Komakinder

  • Krankenhaus


    Wachte sie, oder träumte sie? Das kleine Mädchen nahm ihre Umgebung wie einen Traum, wie einen Film unter einem leicht verschwommenen Schleiere wahr. Sie wusste nicht genau wo sie war, um sie herum war alles weiß und ohne Kontur. Auch spürte sie nicht, ob sie mit beiden Füßen auf dem Boden stand, ob sie irgendwo lag, oder saß... sie schien inmitten des weißen Raumes, der voll von gleißenden Licht war, zu schweben. Das Mädchen tastete nach irgendwas zu ihren Seiten und griff ins Leere, sie lauschte angestrengt auf Geräusche, doch kein Ton drang an ihr Ohr.
    Sie bekam Angst, denn sie wusste nicht, wo sie war. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug, wie sie anfing zu zittern und ihre Tränen langsam aufstiegen. Die 10jährige war ein aufgewecktes Mädchen, aber sie war niemals besonders mutig oder stark, als dass sie diese Situation, in der sie sich befandt, einfach so wegsteckte. Wenn doch wenigstens jemand kommen würde, und ihr sagen würde, was gerade mit ihr passierte, doch es war als schwebe sie durch einen weißen, nicht existenten Raum, ohne jeglichen Anhaltspunkt. Das einzige, was sie deutlich vernehmen konnte, war ihr Herzschlag... lauter als sonst, vom Gefühl her stärker als sonst. Es war, als würde ihr Herz sich gegen die Rippen pressen, als seien die schützenden Knochen ein Gefängnis und der kleine pochende Muskel rannte mit jedem Schlag dagegen an, um auszubrechen. Sie wollte ihr Herz ertasten, wollte spüren, wie es in ihrer Brust schlug, aber sie konnte nicht. Obwohl sie das Gefühl hatte, ihre Arme zu bewegen und ihre Finger auf die Brust zu legen, passierte nichts. Sie war nicht angekettet, sie war nur unfähig die Signale ihres Gehirns in Bewegeung umzusetzen. Sowas hatte sie in ihrem kurzen Leben noch nie erlebt, und das machte ihr Angst.


    Allmählich begann sich, aus der weißen Umgebung ein Bild heraus zu schälen, je mehr sich das kleine Mädchen auf die Farben konzentrierte. Sie konnte ein Gestell vor sich sehen, wenn sie den Kopf nach unten drehte... sah sie geradeaus, sah sie ebenfalls eine Art Gestell. Lag sie in einem Bett? War das erste Gestell das Fußende? Sie konnte den Blick wenden, obwohl sie den Kopf nicht drehte... es machte ihr Angst. Die Frau, die neben ihr saß, und eine kleine Hand zwischen ihren Händen hielt, konnte das Mädchen erkennen. "Mama!", sagte sie laut... aber sie hörte ihre eigene Stimme nicht. "Mama!!", sendete ihr Gehirn nochmal als klares Signal an ihre Stimmbänder, aber nichts tat sich, und ihre Mutter reagierte auch nicht auf ihr Rufen.
    Am Fußende erkannte sie schließlich ihren Vater, und wieder rief sie laut: "Papa!", ohne einen Ton ihrer Stimme zu vernehmen. Sie ängstigte sich darüber immer mehr. Ihr Vater, der von der Größe her eher ein kleiner Mann war, hatte sich auf das Gestell am Fußende gestützt, hatte Tränen in den braunen Augen und sah hilflos zu seiner Frau, die ebenfalls mit geröteten Augen auf ihre kleine Tochter blickte. Nur verschwommen konnte das Mädchen hinter ihrem Vater noch zwei Männer erblicken... einen konnte sie klar erkennen, der andere stand noch etwas dahinter, und war nur verschwommen für sie wahrnehmbar. "Onkel Ben? Kannst du mich wenigstens hören?", fragte sie tonlos, während ihr Vater sich verzweifelt abwendete. Auch Onkel Ben reagierte nicht auf das Rufen des kleinen Mädchens.


    Sie hatte Angst... sie wusste nicht, ob sie wach war, oder träumte. Keiner schien sie zu hören, und überhaupt schien sie die Kontrolle über ihren Körper völlig verloren zu haben. Ayda hatte panische Angst, denn sie wusste nicht, was los war...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Einige Tage zuvor


    Autobahn - 11:00 Uhr


    Der Herbst hatte Einzug gehalten in Deutschland. Die Wälder und Bäume, die die heimische Autobahn säumten, legten langsam ihr buntes Farbenkleid an, und für kurze Hosen war es mittlerweile zu kalt. Semir konnte seine dicke Lederjacke mit dem Pelzbezug noch im Schrank lassen, aber im T-Shirt kam er nicht mehr zur Arbeit. Wie jeden Tag saßen er und sein Kollege zu einer ihrer Streifenfahrten über ihren Autobahnabschnitt in Semirs silbernen BMW. Es war ein, bisher, sehr ruhiger Tag, überhaupt eine ruhige Woche und fast dachten die beiden Beamten, es wäre Ferienzeit. Doch bis zu den Herbstferien dauerte es noch zwei Wochen.
    "Ich verspüre ein leichtes Hungergefühl...", meinte Ben und rieb sich mit der rechten Hand etwas über den Bauch, wobei er Semir von der Seite ansah. "Oh, das wundert mich aber.", meinte der gespielt erstaunt. "Es ist ja schließlich erst eine Stunde her, seit deinem zweiten Frühstück... oder wars das dritte?" Ben hatte einen gesunden Appetit, und es gab nicht wenige Kollegen (allen voran Hotte) die ihn darum beneideten, dass er essen konnte was er wollte, und trotzdem sein Idealgewicht hielt. Ganz ohne Training ging das allerdings auch nicht einher, und so hatte er sich immer mal mit Kevin zum gemeinsamen Joggen verabredet, wobei dies manchmal in ein Marathontraining ausartet, weil Bens Freund beim Laufen einen Ehrgeiz entwickelte, der Ben selbst fremd war.
    Semir trieb nur noch wenig Sport, machte früher mehr Ausdauersport und ging dann irgendwann zum vermehrten Krafttraining über. Seine Frau Andrea nannte ihn vor kurzem liebevoll "Kraftwürfel.", weil er in den letzten Jahren mit zunehmenden Alter statt dick kantiger und einfach muskulöser war. Wo er als junger Polizist noch eher als halbes Hemd durchging, durch seine Größe eh gehandicapt, hatte er jetzt zumindest äusserlich ordentlich Muskelmasse, die er auch einsetzen konnte. Seine Wendigkeit hatte er dabei nie verloren.


    "Das ist doch auch kein Wunder.", maulte der junge Polizist mit dem Wuschelkopf, und sah zum Seitenfenster heraus. "Bei dem Streß, denn wir heute haben." Er meinte es klar ironisch, denn ausser einer Geschwindigkeitsübertretung schien es so, als wären die deutschen Autofahrer heute reine Engel. "Und bei der Arbeit ausserhalb der Dienstzeiten, die du verrichtest.", sagte Semir frech und spürte sofort, dass Ben in dieser Beziehung immer noch nicht zu Scherzen aufgelegt war. "Danke auch.", meinte er und zog eine Schnute, denn natürlich spielte Semir auf das Schäferstündchen zwischen ihm und ihrer Kollegin Jenny an. Ben und Jenny waren sich nahe gekommen, als beide in einer schwierigen emotionalen Lage waren und versuchten sich gegenseitig Trost zu spenden. Pikant daran war allerdings, dass Jenny und Kevin sich davor angenährt hatten, mit ernsten Absichten über die sich beide nicht ganz klar waren, und beide, Ben und Jenny, seitdem von einem schlechten Gewissen geplagt wurden. Gestanden hatten sie es Kevin bisher nicht, auch wenn Jenny kurz davor gewesen war. Beide wussten nicht wie er reagierte, denn selbst die junge Polizistin konnte nicht einordnen, wie sie und der ehemalige Mordermittler zueinander standen.
    "Na komm,", meinte Semir in einer Mischung aus versöhnlicher Stimmlage und Rechtfertigung für seinen Humor. "Ihr windet euch jetzt seit Wochen, und bringt es nicht über euch, Kevin davon zu erzählen. Ihr blickt euch gegenseitig an wie Schulkinder, die beim Knutschen auf der Toilette erwischt worden sind, und wollt es verheimlichen." Ben fühlte sich nie besonders wohl, wenn er auf sachliche Art und Weise von Semir mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert wurde. Aber natürlich blieb ihm nichts übrig, ausser ihm zu zu stimmen. Sie hatten nur noch einmal darüber gesprochen, und Ben sagte zu Jenny, dass er es nicht gerne sagen möchte. Die junge Frau stimmte ihm zu, aber sie spürten beide immer wieder, dass auf der Arbeit etwas zwischen ihnen stand. "Entweder ihr sagt es ihm, oder ihr lasst es, dann vergesst aber euer schlechtes Gewissen. Aber dieses Kindergartenspiel, also bitte.", machte ihm Semir zwar freundschaftlich, aber klar eine Ansage.


    Es war fast eine Erlösung, als das Funkgerät knarzte und Jennys Stimme sich meldete. "Cobra 11 für Zentrale." Die beiden blickten sich kurz an. "Was is?", wollte Semir von Ben wissen, denn normalerweise funkte immer der Beifahrer. "Möchtest... du nicht... vielleicht.", druckste Ben herum und sah seinen besten Freund flehend an, der gerade zu einer verbalen Ohrfeige ausholen wollte, bis er merkte dass sein Partner ihn veräppelte. "Pass bloß auf, sonst wird heute das Mittagessen gestrichen, du Sack." "Cobra 11 hört." "Wir haben eine Meldung über den Fund eines leblosen Mädchens hinter der Leitplanke bei Kilometer 33, RTW ist bereits informiert. Seid ihr in der Nähe?" Jenny hörte sich beinahe normal an, auch wenn sie jedesmal ein wenig zusammen zuckte, wenn sie Bens Stimme hörte. "Ja sind wir, wir rollen mit Eile."
    Semir schaltete die Blaulichtanlage an, und beide Männer wechselten innerlich in den Arbeitsmodus. Ein lebloses Mädchen, das konnte manchmal sehr aufs Gemüt schlagen, aber beide waren erfahren genug sich ein Schutzschild aufzubauen gegen diese Eindrücke. Gerade bei schweren Unfällen war das auch bitter nötig, doch selbst heute noch brannte sich so manches Bild in die Seele der beiden Kommissare. Sie brauchten nur wenige Minuten bis zu Kilometer 33, der RTW kam ihnen gerade entgegen und musste noch bis zur nächsten Ausfahrt weiter, um auf die richtige Fahrspur zu gelangen. Mit Warnblinker hielt Semir hinter einem blauem VW Passat, Ben brauchte nur wenige Minuten um einen Warnkegel weit hinter dem Auto aufzustellen. Ein älterer Mann stand auf dem leicht abschüssigen Gras hinter der Leitplanke, eine Frau kniete daneben und hielt die Hand eines etwa 9 oder 10jährigen Mädchens, und blickte Semir von unten an. Der Polizist konnte das Alter gut einschätzen, denn seine eigene Tochter Ayda war 10, und hatte gerade die Schule gewechselt. Sie hatte sich für einen Gang aufs Gymnasium entschlossen, aufgrund ihrer guten Grundschulnoten, worüber Semir und Andrea besonders stolz waren. Das kleine Mädchen hatte dunkle Haare, die wild um ihren Kopf gefächert lagen, sie war blass um die Nase und hatte die Augen geschlossen. Die Frau hatte eine Jacke über den Körper des Mädchens gelegt, scheinbar war sie aber bekleidet, wie Semir an dem Arm, und den Füßen des Mädchens sehen konnte, die unter der Jacke hervorlugten.


    "Gerkhan Kripo Autobahn, guten Tag." stellte sich Semir vor, zeigte nur kurz seinen Ausweis. "Sie haben die Kleine gefunden?" Beide nickten, und die Frau übernahm das Wort. "Wir mussten halt machen, weil sich unser Wagen komisch anhörte. Ich bin ausgestiegen, und habe die Kleine sofort hier liegen sehen... furchtbar. Aber sie lebt noch, aber ihr ist bestimmt kalt." Es war zwar draussen noch recht angenehm, aber je nachdem wie lange sie schon lag konnte die Körpertemperatur deutlich zurückgegangen sein. Ihre Händchen jedenfalls fühlten sich eiskalt an, wie auch Semir bemerkte, als Ben hinter ihm ebenfalls über die Leitplanke kletterte und seinen Ausweis zeigte. "Der Krankenwagen kommt jede Minute." Der Puls des Mädchens konnte Semir nur schwach fühlen, aber er war fühlbar, was ihn erleichterte. Ansonsten hatte das Mädchen im Gesicht keinerlei Blessuren und lag friedlich da, als würde sie schlafen. "Ist ihnen etwas aufgefallen?", fragte der erfahrene Kommissar. "Sie lag sonderbar da... sie ist sicher nicht einfach gefallen. Sie lag auf dem Rücken, hatte die Beine akkurat nebeneinander und die Hände gefaltet auf dem Bauch. Als wäre sie absichtlich so abgelegt worden.", erzählte die Frau. Sie hatte die Lage verändert, als sie die Hände genommen hatte, um das Mädchen aufzuwecken. "Sie ist aber einfach nicht wach zu bekommen." Einen Unfall konnten die beiden Ermittler schon mal ausschließen. "Ich schau mich mal um.", sagte Ben und ging ein wenig die Böschung hinunter von der Autobahn weg, während sein Partner versuchte, die Frau etwas zu beruhigen, die sich rührend um das Mädchen kümmern wollte.


