ben an, aber brach seinen Versuch über die Logik zu Kevin vorzudringen, schnell wieder ab.

    Irgendwann stand der junge Polizist auf und hielt in Richtung der Ruine zu, wo zahlreiche Leute der KTU umher liefen. Sie nahmen Proben, sicherten Bruchstücke des Sprengsatzes und andere sah man im Halbkreis um etwas stehen. Darauf hielt Kevin nun zu, er wollte Gewissheit, er wollte der brutalen Wahrheit ins Auge sehen. "Kevin!", versuchte Ben seinen Partner zurück zu halten, als dieser durch den Eingang trat und über verkohlte Holzstücke, Schutt und Unrat stieg, durch den, nur noch halben Flur zu der Menschentraube. "Kevin, hör auf. Tu dir das doch jetzt nicht an.", sagte sein Partner deutlich und griff den Polizisten am Arm, der diesen Griff aber sofort und energisch abschüttelte. Ben seufzte und sah Kevin hinterher, der in den betreffenden Raum trat, wo die Leute, die dort arbeiteten, den Blick freigaben. Kevin erstarrte, seine Augen verengten sich etwas und sein Herz wollte in der Brust zerspringen. Er blickte auf dieses grausame Bild, das sich fest in seine Seele brannte, seine Hände ballten sich unfreiwillig zu Fäusten und den ekelhaften Geruch, der die Luft in dem Haus ausfüllte, nahm er überhaupt nicht wahr. Die Person war ihrer Rettung so nah, als sie an die Tür hämmerte und um Hilfe schrie, bevor die Explosion und die Flammen das Zimmer fraßen. Und doch hatte Kevin nicht helfen können...
    Ben bemerkte die starre Haltung seines Partners und stellte nun fest, dass er ergriffen von der Situation war, und keinesfalls hineingegangen war um die Untersuchungen voran zu treiben. Er überwandt seinen eigenen Ekel, ging bis zu Kevin ohne einen Blick in die Szene zu werfen und packte seinen Freund nun fester und energischer am Arm. "Komm jetzt, verdammt." Es war überhaupt nicht nötig, denn Kevin ließ sich widerstandslos aus dem abgebrannten Zimmer ziehen und vor sich her aus dem Haus stoßen. Er hatte das Gefühl, der Boden unter sich tat sich auf, und würde ihn verschlingen, das Hämmern in seinem Kopf, das er zuletzt im Winter hatte, kehrte zurück. "Komm... wir verschwinden hier.", sagte Ben und schob seinen Partner sanft an der Schulter in Richtung ihres Dienstwagens.

    Doch die beiden Polizisten wurden auf halbem Wege aufgehalten, von zwei alten Bekannten. Die LKA-Ermittler Schöneberg und Reuter stiegen gerade aus einem schwarzen BMW aus, und die Mienen der beiden verriet nichts Gutes. Die Spurensicherung hatte bereits erste Infos über die Geschehnisse weitergegeben, ebenso wie die Verstärkung, die gerufen wurde. "Sagen sie mal, sind sie noch recht bei Trost?", fuhr Schöneberg sofort die Krallen gegen die beiden Autobahnpolizisten aus, und wurde von Ben mit einem feindseeligen Blick fixiert. "Wie können sie es wagen, sich in die Ermittlungen einzumischen? Ohne unsere Erlaubnis? Ich dachte, ich hätte mich bei ihrer Chefin ganz klar ausgedrückt?" "Jetzt halten sie mal die Luft an!", zischte Ben mit knurrendem Unterton. "Die Tochter meines Partners wurde entführt und gehört zu den Opfern der Komakinder? Denken sie wirklich, wir verschwenden unsere Zeit dann damit, sie zu informieren? Wir haben in 24 Stunden mehr rausbekommen, als sie in...", er stockte kurz: "Wie lange ermitteln sie eigentlich schon an diesem Fall? Was ermitteln sie eigentlich?" Schöneberg schnaubte ob dieser Unverschämtheit, und blickte kurz zu Reuter, der weniger laut aber dafür umso direkter sprach: "Was sie ermittelt haben, sehen wir ja jetzt. Wir haben nun ein weiteres Entführungsopfer, was allerdings nicht auf das Konto der Entführer geht, sondern auf das Konto ihrer überstürzten Handlung."
    Nach diesem Satz blickte Kevin zu Reuter auf, und Ben erkannte diesen Blick als Warnsignal. Die Unterhaltung drohte schnell aus dem Ruder zu laufen. "Wir wollten die Tochter unseres Partners nicht in Gefahr bringen, und haben uns an die Abmachung der Geiselnehmer gehalten.", sagte er schnell. "Na klar. Um den Geldboten danach fest zu nehmen! Wollt ihr uns eigentlich verarschen?", blaffte Schöneberg. "Ich erwarte sie alle morgen früh bei ihrer Chefin! Den Tod dieses Kindes, dafür werde ich sie zur Verantwortung ziehen, meine Herren! Sie dürfen diese Nachricht den Eltern überbringen und ihnen erklären, wie das passieren konnte."

    Die beiden LKA-Ermittler rauschten ab, während Ben Kevin nur sanft auf die Schulter klopfte. "Komm... wir fahren." Auf halbem Weg zur Ruine trafen die beiden Männer vom LKA auf Hartmut, und fragten ob es bereits Erkenntnisse gab. Hartmut hatte den Streit mitgehört und wusste, dass die beiden seinen Freunden nicht positiv gesinnt waren. "Ähm... nein, wir arbeiten noch.", sagte er schnell, und bekam zur Antwort ein Nicken. Dann eilte der Rotschopf weiter und fing Ben und Kevin noch vor dem Mercedes ab. "Hey! Wartet mal." Kevin saß bereits auf dem Beifahrersitz, Ben blieb noch vor der Motorhaube stehen. "Die Bombe wurde scheinbar durch einen Unterbrechungskontakt an irgendeiner Tür, die ihr geöffnet habt, ausgelöst. Zeitversetzt und über Bluetooth. Da hat sich jemand richtig Mühe gegeben. Der Sprengstoff war an drei Stellen deponiert. Ausserdem war das Holz teilweise mit Brandbeschleuniger getränkt, deswegen hatte es sich so weit ausgebreitet." Ben nickte dankbar über diese Informationen, auch wenn ihm selbst auch der Kopf schmerzte. Beide Männer blickten kurz sorgenvoll auf den Polizisten auf der Beifahrerseite. "Gibt er sich die Schuld an dem Tod des Kindes?" Hartmuts Frage war vielmehr eine Aussage. Ben nickte erneut und meinte: "Er war dicht bei ihm und hat Schreie gehört. Aber er konnte nichts mehr machen... aber das muss ihm erst mal klar werden." Kevin sah dabei starr aus dem Seitenfenster auf die rauchende Ruine, sein Blick war leer.

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    • 8. Mai 2015 um 00:10
    • #35

    Krankenhaus - 18:30 Uhr

    Der monotone Ton des Martinshorn, das man im Inneren des Krankenwagens nur sehr gedämpft wahrnahm, hatte Semir komplett für sich ausgeblendet. Ebenso das Gefühl, wenn der Wagen eine Kurve nahm, anhielt und wieder beschleunigte. Er war komplett in Gedanken versunken, während er seine kleine Tochter ansah, die da lag, als würde sie schlafen. Mit etwas blasserer Haut als sonst, eine Beatmungsmaske auf dem Mund, weil man Bedenken hatte, dass im Koma auch plötzlich die Atmung aussetzen konnte und mit geschlossenen Augen. Unentwegt streichelte er den Arm des kleinen Mädchen, während eine Sanitäterin bereits eine Kanüle in die Vene gelegt hatte, um das junge Mädchen an den Tropf zu hängen.
    Die Fahrer des Rettungswagens beeilten sich in die Klinik zu kommen, sie hatten ihrer Station bereits angekündigt, dass man ein weiteres Komakind gefunden hatte, und man für die Untersuchung alles vorbereiten sollte. Semir selbst fühlte sich, nach der ganzen Anspannung und dem Adrenalin, das sich in den letzten Stunden angestaut hatte, leer und ausgebrannt. Man hatte alles riskiert, alles gegeben... er hatte nun nicht mal Zeit gehabt, seinen beiden Freunden, Kevin und Ben zu danken, dass sie ihren Job aufs Spiel gesetzt hatten, um Semirs Tochter zu retten... sollte nun all das umsonst gewesen sein? Lag sie vielleicht schon im Koma, bevor sie den Geldboten abgefangen hatten? Würde er sie überhaupt bei sich nun haben, wenn sie das Geld gezahlt hätten? Semir wusste auf diese Fragen keinerlei Antwort... und es würde wohl Wochen dauern, bis er sich darüber ernsthaft und tiefergehend Gedanken machen würde. Er war nun komplett, und mit allen Sinnen bei seiner Tochter Ayda, die vor ihm lag.

    Als der Krankenwagen an seinem Ziel angelangt war, wurde Ayda sofort aus dem Rettungswagen ausgeladen. Semir stand so unter dem Eindruck seiner bewusstlosen Tochter, dass er sogar vergaß, Andrea anzurufen. Er folgte den Ärzten durch die Tür der Notaufnahme, wo er dann von einem Sanitäter gestoppt wurde. "Herr Gerkhan, ich kann sie verstehen. Aber bei den Untersuchungen ist es besser, wenn sie nicht dabei sind." Semir protestierte sofort: "Ich bin ihr Vater, und selbstverständlich werde ich dabei sein." Der Arzt versuchte den aufgebrachten Vater zu beruhigen. "Wir werden nur einige Tests mit ihr durchführen, um zu erfahren, in welchem Stadium des Komas sie sich befindet. Wir werden prüfen, ob ihr Gehirn bereits Schaden genommen hat. Setzen sie sich hierhin, versuchen sie ruhig zu bleiben. Rufen sie ihre Frau an, dass sie ihrer Tochter Kleider bringt. Wir tun unseren Job, so gut es geht."
    Semir hätte sich nicht abwimmeln lassen, wenn der Arzt nicht seine Frau erwähnt hätte. "Oh Gott, das habe ich ja völlig vergessen.", hauchte er und hatte ein schlechtes Gewissen. Andrea saß bei ihren Eltern und kam vermutlich gerade um vor Angst und Sorge. Mit schnellen Schritten ging er durch den Flur des Krankenhauses und wählte hektisch die Nummer seiner Schwiegereltern auf seinem Handy. Nach einigen Freizeichen hörte er die aufgelöste Stimme seiner Frau. "Bei Schäfer?", sagte sie und lauschte aufgeregt. "Andrea? Hier ist Semir." "Semir! Habt ihr... habt ihr sie gefunden?" Andrea's Frage klang zögerlich, als hätte sie Angst vor einer schlimmen Antwort. Erhöht wurde diese Angst dadurch, dass Semir nicht sofort antwortete, sondern erst einmal seufzte. "Semir... bitte...", flehte sie. "Wir haben sie gefunden. Aber..." Auch die Stimme des Polizisten stockte für einen Moment. "Ayda liegt im Koma. Sie untersuchen sie jetzt." Andrea hatte genug Zeit, sich psychisch auf dieses Szenario vorzubereiten, seit sie von den Komakindern gehört hatte. Trotzdem spürte sie einen Stich im Herzen, versuchte aber dennoch so gut es ging zu funktionieren. Ihr Mann nannte ihr den Namen des Krankenhauses, und Andrea versprach, so schnell wie möglich zu kommen, und alles Nötige mit zu bringen.

    Danach saß Semir auf einem der Stühle im Flur, direkt an der Tür zur Notaufnahme. Die Sekunden wurden zu Stunden, immer wieder sah der Polizist auf die Uhr und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie hatten jetzt zwei Verdächtige, ein totes Kind, ein weiteres Kind im Koma. Wo würden sie jetzt ansetzen wollen? Würden sie überhaupt noch was tun, nachdem jetzt das LKA mitbekommen hatte, dass sie auf eigene Faust ermittelten? Konnten vielleicht die beiden Kinder, die am Leben und vor allem wach waren vielleicht der Schlüssel sein? Der Polizist vergrub das Gesicht in den Händen, er rieb sich die Finger durch die Augen und fühlte sich, als sei er schon mehrere Tage am Stück wach. Dass ein Kind bei diesem Einsatz ums Leben gekommen war, war ebenfalls schlimm, doch er war momentan abgelenkt. Wirklich schlimm musste es für seine beiden Kollegen sein, dachte er führ einen Moment und überlegte, ob er kurz bei ihnen anrufen sollte.
    Die Gedanken an den Fall lenkten ihn mehr ab, als er vermutet hatte. Der Zeiger auf seiner Uhr war ein ganzes Stück weiter gerutscht, und von einer Krankenschwester geleitet kam seine Frau Andrea mit einer Tasche in der Hand den Flur entlang. Als der Polizist sieh erblickte, stand er sofort auf um seine Frau in die Arme zu schließen. "Oh Gott, Semir...", schluchzte sie mit rötlichen Augen. Zu funktionieren fiel ihr nicht schwer, so lange sie allein war. Jetzt, wo sie Semir da sitzen sah, stehen sah und ebenfalls eine sorgenvolle Miene aufgesetzt hatte, konnte sie ihre eigene Fassade nicht mehr aufrecht erhalten. Minutenlang stand das Ehepaar fest umklammert da, bevor sie sich losließen. "Wo ist Ayda?" "Sie untersuchen sie noch. Es wird wohl nicht mehr lange dauern.", meinte ihr Mann und die beiden setzten sich auf die Stühle. "Wo... wo habt ihr sie gefunden?", fragte Andrea zögerlich, als wolle sie die Antwort gar nicht wissen. "In einem alten Holzhaus, ausserhalb der Stadt. Mit zwei weiteren Kinder, die noch wach waren und scheinbar ebenfalls entführt." Nach einer kurzen Pause erzählte er auch von der Explosion, und dass ein Kind scheinbar ums Leben gekommen war, das Ben und Kevin nicht mehr retten konnten. Andrea blickte bedrückt zu einer anderen Wand, und war in Gedanken kurz bei den Eltern, die heute ebenfalls ihr Kind vermissten und vergeblich würden warten, dass es zurückkehrte.

    Nach einiger Zeit des Schweigens wurde die Tür aufgestoßen, und ein Bett heraus gefahren. Sofort standen die beiden Eltern auf und blickten auf das Bett, in dem ihre kleine Tochter Ayda lag. Der Tropf hing an einer Halterung über dem Bett, ihr Herzschlag und ihre Atmung wurde überwacht. "Und? Was ist mit ihr?", fragte Semir sofort den Mann, der ihm eben noch gut zugeredet hat. "Kommen sie mit ins Krankenzimmer, dort werde ich ihnen alles erklären.", sagte er freundlich, und Semir wie Andrea folgten ihm und den beiden Krankenpflegern, die Ayda in ein Zimmer fuhren. Es war ein Einzelzimmer, denn Semir war als Beamter natürlich privat versichert... mit allen Extras für seine Familie. Der Arzt bat die Familie, Platz zu nehmen. Während Semir sich an den kleinen Tisch an der Wand setzte, ließ sich Andrea auf der Matratze nieder, wo sie ihrer Tochter zärtlich durchs Haar strich. Der Anblick der bewusstlosen Ayda ließ sie alle Emotionen der letzten Tage hochkommen, und nur mit Mühe konnte sie einen Weinkrampf noch unterdrücken.
    "Also, Herr Gerkhan... ihre Tochter weist die gleichen Symptome auf, wie einige der anderen Komakinder.", begann der Arzt und bewegte die Augen hinter der Brille über einige Zeilen auf einem Blatt Papier, das er vor sich liegen hatte. "Das Koma wurde durch ein Mittel hervorgerufen, dass wir noch nicht ganz entschlüsselt haben. Insofern können wir momentan noch nichts gegen ihren jetzigen Zustand tun." "Was heisst das? Dass ihr sie jetzt einfach so da liegen lasst?", fragte Semir mit empörter Stimme. Der Arzt sah den sorgenden Vater mit ernster Miene an, und blickte dann kurz auf das Kind im Bett. "Ja, Herr Gerkhan, genau das heißt es. Wir können momentan nichts weiter tun, als abwarten wie sich ihr Zustand entwickelt. Jeden Tag. Wir messen ihre Gehirnströme. Bis jetzt können wir nicht sagen, dass es Schäden gibt, was ein gutes Zeichen ist. Doch dies kann sich eben von Tag zu Tag ändern. Je länger sie sich in dem Komazustand befindet, desto wahrscheinlicher sind Schäden." Andrea traute sich beinahe nicht, die Frage zu stellen: "Welche... Schäden können das sein?" Der Arzt seufzte: "Alles, was sie sich vorstellen können. Von Gedächtnisverlust zum Verlust einiger bereits erlernter Fähigkeiten wie Gehen, Sprechen, Essen... bis hin zur geistigen Behinderung, wenn es irreperable Schäden am Klein- oder Großhirn sind." Als könne sie diese furchtbare Vorstellung fortschieben, streichelte Andrea ihrer Tochter noch zärtlicher über den Kopf. "Es tut mir wirklich leid, dass ich momentan keine besseren Nachrichten für sie habe. Sie können jetz, wie die anderen Eltern, nur abwarten... und beten."