    Ben stapfte durchs hohe Gras, und konnte sofort Spuren von platt getrampelten Gräsern entdecken. Die Spur führte zu einem Trampelpfad, der die Böschung hinab bis zu einem recht gut befestigten Feldweg führte... leider ein Feldweg, der so gut befestigt war, dass darauf keinerlei Reifenspuren sichtbar waren. Der Weg führte ein Stück an der Autobahn entlang, zweigte mehrmals über Felder ab, über die Ben jetzt blickte. Er sah sich um, hörte das Rauschen der Autobahn nur noch im Hintergrund und ging den Weg zurück, wobei seine Augen nur dem Boden folgte. Von dem Feldweg war die Fundstelle gut zu sehen. Auf halben Weg fiel ihm ein Zigarettenstummel ins Auge, denn er mit einer Plastiktüte aufhob. "Na, da haben wir doch schon was. Rauchen gefährdet nicht nur ihre Gesundheit.", meinte er zu sich und brachte den Fund mit zu dem kleinen Auflauf, der sich mittlerweile gebildet hatte, denn der RTW kam an, zwei drahtige junge Notfallhelfer sprangen über die Leitplanke und nahmen sich sofort dem Mädchen an. Semir und Ben nahmen noch die Personalien der beiden Zeugen auf, während die Ärzte das Mädchen auf eine Trage packten und Richtung Rettungswagen schoben. "Könnt ihr schon was sagen?", fragte Semir, und machte sich nach so kurzer Zeit nicht alzu viel Hoffnung auf eine hilfreiche Antwort. "Den Pupillen nach zu urteilen, scheinbar eine Bewusstseinstörung." Als Semir nicht sofort antwortete, schob der studierte Notfallhelfer noch ein deutlicheres: "Tiefes Koma.", hinterher. Der erfahrene Polizist blickte zu dem jungen Kerl auf und lächelte beinahe gütig. "Danke, ich weiß was eine Bewusstseinsstörung ist. Wir folgen euch ins Krankenhaus, damit wir in den Sachen der Kleinen vielleicht etwas finden, was auf ihre Identität hindeutet." Der Kerl nickte, schloß den Krankenwagen und dieser fuhr mit Blaulicht sofort in Richtung Krankenhaus. Dem älteren Ehepaar riefen die beiden Polizisten noch den ADAC, und sie selbst entschieden sich, Hartmut anzurufen, der mit einer kleinen Truppe den Fundplatz des Mädchens checken sollte... denn beide hatten das dumpfe Gefühl, es hier mit einem Verbrechen zu tun zu haben...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Verlassenes Gebäude - 11:45 Uhr


    Die Uniform war heiß, der Schweiß rann unter dem Helm aus seinen Haaren die Schläfe und den Hals hinab. Kevins Hände hatten sich um den Griff seiner Waffe gelegt, den Finger am Abzug, in seinem Rücken der Wandvorsprung vor einer offenen Tür. Der junge Polizist, der erst wenige Wochen wieder rehabilitiert wurde, nachdem er wegen seiner Vergangenheit suspendiert und wegen eines fingierten Zufalls für mehrere Tage hinter Gitter gebracht wurde, hörte sein Herz pochen, als er die Waffe vor sein Gesicht hob und sich langsam mit dem Kopf um den Türvorsprung wagte. Sofort flogen ihm zwei Kugeln entgegen, die auf der gegenüberliegenden Wand einschlug und Kevin den Kopf sofort wieder zurück ziehen ließen. Der Gegner lauerte also nur darauf, dass der Polizist einen unvorsichtigen Schritt wagte. "Ich brauch Verstärkung in Korridor B", sagte er über das Funkgerät an seinen Einsatzleiter, dessen unaufgeregte Stimme knarzte zurück: "Verstärkung ist nicht, Peters. Wir haben schon drei Männer verloren." Er atmete durch...spannte seine Muskeln an und konnte nur hoffen hier irgendwie an einem Stück raus zu kommen. Mit einer schnellen Drehung wandte er sich vom Vorsprung weg, ließ die Waffe nach vorne schnellen und hatte den Kerl für Sekundenbruchteile im Blick. Zweimal zog sein Finger schnell am Abzug der Waffe, und der Kerl ging getroffen zu Boden. Sofort richtete Kevin die Waffe wieder nach vorne in Erwartung weiterer Verbrecher und ging mit ihr im Anschlag langsam durch den leeren Raum, in dem sich der Staub einen Kampf gegen die Spinnweben lieferte... und gewann. Dumpf konnte er Geräusche hören, die vom nahen Treppenhaus stammten, das müsse er noch runter und raus aus diesem Höllenhaus. "Wir haben Informationen, dass noch zwei Terroristen in deinem Trakt sind.", bekam er die Information über sein Funkgerät... und einen konnte Kevin scheinbar schon hören.


    Als er an den Übergang zur Treppe ankam, zog der Polizist seinen letzten Joker, als er mit leicht zitternden Händen (er hätte unbedingt eine Zigarette gebraucht.) die Rauchgranate von seinem Gürtel abzog. Gerade wollte er den Stift ziehen und das untere Treppenhaus, von dem die Geräusche kamen, vernebeln, als er die Hand, von der anderen Seite der Mauer mit der Waffe in der Hand sah. Hinter ihr hing sicher einer, der beiden noch lebenden Typen, und Kevin reagierte schnell. Die Rauchgranate zurück an den Gürtel, und mit der freien Hand griff er sofort das Handgelenk und knickte es seitlich weg. Der Kerl schrie vor Schmerzen und die Waffe fiel klackernd auf den Betonboden unter ihnen. Kevin riss an der Hand und der Typ stolperte vorwärts, konnte gar nicht so schnell reagieren, wie er von dem Kickboxer und Karatekämpfer mit einem Fußfeger die Beine weggezogen bekam. Der maskierte Typ landete unsanft auf dem Boden, rollte sauber ab und kam sofort wieder auf die Beine. Kevin allerdings hatte seine Waffe noch und richtete sie auf den Kerl. "Ganz ruhig! Auf den Bauch legen, Gesicht zur Seite! Los los!", sagte er mit kalter Stimme, und der Kerl gehorchte. Der Polizist hatte sich gerade über ihn gestellt, die Handschellen vom Gürtel geholt und dem Typ die Arme auf den Rücken gedreht, als er nur eine Bewegung im Augenwinkel sah... zu spät!
    Er sah gerade noch hoch, doch der junge Polizist hatte keine Zeit mehr die Waffe nach oben zu reißen. Er spürte noch die Einschläge der Kugeln und sah sofort den roten Fleck auf seiner Uniform im Brustbereich. Der Terrorist sagte übers Funkgerät: "Ich hab den Bullen erwischt.", während sich der zweite Kerl unter Kevin aufrappelte.


    "Okay... Übung beendet, alle bleiben auf ihren Positionen.", knarzte es aus allen Funkgeräten, sowohl aus denen der Polizisten, als auch der vermeintlichen Terroristen. Siegbert Kasper, kurz "Eisen-Kasper", aufgrund seines mitunter brutalen Übungsprogramms bei der Ausbildung zum SEK Köln und der GSG9, stieg die Betontreppen nach oben in den ersten Stock, wo die Befreiung des Gebäudes von den vermeintlichen Terroristen ein Ende gefunden hatte... denn Kevin war der letzte verbliebende Polizist. Er stand da, und sah die rote Farbe der Farbkugeln an sich heruntertropfen, ärgerte sich maßlos dass er bei der Verhaftung seines Kollegen, der den Terroristen gespielt hatte, einen Moment nicht aufgepasst hatte. Kasper kam in seiner Uniform nach oben und stemmte die Hände in die Hüften, als er Kevin über Robert stehen sah, der bereits eine Handschelle am Handgelenk befestigt hatte. "Herzlichen Glückwunsch, Peters. Sie sind tot.", sagte er mit seiner lauten, unüberhörbaren Stimme. Kevin lächelte sarkastisch und meinte mit seiner, meist emotionslosen Stimme: "Rufen sie meine Eltern an." Dabei erntete er ein Grinsen seines Todesschützen, Christian. "Du hast mir fast das Handgelenk gebrochen, du Spinner.", meldete sich Robert unter ihm, der nicht besonders gut auf den Polizisten zu sprechen war, weil er ihn selbst als Schande der Polizei sah... als ehemaliger Krimineller, der gerade so der Entlassung wegen seiner damaligen Verfehlungen von der Schippe gesprungen war, und vor kurzem zu Unrecht im Knast gesessen hat. Beide waren verbal schon mehrmals aneinander geraten, und hätte Kevin noch so reagiert, wie er vielleicht vor einigen Monaten impulsiver und auf Drogenentzug reagierte hätte, wären sicherlich schon die Fäuste geflogen... doch noch hatte er sich bisher zurückgehalten.
    Bevor er Antwort geben konnte, hakte sich Eisen-Kasper ein: "Tja, Kowalke... scheint so, als müssten sie ein paar Extra-Schichten einlegen, was waffenlose Verteidigung angeht! Oder wie hat Peters sie da unten in den Staub gezaubert?" Robert, ein Musterschüler auf der Fachhochschule und mit erstklassigen Empfehlungen in die Ausbildung zur GSG9 gekommen, pustete in den Dreck am Boden und wurde rot vor Wut. Dann endlich wurde er von Kevin wieder in die Senkrechte gezogen, doch die helfende Hand schüttelte er schnell ab.


    "Also Ladys. Versammlung in genau 1 Minute am Haupteingang des Gebäudes.", sendete Siggi durch den Funk und machte sich wieder auf den Weg nach unten. Für die, in diesem Gebäude befindlichen Beamte war dies kein Problem, andere waren jedoch in einem zweiten Trakt und mussten einen Umweg über einen Feldweg nehmen. Sie kamen niemans pünktlich, und so mussten die übrigen Schüler, wie auch Kevin darunter, Liegestützte im trockenen Gras und in voller Uniform machen, bis die Nachzügler endlich ankamen. Alle waren verschwitzt, Kevins Haare waren feucht und geplättet von dem Einsatzhelm, und alle sahen recht erschöpft aus. Doch Eisen-Kasper kannte vorerst keine Gnade. "Ihr seid eine Schande für die gesamte GSG9. Bei diesem Einsatz sollten 15 GSG9-Beamte 10 mickrige Terroristen festsetzen. 3 Terroristen sind noch da, aber keine GSG9-Beamten mehr. Stellt euch das mal vor!", rief er in die Runde, als alle in einem Halbkreis um ihren Ausbilder herumstanden. Manche hatten betretene Gesichter, andere waren von dem Führungsstil einfach genervt, und wieder andere hörten gar nicht richtig zu, so auch Kevin. Er wusste, dass sie die ganze Übung vermutlich noch einmal durchackern mussten, aber das interessierte ihn nicht. Er war konditionell gut genug, das hier noch ein paar Mal durchzustehen, ausserdem hatte er sich bewusst für die harte Ausbildung für die GSG9 entschieden... Ablenkung.
    Er konnte es sich nicht erklären, aber irgendetwas war mit Jenny passiert, seit man Kevin verhaftet hatte. Er dachte, dass dieses unsichtbare Band zwischen ihnen mehr war, als nur eine gute Freundschaft. Spätestens, nachdem er ihr einen tiefen Einblick in seine Seele gewährt hatte, sie sich von seinen kalten Worten nicht abschütteln ließ und sie sich bei ihr zu Hause küssten, war er sich sicher, dass zwischen ihnen eine innige Verbindung bestand, die vielleicht noch keine Liebe war, aber vielleicht auf dem Weg dorthin.


    Doch seit Kevin aus dem Gefängnis war, hatte Jenny sich von ihm distanziert. Das Gespräch in der Kneipe, dass sie kurz führten, hatte keinerlei positive Wirkung hinterlassen, auch wenn Jenny beteuerte, dass sie sich freue, dass er wieder aus dem Knast heraus war. Doch wenn Kevin sie einladen wollte, sagte sie unter vielerlei Gründen ab. Einmal ließ sie sich auf ein Abendessen bei ihm ein, doch die Atmosphäre war irgendwie fremd, als würden sich zwei Fremde einfach so zum Abendessen verabreden. Gespräche dauerten nur wenige Minuten, bis sie sich wieder anschwiegen, und stumm aßen. Gelacht hatten sie gar nicht, die DVD nach dem Essen sahen sie beide stumm, bis Jenny sich verabschiedete, dass sie sehr müde sei.
    Danach hatte Kevin quasi aufgegeben. Er hatte lange darüber nachgedacht, dass Angebot von Frau Engelhardt anzunehmen, und bei der Autobahnpolizei seinen Dienst zu tun, aber er hatte sich dagegen entschieden.... auch wegen Jenny. Offenbar, so dachte der junge Polizist, hatte er zuviel in diese Beziehung, in diese Freundschaft hinein interpretiert, oder aber Jenny war geschockt davon, was Kevin mit Mark Schneider, dem Typ der die junge Frau vergewaltigt hatte, in seiner Wut angestellt hatte. Letztendlich wusste Kevin es nicht, und er hatte auch keine Lust und Energie, es heraus zu finden. Er gab Jenny auf, er fragte sie nicht mehr etwas zu unternehmen, und nach gelegentlichen SMS-Einzeilern, die er jedesmal begann und beendete, hatten sie in der letzten Woche überhaupt keinen Kontakt mehr, kurz nachdem Kevin sich gegen die Autobahnpolizei und für die Ausbildung zum SEK und der GSG9 entschieden hatte.

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    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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  • Krankenhaus - 12:15 Uhr


    Der Krankenwagen hatte den Eingang der Notaufnahme längst erreicht, als Semir und Ben in ihrem Dienstwagen auf dem Besucherparkplatz angehalten hatten. Gerade schoben sie in gemächlicher Eile die Trage mit dem kleinen Mädchen aus dem weiß-roten Kastentransporter, um mit ihr dann im Gang des Krankenhauses zu verschwinden.
    Die beiden Polizisten meldeten sich an der Pforte an, wiesen sich aus und erklärten den Anlaß ihres Besuches. Sie blickten in ein fassungsloses Gesicht hinter der Trennscheibe aus Glas. "Schon wieder ein Komakind?", fragte sie und wurde bleich um die Nase. Die beiden Polizisten blickten sich etwas erstaunt an. "Wieso schon wieder?", fragte Ben dann letztendlich. Die rundliche, etwas ältere Frau beugte sich nach vorne und sprach leise: "Wir haben in den letzten Monaten mehrere Kinder eingeliefert bekommen, die bereits im Koma liegend hierher kamen. Niemand weiß, was passiert ist." Sie bekam einen ängstlichen Ausdruck in ihrem Gesicht, und wollte auch auf Nachfrage nicht mehr dazu sagen. Sie wies Semir und Ben zu dem Gang der Notaufnahme, wo im Flur Stühle standen für Leute, die dort auf ihre Liebsten warteten, denen etwas zugestoßen war. Dort setzten sich die beiden Freunde hin, und Ben fröstelte, als er daran dachte dass er dort vor kurzer Zeit einen folgenschweren Fehler begangen hatte. Hier hatte er und Kevin auf Jenny gewartet, nachdem sie vor der Dienststelle angeschossen wurden... hier hatte er sich mit seinem damaligen Partner böse in die Haare bekommen, hier sprach er den folgenschweren Satz über die Vergangenheit des jungen Kollegen, was letztendlich die Chefin mitbekam und Kevin vom Dienst suspendieren musste. Natürlich gingen ihm gerade jetzt die Gedanken durch den Kopf.


    "Was hast du jetzt vor?", fragte Semir irgendwann unvermittelt in die Stille hinein, er saß auf dem Stuhl während Ben wie immer etwas ruhelos hin und her tigerte. Er sah seinen Partner an und zuckte kurz mit den Schultern, als wüsste er nicht, um was es ging. "Wollt ihr beide euch weiter wie im Kindergarten verhalten, du und Jenny? Meint ihr echt, Kevin merkt nicht, wie ihr euch ihm gegenüber verhaltet?" Ben bekam einen Schreck. Sollte Kevin da wirklich etwas vermuten, aus dem Verhalten heraus? Aber wäre Kevin da nicht eher der Typ, der Ben und Jenny dann darauf anspricht? "Meinst du.... er hat was bemerkt?" Semir zog eine Schnute und schüttelte den Kopf. "Nein, das meine ich nicht. Aber warum denkst du, er hat sich gegen das Angebot der Chefin entschieden?" "Vermutlich weil es ihm hier zu langweilig ist.", grinste Ben unverhohlen und versuchte, die Ernsthaftigkeit aus der Diskussion zu nehmen, doch das fiel bei Semir nicht auf fruchtbaren Boden, der seinen Freund ermahnte. "Unter Freunden hat man keine Geheimnisse, Ben." "Semir, was soll ich denn machen? Soll ich jetzt zu Kevin gehen und sagen: Du, ich war mit Jenny im Bett?" Er stemmte die Hände in die Seiten. "Vermutlich interessiert ihn das gar nicht. Er zuckt mit den Schultern und beglückwünscht mich." Der ältere Polizist hielt das für Schönrednerei. "Ach, glaubst du das? Warum bist du und Jenny dann so merkwürdig zu ihm?" Peng... das war der wunde Punkt, in den Semir gnadenlos den Finger legte. Ben glaubte selbst nicht daran, dass es seinem Freund nichts ausmachte, genauso wenig wie Jenny, die es eigentlich am besten wissen müsste, um die Beziehung zwischen ihr und Kevin einzuschätzen.
    "Ach...", meinte er ablehnend, um damit die leidige Diskussion zu beenden und dabei abzuwinken, sich von Semir weg zu drehen und wieder einige Schritte den Flur entlang zu laufen. Es war eine Abwehrhandlung, weil er sonst Semirs Blick auf sich gespürt hätte.