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    • 11. Mai 2015 um 00:36
    • #36

    Dienststelle - 19:00 Uhr

    Das Wetter schien die Stimmung der beiden Autobahnpolizisten perfekt einzufangen und wieder zu spiegeln. Gerade als Ben den Mercedes von der Autobahn zur Dienststelle lenkte, begann sich der Himmel zu öffnen, und der Wind nahm, wie schon vorletzte Nacht, an Geschwindigkeit zu. Das Wasser spritzte von den Reifen, die Tropfen prasselten gegen die Frontscheibe und die Scheibenwischer verrichtete Schwerstarbeit. Beide sprachen während der gesamten Fahrt kein Wort miteinander. Ben konnte nur erahnen, was in Kevin vorging. Was er jedoch genau wusste war, dass der junge Polizist irgendwelche tröstenden Worte zum jetzigen Zeitpunkt nicht annehmen würde. Er verzog sich gerade in sein Schneckenhaus, in das Ben nicht eindringen konnte, zu oft musste er das schon erfahren, und zu oft wurde er abgewiesen. Kevin wusste, dass er mit Ben sprechen konnte, wann immer er wollte, aber Ben wiederrum kannte Kevin mittlerweile so gut, dass er warten musste, bis sich sein Kollege dazu entschied, zu reden.
    Als der Beamte den Mercedes parkte und den Motor abstellte, verstummte das brummende Geräusch, und nur noch das unregelmäßige, mal bei einem Windstoß mehr, mal weniger heftig prasselnde Geräusch des Regens war zu hören. Die Frontscheibe verlief sofort zu einem Wasserfluss vor ihnen. Ben sah auf das Armaturenbrett zwischen der Öffnung des Lenkrades, als würde er gerade eine wichtige Info ablesen, doch in Wirklichkeit konzentrierte er sich gar nicht auf die Zahlen vor ihm. Sein Freund blickte zur Seitenscheibe hinaus, hatte ein Knie angewinkelt und den Ellbogen darauf abgestützt. Das laute, wie nach einem Mädchen klingende Schreien mischte sich in seinem Kopf in den Regen, in die Windböen, als würde das Geräusch von dem Haus zu ihm heran geweht werden.

    Sie saßen bestimmt mehrere Minuten noch stumm im Auto, bis sie sich entschieden, die Dienststelle zu betreten. Zum Glück war der Weg nur kurz, trotzdem wurden sie erheblich nass durch den starken Regenschauer. Von ihren Kollegen waren nur noch Jenny und Hotte im Büro, die sofort hoffnungsvoll aufblickten, als sie die beiden Beamten sahen. Ihre ernsten Mienen, Kevins abwesender Blick... beides verriet nichts Gutes, und Hotte nahm allen Mut zusammen, die unangenehme Frage zu stellen: "Habt ihr... habe ihr Ayda gefunden?" Kevin ging wortlos zu dem erstbesten Bürostuhl, den er fand und setzte sich hinein, legte eine Faust in die andere offene Hand und stützte seinen Kopf darauf. Sein Partner antwortete mit leiser Stimme: "Ja, haben wir. Aber... sie liegt wohl auch... im Koma." "Oh nein...", hauchte Jenny tonlos, während ihr dicker Kollege fassungslos die Hand vor den Mund hielt.
    Die junge Frau aber bemerkte den leeren, desillusionierten Blick ihres Freundes, und konnte sich dies nicht mit der Nachricht um Aydas Koma erklären. Kevin war doch in den Fall der Komakinder eingeweiht, er hatte den wenigsten Bezug zu Ayda, und hätte sich doch eigentlich darauf vorbereiten können. Ausserdem schien ihn doch sonst nichts zu erschüttern, was ihn nicht persönlich befiel? Sein Zustand musste einen anderen Grund haben. Er sah in eine undefinierte Richtung, atmete flach und doch unruhig und nahm keinerlei Notiz von ihr oder Hotte. Auch Hotte fiel das eigenartige Verhalten auf. "Wo habt ihr sie gefunden? Ist Semir bei ihr?", fragte der dicke Polizist dann in Bens Richtung, der nickte und sagte: "Wir haben in der Wohnung dieses Cablonskys eine Besitzurkunde eines Landhauses gefunden. Dort haben wir sie gefunden." Mit einem Ruck stand sein junger Partner auf, und zog sofort die Blicke der restlichen Beamten auf sich. Er murmelte mit seiner monotonen Stimme leise etwas von "...eine rauchen...", und verschwand im Flur. Dort bog er allerdings nicht ab vor die Tür, sondern die Treppen herunter zu den Zellen.

    Ben seufzte tief auf, als Kevin den Raum verlassen hatte. "Was ist mit ihm?", fragte Jenny sofort besorgt, als auch Ben seinem Partner sorgenvoll hinterher sah. Er wandte sich dann wieder zu Jenny und Hotte, als er sich auf den Stuhl setzte, auf dem Kevin vorher saß. "In dem Haus waren Sprengsätze installiert. Die gingen hoch, während wir, ausser Ayda, noch einen Jungen und ein Mädchen aus dem Haus befreit hatten. Kevin war im oberen Stockwerk, wo die Bombe explodiert ist, und ein Feuer ausgelöst hat." Der Polizist fuhr sich mit der Hand einmal durch die Haare, während seine beiden Kollegen ihm atemlos an den Lippen hingen. "Ich bin hochgelaufen, um ihm zu helfen. Er hat behauptet, dass hinter einer Tür jemand um Hilfe geschrien hatte, aber es hatte überall gebrannt, es war heiß und der Boden drohte durch zu brechen. Ausserdem ist dann ein weiterer Sprengsatz explodiert. Ich musste ihn beinahe rauszerren, bevor die Hütte zusammen gefallen ist." Dann schwieg er und wischte sich durch das verschmutzte Gesicht, in dem immer noch Rußspuren an der Haut klebten. Jennys Lippen zitterten ein wenig, als sie ein zaghaftes "Und?" über die Lippen brachte. Ben blickte kurz auf den Tisch vor ihm, bevor er mit der unangenehmen Wahrheit heraus rückte. "Es... es war noch jemand drin. Ein Kind. Wir konnten es nicht retten." Hotte biss sich kurz auf die Faust, denn sofort war ihm klar, weshalb Kevin so bedrückt war. "Und Kevin gibt sich jetzt, wie damals bei seiner Schwester, die Schuld dass er nichts tun konnte?", schlussfolgerte er, was Ben nickend bestätigte.
    Für einen Moment herrschte eine bedrückende Stille in der Dienststelle, selbst die Telefone hatten scheinbar Anstand und schwiegen gemeinsam. Hotte wusste, wie labil Kevin in seiner Psyche damals war, als er hier seinen ersten Fall hatte und auf den Mörder seiner Schwester gestoßen war, und konnte gut nachfühlen, wie leicht der junge Polizist wieder zurück in ein Loch fallen konnte. Jenny kannte die Geschichte auch, sie bekam damals aber den extremen Zustand des jungen Polizisten nicht mit. "Ich komme nicht an ihn ran.", sagte Ben irgendwann und sah zu der jungen Polizisten herüber. Der Blick war eine Art Aufforderung, denn sie hatte Zugang zu Kevins Seelenleben. Sie müsse ihm helfen, nicht wieder in die alten Abgründe fallen, und ohne ein Wort verstand sie Bens Anliegen, in dem sie stumm nickte.

    Sie stand nur wenige Minuten später von ihrem Platz auf, um nach draussen zu ihm zu gehen. Sie wollte ihm jetzt den Halt geben, den er damals bei Semir und Ben nicht gesehen hatte und nicht wahr nahm... vielleicht, weil er den beiden damals nicht genug vertraute. Aber Jenny würde er vertrauen, er hatte ihr damals seine Geschichte anvertraut und war dann der Fels für die junge Frau, nachdem sie von einem Mann vergewaltigt wurde. Das würde sie ihm jetzt zurückgeben und behutsam versuchen, ihn aus diesem psychischen Loch wieder heraus zu ziehen.
    Sie kam zu der Fronttür aus Glas, gegen die der Regen peitschte. Wenn er draussen stand, um eine zu rauchen, wäre er sicher patschnass, doch draussen war niemand zu sehen. Jenny blickte über den Parkplatz, über dem Dunst und beinahe Nebel hing, so sehr war das Wetter nun umgeschlagen, und es war plötzlich auch viel dunkler, als es um diese Uhrzeit eigentlich wäre. Eine Menge Blätter von den Bäumen lagen auch schon auf dem Parkplatz und wurden bei jedem Windstoß weiter transportiert. Die junge Frau ging wieder hinein, ging durch den Flur und warf auch einen Blick in die Teeküche, doch auch da war niemand. Ihr Herz schlug schneller, und auf einmal hatte sie ein ungutes Gefühl. War er abgehauen? Aber er war doch nach der Festnahme mit seinem Dienstwagen gekommen... wieder ging sie nach draussen und blickte auf den Parkplatz, den plötzlich war sie sich nicht mehr sicher ob sein Wagen dort stand. Doch die Befürchtung war umsonst, Kevins Wagen stand auf dem Parkplatz und tropfte vom Regen. Sie ging mit langsamen Schritten zurück ins Büro, wo Ben mit Hotte saß und sagte leise: "Er ist nicht draussen." Ben blickte sofort auf und fragte: "Steht sein Auto noch draussen?", was Jenny mit einem Nicken bejahte. Bens erster Gedanke schien ihn zu beunruhigen, denn seine Augen wurden auf einmal größer und er erhob sich von seinem Stuhl. "Oh scheisse...", murmelte er und verfiel in einen Laufschritt. Sein Weg führte ihn zum Keller, wo die Zellen lagen...