    Irgendwann ging die Tür zur Intensivstation auf, und eine Krankenschwester kam heraus, mit einer Geldbörse in der Hand. "Sie sind von der Polizei?", fragte sie die beiden Männer, und Semir stand sofort nickend auf. "Das ist das Einzige, was das Mädchen bei sich hatte. Innendrin steht ihr Name und die Adresse.", sagte die junge Frau und hielt die bunte Börse dem Polizisten hin, der diese ergriff. "Was sollen wir den Eltern sagen? Was hat die Kleine?", fragte Semir mit fürsorglicher Stimme, denn er konnte sich gut in die Lage hineinversetzen. "Bis jetzt können wir nur sicher sagen, dass das Mädchen tief im Koma liegt. Sie hat keine äusseren Verletzungen, also auch keine Kopfverletzung, die für das Koma verantwortlich sein könnte." "Die Frau am Empfang hat gesagt, dass das in letzter Zeit häufiger vorgekommen ist... ein junges Mädchen im Koma.", sagte Ben, der schräg hinter Semir stand und diesen problemlos überblicken konnte. Die Krankenschwester sah kurz zu Boden, dann auf: "Ja, das stimmt. Wir sind recht ratlos... die Mädchen werden hier von den Eltern hergebracht, die sich alles nicht recht erklären lassen, oder den Ärzten nur sehr wenig Infos geben. Ein Mädchen ist bereits gestorben, ein Mädchen wieder aufgewacht." Beide Kommissare blickten recht ratlos. "Und was haben sie?" Die Frau zuckte nur mit den Schultern. "Wir vermuten einen Giftstoff, der die Mädchen ins Koma fallen lässt. Manche schlimmer, manche weniger schlimm."
    Beide Kommissare blickten ein wenig fassungslos, war das Gehörte doch schwer zu greifen. "Aber... irgendetwas müssen die Eltern doch sagen... erzählen." "Sie sagen, dass sie sie im Garten finden, nach dem Spielen... morgens nicht wach bekommen... wirre Geschichten. Aber wenn sie mich fragen...", ihre Stimme wurde leiser. "Niemand sagt die Wahrheit... alle lügen sie.", flüsterte die Frau beinahe und hinterließ bei den beiden hartgesottenen Polizisten eine gewisse Gänsehaut, bevor sie sich umdrehte und wieder in die Intensivstation ging.


    Auf dem Weg nach draussen hatte sich die Gänsehaut bei Ben und Semir immer noch nicht gelegt. "Hört sich etwas spooky an, oder?", meinte der junge Kommissar, als sie den Flur entlang schritten, und Semir an einer halboffenen Tür plötzlich stehenblieb. Er hatte nur zufällig hindurch gesehen, und wurde von der Szene hinter der Tür ergriffen. Ein junges Mädchen, vielleicht 12 Jahre alt, lag dort im Bett, der Vater saß geknickt und müde auf einem Stuhl daneben, mit leerem Blick auf seine Tochter. Die Mutter hatte sich halb zu dem Mädchen gedreht und strich mit einer Haarbürste sanft durch die blonden Haare des jungen Mädchens, während sie ein altes Schlaflied summte, das sie dem Mädchen immer vorgespielt hatte.
    Ben hatte bemerkt, dass sein Partner stehen geblieben war, und sah sich nach Semir um. Er sah, wie sein Kollege stocksteif da stand und durch die offene Tür blickte, mit leicht verlorenem Blick und sein Gesicht war wie eingefroren. "Semir?", fragte Ben mit vorsichtiger leiser Stimme, denn er merkte sofort dass sein Freund wie eingenommen war, als er selbst einen kurzen Blick durch die Tür wagte. Der ältere Kollege hatte zwei Kinder, Ayda und Lilly, und gerade Ayda war in einem ähnlichen Alter. Er hatte auch noch eine dritte Tochter aus einer früheren Beziehung, doch die lebte nicht bei ihm. Gerade schoss es dem Familienvater durch den Kopf, wie er wohl in dieser Situation reagieren würde. "Das ist schrecklich, Ben.", sagte er leise, während sich der Vater, ein großer staatlicher Mann, der wohl im wahren Leben souverän und selbstsicher wirkte und nun wie ein gebrochener Mann von dem Stuhl zum Fenster schlich, müde und ausgelaugt, und hinaussah. Ben konnte die Gefühle nicht so gut nachvollziehen wie Semir, er hatte keine Kinder, war aber für Ayda und Lilly sowas wie der große Onkel. Trotzdem war auch er ergriffen von der Szene.


    "Komm... lass uns zu den Eltern fahren... die kommen sicher um vor Sorge.", sagte er leise und zog seinen älteren Freund am Jackenärmel, der sich langsamen Schrittes mitziehen ließ. "Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, wenn meiner Tochter so etwas passieren würde.", sagte Semir leise. Ben wunderte sich, denn sein Freund ließ sich normalerweise selten emotional aus dem Konzept bringen, doch dieser kleine Moment, als er in das Zimmer hineingeblickt hatte, schien Urängste in ihm ausgelöst zu haben. Angst um das Leben des eigenen Kindes, Angst um die Familie. "Semir. Du passt doch so gut auf deine Kinder auf. Die sind fast nie allein zu Hause, Andrea oder du bringt sie in die Schule und holt sie wieder ab. Wieviele Kinder leben in Köln, und wie oft passiert sowas? Ausserdem wissen wir noch gar nicht, was passiert ist", versuchte Ben rational dagegen anzukämpfen, und Semir nickte. Er hatte sich wirklich mitnehmen lassen, und versuchte die erlebte Emotionalität abzuschütteln. "Du hast ja recht.", sagte er schließlich, als sie an die frische Luft traten. Aber irgendwie entwickelte Semir gerade ein zwingendes Gefühl heraus zu finden, was mit diesen Mädchen passiert war...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Villa - 13:30 Uhr


    Die Gegend, in die das Navi die beiden Polizisten führte, konnte vornehmer nicht sein. Große prächtige Häuser zierten die Straße, alle im Respektsabstand zueinander gebaut mit großen Gärten. Manche Villen stammten noch aus dem vorherigen Jahrhundert, andere waren auf freie Bauplätze dazwischen gebaut und bildeten einen Kontrast zur Moderne. Semir pfiff durch die Zähne, als der Dienstwagen langsam durch die Tempo 30-Zone rollte. "Mein lieber Mann... wer hier wohnt, darf nicht arm sein." Auch Ben schaute sich durch die Frontscheibe die großen, sauber geschnittenen Vorgärten an. "Das wäre doch so deine Kragenweite.", sagte sein älterer Partner scherzhaft, wohlwissend dass Ben aus reichem Hause kam. "Ne...", meinte der kurz angebunden und blickte seinen Partner an: "Zu große Gärten. Da bin ich viel zu faul dazu."
    Sie erreichten die Adresse und hielten vor einer breiten Einfahrt, die durch ein Eisengitter gesichert war. Dort war auch die Klingel und die dazugehörige Videoüberwachung. Beide Polizisten hielten nach dem Läuten die Ausweise in die Kamera und wurden sogleich durch einen Summer durch die Eisentür im Tor gebeten. Der Weg zur Haustür führte sie durch ein grünes Paradies aus Sträuchern, Bäumen und Blumen. Sicherlich kümmerte sich hier ein oder mehrere Gartenarbeiter um das Wohl des Grün, unmöglich konnte dies ein Mensch alleine schaffen.


    An der Eingangstür wartete der Hausherr auf den unangekündigten Besuch. Die Augen des Mannes im Anzug schienen müde und voll Sorge, so war es sofort Semirs Eindruck, als er ihn sah. Er sah aus wie ein typischer Geschäftsmann, Anfang 40, der es wohl schnell zu Reichtum gebracht hatte. "Was kann ich für sie tun, meine Herren?", fragte er bemüht höflich und Ben ließ Semir den Vortritt, unangenehme Nachrichten zu verbringen. "Herr Lauer? Es geht um ihre... um ihre Tochter.", sagte Semir vorsichtig, als er näher kam und sofort weiteten sich die Augen des Mannes, sofort wurde sein Blick nervös. "Unsere... unsere Tochter? Was ist mit ihr?" Ben blickte etwas unsicher. "Vermissen sie sie etwa nicht?" Ein kurzes Kopfschütteln des Mannes in der Tür folgte: "Nein... sie hat bei einer... einer Freundin geschlafen heute nacht. Maria! Maria!!", rief er danach ins Haus und die Ehefrau kam herbei geeilt. Auch sie war in einer Art Anzug, allerdings mit Rock, scheinbar schien sie ebenfalls berufstätig zu sein. "Nele ist doch bei ihrer Freundin, oder?", fragte er, als wolle er sichergehen und sofort nickte die etwas jüngere Frau, während ihre blonden Haare sich über die Schulter legten.
    Semir zog die Geldbörse des jungen Mädchens aus der Jeanshose und hielt sie den verdutzten Eltern hin. "Wo... wo haben sie die her?", fragte der Mann mit etwas barscher Stimme, doch Semir wollte diese sofort wieder beruhigen. "Könnten wir das vielleicht drinnen besprechen, Herr Lauer?", bat er freundlich während Herr Lauer die Geldbörse an seine Frau Maria weitergab, die sofort die Kinderschrift auf dem Zettel erkannte. Der Mann ließ den beiden Herren den Vortritt, und schloß die schwere Haustür hinter ihnen.


    Innen drin war das Haus mindestens so luxuriös wie es von aussen den Anschein gemacht hatte. Der Boden war ausgelegt mit teuren Teppichen, und alles schien sehr exklusiv, wenn auch etwas altmodisch eingerichtet. Im Wohnzimmer bot Heinrich Lauer den beiden Kommissaren Platz auf einer weißen Ledercouch an. "Wie kommen sie an den Geldbeutel meiner Tochter? Was ist denn passiert?" Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gesammelt, und seine Hände waren unruhig. Sie verflochteten sich ineinander, lösten sich wieder, strichen über die Beine. "Also... wir... ihre Tochter wurde heute nahe der Autobahn bewusstlos aufgefunden.", sagte Semir vorsichtig, und Maria Lauer schlug beide Hände vor den Mund. "Um Gottes Willen... um Gottes Willen...", stammelte sie und ihre letzte Gesichtsfarbe wich aus ihrem Gesicht. Auch Herr Lauer schien blasser zu werden, aber hielt sich noch unter Kontrolle. "Wo...?", wollte er gerade ansetzen, doch Semir fiel ihm ins Wort: "Sie ist im Krankenhaus. Frau Lauer, am besten sie packen einige Kleidungsstücke für Nele zusammen, und wir bringen sie dann sofort zu ihrer Tochter." Maria Lauer nickte schnell und eilte die Marmortreppe hinauf, um eine Tasche für Nele zu packen.
    "Herr Lauer, wir müssen ihnen leider sagen, dass ihre Tochter im Koma liegt.", sagte Semir dann mit ernster Miene, als die Frau aus dem Raum war. "Im Koma? Aber wie... warum?" "Das wissen wir selbst noch nicht. Sie wurde bei Kilometer 33 gefunden." Heinrich Lauer atmete tief durch und blickte zu Boden, dabei schüttelte er den Kopf. Nun ergriff auch Ben das Wort: "Herr Lauer, wir haben im Krankenhaus erfahren, dass in den letzten Wochen oder Monate öfters Kinder im Koma liegend ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Meist von ihren Eltern. Sagen sie uns bitte, ob sich hier in den letzten Tagen irgendetwas merkwürdiges ereignet hat, im Bezug auf ihre Tochter."


    Für einen Moment hätte man eine Stecknadel fallen lassen können, und wäre von dem Geräusch erschrocken. Nur die große Standuhr in der Ecke sendete Geräusche wie das laute "Tick-Tack" aus, dass die Spannung im Raum unerträglich machte. "Ich habe meine Tochter gestern nachmittag zu ihrer Freundin gefahren... das sind nur zwei Straßen entfernt von hier. Dort durfte sie übernachten. Und gestern war sie noch putzmunter bei mir.", beharrte er mit lauter Stimme, doch genau diese übertriebene Lautstärke ließ ihn unglaubwürdig erscheinen. Es war, als wüsste er dass er gegen die Meinung der beiden Kommissare ankämpfen musste, obwohl diese ihm noch gar nicht widersprochen hatten. Genauso bemerkten beide die Nervosität des Mannes, anhand seiner Hände, seiner Mimik und seiner feuchten Stirn.
    "Anscheinend wurden bisher alle Kinder von den Eltern ins Krankenhaus gebracht. Ihre Tochter ist die Erste, die zufällig gefunden wurde.", sagte Semir, der etwas nach vorne gebeugt saß, die Hände ineinander verschränkt und die Ellbogen auf die Knie stützend. "Wie können sie sich erklären, dass ihre Tochter zu der besagten Autobahn gekommen ist?" Die Augen des Mannes flitzten durch den Raum, als suchten sie eine Antwort auf die Frage des Polizisten. "Ich... ich weiß nicht. Da müssten sie... sie mal Jörg Kausak fragen. Bei deren Tochter Christina war Nele zu Besuch." Der Mann ließ sich keine Information entlocken und durch einen kurzen, aber eindeutigen Blickkontakt bestätigten sich beide Polizisten, dass weder der eine, noch der andere dem Mann wirklich ein Wort glaubte. Wie sollte Nele von hier zur Autobahn gelangen, wenn sie bei einer Freundin schlief? Warum druckste der Mann so rum, und ganz deutlich war er schon nervös, als die beiden noch gar nichts von der Tochter erwähnt hatten. "Trauen sie diesem Jörg Kausak ein Verbrechen zu?", fragte Ben unvermittelt, und sofort kam ein: "Nein... also ich meine: Nein, eigentlich nicht, denke ich.", von Heinrich Lauer. Das "Nein" kam auch hier beiden Kommissaren zu schnell, als wolle er seinen Freund sofort aus der Schusslinie holen, nachdem er ihn gerade in die Sache mit reingezogen hatte.


    Frau Lauer kam mit einer bunten Kindertasche nach unten, sie hatte sich bereits einen leichten Herbstmantel umgeworfen und war abfahrtbereit. Auch Heinrich Lauer stand sofort von seinem Platz auf, er war froh dass diese unangenehme Unterredung vorbei war, und sofort drängte er zum Aufbruch. Sie verschlossen das Haus von außen, und setzten sich zu Semir und Ben in den Dienstwagen, der mit überschaubarer Eile zum Krankenhaus fuhr.
    An der Tür zum Krankenzimmer ließen die beiden die Eltern alleine, und Maria Lauer brach sofort in Tränen aus, als sie ihre kleine Tochter im Bett liegen sah, mit dem Beatmungsschlauch im Mund, dem piepsenden EKG direkt neben dem Bett. Ihre Haare waren wie gefächert um ihren Kopf, und die Decke war bis zu ihrem kleinen Kinn gezogen. "Wer hat uns das nur angetan?", flüsterte sie leise, doch Ben hatte es deutlich gehört, bevor er das Zimmer verließ. Er drehte sich um: "Was meinten sie, Frau Lauer?" Heinrich Lauer hatte den Ausspruch seiner Frau sofort bemerkt, und kam einen Schritt auf Ben zu: "Bitte, lassen sie uns jetzt alleine. Wir stehen ihnen erst mal für keine weiteren Fragen zur Verfügung." Ben war überrascht von der Schärfe in der Stimme des Mannes, doch er konnte auch verstehen, wenn dieser jetzt erstmal alleine bei seiner Tochter sein wollte. Ein Arzt kam hinzu und zog die Tür zu, um mit den beiden Eltern alleine zu sprechen.
    "Irgendetwas ist da doch oberfaul... was hast du gehört?", fragte Semir, der bereits auf dem Gang war. "Sie hat gesagt: Wer hat uns das angetan? Ich hab es genau gehört.", versicherte sein jüngerer Partner. "Das hörte sich ganz so an, als hätte jemand vorsätzlich dieses Koma herbeigeführt... und die Eltern wissen es." Der älterer Kommissar zuckte mit den Schultern "Ja, aber wie? Und warum, weshalb?" "Solange die Eltern nicht mit uns reden, haben wir keine Chance... wir sollten uns mal mit den Eltern der anderen Komakindern unterhalten.", sagte Ben, als das Telefon seines Freundes klingelte.


    "Ja, Hartmut?" "Volltreffer, Semir. Ich hab die DNA an dem Zigarettenstummel untersucht. Wir haben einen Treffer in der Datenbank." "Ja und? Machs nicht so spannend?", sagte Semir und fing sich einen ermahnenden Blick einer älteren Krankenschwester, da man im Krankenhaus nicht telefonieren durfte. "Eduard Schobler... vorbestraft wegen Besitzes von Kinderpornographie und versuchtem Kindesmissbrauch." Semir blieb stehen und unwillkürlich stieg in ihm ein gewisser Ekel und Wut in sich hinauf. "Haben wir eine Adresse?", fragte er und bekam zur Antwort: "Hab ich dir schon auf dein Handy geschickt." "Danke Hartmut." Semir trennte die Verbindung und Ben fragte mit einem Nicken nach den Neuigkeiten, die sein Partner kurz und knapp weitergab. "Ach du Scheisse...", murmelte Ben nur, denn er konnte 1 und 1 zusammenzählen. "Lass uns das Schwein festnehmen...", sagte Semir und beide liefen zu ihrem Dienstwagen, um sich auf den Weg zu Schobler zu machen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • Hochhaussiedlung - 15:00 Uhr


    Die beiden Polizisten waren bereits seit Morgens nun unterwegs durch ganz Köln, hatten sich keinerlei Auszeit genommen um Mittag zu essen, und dementsprechend gespannt waren die Nerven von Semir und Ben, als sie vor dem Hochhaus anhielten, was die Adresse von Eduard Schobler war. Beide stiegen aus und blickten in den, mittlerweile etwas zugezogenen Himmel nach oben. "Hoffentlich funktioniert der Aufzug... je nachdem wo der Typ wohnt.", murrte Ben, denn ihn plagte der Hunger, wie so oft, am meisten. "Komm, das wirst du wohl noch schaffen.", ermutigte ihn sein älterer, aber nicht unfitterer Kollege, und beide gingen auf die, mit Farbspray verunstaltete Eingangstür zu. "Na super... 16. Stock.", stöhnte Ben und bekam von Semir einen Klaps an den Hinterkopf. Ein kleiner Trost war, dass der kleine baufällige muffige Aufzug funktionierte und die beiden Kommissare nach oben beförderte. Auch dieser Aufzug war in einem miserablen Zustand in dieser, wirklich herunter gekommenen Wohngegend. Die Knöpfe hingen halb heraus, das Spiegelglas war zersplittert. "Da hat Kevin ja früher im Luxus gehaust...", meinte Semir, und beide erinnerten sich, dass die damalige Wohnung des jungen Polizisten ganz sicher kein Wohnparadies war. Doch dieser Plattenbau war nochmal eine Spur verkommener und glich eher der Wohnung der jungen Jessy Stern, einem Mädchen das mit seinen Brüdern Entführungen mit Lösegelderpressungen begangen hatte, und mittlerweile im Gefängnis saß.
    Ben spürte eine eigenartige Beklommenheit, als er von Semir in den Aufzug geschoben wurde. Er war seit einigen Wochen in einer Art Therapie gegen seine Platzangst, viele Gespräche mit einem Psychologen, und in einer kleinen Gruppe, die ihm sehr geholfen hatten, und ihm schon ermöglichten, ohne Probleme in größere komfortable Aufzüge zu steigen. Doch dieser, für maximal 6 Personen ausgelegte Kasten war nochmal eine Nummer schlimmer, aber er ließ sich vor Semir nicht anmerken, war aber Gott froh, als die Türen sich im 16ten Stock endlich öffneten.


    Eduard Schobler hielt mittlerweile die 15te Kippe des Tages zwischen den Fingern, die einfach nicht Ruhe halten wollten. Er saß vor dem Fernseher und versuchte seine Nerven in den Griff zu bekommen, doch das wollte einfach nicht gelingen. Bei jedem kleinsten Geräusch auf dem Flur schreckte er auf, bei jedem Klopfen an Nachbarstüren, stürzte er ans Fenster... denn jeden Moment vermutete er Polizei, SEK oder irgendwelche anderen Truppen, die bei ihm die Wohnungstüre eintreten würden. Mein Gott, wie konnte er nur so dumm sein... und dann auch noch die Kippe liegen lassen.
    Eduard Schobler galt als geheilt, nachdem er seine Haftstrafe und eine dreijährige Therapie hinter sich gebracht hatte. Doch der Gefängnisaufenthalt war für den Mittvierziger Therapie genug, den als Kinderschäner stand man in der Rangfolge des Gefängnisses ganz unten. Er musste alles über sich ergehen lassen, von Schlägen bis hin zu Vergewaltigungen der abscheulichsten Art. Der Mann hatte alles ausgehalten, die Therapie durchgezogen und fühlte sich seitdem wie ein neuer Mensch, bis zu diesem Morgen bei seinem Spaziergang an der Autobahn entlang... bis er dieses hübsche junge Mädchen im Gras liegen sah und seine, längst besiegten Urtriebe sich zu regen begannen. Dann hatte er diese Zigarette im Mund, die er dicht bei dem Mädchen fallen gelassen hatte, und an die er erst später gedacht hatte. Er wollte nochmal zurück... verdammt. Da waren bereits Leute bei dem Mädchen, später kam Polizei und Krankenwagen hinzu... Schobler hatte schnell das Weite gesucht, bevor ihn jemand entdecken konnte. Seitdem saß er jetzt hier in seiner kleinen Wohnung, die er sich vom Arbeitslosengeld leisten konnte, denn mit seiner Vorgeschichte wurde er nirgends mehr eingestellt, Freunde hatte er keine und er lebte sein Leben, weil er es leben musste.


    Doch nun hörte Schobler wieder ein Klopfen, und sofort fuhr er aus seinem Fernsehsessel. Diesmal war das Klopfen eindeutig an seiner Wohnungstür, es schall durch den ganzen Raum. Stocksteif wie angewurzelt verharrte er vor seinem Sessel im Wohnzimmer. Waren es vielleicht nur die Nachbarn, die etwas von ihm wollten? Oder jemand, der nicht die richtige Tür fand? Ihn besuchte normalerweise niemals jemand. "Herr Schobler? Machen sie bitte die Tür auf, Polizei.", hörte er die Stimme eines Mannes durch die Tür, und sofort brach in dem Mann der kalte Angstschweiß aus. "Oh nein.", flüsterte er und blickte sich wild hektisch um. Wieder ein Klopfen, es blieb nicht viel Zeit, und so drehte sich der Mann zum Balkon um, öffnete die Schwingtür gemächlich, jedoch nicht lautlos und schwang sich vom Balkon auf die Feuerleiter, um so schnell es ging, herunter zu klettern.
    Das Knacken der Terassentür blieb für die beiden Kommissare vor der Wohnungstür nicht überhörbar.... zu dünn war die billige Holztür, die Wohnung und Flur voneinander trennten. "Der haut ab.", sagte Semir hektisch und zog sofort seine Waffe, Ben tat es ihm gleich. "Herr Schobler, wir kommen jetzt rein!", rief Semir noch, bevor er mit einem wuchtigen Tritt die Holztür aus dem Schloß trat. Das Holz krachte und splitterte, und gab erst bei Semirs zweitem Tritt komplett nach. Sofort stürmten die Polizisten in das Wohnzimmer und konnten die offene Balkontür erblicken. Semir lief voran durch die Tür, blickte erst am Geländer nach unten, bevor sein Blick auf die Feuerleiter fiel. Weiter unten konnte er das blechernde Geräusch von Tritten auf dieser ganz deutlich vernehmen. "Schobler! Bleib stehen!!!", schrie er hinunter, bevor er sich durch die offene Sicherungstür auf die hohe Feuerleiter schwang, die von einem Käfig umgeben war. Mit schnellen kleinen Schritten stieg der drahtige Kommissar immer weiter nach unten Richtung Boden, holte auf den flüchtenden Mann aber nur langsam auf.


    Ben sah keinen Sinn darin, die Leiter ebenfalls hinunter zu klettern. Er entschied sich für den Rückweg, steckte die Waffe zurück in den Holster und sprintete wieder aus der Wohnung heraus, auf den Flur und Richtung Treppen. Diesmal war er über das Treppenhaus definitiv schneller, als über den Aufzug, und so flog der Kommissar Stockwerk um Stockwerk über die Stufen immer weiter nach unten. Die ersten 5 Stockwerke vergingen wie im Flug, doch dann wurde jede Treppe länger, die Fußknöchel und Waden schmerzten ihm schnell, und die Luft in seinen Lungen begannen zu brennen. Doch wie immer, wenn er einem Verbrecher zu Fuß hinterher jagte, schaltete Ben das Schmerzempfinden aus, die nächsten Stockwerke vergingen wieder schneller, und mit der linken Hand hielt er sich am Geländer fest, wenn er um die Kurve im Treppenhaus lief. Im 5. Stock hätte er beinahe eine alte Rentnerin über den Haufen gerannt.
    Aber Semir erging es auf der Feuerleiter nicht besser. Auch er spürte schnell dass es alles andere als einfach war, soviele Trittstufen nach unten zu klettern. Auch Semir keuchte nach Luft, sah immer wieder nach unten, um seinem Verfolger nicht auf die Hände zu treten, und damit zum Absturz zu bringen. "Bleib stehen, verdammt nochmal!", rief er erneut, doch die Luft konnte er sich sparen. Schobler war in Panik, wollte einfach noch weg von der Polizei, flüchten, soweit ihn seine Beine oder sein altes Auto, dessen Schlüssel er zum Glück in der Jeans hatte, fahren würde. Nicht mehr weit, dann hatte er es geschafft, er würde unten das Gitter zu sperren und der Polizist, denn er über sich sah, würde erstmal festsitzen.


    Den zweiten Polizisten sah er erst, als er auf dem Boden ankam, und den Käfig der Feuerleiter verließ. Gerade da sprintete Ben mit seinen wehenden Haaren um die Häuserecke, und Schobler gab seinen Plan, den Käfig zu verschließen sofort auf, und wandte sich in die andere Richtung, um weiter zu rennen. Doch Ben war jetzt in Fahrt, er holte schnell auf und war konditionell doch weitaus fitter als der ältere Eduard Schobler.
    Mit einem Sprung packte er den Flüchtenden am Genick und beide landeten in einer Ecke des Hauses, wo Mülltonnen und alte Pappkartons standen. Ben drehte dem Mann den Arm auf den Rücken und drohte mit schwer atmender Stimme: "Eine Bewegung, und ich kugel dir die Schulter aus, ist das klar?" Schobler war selbst so ausser Atem, dass er keinerlei Widerstand mehr geben konnte, und ließ sich von Ben wieder auf die Füße heben. Erst als die Handschellen klickten und Semir bei Ben, laut schnaufend, ankam, fand er seine Stimme wieder. "Na, alter Mann? Wo bleibst du denn?", fragte Ben neckisch in Richtung Semir, der es nie leiden konnte, wenn sein Freund ihn mit seinem Alter neckte. "Was wollt ihr von mir? Ich... ich habe nichts getan.", jammerte Eduard Schobler mit schwerer Stimme. "Nichts getan? Du warst nicht zufällig heute vormittag an der Autobahn? Hast eine geraucht? Hmmm?", fuhr Semir ihn direkt an, und erkannte sofort den panischen Ausdruck in den Augen des Mannes, der hin und her schaute. "Aber... ich... ja... aber.", stammelte er aus Angst, wieder zurück ins Gefängnis zu müssen. "Dann werden wir mal sehen, was du dir bis zum Revier ausdenkst.", grohlte der erfahrene Kommissar und übernahm den Mann von seinem Freund. "Los!"

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Kevins Wohnung - 15:30 Uhr


    Heute bekam Kevin von dem Schleifer des SEK etwas früher frei. Die Ausbildung schlauchte sehr, und der Polizist, der sonst gerne mal ein Nachtschwärmer war, fiel immer öfter früh am Abend müde ins Bett. Ein positiver Nebeneffekt war, dass er besser einschlief, als früher, als ihn noch intensive Alpträume des Nachts gequält hatten. Doch er spürte, mit jedem Tag, dass diese Ausbildung nur eine Flucht war, eine Flucht vor sich selbst, eine aussichtslose Flucht vor den Menschen, die er mochte. Warum hatte er das Angebot der Chefin nicht angenommen? War es wirklich nur wegen Jenny? War es vielleicht auch wegen Ben, mit dem er sich zwar wieder gut verstand, aber immer noch das letzte Fünkchen absoluter Vertraue fehlte. Oder war es Semir, bei dem der junge Polizist einfach Angst hatte, ihn zu enttäuschen? Kevin konnte es nicht sagen, aber er spürte dass er wieder in die Ermittlungsarbeit wollte, raus auf die Straße, raus aus den Ausbildungscamps.
    Er sperrte die Haustür des Zweifamilienhauses auf und schritt die Treppe nach oben in die Wohnung, wo Kalle und er gemeinsam wohnten. Kalle, seine Ziehmutter aus früheren Tagen, war momentan neben ihren gelegentlichen Transvestit-Auftritte auf Jobsuche. Irgendein unbehagliches Gefühl beschlich den jungen Polizisten, als er die Wohnungstür aufdrückte, und Kalle bereits auf ihn wartete. "Wir haben Besuch.", meinte sie augenzwinkernd und sah in ein ratloses Gesicht. "Und wer?"


    Die Frage hätte sich Kevin sparen können, denn als er das Wohnzimmer betrat, sah er den Besuch... und seine Laune fiel sofort um mehrere Etagen, bis tief in den Keller. Ein Mann saß auf der Couch und hatte eine Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger. Sein schwarzes, ansatzhalber graues Haar trug er im Nacken etwas länger, seine Lederjacke war schwarz und seine Augen eisblau... schon daran konnte man die Verbundenheit zu Kevin erahnen. "Hallo Kevin. Willst du deinem Vater keinen Kuss geben?", fragte Erik Peters mit einem halb ehrlichen, halb sarkastischem Lächeln, während sein Sohn mit unbeweglicher Miene im Türrahmen zum Flur stehen blieb. Aus der Küche kam eine junge Frau, im Minirock und knappen Top, und sah den Neuankömmling neugierig an. Der Polizist konnte sich schon denken, dass es eine von den wahllos wechselnden Liebschaften seines Vaters war. Er hatte seit Monaten kein Wort mit ihm gewechselt, und war froh dass er weder in seiner abgewrackten Wohnung, noch bei Kalle, bis jetzt, aufgetaucht war. Er hatte ihm nie verziehen, dass er sich früher niemals um ihn oder Janine gekümmert hatte, dass er Kevins Mutter nach der Geburt vertrieben hatte, und dass er nicht mal Kontakt zu Kevin aufnahm, nachdem Janine gestorben war. "Babsi, das ist mein Sohn Kevin.", sagte er mit ein wenig Stolz in der Stimme, während Babsi mit dem Finger über Kevins Shirt von der Brust langsam nach unten strich. "Hmm... ganz der Vater.", hauchte sie, als sie mit ihrem Finger knapp vor der Gürtelschnalle angekommen war, bis Kevin ihre Hand grob packte und wegschob, wobei er schmallippig meinte: "Hoffentlich nicht." Dabei ging er an der, scheinbar Prostituierten vorbei ins Wohnzimmer, am Sofa vorbei ohne seinen Vater auch nur eines Blickes zu würdigen, bis er mit dem Rücken zu ihm stand und aus dem Fenster auf die Straße sah... als gäbe es dort etwas sehr interessantes zu sehen. Babsi wurde von Kalle in die Küche geschickt, da sie dort scheinbar irgendetwas suchte, um Kaffee aufzusetzen.