    Wenn Engel hassen

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    • 12. Mai 2015 um 11:30
    • #37

    Dienststelle Zellen - 19:15 Uhr

    Kevin wusste gar nicht genau, weswegen seine Füße ihn gerade die Treppen hinunten zu den Zellen trugen. Er fühlte sich unendlich müde und ausgelaugt, ein Gefühl das er nur in Phasen seines Lebens hatte, als ihn der Selbstzweifel die kalte Klinge an den Hals gehalten hatte. Er war nicht wütend auf den schweigsamen Mann dort in der Zelle, zu dem er jetzt wollte, er hatte einfach keine Kraft, wütend zu sein. Er ging nicht runter, um dem Mann die Seele aus dem Leib zu prügeln, wie er es vielleicht früher getan hätte. Dieses Mal spürte er keine Wut, sondern Ohnmacht. Warum tat man so etwas? Warum kamen diese Männer auf die Idee, das Versteck der Kinder mit einem Sprengsatz zu versehen, wenn jemand versuchte, sie zu befreien? Waren die wirklich so unprofessionell, und die Kinder hätten sie identifizieren können nach ihrer Befreiung?
    Kevin kamen die Stufen unendlich lange vor, als würde er einen direkten Abstieg bis in die Hölle machen, und je tiefer er kam, desto lauter schlug sein Herz gegen den Brustkorb. Bei dem Beamten an einer Art Pforte vor dem kleinen provisorischen Zellentrakt im Keller der Dienststelle bekam er den Schlüssel und zeichnete die Annahme gegen. Über einen Tastendruck ging die Sicherheitstür auf, und Kevin betrat einen Flur mit je drei Zellen auf jeder Seite, Zelle Nummer 5 hatte Zange inne. Der Schlüssel im Schloß klackte, es war ein altmodisches Schloß dass man nur jeweils von einer Seite sperren konnte. Steckte der Schlüssel in einer Seite, war die Tür nicht mehr aufschließbar.

    Zange lag auf der Pritsche und blickte auf, als die Tür aufging und der Polizist, die Kleider rußverschmiert wie das Gesicht, hereintrat. Kevin zog die Tür hinter sich zu, schloß ab und ließ den Schlüssel stecken. Dann lehnte er sich mit dem Rücken an die Tür und sah Zange stumm an, der nicht genau wusste, was hier jetzt passieren würde. Kam der Polizist alleine, um ihn zu befragen? Würde er jetzt die Nerven verlieren, wenn er seine Schweigenummer weiter durchzog? Aber, wie um Gottes Willen sah der Typ aus? Die Haare mehr durcheinander als heute Mittag, schmutzig und einige Risse in der Hose und ein Blick, wie der eines Drogenjunkies im Rausch... leer und ohne jeden Ausdruck von Emotion, so stand er da und sah Zange an, dem es so langsam mulmig wurde, der sich jetzt langsam von der Pritsche erhob und hin stellte.
    "Warum habt ihr das gemacht?", fragte Kevin mit tonloser, emotionsloser Stimme. Obwohl er nicht tobte oder eine aggressive Haltung annahm, strahlte er keine Ruhe aus. Es war mehr ein stumme Verzweiflung, keinerlei Körperspannung oder souveränes Verhalten. Er sah aus, wie ein gebrochener Mensch, und der Inhaftierte vermutete in dem Polizisten entweder einen genialen Schauspieler, oder es musste etwas vorgefallen sein. Und so bröckelte die Fassade Zanges, den sein Ausdruck im Gesicht war der eines großen Fragezeichens. "Es geht nur um das Geld. Wenn sie mir das Geld geben, wird das Mädchen...", sagte er seinen Satz, allerdings unsicherer als noch vor einigen Stunden, er wurde aber sofort von Kevin unterbrochen. "Ich rede nicht von dem Mädchen. Ich rede von dem Versteck, wo ihr die Kinder gefangen gehalten habt." Zange dämmerte es, der Polizist redete von dem einsamen Haus, wo er mit Cablonsky die Kinder hingebracht hatte. Sie hatten das Versteck also gefunden, und damit auch das Mädchen, von dem sie Lösegeld erpressen wollten. Verdammt, damit hatte sein Verhalten jegliche Wirkung verloren. Dann hieß es ab jetzt schweigen, denn zu sagen hatte er nichts mehr.

    Der junge Polizist stand immer noch an der Tür gelehnt. Sein Blick immer noch beinahe ohne Ausdruck, nur der Hauch von Verzweiflung schimmerte durch seine Augen. Hier sprach kein Polizist mit einem Verdächtigen, der Autorität oder Souveränität ausstrahlte um die Antworten zu erzwingen, sondern ein Mann, den Schuldgefühle auffrassen, die er längst schon vergessen hatte, verdrängt hatte. "Hast du davon gewusst?", fragte er in Zanges Richtung, dessen Blick noch unverständlicher wurde. "W... was gewusst?" Spielte der Kerl, oder meinte er es ehrlich. In Kevins Gehirn war zuviel Nebel, als dass er darüber konzentriert hätte nachdenken können, zuviele andere Gedanken kreuzten den versuchten klaren Gedanken. "Das Haus ist in die Luft geflogen. Ein Kind ist darin verbrannt.", sagte er und ließ die Katze aus dem Sack.
    So eine Reaktion kann man nicht spielen. Die Gesichtsfarbe des Mannes sackte von lebensfroh in todenbleich. Die Augen wurden weit, der Mund ebenso, der aber schnell von der rechten Hand bedeckt wurde. Langsam, wie in Zeitlupe, ließ Zange sich auf der Britsche nieder und stützte die Ellbogen auf die Knie. "Bitte sag mir, dass du davon nichts gewusst hast.", flehte Kevin beinahe, denn er hätte es nicht ertragen, wenn sie diese wichtige Information in dem Verhör nicht aus ihm heraus gequetscht hätten, aber die Chance dazu gehabt hätten wenn sie ihn nur härter angefasst hätten. Und die Reaktion darauf wäre, wenn sie nur geschauspielert war, einfach zu unmenschlich, als dass die angeknackste Psyche des Polizisten das einfach so weggesteckt hätte. Zange war gerade selbst zu geschockt, als dass ihm der schlechte Zustand seines Gegenübers wirklich aufgefallen wäre. Langsam und unwirklich schüttelte der Verbrecher den Kopf, während seine Augen vom Boden langsam wieder hinauf zu Kevin blickten. "Nein... ich... ich habe davon... nichts gewusst.", stotterte er. Kevin half es nicht, er hatte gedacht, dass es ihm helfen würde, wenn sie keine Chance gehabt hätten, es vorher zu wissen. Aber es half nicht, denn das Gefühl, dass er so dicht an der Rettung des Kindes war und nichts tun konnte, nagte noch stärker.

    Für einen Moment herrschte atemlose Stille in der kleinen Zelle. "Was... was ist passiert? Wie habt ihr... das Versteck gefunden?", stotterte der Verbrecher mit leiser Stimme. Von seiner Abgeklärtheit, mit dem beharrlichen Schweigen, war nichts mehr zu spüren. Scheinbar war er in dem Handeln seiner Kollegen nicht ganz eingeweiht worden, so dass ihn die Tatsache, dass jemand das Versteck mit Sprengsätzen versehen hatte, gleichermaßen schockierte wie überraschte. Doch Kevin ging nicht auf seine Frage ein, rational denken tat er sowieso nicht mehr. "Wieviele Kinder waren in dem Haus?", fragte er immer noch mit dieser seltsam tonlos klingenden Stimmfarbe, die sich in keinster Weise bedrohlich, sondern eher resignierend verzweifelt anhörte. Scheinbar war Zange jetzt in einem kurzzeitig emotionalen Extremzustand, dass er seinen Auftrag kurz vergaß. "Es waren... es waren vier. 3 Mädchen und ein Junge." Zumindest konnte Kevin somit ausschließen, dass die Spurensicherung noch eine Leiche finden würde. Ein Mädchen und einen Jungen, sowie Ayda selbst, hatten sie rausgebracht. Die Leiche war dann das dritte Mädchen... wieder ein Mädchen. Kevins Blick schwandt von Zange weg auf den Boden, als er das leise Schreien eines jungen Mädchens hörte, das verzweifelte Schreien eines Mädchens, das gerade dem Tod ins Auge blickte. Und der junge Polizist konnte zwischen dem Schreien hinter der verschlossenen Tür und dem Schreien seiner Schwester, als sie gerade vergewaltigt wurde und die Kehle durchgeschnitten bekam, nicht mehr unterscheiden. Zitternd hielt er sich mit der rechten Hand am Türgriff fest, als er das Gefühl hatte, der Boden unter ihm würde nachgeben. Sein Atem beschleunigte sich, in seinem Kopf drehte sich alles und er versuchte gegen die Übelkeit und das steigernde Verlangen, dieses Schreien im Kopf zu betäuben, anzukämpfen. "Wo ist dein Freund Cablonsky?", fragte er noch mit unsicherer Stimme, doch Zange schien sich wieder etwas zu besinnen, nachdem ihm der Schock in die Glieder gefahren ist. Nein, seinen Freund würde er nicht verraten, ausserdem war er sich sicher, dass der ihn in die Sprengstoff-Geschichte eingeweiht hätte, wenn er es wusste. "Keine Ahnung.", sagte er kurz angebunden und verschränkte die Arme vor der Brust, wie im Verhörzimmer.