    Erik Peters wusste aber einerseits, wie er seinen Sohn reizen konnte, und wollte andererseits einfach normal mit ihm reden. Doch nach all den Jahren des Desinteresses kannte er Kevin, sein eigen Fleisch und Blut in keinster Weise richtig anzupacken. "Was bist du denn so mies drauf?", fragte er, während er von der Couch aufstand und um den Wohnzimmertisch herum ging, jedoch einen Meter hinter Kevin stehen blieb, und dessen Rücken anschaute. "Ich hab dir immer gesagt, lass die Finger von dem Bullenjob. Das zieht dich nur runter." Er hatte, als Kevin die Ausbildung zum Polizisten begonnen hatte, tatsächlich sich mal bei ihm gemeldet und versucht, ihm dies auszureden. In der Rotlicht-Szene hatte es sich schnell herumgesprochen, dass der Sohn von Erik Peters bei der Polizei war, und alle nicht ganz so legalen Geschäfte um die damalige Bar hatten einen gewaltigen Knacks erlitten. "Du kannst jederzeit bei mir anfangen, das weißt du. Sei mal bisschen nett zu mir, ich bin dein Vater.", forderte er und Kevin schloß für einen Moment die Augen.
    Für einen Moment wollte er einem Impuls folgen, und seinen Vater beschimpfen, einen Impuls folgen und seinem Vater einen Fausthieb versetzen. Dazu war es nie zuvor gekommen, und Kevin würde es wohl auch niemals so weit kommen lassen, doch jetzt, in diesem Moment fühlte er sich schrecklich hilflos. Er spürte sein Herz in seiner Brust schlagen, er fühlte wie sich die Hände zu Fäusten ballten und er biss die Backenzähne aufeinander. Warum sagte Kalle nichts... sie sah doch, wie es Kevin erging und sie wusste doch um sein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater, der weiterhin hinter Kevin stand und ihn noch nicht erlöste. "Was willst du hier?", fragte er mit leiser Stimme, wobei er die Augen verengte und trotzdem seinen Vater nicht ansah, der in seinem Rücken stand.


    Nun mischte Kalle sich ein, die sich zurück auf die Couch setzte: "Erik hat mir angeboten, das "Blue Lagoon" zu übernehmen." Das konnte nicht wahr sein, dachte der Polizist. Nun würde sich sein Vater auf Dauer in sein Leben wieder einmischen, vermutlich weil er gehört hatte, dass er wieder zurück zu Kalle gezogen war. "Also die Geschäftsführung, zumindest vorrübergehend. Das wäre doch gar nicht so schlecht, oder?", meinte sie beinahe versöhnlich in Richtung der beiden Männer, und Erik nickte ihr dankbar zu, bevor er sich wieder Kevins Stimme zu wandte, der die Augen rollte und sich nun zu seinem Vater umdrehte, allerdings nur um wieder an ihm vorbei zu gehen. "Herzlichen Glückwunsch...", meinte er mit sarkastischer und ironischer Stimme in Kalles Richtung. "Das muss ja wirklich toll sein, mit meinem Vater Geschäfte zu machen." Dabei ging er wieder von seinem Vater weg in Richtung des Flurs, den er hielt die Atmosphäre in diesem Raum zusammen mit seinem Vater nicht länger aus. Er hörte jedoch dessen, leicht verrauchte Stimme in seinem Rücken. "Sei doch nicht so negativ. Ich mach doch keine Geschäfte mit Kalle. Die gehört doch quasi zur Familie."
    Das Wort Familie ließ Kevins Blutdruck endgültig über den Siedepunkt steigen. Es hatte etwas von blankem Hohn, dass sein Vater, der dafür verantwortlich war, dass Kevin ausser seiner Schwester nie sowas wie eine Familie hatte, nun selbst dieses Wort in den Mund nahm, um Kevin für etwas versöhnlich zu stimmen, was Erik benutzte um sich gegen Kevins Willen zurück in dessen Leben zu drängen. Mit einem Ruck drehte er sich um und machte seinem Vater einen Schritt entgegen wobei er ihm mit kalten Augen ins Gesicht sah, und laut rief: "DU redest über FAMILIE?" Zwischen den beiden Männern war vielleicht noch ein halber Meter Platz, aber Erik Peters hielt dem Blick seines Sohnes stand, während er noch nachlegte in Richtung Kalle: "Du kümmerst dich doch sowieso so gut um ihn."


    Auch Babsi, die die Unterhaltung in der Küche mit verfolgt hatte, mit den Familienverhältnissen aber gar nichts anfangen konnte, kam zurück und meinte keck: "Hey... dann bin ich ja sowas wie Kevins Stiefmutter." Unpassender hätte ihr Spruch nicht sein können, und der böse, beinahe unberechenbare Blick des Polizisten fiel nun kurzzeitig auf sie, während Kalle, die offenbar ebenfalls nichts von dem billigen Flittchen hielt, meinte: "Ach, halt die Klappe."
    Kevin kämpfte einen unbändigen Kampf mit sich, mit seiner Wut, mit seiner unendlichen Traurigkeit, wenn er zurück an seine Kindheit dachte. Wenn sein Vater nur mit ihm redete, wenn es darum ging, ihm Anweisungen zu geben, wie man die Gläser richtig spülte, die Toiletten in seinem Puff richtig schrubbte um ihn danach wieder raus auf die Straße abzuschieben und nichts mehr von ihm wissen wollte. Dass er in der Schule von Älteren zusammengeschlagen wurde, dass er Fragen zu den Hausaufgaben hatte... das alles hatte seinen Vater nicht interessiert. An all das dachte der Polizist jetzt, als er seinem Vater in die Augen blickte und mit drohendem, aber leisem zitternden Ton sagte: "Ich glaub es ist besser, wenn ihr jetzt geht." Erik wusste, dass er seinen Sohn zu einer Grenze trieb, die dieser nicht überschreiten wollte, aber irgendwann keine Kontrolle mehr darüber besaß. "Du siehst nicht gut aus, Kevin. Du arbeitest zuviel... ich glaub, ich muss mal mit deinem Boss reden, hmm?", meinte er gespielt fürsorglich und nun wurde es Kalle auch langsam mulmig.
    Doch Kevin schaffte es. Er besiegte den Dämonen in sich, der die Kontrolle übernehmen wollte, und er verbannte ihn. "Okay...", sagte er leise und drehte sich von seinem Vater weg. Schweigend, mit zitternden Händen verließ er das Wohnzimmer in den Flur und schlug die Wohnungstür hinter sich zu. Er musste weg hier... raus hier. Der Polizist ging durch den Flur, ohnmächtig von dem, was er gerade erlebt hatte, von den Emotionen die ihn gerade berührt hatten, und das Zittern seiner Hände ließ nicht nach, bis er endlich auf seinem Motorrad saß, und dieses anließ.


    Der Wind auf der Landstraße zerrte an seiner Jacke, an seiner Jeans. Kevin wusst überhaupt nicht wohin er fuhr, es schien, als fliehe er vor etwas und irgendwem. Das Tempolimit dieser Strecke hatte er längst überschritten, in Linkskurven schnitt er die durchgezogene Mittelspur. Ihm kann die Straße wie ein Tunnel vor, er spürte den Fahrtwind nicht, er hatte nur das Gesicht seines Vaters vor sich, der ihm etwas von einer heilen Familie vorspielen wollte, und den Polizisten dabei sarkastisch angrinste.
    Seine Wut raubte ihm die Konzentration, und das unvermeidliche trat nur wenige Kilometer später ein, als sein Hinterrad nach einer Kurve, die er viel zu schnell genommen hatte, von der Straße abkam und in die Grasnarbe hinter der Asphaltstraße geriet. Mit einem Ruck wurde Kevin in die Wirklichkeit zurückgeholt, der Ruck ging von seinem Vorderrad aus, doch das Motorrad konnte er nicht mehr halten. Um ihn herum drehte sich alles, dann spürte er wie er mit Schulter und Rücken hart auf dem Acker aufschlug und konnte das Krachen und Dröhnen der Maschine neben sich hören, die sich im Dreck überschlug und hinter ihm ebenfalls auf dem Acker einschlug.
    Kevins Herz raste, seine Lungen wollten explodieren und sein Rücken schmerzte, als er im Dreck lag und der Motor seiner Maschine erstarb. Es war so herrlich still, nur die Vorgelstimmen eines nahe gelegenen Waldabschnitts und ein Trecker, ganz weit weg in der Ferne waren zu hören. Am liebsten wollte er hier liegen bleiben, und niemals wieder aufstehen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienststelle - 16:00 Uhr


    Eduard Schobler wurde in Handschellen von Ben und Semir auf das Revier geführt. Sie hatten die Festnahme bereits über Funk angekündigt, und so warfen Hotte und Dieter dem Mann vernichtende Blicke zu, als er über den Flur geleitet wurde, den Kopf gesenkt und jede Faser seines Körpers zitternd und angespannt. Nicht nur innerhalb von Gefängnissen rangierten Kinderschänder ganz unten, sie wurden auch von Polizisten eher mal hart angefasst, und so konnten Ben und Semir ihre Voreingenommenheit solchen Verbrechern gegenüber nicht verbergen, als sie ihn grob auf den Stuhl im Verhörzimmer schubsten.
    Der erfahrene Polizist schaltete das Mikrofon auf dem Tisch an und setzte sich dem Mann gegenüber. Ben blieb hinter dem Verdächtigen an der Wand stehen, hatte sich gegen jene gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. "Heute vormittag wurde neben der Autobahn ein bewusstloses junges Mädchen gefunden.", begann Semir und blickte den Mann an, der immer noch den Blick gesenkt hatte und die Tischplatte vor sich anstarrte. Seine Hände, immer noch mit Handschellen aneinander gebunden, lagen vor ihm auf dem Tisch, das Metall der Kette klapperte gegen die Platte, denn der Mann zitterte, als sei er auf Entzug. "Deine Kippe wurde direkt in der Umgebung mit deiner DNA daran gefunden. Jetzt erklär uns das mal." Ausser einem leisen, wimmernden Laut kam keinerlei Antwort von Schobler. Sein ganzer Körper war ein einziges Muskelzucken, und er wagte es nicht, den Polizisten gegenüber an zu sehen.


    Semir atmete ruhig, auch er hatte die Arme vor der Brust verschränkt wie sein Partner und lehnte sich zurück. "Hast du sie an der Schule abgepasst heute Morgen?", fragte er, und bekam sofort eine Reaktion, was ihn überraschte. "Nein!", japste Schobler und sah sofort zu dem Beamten auf. "Ich... ich habe sie nicht... nicht abgepasst." "Sondern?" Schobler biss auf seiner Lippe herum, bis Blut aus dem bleichen Fleisch trat, die Stimmung in dem kleinen Zimmer war zum Schneiden dicht. "Ich... ich war spazieren. Auf dem Waldweg, nahe der Autobahn.", sagte er mit zitternder Stimme und beide Polizisten hingen an seinen Lippen. Ein wenig glaubwürdig war sein lautes Nein, fand Semir in Gedanken, weil er vorher auf die Erklärung keinerlei Worte fand, vermutlich weil er sich selbst schämte. Er war bei dem Mädchen... aber entführt hatte er sie nicht.
    "Auf einmal... sah ich nach oben zu der Böschung... und sah sie dort liegen.", erklärte der Mann weiter, während Ben langsam hinter ihm hin und her schritt. Er konnte sich nicht ganz so ruhig halten wie sein erfahrener Kollege, und mit Verbrechern dieser Art hatte er es bisher auch noch nicht zu tun... für ihn war der Ekel vor solchen Leuten, unmittelbar mit Ihnen zu tun zu haben, etwas Neues. "Ich... ich habe die Kippe weggeworfen... und bin... bin nach oben zu ihr." Langsam zog sich Semir die Kehle zu, als er die Worte des Mannes hörte. In seiner Fantasie taten sich abscheuliche Bilder auf, gegen die er versuchte anzukämpfen, was ihm nur schwer gelang. Noch schlimmer wurde es, als das junge Mädchen ersetzt wurde, durch seine eigene Tochter, die in die Hände eines solchen Kerls gelangen würde. "Sie sah so hübsch aus... so friedlich, als würde sie schlafen. Es war niemand bei ihr, und auf der Autobahn schien niemand zu merken, dass dort jemand lag." Auch in Bens Kopf regten sich gewisse Vorahnungen und ein Magenzwicken entwickelte sich langsam zu einem Brechreiz in ihm drin. "Was hast du dann gemacht?", fragte er, und es klang beinahe wie eine Drohung, seine Stimme kam Schobler dichter vor, als er Ben bei sich spürte.


    Er blickte sich beinahe panisch ein wenig um. "Nichts.... ich habe nichts gemacht.", sagte er und die beiden Beamten waren sich beide nicht ganz klar, ob es glaubwürdig klang, oder nicht. "Willst du uns verarschen. Du hast gesessen wegen Kindesmissbrauch, und willst uns jetzt erzählen, dass du ein bewusstloses Mädchen findest, und einfach weiter spazierst?" Bens Stimme wurde laut und aufbrausend, und er wunderte sich dass Semir ihn dafür nicht ermahnte, wie sonst üblich. Schobler hielt sich mit beiden Händen den Kopf fest, als wolle er sein Gedächtnis vor dieser Vergangenheit schützen. "Ich... ich bin in Therapie. Ich tue so etwas nicht mehr.", jammerte er, wohl mit dem Wissen, dass ihm dies niemand glauben würde. "Ich war bei ihr.... Ja, ich habe daran gedacht. Aber ich habe nichts getan! Ich bin dann schnell weitergegangen... bevor ich die Kontrolle verliere. Ich bin einfach weiter gegangen, verstehen sie."
    Semir sah den Mann mit Hass in den Augen an. "Du hast sie einfach da liegen lassen... und ihrem Schicksal überlassen?", fragte er, wobei er sich innerlich doch fragte, ob es nicht die bessere Alternative gewesen wäre, als zu bleiben und sich seinen Trieben hin zu geben. Der erfahrene Polizist war nicht oberflächlich und versuchte sich immer in sein Gegenüber hinein zu versetzen, auch wenn es ihm hier deutlich schwerer fiel als bei anderen Verhören. Ein kranker Mensch, wie dieser Schobler spürt, wenn ihn seine Triebe ergreifen. War die Flucht womöglich notwendig und für die kleine Nele das geringere Übel. "Ich... ich konnte nicht bei ihr bleiben. Ausserdem hatte ich Angst... ja Angst." "Angst vor was?", fuhr Ben ihn von hinten an, dass Schobler zusammen zuckte. "Wenn sie... sie mich bei dem Mädchen gefunden hätten, wenn ich die Polizei gerufen hätte... was hätten sie dann gedacht?" Ben blickte zu Semir, und erwischte sich tatsächlich dabei, den Mann sofort mit Vorurteilen zu betrachten. Auch wenn er die Polizei selbst gerufen hätte, ein vorbestrafter Kinderschänder findet ein bewusstloses Kind... waren dann Vorurteile verwerflich. Auch Semir musste sich eingestehen, dass der Mann nicht unrecht hatte.


    "Warum hast du nicht wenigstens anonym jemanden verständigt, bevor du abgehauen bist?" Die Stimme des Beamten klang nicht versöhnlich, aber etwas gemäßigter. "Ich.... ich konnte nicht klar denken. Ich musste einfach weg von diesem Ort... weg.", sagte Schobler beinahe verzweifelt, und wurde dann von Ben am Kragen gepackt und vom Stuhl hochgezogen. "Ich glaube dir kein Wort, du mieses Schwein. Und selbst wenn du sie zufällig gefunden hast, so ein Typ wie du lässt diese Gelegenheit doch nicht einfach aus. Und weil es niemand gemerkt hast, bist du einfach über sie..." "Nein!! Das ist nicht wahr!! Ich habe ihr nichts getan!!!", schrie Schobler panisch, und noch bevor Semir in die Rangelei eingreifen konnte, entwickelte der Verdächtige in seiner panischen Angst ungeahnte Kräfte und schlug mit beiden Fäusten zu, da er ja noch die Handschellen trug. Ben musste den Mann loslassen, stöhnte auf und taumelte zwei Schritte zurück, während Schobler sich, wild zitternd zur Tür wandte. Doch Semir war, trotz dass er noch am Tisch saß, schneller als der Mann, und konnte ihn noch greifen, bevor er die Tür erreichte. Er drückte ihn zurück, mit dem Gesicht auf den Tisch, wobei er die panische Stimme des Mannes hörte: "Ich habe ihr nichts getan!!!", schrie er dabei. An der Tür standen schon Hotte und Dieter bereit, die im Nebenraum dem Verhör zugehört hatten, und bei der Rangelei auf den Flur gingen, und nun in den Raum kamen. "Nehmt ihn mit in die Zelle!", sagte Semir, während die beiden erfahrenen Streifenbeamten nun die Handschellen von vorne auf den Rücken wechselten und den Mann abführten.
    Semir ging zu Ben, der sich die Nase hielt, und an seinem Handrücken tropfte das Blut auf den Boden. "Alles klar? Lass mal sehen.", meinte Semir und zog Bens blutige Hand weg. Aus dessen Nase rannte das Blut aus beiden Nasenlöchern und lief über dessen Lippe. "Komm lass...", wehrte sich der junge Beamte und ärgerte sich über seine Unvorsichtigkeit.


    Während des Verhörs saß Jenny am Sprechfunk und koordinierte an diesem Tag den Funkverkehr. Diese Aufgabe an der Leitstelle wurde jeden Tag ringsum den Streifenbeamten verteilt, und heute war die junge Polizistin an der Reihe, diese unliebsame Aufgabe zu übernehmen. Ein junger Kollege brachte ihr gerade eine handschriftliche Notiz über einen gemeldeten Unfall auf der Landstraße Ausgangs von Köln. "Unfall auf der Landstraße B51 Köln Richtung Rommerskirchen, da soll ein Motorradfahrer verunfallt sein. Krankenwagen ist schon informiert, ist jemand in der Nähe?" Sie bekam Rückmeldung eines Streifenwagens, der in der Nähe war, und den Unfall aufnehmen würde.
    Als sie einige Minuten später Rückmeldung von dem Unfall bekam, und das Kennzeichen des Motorrads sowie den Namen des Fahrers hörte, wurde ihr schwarz vor Augen. Unfähig überhaupt zu fragen, wie der Unfall passierte, oder wie schwer der Mann verletzt war, der dort verunfallt war, legte sie das Funkgerät bei Seite und stand von ihrem Platz auf. Sie ging mit schnellen Schritten zu ihrem jungen Kollegen, und meinte mit kurzen Worten. "Ich muss mal kurz dringend weg... übernimm bitte kurz die Leitstelle." Sie schnappte sich den Schlüssel eines Dienstwagens vom Haken der Fahrzeugübersicht und lief nach draussen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Unfallstelle Landstraße - 16:30 Uhr


    Jennys Hände hatten sich während der ganzen Fahrt fest um das Lenkrad gekrallt. Sie wusste für einige Augenblicke gar nicht vor was sie mehr Angst hatte... vor dem, was sie an der Unfallstelle erwarten würde, womöglich einen schwer verletzten Kevin, oder Schlimmeres? Oder vor der Begegnung mit ihm? Immer noch fühlte sie sich nicht wohl in seiner Umgebung, fühlte sich schlecht wenn er ihr eine starke Schulter gab, unwissend dem was sie und Ben getan hatten, während er im Gefängnis saß. Sie fürchtete den Augenblick, an dem er die Wahrheit erfahren würde, fürchtete seine Reaktion bezüglich Ben und natürlich auch im Bezug auf sie selbst.
    Doch dafür hatte sie keine Zeit, als sie um die letzte Kurve auf der Landstraße fuhr, und ihr die Unfallstelle sofort ins Auge fiel. Das Warndreieck ihrer Kollegen an der Straße, ein Streifenwagen hatte die rechte Spur gesperrt, etwas weiter vorne stand ein Krankenwagen halb quer, mit der Hecköffnung zum Feld, dazwischen der Notarztwagen, ein kleiner Kombi. Zwei Kollegen und zwei Sanitäter standen im Feld und blickten zu Boden, während ein dritter Sanitäter am Boden kniete. Jenny hielt dem Atem an, denn sie konnte nicht genau erkennen, ob der Sanitäter am Boden vielleicht jemanden verarztete, der auf den Boden lag. Sie stoppte den Streifenwagen zwischen Warndreieck und dem Streifenwagen der Kollegen, stieg aus und lief mit eiligen Schritten sofort ins Feld.


    Die beiden Kollegen drehten sich etwas verwundert um, denn sie hatten keine Verstärkung gefordert. Auch erkannten sie sofort das erschrockene Gesicht der jungen Polizistin, während der Sanitäter am Boden leise sagte: "Das ist wirklich ein Drama." Jenny hörte die Worte, ihr wurde schlecht, doch als sie näher kam, konnte sie erkennen wie der Rettungssanitäter keinen Verletzten verarztete, sondern über ein Stück eingedrücktes Blech an dem Motorrad strich. "So eine schöne Maschine.", murmelte er und blickte zu seinem Kollegen auf, der anerkennend nickte. Die junge Beamtin fasste sich an den Kopf und ihr Puls beruhigte sich langsam. "Wo... wo ist der Fahrer?", fragte sie mit stockender Stimme, und einer der beiden Beamten, ein älterer erfahrener zeigte mit dem Finger nur kurz auf den Streifenwagen, den Jenny jetzt erst richtig von hinten sah.
    Die Türen standen offen, Kevin saß auf dem Absatz und bekam von einer Sanitäterin gerade vorsichtig eine Schürfwunde über der Augenbraue mit Pflaster zugeklebt. Jetzt erkannte er die junge Kollegin, und seine Augen, die vorher recht melanchonisch in die Ferne geblickt hatten, drückten Überraschung aus. Beim näheren Hinkommen erkannte Jenny seine aufgerissene Jeans am Unterschenkel und einige Schrammen, und dass seine linke Hand verbunden war. Auch seine Jacke hatte einiges abbekommen, sie war schmutzig und an der Schulter etwas aufgerieben. "Wollen sie wirklich nicht zum Check mit in die Klinik kommen?", fragte die blonde Sanitäterin, und scheinbar schien sie das nicht zum ersten Mal zu tun, denn Kevin schüttelte energisch den Kopf. Unbewusst stieg in Jenny Eifersucht auf, und sie konnte gar nicht sagen wieso, denn es war Quatsch. Die Sanitäterin, die sanft über das Pflaster an Kevins Braue strich, damit es besser hielt, tat nur ihren Job... und doch hätte die junge Polizistin gerne ihr das Pflaster aus der Hand genommen, und Kevin selbst verarztet. Sie ließ sich davon aber nichts anmerken, als sie bis zu dem Krankenwagen heran ging.


    "Hey... was ist passiert?", fragte sie mit sorgenvollem Blick und blickte selbst in ein ernstes Gesicht. "Zu schnell gefahren.", meinte Kevin schmallippig und hob dann die Augenbrauen. "Und was machst du hier?" "Ich.. ähm... ich war zufällig hier." Die Mundwinkel des jungen Polizisten hoben sich ein wenig, ein leichtes spitzbübisches Grinsen kam auf sein Gesicht, und dass sich seine Laune wirklich gebessert hätte. "Alleine im Streifenwagen?" Er wusste, dass Jenny alleine sicherlich nicht auf Streife war, und somit auch nicht rein zufällig hier war. "Na gut.", gab sie auf und lächelte ein wenig scheu. "Ich hab von dem Unfall im Funk erfahren, und bin sofort hierher." Kevin fühlte sich ein wenig geschmeichelt... und in ihm reifte die Erkenntnis, dass Jenny offenbar noch was an ihm lag, was sie in letzter Zeit aber versuchte, so gut es ging, zu unterdrücken... aber warum tat sie das? Warum versuchte sie den Kontakt mit ihm zu meiden, verlor dann aber sofort die Fassung als sie von einem Unfall von ihm hörte?
    Langsam stieg er von der Kante auf, und die Versammlung begann sich aufzulösen. Der junge Polizist musste eine Erklärung unterzeichnen, dass er auf eigenes Risiko nicht mit ins Krankenhaus fuhr, und der ältere Beamte rief einen Abschleppdienst für das nicht mehr fahrtaugliche Motorrad. "Wo sollen wir es hinschleppen lassen?", fragte er in Kevins Richtung, der kurz nachdachte. "Lass es doch in die KTU schleppen. Hartmut kennt sich mit Motorrädern genauso gut aus, wie mit Computer.", meinte Jenny und der junge Polizist stimmte zu. "Soll ich dich nach Hause fahren?", fragte sie dann als auch die beiden Streifenbeamte und der Notdienst weggefahren waren, das Motorrad aufgeladen und weggebracht war... kurzum, Jenny und Kevin standen alleine am Fahrbahnrand in einem Acker, in dem nur noch die Spuren von dem Überschlag des Motorrads sichtbar waren. Zu Jennys Verwunderung schüttelte ihr junger Kollege den Kopf. "Nein. Von da komme ich gerade.", meinte er tonlos, und die junge Polizistin erkannte sofort diese eigenartig negative Stimmung in Kevins Stimme, diese Melanchonie und diese Resignation, wie damals, als er bei ihr zu Hause war, und von seiner Vergangenheit sprach. Irgendetwas musste wieder vorgefallen sein, was ihn aus der Bahn genommen hatte.


    Jenny vergaß ihre Angst davor, dass Kevin etwas erfahren könnte, was er nicht sollte. Sie fühlte sich nun wohler, wenn sie Kevin etwas geben konnte, statt etwas von ihm zu nehmen, und sie gab ihm ihre Aufmerksamkeit. "Sollen... wir dann zu mir fahren?", fragte sie vorsichtig, denn auf einen Kaffee in der Dienststelle hatte sie nun auch keine Lust. Der Polizist nahm das Angebot der Schulter dankend an, und spürte selbst wieder diese blinde Vertrautheit zwischen ihnen, die ihn damals dazu veranlasste, Jenny seine ganze Geschichte zu erzählen und nichts auszulassen. Er erzählte von seiner Vergangenheit, von seiner Schwester, seinen Alpträumen... nur, dass seine Sucht noch bis vor kurzem akut war, hatte er verschwiegen. Doch das Kapitel schien er selbst auch abgehakt zu haben. Er nickte mit einem, nun ehrlicheren dankbaren Lächeln, und die beiden stiegen in den Streifenwagen, der noch am Straßenrand auf sie wartete.
    Kevin legte den Kopf gegen die Kopfstütze, drehte ihn zum Fenster und sah hinaus, wie die Felder an ihnen vorbeizogen. Er konnte den Hass auf seinen Vater einfach nicht verbergen, nicht herunterschlucken, nicht hinten anstellen. Er zwang ihn, diesen Hass immer wieder zur Schau zu stellen, diese Ablehnung seinem Vater gegenüber immer wieder zu zeigen, wenn Erik Peters bei ihm war. Mittlerweile war es soweit, dass Kevin Gott jeden Tag dankte, an dem er nicht an seinen Vater erinnert wurde. Leider wurde das immer weniger, denn seit er wieder bei Kalle wohnte, hatte die Erik öfters erwähnt, weil sie oft mit ihm zu tun hatte und hat. Jedesmal brach der junge Polizist das Gespräch abrupt ab. Jenny spürte, dass es Kevin nicht gut ging... dass er gerade nicht der starke Typ war, der er gern sein wollte, der jeden Sturm aushielt. Und sie war stolz darauf, dass er diese Rolle bei ihr auch nicht zu spielen versuchte, wie er es bei jedem anderen tat. Dass er bei ihr so war, wie er war... ganz er selbst. Darauf war sie stolz, als sie ihn kurz von der Seite beobachtete, wie er bewegungslos aus dem Seitenfenster sah.

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  • Jenny's Wohnung - 17:15 Uhr


    Sie hatten die kleine, aber sehr schön eingerichtete Wohnung von Jenny in der Innenstadt sehr schnell erreicht. Kevin war hier schon mal, sie hatten sich mehrmals schon getroffen und waren sich in Kevins Wohnung schon einmal sehr nahe gekommen. Daran musste Jenny jetzt denken, als sie zusammen die Treppen nach oben schritten, und sie ihm den Vortritt in ihre Wohnung ließ. Zum Glück hatte sie gestern abend noch aufgeräumt, denn nichts könnte für eine Frau peinlicher sein, als eine unaufgeräumte Wohnung. Kevin ging hinein und ließ drinnen sofort seiner Kollegin wieder den Vortritt. Er spürte, dass sie sich anders verhielt, als in den letzten Wochen. Verschwunden war dieser Reserviertheit, verschwunden war dieser zwingende Abstand voreinander. Es schien, als hätte der Unfall, und die kurzzeitige Sorge um ihn etwas in Jenny ausgelöst, was sie wieder an Kevin heranließ. Er beschwerte sich natürlich nicht darüber, so war er es doch, der den Kontakt zu ihr immer wieder gesucht hat, bis er es schließlich enttäuscht aufgegeben hatte.
    "Willst du was trinken? Wasser?", fragte sie von der offenen Küche aus, und der junge Polizist nickte. Er biss vor Schmerzen die Zähne zusammen und kniff kurz die Augen, als er sich auf dem Sofa niederließ und dabei den Rücken krümmte. Jenny bemerkte es und brachte zwei Gläser mit der kristallklaren Flüssigkeit. "Danke.", meinte Kevin mit ruhiger Stimme und versuchte ein Lächeln, was sehr verunglückt ausfiel. Er dachte nicht an sein Motorrad, oder seine Schrammen. Er dachte an seinen Vater, der vermutlich noch mit Kalle verhandelte... und er dachte an Jennys Verhalten vor einigen Wochen, ihre Unsicherheit, und ihre Reserviertheit. Jetzt war sie plötzlich wieder die Frau, die gerade dabei war, wieder Eintritt in seine Seele zu bekommen.