    Ein Kevin in normalen Zustand hätte spätestens jetzt alle Vorschriften über Bord geworfen. Doch der Kevin, der jetzt dort an der Tür stand und sich am Griff festhielt, um nicht an der Tür zu Boden zu gleiten, war längst selbst über Bord gegangen. Er sah den Gefangenen an, mit tauben Blick, bis er ein lautes Klopfen hinter sich hörte. "Kevin! Mach sofort auf!", rief Bens Stimme, der gerade versuchte den Zweitschlüssel in die Tür zu stecken, was misslang weil von der anderen Seite ein Schlüssel steckte. Der junge Polizist reagierte nicht darauf und fragte nochmal, nicht aggressiver aber flehender: "Sag mir bitte, wo dein Freund steckt...", doch Zange schüttelte nur den Kopf. "Hör auf damit!", schrie Kevins Partner und meinte nicht das Verhör, sondern den Zustand, dass Kevin sich in der Zelle eingeschlossen hatte, und nicht öffnete.
    "Bitte Kevin, mach die Tür auf und komm raus.", hörte er jetzt auch Jennys verzweifelt klingende Stimme, die mit der flachen Hand gegen die Tür schlug, was sich bedeutend leiser anhörte, als die Faust von Ben. Mit zitternder Hand drehte er den Schlüssel im Schloß um, und ließ die Tür aufschwingen. Ben sah in die Zelle und erwartete ein Blutbad, umso überraschter war er, als er Zange auf der Pritsche sitzen sah, die Arme verschränkt aber bleicher und etwas geschockten Augen... aber unversehrt. Und auch Kevin sah nicht wütend aus, aber sein Blick in den Augen erschreckte Ben. Plötzlich hatte er ein Flashback zurück auf das Dach einer Industrieanlage, wo Kevin kniete und in den metertiefen Abgrund sah, in den gerade Janines Mörder sich fallen gelassen hatte. Der Blick des Polizisten damals war ähnlich, zu dem jetzigen, als Kevin wortlos mit langsamen Schritten an Ben vorbeiging.

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    • 13. Mai 2015 um 11:39
    • #38

    Dienststelle - 19:30 Uhr

    Es dauerte ein wenig, bis sich alle von der unheimlichen Situation unten in den Zellen wieder gefangen hatten. Kevin ging, wie betäubt, die Stufen hinauf während Ben und Jenny ihm folgten. Sie blieben stumm, was sollten sie sagen? Was hatte er da drin gemacht? Er hatte dem eingesperrten Zange scheinbar keinerlei Gewalt angetan, das stand fest. Hatte er mit ihm geredet? Jennys Herzschlag beruhigte sich nur mühsam, denn sie hatte Angst nun Kevins anderes Gesicht zu erleben... das, was sie sich bisher nur vorgestellt hatte, nachdem er ihren Vergewaltiger brutal zusammengeschlagen hatte. Was ging in dem Jungen nur vor, fragte sich Ben mit Vehemenz, als er ihn betrachtete wie er sich durch die abstehenden Haare fuhr und tief durchatmend auf den Bürostuhl fallen ließ. Ben setzte sich ihm gegenüber, abwartend und beinahe eine Antwort fordernd.
    Kevin bemerkte den Blick seines Partners... und er wusste auch, dass Ben spürte was ihn dem jungen Polizisten vorging. "Er hat ein bisschen was erzählt.", sagte er dann und Ben blickte überrascht auf. Er hatte jetzt eigentlich vermutet, dass Kevin zugibt dass ihm das ganze an die Nieren geht, dass er vielleicht eine Auszeit braucht... dass er sich endlich einmal öffnet. Aber der Kommissar verschloß sein Innerstes und verbarg sich, wie so oft, hinter seinem Job. "Und?", forderte Ben ihn auf, weiter zu reden. "Er hat scheinbar von den Sprengsätzen nichts gewusst. Seine Reaktion war glaubwürdig. Aber zu Cablonsky will er nichts sagen." Sein Gegenüber hatte die Hände auf dem Tisch verschränkt und nickte. "Allerdings scheint er mit Cablonsky sehr gut befreundet und behauptet, dass der mit ihm geredet hätte... über die Sprengsätze. Also wenn wir davon ausgehen, dass Zange die Wahrheit spricht... dann gibt es einen dritten oder vierten Mann." "Das vereinfacht die Sache nicht unbedingt.", stöhnte Ben und rieb sich über die Stirn. "Sowieso egal...", meinte sein Partner leise und lehnte sich zurück. "Das LKA weiß jetzt Bescheid. Ayda ist wieder da, die Kinder sind befreit... wir sind raus."

    Ben musste Kevin recht geben. Sie hatten sich an den Fall gebissen, weil Ayda entführt wurde, und Ayda war wieder da. Aber ob Semir die Ermittlung des Täters, der seine kleine Tochter ins Koma befördert hat, einfach dem LKA überlassen würde? Da hatte dessen langjähriger Partner seine Zweifel, die er auch äusserte: "Ich glaube nicht, dass Semir das auf sich beruhen lassen wird, wenn Ayda nicht aufwacht..." "Semir wird jetzt keinen Schritt von seiner Tochter weichen.", meldete sich Hotte, der Semir am längsten kannte. "Das glaubt mir mal...".
    Nach kurzem Schweigen wandte sich Ben, dessen Gedanken ebenfalls hauptsächlich um das kleine Mädchen wanderten, an Kevin: "Was ist mit dir? Ich hab das Gefühl, du kommst nicht so gut klar mit der Situation im Haus." Jenny sah ihren Polizeikollegen überrascht an... überrascht über dessen Direktheit und Offenheit, das anzusprechen obwohl sie und Hotte noch im Raum waren. Aber Ben wusste, dass Hotte Kevins Geschichte kannte, und auch Jenny. Doch er spürte sofort, wie sich die Mauer um den jungen Polizisten errichtete, als er kurz zwischen ihm und Jenny hin und her blickte. "Nein, es ist alles in Ordnung." Der Mann mit dem Wuschelkopf legte selbigen ein wenig schräg: "Das hatte eben aber nicht so ausgesehen..." "Ben, da ist eben ein Mädchen gestorben, an dem wir ganz nah waren. Entschuldige, wenn mich das nicht völlig kalt lässt." Bens Augenbrauen hoben sich kurz. "Woher weißt du, dass es ein Mädchen ist?" "Zange hat mir eben die Kinder aufgezählt, die in dem Haus waren." Der Polizist atmete hörbar aus, er seufzte fast als er spürte, wie er wieder gegen eine Mauer ankämpfte, die sein Kollege um sich herum errichtet hatte. "Und es ist ganz bestimmt nicht wegen Janine?", fragte er etwas leiser, direkter und bekam ebenso eine leisere, aber schärfere Antwort zurück: "Nein! Die Sache ist vorbei!" Jenny, die das Gespräch verfolgte, wurde es mulmig. Gerne hätte sie eingegriffen, aber sie fühlte sich nicht in der Lage dazu... allerdings glaubte sie Kevin genauso wenig, wie Ben ihm glaubte und würde nach Dienstschluss Kevin nicht alleine lassen... auch wenn der erst in zweieinhalb Stunden war.

    Sie beendeten das Gespräch, alle waren müde und ausgelaugt. Ben allerdings würde sich noch nicht auf den Weg nach Hause machen, sondern wollte unbedingt zu Semir und Ayda ins Krankenhaus. Er konnte und wollte seinen besten Freund in diesen Stunden nicht alleine lassen, und wenn er stören würde, würde er sofort wieder gehen. Aber Hauptsache, er war da... er wollte Ayda sehen, und er wollte sehen, wie es seinem Partner ging. Kevin fühlte sich nicht mehr in der Lage einen Krankenhausbesuch zu machen, und sagte, er würde lieber nach Hause fahren und sich hinlegen. Hotte und Jenny verabschiedeten die beiden, bevor sie sich wieder an die Arbeit machten. Letztere fühlte sich bedrückt und war über den Abend danach schweigsam, was der erfahrene Polizist sofort bemerkte.
    "Was grübelst du denn?", fragte er fürsorglich und Jenny strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Ich weiß nicht...", sagte sie leise. "Ich glaube, Kevin lügt uns alle an." Sie blickte zu dem dicklichen Kollegen auf, der am Tisch neben ihr stand und ihr schon häufiger gute Ratschläge gegeben hatte, und der ihr jetzt nickend zustimmte. "Es nimmt ihn mehr mit als er zugibt. Und so wie sie es jetzt erzählt haben, muss er sich wieder schrecklich hilflos gefühlt haben, weil er nichts tun konnte.", sagte Hotte und strich sich etwas gedankenverloren über seinen Bauch, der das Hemd stramm sitzen ließ. "Und das erinnert ihn mit Sicherheit an seine Schwester.", komplettierte Jenny und wurde wieder nickend bestätigt, woraufhin sie leise seufzte. "Er lässt niemand an sich heran. Ausser dich." Die junge Frau blickte zu Hotte wieder auf, nachdem sie für kurze Zeit die Tischplatte angestarrt hatte. "Dir hat er doch alles erzählt. Dich lässt er in sein Seelenleben hinein. Ich glaube, wenn du ihm zuhörst, wenn er redet, würde ihm das schon helfen." "Ich weiß... ich möchte auch nach der Schicht zu ihm fahren. Ich glaube, es ist nicht gut, wenn er jetzt zu lange alleine ist." Dabei sah sie kurz auf die Uhr und Hotte lächelte: "Ich kann dich leider nicht früher gehen lassen, wir sind eh schon so wenig. Aber die zwei Stunden wird er noch rumbekommen."


    Kevins Wohnung - 20:15 Uhr

    Kevin wusste nicht, worüber er sich mehr ärgern sollte. Über Bens Unverfrorenheit, seine Schwester als Grund vor allen anderen hin zu stellen, dass ihn die Situation in dem Haus sehr mitbekommen hatte, oder über seine eigene Sturheit. Über die Hälfte der Fahrt machte er sich über diese Frage Gedanken, dann verdrängten nach und nach die Müdigkeit und der ungeheure Druck im Kopf diese Frage. Er schwitzte und seine Hände verkrampften sich um das Lenkrad seines Wagens, die Gier und die Sucht nagten im stärker. Als würden Engel und Teufel auf seinen Schultern sitzen, wechselte er mehrmals die Richtung seines Weges zu Kalles Wohnung, oder ins Rotlichtviertel zu seinem alten Stammdealer. Das Teufelchen siegte schließlich als der Polizist vor einer schäbigen Bude anhielt, wo ihm die Tür geöffnet wurde. "Du? Ich dachte schon, du wärst an dem Zeug krepiert.", wurde er begrüßt. "Ich hatte nur ne Auszeit, aber jetzt brauche ich wieder was." Dabei hielt der Polizist einen grünen Schein zwischen Zeige- und Mittelfinger, womit er andeutete dass er überhaupt keine Lust auf Smalltalk hatte. "Ich hab eigentlich nur noch Stammkunden.", grinste der Dealer ihn mit gelben Zähnen an. "Halt die Fresse! Hast du jetzt was oder nicht?", fuhr Kevin ihn wütend an, und konnte bei dem Kerl die Polizeikarte nicht ausspielen... der wusste davon nämlich nichts. "Wenn du noch nen Braunen dazulegst..." Kevin hatte den Ausdruck in den Augen, den er gebraucht hätte, um Zange einzuschüchtern... sein Gegenüber interessierte das allerdings herzlich wenig, denn der Junkie würde für Stoff immer den aufgerufenen Preis bezahlen, und so legte der Polizist einen braunen Schein dazu und bekam das Röhrchen mit den pinken Pillen.
    Noch im Wagen warf er sich zwei in den Rachen und schluckte sie ohne Flüssigkeit. Er wollte diesen Tag vergessen, und er wusste dass ihn die Gedanken überfallen und die ganze Nacht quälen würden, wenn er jetzt einfach ins Bett gehen würde.

    So entwickelte sich der Weg in die Wohnung zum Spießrutenlauf... Kevin war die Drogen nicht mehr gewohnt, und statt Müdigkeit lösten sie bei dem Polizisten nach Ankunft zu Hause einen Schwindel aus. Fuck, was hatte der Bastard ihm da verkauft? Er brauchte 5 Minuten, bis er es schaffte, die Haustür aufzusperren, die Treppen zog er sich mehr am Geländer nach oben, als er wirklich ging. Kalle war zum Glück nicht zu Hause, sie arbeitete in der Bar, die ihr Kevins Vater angeboten hatte, und so wurde ihr der Blick auf den Polizisten erspart. Das Licht, das er jetzt im Wohnzimmer anschaltete, war greller als sonst, es brannte richtig in den Augen und Kevins Herzschlag begann immer schneller und heftiger gegen die Brust zu pochen. Er zog die Waffe aus dem Holster, um sie auf den Küchentisch zu legen und wankte ins Badezimmer.
    Dort stützte sich der Polizist auf das Waschbecken und sah in den Spiegel. Er sah nicht den Kevin, der er in den letzten Wochen war... wieder motiviert von der Arbeit, clean, zwar etwas im Gefühlschaos aber zumindest wieder mit beiden Beinen im Leben. Nein, dieser Kevin war die hässliche Fratze dessen, was er in den letzten Wochen war. Der Hintergrund im Spiegel hinter ihm flimmerte und verschwamm, er hörte plötzlich lautes Pochen und Knistern um sich herum. Ein Knistern, als würde es über ihm, hinter ihm und neben ihm anfangen zu brennen. In das Pochen mischten sich Schreie eines Mädchens, Schreie voller Angst und Panik, Schreie nach Hilfe während er sich weiter starr in den Spiegel sah, bevor er sich nach vorne beugte, das Wasser aufdrehte und sich mit beiden Händen das kühlte Nass ins Gesicht schaufelte. Pochen nahm ab, die Schreie verstummten wie unter Wasser, doch das Zittern seines Körpers nahm zu. Mehrere Minuten verharrte er am Wasserhahn, schlug die feuchten Hände vor die Augen, als er sich wieder aufrichtete und in den Spiegel sah.

    Was er wahrnahm, ließ ihn den Atem anhalten, als schräg hinter ihm eine Gestalt stand, kleiner als er. Sie hatte keine Haare, nur böse funkelnde Augen, die Haut und die Kleider verbrannt, das kahle Haupt mit Asche bedeckt. Sie stand nur dort und hatte den glutroten Mund weit geöffnet, als würde sie um Hilfe schreien, den Schrei, den er eben noch gehört hatte, doch kein Laut drang aus ihrem Mund. Kevin blickte vielleicht nur Sekundenbruchteile in den Spiegel auf die Gestalt, bevor er sich geschockt umdrehte, und die leere Badezimmertür anstarrte. Seine Beine gaben nach, er musste sich am Waschbecken hinter ihm festkrallen, als er langsam auf die Knie sank, und nun selbst laut schrie...

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    • 17. Mai 2015 um 05:20
    • #39

    Krankenhaus - 20:30 Uhr

    Ben musste am Eingang des Krankenhauses seinen Ausweis vorzeigen, denn die Besuchszeit war längst um. Es war ihm auch irgendwie unangenehm, so spät noch ihm Krankenhaus, bei Semir und Andrea aufzutauchen... aber er hätte wohl wenig bis gar nicht in den Schlaf gefunden, wenn er Ayda nicht nochmal gesehen hätte, nicht nochmal mit Semir gesprochen hätte, nicht nochmal Andrea in die Arme geschlossen hätte. Er wollte der Familie einfach zeigen, dass er da war, wenn sie ihn brauchten, dass er sich ebenfalls Sorgen machte. Der Polizist wollte ja nicht lange bleiben. Soviele Gedanken waren ihm durch den Kopf gegangen, auf dem Weg zur Innenstadt, er ließ den ganzen Tag nochmal Revue passieren. Hatten sie Fehler gemacht? Hätten sie etwas besser machen können? Bei Ayda, oder für das Mädchen, das verbrannt ist?
    Bei Ayda entschied Ben sich für ein stummes Kopfschütteln, was sonst niemand sehen konnte, während er mit dem Mercedes eben noch an der roten Ampel stand. Hätten sie das Lösegeld bezahlt, wäre Ayda ebenfalls ins Koma gespritzt worden. Es hätte nichts geändert, jedes Kind wurde bewusstlos aufgefunden. Sie hätten gebangt und gewartet, und sie hätten es nicht selbst in der Hand gehabt. Aber bei dem Mädchen in dem Haus... hätte er da sofort auf Kevin hören sollen, der die Schreie noch gehört hatte? Hatten sie zu schnell ihr eigenes Leben gerettet? Doch als ihm die Erinnerung wieder kam, wie knapp sie aus dem Haus gesprungen waren, bevor das brennende Dach herabstürzte, entschied sich der Polizist auch hier für ein Nein, gerade als er den Dienstwagen auf dem Besucherparkplatz des Krankenhauses abgestellt hatte. Die Luft war kühl, er hatte seine grünliche Stoffjacke übergezogen und vergrub die Hände tief in den Taschen, als er gegen den aufkommenden Wind ging, der leichtes Spiel hatte, seine Frisur durcheinander zu bringen.