    "Hast du Schmerzen?", fragte sie und konnte seine ablehnende Reaktion beinahe schon vorhersehen. Sie zog eine schnippige Mimik, als wolle sie sagen: "Natürlich hast du keine Schmerzen.", was sie ironisch meinte. "Was tut dir denn weh?" Kevin hätte vermutlich vor niemandem zugegeben, dass er Schmerzen verspürte, ausser bei Jenny. Er war Mensch bei ihr, kein Schauspieler, der eine Rolle spielte. Er war einfach Kevin, mit all seinen Macken und Angewohnheiten. Der Verband um die Hand hatte sich gelockert, und den Namen Jenny sich zuerst an. Sie hatte einen Verbandskasten geholt und etwas Octinisept, um damit die Wunde zu behandeln. Scheinbar hatte sich die junge Sanitäterin doch nicht so viel Mühe gemacht, wie zuerst angenommen. Der junge Polizist hielt seine Hand hin, und betrachtete, wie Jenny den Verband langsam abrollte, und die abgeschürfte Hand zum Vorschein kam. Immer wieder berührte Jennys Hand die von Kevin, manchmal zufällig, manchmal gewollt. Sie sprachen kein Wort, während sie die Hand des Polizisten wieder verband, und ihm dabei sanft über die Finger strich.
    "Wo noch?", fragte sie auffordernd, als sie mit der Hand fertig war. Kevin ergriff das Ende seines Shirts und hob es ein wenig nach oben. Jenny sah sofort einige Kratzer und Hautabschürfungen über seinem Hosenbund, dazu einige großflächige Hautverfärbungen... Blutergüsse. "Oh Mann... warum hast du davon nichts dem Arzt gesagt?", sagte sie mit etwas Schock in der Stimme. "Da hatte es noch nicht weh getan.", meinte der Polizist und sah zu Jenny herüber, die den Kopf etwas zur Seite neigte. "Ach, da hatte es noch nicht weh getan?", wiederholte sie ungläubig, und musste beinahe etwas grinsen. Natürlich wollte sich der Polizist nicht von einem Arzt behandeln lassen, wenn es nicht unbedingt nötig gewesen wäre. "Zieh das Shirt aus.", sagte Jenny und stand von der Couch auf, um ein wenig Desinfektionsspray zu holen, denn einige Fussel des Shirts hatten sich in der offenen Wunde verfangen. Während die junge Frau aus dem Zimmer ging, zog Kevin sich das Shirt über den Oberkörper, was ihm nun doch ein wenig unangenehm war.


    Jenny kam zurück mit einer Flasche klarer Flüssigkeit und einigen sterilen Tüchern. "Dreh dich etwas von mir weg.", meinte sie, als sie sich neben ihn wieder auf die Couch niederließ, und er sich ein wenig von ihr Weg, und ihr somit seinen Rücken zuwandte. Jenny blickte darauf, und verharrte. Ihr Blick versteinerte, ihr Lächeln, was gerade noch auf ihren Lippen lag, verschwand. Es war nicht die Schürfwunde, die sich von seinem unteren Rücken über die Seite bis zu seinen Rippen zog. Es waren auch nicht der große Bluterguss neben der Wirbelsäule, oder die leicht blutende Schürfung an der rechten Schulter.
    Jenny blickte in das Gesicht eines jungen Mädchens, das sie anlächelte, mit ihren wachen blauen Augen, die denen von Kevin so sehr ähnelten, mit dem schwarzen Haar, das ihr leicht ins Gesicht fiel. Jenny blickte in Janines Konterfei, was Kevin sich auf den Rücken hatte tätowieren lassen, sie las das Geburts- und Sterbedatum. Kevin hatte ihr die Geschichte seiner toten Schwester, und seines schlimmen Traumas erzählt, die junge Frau wusste Bescheid, und doch wurde sie von dieser Emotionalität, die von diesem Kunstwerk auf dem Rücken des Mannes, der sie faszienierte, beinahe erschlagen und tief gefesselt. Wie sehr musste ihn dieser Verlust schon seit Jahren schmerzen, wie sehr musste er seine Schwester geliebt haben, dass er ihr zu Ehren ihr Gesicht ein Lebenlang mit sich trug, egal durch welche Lebenslage. Die junge Frau spürte einen Klos im Hals, sie vernahm ein Zittern ihrer Hände und das Aufsteigen eines Weinkrampfs, den sie nur schwer bekämpfen konnte. Noch schwerer fiel es ihr, als ihr die beiden schlecht verheilten Stichwunden ins Auge fielen, die in der oberen Hälfte von Kevins Rücken dicht beieinander lagen. Sie konnte sich diesen Schmerz gut vorstellen, dachte sie in dem Moment doch an ihre eigene, viel besser verheilte Narbe am Bauch, als sie dort vor der Dienststelle angeschossen wurde... nicht vorstellen konnte sie sich dagegen die Hilflosigkeit, mit der Kevin da gelegen hatte, unfähig seiner Schwester zu helfen.


    Mit zitternden Fingern begann Jenny die Schürfwunde abzutupfen, ein Brennen strahlte über Kevins Rücken aus, der dies klaglos ertrug. Diesmal spürte er aber, dass das Streicheln an Stellen, die nicht verletzt waren, nicht zufällig war. Und er konnte deutlich das Zittern in den Fingern spüren, als sie beinahe ohne zu berühren, aber klar zu spüren für Kevin, über die vernarbte Haut an den beiden Einstichstellen eines groben Messers strichen. Sein Herz schlug schneller, und er wollte im ersten Affekt protestieren... doch dann ließ er es geschehen. Jenny übertrat eine neue Grenze der Intimität, und der junge Polizist ließ sie gewähren... dabei sah er nicht, dass sich eine Träne aus Jennys Auge sich den Weg über ihre Wange nach unten bahnte und auf ihrer Uniformshose einen kleinen feuchten Fleck hinterließ. Sie wollte so gerne ein tröstendes Wort sagen, etwas, was Kevin helfen würde... doch nichts konnte beschreiben, was sie in diesem Moment fühlte. Mitgefühl, Wut auf die Angreifer, Mitleid mit Kevin und seiner Schwester und Sehnsucht nach diesem geheimnisvollen schweigsamen Mann, der so anders war als Ben, bei dem sie vor Wochen ihr Herz ausgeschüttet hatte, und beide sich im gegenseitigen Kummer zu sehr trösteten. Jetzt spürte Jenny, dass sie zu Kevin eine ganz andere Verbindung spürte, als zu ihrem Kollegen der Autobahnpolizei. Es machte ihr Gewissen nicht gerade leichter, diese Erkenntnis, und ihre Angst vor der Wahrheit steigerte sich weiter.
    Sie spürte das leichte Muskelzucken, immer wenn das Tuch mit dem scharfen Desinfektionsmittel an Kevins Fleisch gelang, bevor sie einige große Pflasterstreifen über die Hautabschürfungen festklebte. "Du solltest vielleicht in den nächsten Tagen versuchen, nicht drauf zu fallen.", meinte sie mit seltsamer Stimme, die immer noch damit kämpfte, die Emotionalität zurück zu halten. Kevin hatte natürlich Jennys Zögern bemerkt, die Berührung an seiner Narbe regestriert... er ging aber nicht drauf ein. An Jennys Stimme erkannte er, dass sie selbst nicht wusste, wie sie mit diesem Eindruck umgehen sollte, und der junge Polizist wollte sie damit nicht noch weiter in die Enge drängen. So zog er sein Shirt wieder über den Kopf und nickte, bevor er einen Schluck aus dem Wasserglas nahm.


    Jennys packte den Verbandskoffer wieder zusammen, und ihre Atmung beruhigte sich ein wenig. "Wo wolltest du überhaupt hin?" Kevin hatte die Ellbogen auf die Beine gestützt und hielt das Glas Wasser in beiden Händen. "Keine Ahnung. Einfach weg.", sagte er mit kurzen Worten. "Was ist denn passiert?" Für Jenny war Kevin wie ein offenes Buch. Sie wusste sofort, wenn ihm etwas auf dem Magen lag, andere dachten mittlerweile, der Kerl ist einfach so. Jenny nicht, ihre Alarmglocken sprangen sofort an. "Mein Vater war bei Kalle.", sagte Kevin und sah Jenny dabei direkt an, die mit dieser Aussage noch nicht viel anfangen konnte. "Mein Vater hat uns alle im Stich gelassen. Mich als Kind, Janine als Kind, und mich nochmal, nachdem Janine gestorben ist. Jetzt will er sich bei Kalle anbiedern, um sich so in mein Leben zurück zu drängen." Jenny hörte dem Mann zu, der scheinbar seit seiner Kindheit alles, aber kein normales Leben geführt hatte. Keine Mutter, im Prinzip auch keinen Vater, auf der Staße aufgewachsen... kein Wunder, dass der damals junge Kevin auf die schiefe Bahn gekommen ist, mit solchen Voraussetzungen. "Vielleicht... will dein Vater... eine Versöhnung...", sagte Jenny vorsichtig, weil sie keinesfalls einen wunden Punkt bei Kevin treffen wollte, doch der verzog nur höhnisch die Lippen, als wolle er seinen Vater damit verspotten. "Ich will meinen Vater nie wieder sehen... nie wieder mit ihm zu tun haben." Dabei sah er Jenny mit festem Blick an, dass die junge Frau ob seiner Überzeugung dem, was er sagte, etwas erschrak... immerhin war es der eigene Vater, über den er da sprach. Sie wusste für einen Moment nichts darauf zu sagen.


    "Darf ich dich jetzt auch was fragen?" Jenny hob verwundert die Augenbrauen, und spürte sofort, wie ihr heiß wurde... als ob sie ertappt wäre, ob ihres Geheimnisses, und sie nickte langsam. "Warum bist du mir die letzten Wochen aus dem Weg gegangen? Ich konnte damit nicht umgehen, denn ich wusste nicht was los war. Und habe deshalb auch das Angebot der Chefin abgelehnt." Jenny spürte, wie ihr Herz zerspringen wollte, ob dieses Geständnisses. Natürlich hatte sie beinahe jeden Versuch der Konversation mit Kevin abgelehnt oder abgeblockt. Selbst die gelegentlichen Telefonate hatten Selbstgesprächcharakter. Natürlich war Kevin das aufgefallen, und die junge Polizistin wusste, dass er sie irgendwann darauf ansprechen würde. "Ich... mir war es... alles noch etwas... zuviel... seit deiner Verhaftung.", sagte sie mit unsicherer Stimme. Sie beiden saßen nebeneinander auf der Couch, aber zueinander gewandt. Kevin hatte das Glas mittlerweile auf den Tisch abgestellt, und fesselte sein Gegenüber mit seinem Blick. "Was bin ich für dich?" Die junge Frau schreckte ob dieser direkten Frage innerlich auf. "Wie... meinst du das?", fragte sie, um mehr Zeit zum Nachdenken zu haben. "Was bin ich für dich? Als wir uns geküsst haben bei mir... was war das für dich." Was sollte sie darauf antworten. War es der Beginn einer Beziehung? Waren sie Freunde... enge Freunde? Oder sollte sie ihrem Gefühl nach geben, was nun schon die ganze Zeit gegen ihr Herz stieß, seit sie von seinem Unfall gehört hatte.
    Ihre Knie berührten sich zufällig als Jenny leise sagte: "Ich... ich weiß es nicht. Ich kann es dir nicht sagen." Sie schien genauso zerissen zu sein wie Kevin, der sich selbst nicht im Klaren war, in welcher Beziehung er zu Jenny stand. Der Kuss damals war kein Kuss unter engen Freunden. Aber ihre Ablehnung hatte ihn dann so sehr verwirrt. Er beugte sich mit einer, unbemerkt schmerzhaften Bewegung nach vorne und gab Jenny für einige wenige Sekunden einen Kuss auf den Mund. Es war für die junge Frau überraschend und ließ tausende Emotionen gleichzeitig auf sie herabregnen, bevor sich die Lippen wieder lösten und die Augen der beiden sich wieder öffneten. Nun hätte Kevin die gleiche Frage stellen können, doch er sprach sie nicht aus, sondern hatte sie durch den Kuss gestellt. Nun konnte Jenny antworten... entweder damit, dass sie verlegen aufstand... oder dass sie sich nach vorne beugte und den jungen Polizisten ihrerseits küsste. Sie entschied sich für Letzteres...

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  • Semirs Haus - 18:30 Uhr


    Semir fühlte sich auf der Heimfahrt innerlich aufgewühlt. Der Tag hatte so ruhig begonnen und sich dann rasant entwickelt. Der Fund des kleinen Mädchens, die unheimliche Situation im Krankenhaus, dann die schnelle Festnahme des Kinderschänders. Mit dieser Art von Verbrecher hatte Semir sonst sehr selten etwas zu tun, und dafür war er dankbar. Dennoch erschrak er vor sich selbst, wie schnell er sich von Vorurteilen gegenüber diesen Menschen blenden ließ. Sie hatten das Krankenhaus angerufen, und darum gebeten, die kleine Nele auf eine eventuelle Vergewaltigung zu untersuchen, auch wenn man nicht jeden Missbrauch nachträglich noch feststellen könne. Ansonsten müsste man den Mann wieder gehen lassen, denn man hatte keinerlei Beweise für ein Verbrechen... nur, dass er eben in der Nähe war und keine Hilfe geleistet hatte. Aber sollte man einen kranken Menschen in dieser Situation anklagen, weil er nicht geholfen hatte, und dabei riskiert hätte, dem Kind noch schlimmeren Schaden anzurichten? Sollten die beiden überhaupt den Mann wegen unterlassener Hilfeleistung anzeigen?
    Semir war sich darüber nicht schlüssig, als sein BMW über die Schottersteine der Einfahrt rollte und er vor dem Garagentor stehen blieb. Für einige Sekunden blieb er regungslos im Auto sitzen und sah sein Haus durch die Frontscheibe. Am Küchenfenster hatte er bereits Ayda, seine älteste Tochter erkannt, die freudig winkte, dass Papa zu Hause war.


    Beide, Ayda und Lilly fielen ihm sofort um den Hals, und Semir stemmte seine jüngste Tochter in die Luft, gab beiden einen Kuss auf die Wange. "Mama kocht dein Lieblingsessen.", plapperte die Kleine und lief sofort wieder mit ihrer Schwester zurück ins Wohnzimmer, wo die beiden spielten. Der Polizist ging in die Küche zu seiner Frau Andrea, die beiden gaben sich einen Begrüßungskuss. "Du siehst müde aus.", meinte die Sekretärin der Dienststelle und strich ihrem Mann über den Kopf. "Habt ihr noch etwas herausbekommen aus dem Kerl?" Sie hatte noch mitbekommen, dass an dem Fundort des Mädchens eine Kippe mit der DNA eines vorbestraften Kinderschänder gefunden wurde, und die Verhaftung dessen, aber nicht mehr, was die Vernehmung ergeben hatte, denn sie musste Lilly aus dem Kindergarten abholen gehen, und hatte dann auch Feierabend gemacht. Semir schüttelte nur den Kopf. "Er behauptet, dass er zwar da war, das Kind auch gefunden hatte, aber aus Angst vor seinem Trieb, den er gerade therapiert, sofort das Weite gesucht hat." Andrea bekam eine Gänsehaut bei der Vorstellung, was der Kerl angestellt hätte, wenn sein Trieb gegen seine Vernunft gewonnen hätte. "Und ihr glaubt ihm?" Der Kommissar zuckte mit den Schultern: "Er klang recht überzeugend. Aber wir haben veranlasst, dass das Mädchen morgen untersucht wird. Ansonsten müssen wir ihn wohl gehen lassen... oder wegen unterlassener Hilfeleistung anzeigen." "Na, das wäre ja immerhin schon mal etwas.", meinte Andrea und schob die Auflaufform in den Backofen und schaltete ihn ein.
    "Hmm ja...", meinte ihr Mann nachdenklich und sah ihr gedankenverloren zu. "Aber wenn er wirklich kurz davor war, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren... war es dann nicht richtig... und besser für das Kind?" Andrea verstand Semirs Zweifel sofort, sie konnte sie aber nicht teilen. "Semir... er hätte doch anonym anrufen können, und dann weiterlaufen. Aber er hat gar nichts getan. Stell dir mal vor, das Mädchen wäre an irgendetwas gestorben, weil es zu spät Hilfe bekommen hat. Oder es bleiben jetzt bleibende Schäden, weil es so lange da lag." Der Einwand war berechtigt, und der kleine Mann nickte stumm.