    Semir hatte mit der Krankenhausleitung alles geregelt. Er war Privatpatient und erreicehte, dass Andrea und er im Krankenhaus übernachten dürften. Er hatte in der Zwischenzeit weitere Kleider von zu Hause geholt, als die Tür des Zimmers, in dem Ayda alleine lag, und zwei weitere Betten bereit gestellt wurden, aufging, nachdem vorher zweimal angeklopft wurde. Ben streckte den Kopf herein und versuchte ein zaghaftes Lächeln, als er Semir und Andrea erblickte. "Hey...", ertönte seine Stimme, doch sie ertönte müde und kraftlos. Zu bedrückend war die Atmosphäre in dem Raum, als er Ayda in ihrem Bett liegen sah, die Augen geschlossen als würde sie schlafen. Semir versuchte ebenfalls ein recht misslungenes Lächeln, er freute sich dass Ben noch vorbeikam und vielleicht noch etwas erzählen konnte. Zuerst aber nahm Ben Semirs Frau Andrea fest in die Arme, die ihm leise ein "Danke, dass ihr sie gefunden habt...", zu flüsterte. "Ich wünschte, wir hätten sie gefunden, als sie noch wach war.", sagte er zur Antwort, als sich die beiden Erwachsenen wieder losließen. "Sag sowas nicht... ihr habt alles getan, was ihr konntet.", meinte die Frau und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
    Ihre Augen schimmerten rötlich, und Ben hatte den Eindruck, dass sie älter wirkte, als sonst. Auch Semirs Augen waren müde, sein Bart schien grauer als noch vor einigen Tagen. Ben konnte die psychische Ausnahmesituation förmlich spüren, die Spannung und die Bedrücktheit in dem Raum machte das Atmen schwer. "Was... was hat der Arzt gesagt?", fragte er zögerlich in Semirs Richtung, dessen erzwungenes, schiefes Lächeln wieder verschwand. "Wir können nichts tun, ausser warten. Aber je länger wir warten, desto größer ist die Gefahr... dass...", er stockte kurz und musste einmal tief durchatmen: "Dass sie nie wieder dieselbe Ayda ist, die sie mal war..." Ben wusste genau, was das bedeutete.

    Mit weichen Knie ging er langsam die wenigen Schritte durch das Krankenzimmer ans Bett, auf das er sich sanft setzte. Er blickte das Mädchen an, dass so lebensfroh war, immer Späße im Kopf hatte oder mit ihrer kleinen Schwester spielte. Wie oft hatte Ben auf die beiden aufgepasst, wenn Semir und Andrea mal wieder abends etwas unternehmen wollten, er war der große "Onkel" für die beiden Mädchen, obwohl er nicht mit Semir oder Andrea verwandt war. Er war aber ein wichtiger Mensch im Leben des Mädchens und umgekehrt, so dass Ben jetzt einen dicken Klos im Hals spürte, als er das schlafende Mädchen betrachtete. Sanft, wie in Zeitlupe strich er eine Strähne zur Seite und streichte mit den Fingern über ihre sanfte Wange. "Du wirst wieder gesund, Ayda.", sagte er leise und Andrea spürte, wie ihr erneut die Tränen kamen. "Du wirst wieder rumtoben wie früher, ja?", sagte der Polizist und es schien, als würde er das junge Mädchen darum bitten. "Und dann gehen wir wieder zusammen Schlittschuh fahren, und Eis essen... versprochen." Wie sehr hätte er sich gewünscht, sie würde lächelnd die Augen aufschlagen und lachend sagen, dass sie alle nur veralbert hatte. Aber das Mädchen blieb stumm... wie ein Spielzeug, das kaputt war.
    Ben wandte sich mit deprimierten Blick von dem Kind ab und blickte zu Semir: "Wenn ihr irgendetwas braucht...", sagte er, aber sein erfahrener Kollege winkte sofort ab. "Wir haben mittlerweile alles. Wir bleiben erstmal beide bei Ayda, wir wollen sie jetzt keineswegs auch nur eine Sekunde alleine lassen." Ben verstand das natürlich und nickte zustimmend. "Ja, das ist sicher richtig.", sagte er und zog seinen Freund leicht am Ärmel, ein wenig von Andrea weg, die sich jetzt wieder ihrer Tochter widmete, in dem sie ihre Hand hielt.

    "Kevin hat Zange nochmal verhört. Scheinbar wusste er nichts von dem Sprengstoff.", sagte Ben leise, denn er wusste nicht, ob Andrea informiert war, dass bei dem Einsatz ein weiteres Kind gestorben war. Semir nickte nur, aber es schien, als wäre er mit seinen Gedanken weit weg, und vor allem wieder bei seiner Tochter. "Semir.", sagte Ben nun zielgerichteter und verstärkte den Griff um das Handgelenk seines Partners. "Ja?" "Es ist deine Tochter... und du weißt, dass Kevin und ich alles für sie und euch tun würden. Also sag mir..." Semir schaute ein wenig verwirrt, bevor Ben seine Frage präzisierte: "Das LKA wird uns morgen einen Einlauf verpassen und weiter ermitteln. Sollen wir selbst weiter ermitteln? Sollen wir der Spur nach Cablonsky nachgehen?" Der junge Polizist war sich selbst nicht sicher, ob sie die Ermittlungen selbst fortsetzen sollten... also sollte Semir es entscheiden. Brauchte er es für seinen Seelenfrieden, nach den Männern zu suchen, die Ayda dies angetan hatten? Würde er sich dann besser fühlen?
    Aber Semirs Augen waren müde, er blickte kurz zu Boden und dann wieder in Richtung seiner kleinen Tochter. Abwesend schüttelte er den Kopf: "Ben... das bringt doch nichts.", sagte er so resignierend, dass es den jungen Polizisten innerlich erschrak. "Es würde Ayda nicht helfen, wenn wir nun alles aufs Spiel setzen. Ich würde den Kerl zwar gerne so schnell wie möglich hinter Gitter sehen, aber...", wieder schweifte sein Blick auf das Krankenbett. "Ich kann hier nicht weg. Ich kann Ayda nicht alleine lassen. Wenn etwas mit ihr passiert... wenn sie aufwacht, und niemand ist da." Semir blickte zurück zu Ben, der an den Lippen seines Partners hing. "Das ist es nicht wert, Ben." Der nickte und akzeptierte Semirs Entscheidung. "Ich dachte, es sei dir vielleicht wichtig... deswegen habe ich gefragt." Der erfahrene Polizist, der Vater presste die Lippen zusammen und legte eine Hand auf die Schulter seines besten Freundes. "Ich weiß. Und ich danke dir dafür."

    Ben würde für Semir, für Andrea und für Ayda durch die Hölle gehen, und er hätte seinen Job aufs Spiel gesetzt, wenn Semir zu ihm gesagt hätte: "Bring mir den Kerl." Aber er wollte nicht. Es war Semirs Tochter, und er entschied und daran würde Ben sich halten. Die beiden Polizisten umarmten sich innig, und Semir war trotz aller Sorge unheimlich froh, dass er neben seiner Frau eine so wichtige enge Stütze hatte, auf die er sich immer und überall verlassen konnte. "Danke, dass du noch gekommen bist.", sagte Semir leise.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen

    <3

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  • Campino
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    • 18. Mai 2015 um 17:02
    • #40

    Kevins Wohnung - 22:30 Uhr

    Jenny fühlte sich ein wenig unbehaglich, als sie ihren Kleinwagen am Straßenrand parkte und auf das Haus blickte, in dem Kevin wohnte. Sie hatte lange nachgedacht, ob sie noch zu ihm fahren sollte, ob sie sich ihm wirklich aufdrängen sollte, nachdem er eben im Büro klipp und klar gesagt hat, dass alles in Ordnung sei... was ihm allerdings niemand der Anwesenden wirklich glaubte. Wären sie einander nur bekannt, so hätte sie es wohl gelassen, einfach um nicht aufdringlich zu wirken, um nicht den Eindruck zu machen, sich in Dinge einzumischen, die sie nichts anging. Aber sie waren einander nicht nur bekannt... man konnte sie durchaus als Paar bezeichnen, und so sah sie es irgendwo als ihre Pflicht, bei ihm vorbei zu fahren, und ihm ihre Schulter zu borgen, so wie er es damals auch getan hatte, nachdem sie von einem Kommissarsanwärter vergewaltigt wurde.
    Sie ging die drei Treppenstufen des gepflegten Altbaus bis zur Haustüre nach oben und drückte auf die Klingel. Als der Wind auffrischte schlug sie den Kragen ihrer modischen Stoffjacke etwas nach oben, und ein paar Strähnen hielten sich nicht mehr ganz an die eben nach der Dusche gemachte Frisur. Die Polizistin wippte mit dem rechten Fuss etwas vor Ungeduld, nochmals betätigte sie die Klingel. Ihr Bauchgefühl verstärkte sich, ihr Atem beschleunigte sich unbewusst. Nein, nein, hör auf dir jetzt unnötig Sorgen zu machen. Er ist bestimmt schon eingeschlafen, es ist nichts passiert, redete sich Jenny ein.

    Doch unerwartet erklang nun der Summer der Haustür, die Jenny reflexartig aufdrückte und im Flur stand. "Hallo?", rief sie zaghaft nach oben und konnte im Dunkeln des Treppenhauses Kevins Gesicht, vor allem die schimmernden Augen sehen, der sich ein wenig über das Geländer gelegt hatte. "Hey...", sagte er leise und die junge Frau lächelte... und konnte nicht verleugnen irgendwie erleichtert zu sein, Kevin zu sehen. Sie nahm die Treppenstufen nach oben recht schnell und sah dann, dass Kevin nur in Boxer-Shorts und T-Shirt vor ihr stand, die Haare feucht und auch das Shirt hatte leichte feuchte Flecken. Ihn umgab allerdings ein Duft von Duschgel, scheinbar war er gerade noch unter der Dusche und hatte sich nicht richtig abgetrocknet, bevor er sich das weiße Shirt über den Oberkörper zog. Aber wirklich frisch sah der junge Polizist nich aus, er stützte sich etwas an den Türrahmen, als er Jenny den Eintritt gewährte, nachdem sie sich mit einem Kuss begrüßt hatten.
    Die junge Frau erwischte sich in der Wohnung dabei, wie sie nach etwas Ausschau hielt. Nach leeren Schnapsflaschen... nach irgendetwas, womit Kevin seinen Kummer betäubt haben könnte, den er wirkte nicht sicher auf den Beinen. Er war blasser als vorher, er hatte leichte Ränder unter den Augen, er war einfach nicht er selbst. Sie setzten sich beide auf die Couch, wobei der junge Mann seufzte und sich elend fühlte. Elend von dem Horror-Trip vor einigen Minuten, elend dass er spürte, wieder einen Black-Out gehabt zu haben, denn die altmodische Uhr an der Wand zeigte bereits halb elf. Als er im Bad auf die Knie gefallen war, war es erst 8. Alles dazwischen fehlte ihm, und das ängstigte ihn, das war ihm nämlich noch nie passiert. Unklare Bilder, wilde zuckende Gestalten spielten ihm vor seinem inneren Auge Streiche... warum war er eben im Bad, warum seine Kleidung durchnässt? Es hatte geklingelt, er hatte sich schnell etwas angezogen, war aus dem Bad gerannt...

    "Wie geht es dir?", fragte Jenny fürsorglich und strich dem Polizisten durch das feuchte Haar. Vor der jungen Frau konnte Kevin seine Barrikade, seinen Seelenschutz einfach nicht aufrecht erhalten, er konnte sie einfach nicht anlügen. Ohne in ihre Richtung zu blicken sagte er mit seiner monoton und heiser klingenden Stimme nur ein Wort: "Beschissen." Seine Hände kneteten einander, seine Beine zitterten ein wenig. "Du machst dir also doch Vorwürfe? Hatte Ben recht? Hat es was mit deiner Schwester zu tun?" Kevin schluckte, sah kurz auf den Boden vor sich und dann wieder geradeaus. Das Kneten mit seinen Händen wurde schlimmer, er spürte das Brennen seiner Narben auf dem Rücken wie immer, wenn er intensiv an Janine dachte.
    "Es war, als stände sie hinter der Tür.... und ich würde nicht an sie herankommen.", sagte er leise mit fremder Stimme, und Jenny streichelte trotz ihrer eigenen Gänsehaut über den Unterarm des Mannes. "Ich kann einfach nicht aufhören, jedes Versagen von mir bei dem Menschen sterben oder zu Schaden kommen, auf sie zu projezieren. Als wolle sie mich jedes Mal damit bestrafen und mir vor Augen zu führen, dass ich ihr damals nicht geholfen habe." "Aber Kevin... glaubst du wirklich, deine Schwester würde das wollen, dass du dir dein ganzes Leben zur Hölle machst?" Nein, das würde sie natürlich nicht wollen, dachte er... aber warum war sie ständig da, ständig bei ihm. Natürlich war der Tod des jungen Mädchens in dem brennenden Haus heute schlimm, und hätte wohl jedem Polizisten in dieser Situation die ein oder andere schlaflose Nacht beschert. Aber bei Kevin war es eine Ersatzperson für das Trauma um seine tote Schwester, und es würde immer und immer wieder passieren. Janine würde ihn niemals in Ruhe lassen... der Dämon, den Kevin dachte besiegt zu haben, nachdem sich Janines Mörder das Leben genommen hatte, war wieder zurück... und er quälte Kevin schlimmer als jemals zuvor.

    "Wieviele Leben, denkst du, hast du schon gerettet?", fragte Jenny nach einer kurzen Schweigepause, in dem sie den Polizisten mental so hilflos und verzweifelt wie nur zuvor empfunden hatte. Er zog ein wenig die Lippen herab und schüttelte den Kopf. "Man kann ein Leben nicht gegen das andere aufwiegen." "Das stimmt. Aber genauso wie du mit geretteten Leben lebst, musst du auch mit dem Gegenteil fertig werden. Wir sind Polizisten, und sowas wie heute kann uns jeden Tag passieren." Jenny fand es komisch, als junge Polizistin mit weniger Erfahrung Kevin so einfache Ratschläge zu geben. Doch sie unterschätzte das Trauma, das den jungen Polizisten quälte. "Wenn du daran kaputt gehst, musst du aufhören.", schlussfolgerte sie und umklammerte den Unterarm des Mannes etwas fester. "Und ich will nicht, dass du daran kaputt gehst." "Ich kann nicht aufhören...", sagte Kevin mit leichtem Kopfschütteln und sah Jenny dabei endlich einmal an. "Bulle sein ist das Einzige, was ich kann." Und leise fügte er noch an: "Oder Verbrecher..."
    Die Stimmung in dem Wohnzimmer war so bedrückend, so traurig und Jenny in sich etwas verzweifelt, dass sie Kevin nicht aufrichten konnte. Aber war das so einfach? Garantiert nicht. Er steckte gerade in seiner schwarzen kleinen Welt fest, in der er nur ihr Zugang gewährte, sie aber nicht Hand in Hand mit ihr verließ. "Du hast es doch auch geschafft, mir zu vertrauen, oder? Etwas, was du gesagt hast, was dir sehr schwer fällt.", sagte sie um ihn daran zu erinnern, dass er eben doch Dinge schaffen kann, die er sich selbst nicht zutraut. Er nickte nur schwach, was Jenny aufblicken ließ. "Du vertraust mir doch, oder?", fragte sie unsicher. Als Kevin nicht sofort nickte, löste sich ihre Umarmung des Unterarms für einen Moment. "Ich vertraue dir, aber ich vertraue mir und meinem Glück nicht.", sagte der Polizist mit leiser dunkler Stimme. "Denn immer, wenn etwas Schönes passiert... dann tut es mir weh, weil ich Angst habe, es zu verlieren. Und du bist so etwas Schönes. Aber ich kann es nicht genießen, weil ich Angst habe... Angst, es wieder zu verlieren." Aus Kevins Stimme sprach nicht nur ein Trauma um eine getötete Schwester, sondern ein Mann, der offenbar mehr als nur eine schlimme Enttäuschung oder schlimme Erfahrung wegstecken musste... mehr, als nur ein Vertrauensbruch durch Ben oder einen Freund, der ihn in den Hinterhalt lockte.

    Jenny war von Kevins Worten aufgewühlt, und sie spürte innerlich, wie ihr ein wenig die Feuchtigkeit in die Augen trat. Sie war nicht enttäuscht von ihm, dass er so sprach, sondern er besorgt. Spätestens jetzt spürte sie, dass es mit Kevin als Lebenspartner eine Beziehung war, zwischen einem verirrten verschreckten und verwahrlosten Kater, der keinerlei Menschen mehr gewohnt war, und erst langsam wieder Zutrauen finden musste. Es würde schlimme Rückschläge geben, aber Fortschritte, über die man sich freuen würde. Wollte Jenny das? War sie dafür stark genug, war die Liebe zu Kevin dafür stark genug? "Ich geh mich mal kurz frischmachen.", sagte sie leise und ging, nach Kevins Fingerzeig auf eine Tür, ins Badezimmer.
    Der Spiegel war angelaufen, der Duschkopf tropfte noch. Ein Handtuch lag am Boden und es war eine unangenehme Wärme in dem kleinen Badezimmer. Jenny ließ das Wasser laufen und hielt sich die eiskalten Hände gegen die pochende Stirn und die Wangen. Ihr Atem beruhigte sich, nur um danach sofort wieder in die Höhe zu schnellen, als ihr Blick in die Dusche fiel. Am Duschboden lag ein Plastikröhrchen mit Pillen darin, von denen bereits einige fehlten. Es konnten Smarties oder Kaubonbons sein, doch die bewahrte man nicht in solchen Ampullen auf, und sie erinnerte sich mit einem Schlag an Kevins Vergangenheit... "ich hab gedealt...", hatte er damals gesagt. Hatte er ihr jemals erzählt, damals auch Drogen genommen zu haben? Er hat es, nach dem Scheinkauf, damals doch abgestritten.
    Doch was ihr einen fiel schlimmeren, brutaleren Schlag in die Magengrube versetzte, war Kevins Dienstwaffe, die ebenfalls in der Dusche lag. Obwohl sie nichts wusste, so drangen sich in ihren Kopf die schlimmsten und grausamsten Bilder eines Kevin, der unter Drogen mit seiner Dienstwaffe in der Dusche hantierte, in einer psychischen Ausnahmesituation, in einem mentalen Black-Out. Mit zitternden Fingern ließ Jenny das Magazin herausgleiten und stellte mit Entsetzen fest, dass es bis zur letzten Patrone gefüllt war. Dass die Waffe entsichert war, ließ sie beinahe die Beine wegklappen, so dass sie sich am Waschbecken festklammern musste...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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