    Ohne ein weiteres Wort über die Diskussion zu verlieren, ging der Polizist zum Türrahmen, der das Ess- und Wohnzimmer von der Küche abtrennte. Er blieb darin stehen und beobachtete stumm seine beiden Töchter beim Spielen. Lilly hatte ihre Puppe zwischen die Beine gesetzt und kämmte ihr zärtlich die Haare, während Ayda wiederrum hinter Lilly saß, und ihrer kleinen Schwester die Haare kämmte. Dabei kicherten sie, weil die Zähne des Kamms Lilly am Kopf kitzelten.
    Andrea stellte sich dicht bei ihren Mann, und sah ihm über die Schulter. "Was grübelst du, Schatz?", meinte sie. Semir seufzte leise und sagte mit betretener Stimme: "Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn unseren Kindern sowas zu stoßen würde. Wenn sie plötzlich weg wären... oder in einem Bett liegen würden, ohne uns zu sehen, zu erkennen." Er drehte sich zu Andrea um. "Ich habe heute ein Mädchen im Krankenhaus liegen sehen, und die Eltern daneben am Bett. Ich... ich kann es mir nicht vorstellen, wie schlimm es für uns wäre und trotzdem habe ich mir vorgestellt, wie wir an diesem Bett sitzen würden... um Ayda oder Lilly." Andrea legte Semir eine Hand auf die Schulter und die beiden umarmten sich ein wenig. "Ach Schatz... mach dir doch nicht soviele Gedanken. Du passt auf uns auf, du bist immer für uns da. Unseren Kindern wird so etwas nicht passieren." Andrea's Worte trösteten den Kommissaren, obwohl er als Polizist wusste, wie schnell so etwas trotz allem Schutz doch eben passieren konnte. Die Szene im Krankenhaus hatte ihn beeindruckt, und nachdenklich gemacht. Seine Töchter und seine Frauen waren Semirs höchstes Gut, und er würde alles dafür tun, dieses Gut zu beschützen, das schwor er sich in diesem Moment.



    Jenny's Wohnung - 21:00 Uhr


    Ausser den beiden Küssen war nichts zwischen Kevin und Jenny passiert. Doch die Tatsache, dass Jenny von sich aus auf Kevins fragenden Blick nach dem ersten Kuss, den zweiten Kuss gegeben hatte, hatte ihm stumm verraten, dass zwischen ihnen mehr bestand, als eine freundschaftliche Verbindung. Ihre Stimmung war danach gelöst, sie lächelten sich an, sie redeten wieder frei miteinander, sie lachten. Zu gerne hätte der junge Polizist ihre Beziehung noch klarer zementiert, aber er ließ Jenny Freiraum. Er dachte, dass sie nach der Vergewaltigung vor einigen Wochen jetzt vor allem noch etwas Zeit brauchte um sich wieder intim mit einem Mann einzulassen, und so ließ er die endgültige Antwort noch in der Schwebe. Waren sie nun ein Paar, oder war es für beide nur eine Verliebtheit? Konnte man überhaupt sagen, So ab jetzt sind wir zusammen? Es war nicht mehr wie in der Schule, dass man sich Briefchen schrieb und ankreuzte, und ab da ging man offiziell miteinander.
    Doch Jenny bremste nicht die Vergewaltigung. Nach einigen Gesprächen mit dem Polizeipsychologen hatte sie diese schlimme Erfahrung besser weggesteckt, als viele ihr es zugetraut hatten. Nein, sie wurde gebremst von ihrem schlechten Gewissen, dass sich durch Kevins Offenheit bezüglich seines Vaters, etwas in den Hintergrund gedrängt wurde. Sie versuchte unverkrampft und locker zu sein, was ihr auch gelang, und je mehr sie Kevin lachen sah, desto mehr vergaß sie ihr schlechtes Gefühl. Die beiden ließen sich eine Pizza kommen, aßen zusammen und saßen dann gemeinsam vor Jennys Fernseher. Gerade lief ein Bericht eines Polizisten, der zwei Jahre unschuldig wegen Drogenbesitzes im Knast gesessen hatte, und jetzt wieder freigekommen war. "Du bist nicht der Einzige, den man zu Unrecht eingesperrt hatte.", meinte Jenny etwas keck und hatte sich mit dem Oberkörper ein wenig an Kevin gelehnt und auf der anderen Seite die Beine auf die Couch gelegt. "Zwei Jahre wären aber deutlich ungemütlich gewesen als 5 Tage.", meinte der junge Polizist.


    Ein Thema brannte Jenny allerdings noch auf dem Herzen... ein Satz, den Kevin eben gesagt hatte, nebenbei und kaum beachtenswert. "Kevin... du hast eben gesagt, dass du das Angebot der Chefin wegen mir abgelehnt hättest." Der junge Polizist nickte und sah seine Kollegin, Freundin, er wusste es selbst nicht, dabei an. "Weil du nicht damit zu Recht gekommen warst, dass ich mich etwas... komisch verhalten habe." "Ja." Die junge Polizistin versuchte ein scheues Lächeln. Es gelang nicht. Sie hatte innerlich einen Entschluss gefasst. Sie spürte, dass zwischen ihr und Kevin etwas Besonderes war... mehr als nur Freundschaft. Und sie gestand sich ein, dieses Gefühl auch zu zu lassen. Doch wenn sie wirklich eine Beziehung mit Kevin eingehen wolle, dürfte nichts zwischen ihnen stehen. "Es war nicht nur deine Verhaftung... weswegen ich dir aus dem Weg gegangen bin.", sagte sie und ihr Magen begann, sich zusammen zu ziehen, ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken herab. Sie spürte, wie ihre Hände zitterten, als sie an Kevins Arm herauf und herab strichen. Der bekam selbst jetzt plötzlich, ob Jennys Art und Weise, wie sie mit ihm sprach, ein flaues Gefühl.
    "Ich fand den Abend, als ich bei dir war... sehr schön... damals, bevor diese Vergewaltigung passiert ist. Und ich bin dir unendlich dankbar dafür, dass du danach für mich da warst, bis...", den Rest des Satzes lies sie aus, denn sie wusste wieviele Vorwürfe Kevin sich selbst machte, sie dann allein gelassen zu haben. "Ich weiß zwar, dass wir damals nicht zusammen waren... aber ich will es dir trotzdem sagen, bevor du es von jemand anderen erfährst." Jenny schaffte es nicht, Kevin durchweg anzusehen, der wiederrum versuchte die junge Polizistin mit seinem Blick einzufangen. "Was willst du mir sagen?" Sie holte tief Luft und biss sich dabei auf die Lippen. "Ben hatte sich damals Vorwürfe gemacht... ich habe mir damals Vorwürfe gemacht. Wir haben uns beide gegenseitig ausgeheult... und dabei... dabei..." Jenny stotterte... Sie schaute in die hellblauen Augen ihres Gegenübers und meinte, sie könne ein Strahlen entdecken. "Dabei sind wir zusammen im Bett gelandet. Einmal. Ich... weiß selbst nicht wie das passieren konnte." Sie spürte ihr Herz laut klopfen. Sie spürte das leichte Zucken des Muskels in Kevins Unterarm und sah wie seine Mundwinkel sich langsam senkten. Und sie meinte zu sehen, wie das Strahlen in seinen Augen erstarb.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Jenny's Wohnung - 21:30 Uhr


    Jenny konnte ihr Herz fest gegen ihre Brust schlagen spüren, sie konnte das Blut in ihrem Ohr rauschen hören... beinahe hatte sie das Gefühl, dass ihr Kreislauf abrupt in den Keller fiel. Sie hielt dem Blick von Kevin, aus seinen hellblauen Augen, nur schwer stand, nachdem sie ihm die Nacht mit Ben gebeichtet hatte. Sie hatte ihm unterbewusst klar machen wollen, dass beide in dieser Situation versucht hatten, Trost suchten, eine Schulter zum Anlehnen und sich ausheulen... und dass ganz sicher keine tieferen Gefühle im Spiel waren. Sie sagte es zwar nicht deutlich, aber ihre Worte versuchten, diesen Eindruck zu vermitteln.
    Die junge Polizistin konnte den Blick ihres Gegenübers nicht deuten. Auch seine Stimmlage war merkwürdig... sie war nicht beleidigt oder gekränkt, nicht neutral oder freundlich. Sie war einfach... merkwürdig, als er fragte: "Hast du dich danach besser gefühlt?" Auf eine solche Frage war Jenny nicht im Entferntesten vorbereitet, sie hatte eher mit einem Vorwurf, einem gekränkten Wegdrehen gerechnet, als mit einer Frage, die er auch noch auf solch seltsame Art stellte. "Ich... also ja... nein.", stotterte sie und schüttelte den Kopf. Sie hätte sich selbst Ohrfeigen können. "Ich... ich war dankbar für seinen Trost. Das hat mir wirklich gut getan.", sagte sie, mit etwas sichererer Stimme. "Aber ich hatte sofort ein schlechtes Gewissen... dir gegenüber." Kevin legte den Kopf leicht zur Seite, so dass ihm eine Haarsträhne seiner abstehenden Haare ein wenig in die Stirn fiel. "Schlechtes Gewissen?" Jenny spürte ein Pulsieren in ihrer Brust. "Ja... weil du für mich vorher da warst... und nun im Knast warst... wegen mir. Und ich dachte, dass dieser Abend vorher auch für dich eine... eine Bedeutung hatte." Sie spürte, wie sie in einem Meer voll Stromschnellen versuchte, krampfhaft an der Oberfläche zu bleiben... und scheiterte. "Es hatte sich wie... wie Fremdgehen angefühlt danach."


    Erst jetzt, nach gefühlter Ewigkeit, senkte sich Kevins Blick für einen Moment. Deutlicher hätte Jenny ihm nicht sagen können, dass sie mehr als etwas freundliche Zuneigung, mehr als Freundschaft für ihn empfand. Sie waren damals nicht zusammen, Jenny hatte ihm gegenüber keine Verpflichtung... und doch fühlte sich dieser One-Night-Stand mit Ben so an, wie als würde sie fremdgehen? "Du hast mir gegenüber keine Verpflichtung. Du kannst tun und lassen, was du möchtest.", sagte er und drehte den Kopf wieder gerade. Innerlich kränkte es ihn natürlich, was Jenny getan hatte. Nein, sie waren nicht zusammen, aber ja, auch er hatte aus diesem Abend, als sie da saßen und sich küssten, mehr mitgenommen, als nur diesen freundschaftlichen Kuss. Er fühlte eine innere Verbindung zwischen ihnen, diese Sicherheit, sich ihr gegenüber öffnen zu können. Dass sie dann mit Ben in die Kiste gegangen war, weil er nicht da war... er konnte es in seinem Innersten nicht einfach wegwischen, doch von dieser Kränkung drang nichts an seine äussere Fassade.
    Er spürte, wie Jenny ihre kleinen Händen auf die des jungen Mannes legte, und es ihr plötzlich, nach dem Geständnis nicht alzu schwer fiel Kevin direkt in die Augen zu sehen. "Vielleicht... vielleicht möchte ich diese Verpflichtung ja.", sagte sie leise und ihre grünen Augen bohrten sich tief in Kevins Seele hinein. Er spürte, wie ihre Fingerkuppen über seinen Handrücken strichen, nach oben bis zu seinem Handgelenk. "Ich habe mich dir gegenüber schlecht gefühlt danach. Und ich hatte Angst, es dir zu sagen. Zu dir fühle ich etwas ganz anderes, als zu Ben." Kevin hörte die Worte, er genoß die Worte, und sie durchdrangen seinen Seelenpanzer wie ein heißes Messer durch die Butter. Die Zweifel, die ihn überkamen, wischte er weg. Die Zweifel, wie treu Jenny wirklich war, wenn sie sich zu Kevin hingezogen fühlte, und trotzdem mit Ben ins Bett gegangen war... er drückte sie weg. Er hatte sie auch früher, in früheren Beziehungen weggedrückt, und sie kamen oftmals wie ein brutaler Bumerang zurück.


    Immer noch saßen die beiden jungen Polizisten nebeneinander auf der Couch, sich halb zugewandt, Jennys Beine auf der Couch während Kevin normal da saß. Seine Schmerzen in der Schulter, am Rücken und seine blauen Flecken hatte er komplett vergessen, der Schmerz betäubt von diesem intensiven Gefühl, als er Jenny ansah. Diese Frau, die es schaffte in Windeseile seinen Kokon aus Selbstzweifel, Selbsthass und Selbstmitleid zu durchbrechen, die es schaffte ihm seine Geschichte, die er nie gerne erzählte, zu entlocken. Die es geschafft hatte, ihn aufzubrechen und ihm dadurch die Schulter zu bieten, die er so sehr gebraucht hatte, die Semir und Ben versucht hatte, ihm zu geben. Jenny hatte es geschafft, und sie war nun ehrlich zu ihm. "Auch wenn du mir damals zu nichts verpflichtet warst... danke ich dir, dass du es gesagt hast.", sagte er mit seiner, manchmal monotonen und diesmal sehr leisen Stimmlage, denn er war mit dem Gesicht etwas dichter an Jenny herangerückt. "Denn das Wichtigste für mich, um einem Menschen zu vertrauen... ist Ehrlichkeit." Jenny nickte stumm und war innerlich gottfroh, dass sie den Mut hatte, sich zu überwinden und endlich die Wahrheit zu sagen. Endlich das schlechte Gewissen abschütteln, und noch froher war sie, dass Kevin es ihr scheinbar nicht übel nahm. In Wirklichkeit verbarg er seine Enttäuschung erfolgreich, und sein Kopf wurde gerade sowieso von seinem Herzen, seinem Bauch und seinem Gefühl, wie so oft, ausgeschaltet.
    Jenny spürte, wie ihre Zähne ein wenig auf ihrem Zahnfleisch kauten, bevor sich die Lippen der beiden erneut sanft für einige Sekunden berührte, und die junge Polizistin die Hand des Mannes nun endgültig umschloß. Eine Welle von Glücksgefühlen durchraste ihren Körper, und sie schien auf einmal unendlich glücklich... auch wenn sie wusste, dass sie mit Kevin vielleicht einen Freund hatte, bei dem schwere und schwierige Situationen vorprogrammiert waren... wegen seinem Wesen, wegen seiner Vergangenheit.


    Sie rutschten beim Küssen ein wenig zueinander, Kevin legte seinen Arm um die Schulter von Jenny, und sie berührte ihn mit ihrer Körperhälfte. Als sich ihre Lippen getrennt hatten, flüsterte der junge Mann ihr leise ins Ohr: "Ich glaube, ich hab mich in dich verliebt." Es war die endgültige Bestätigung für das, was zwischen ihnen seit dem Unfall vor einigen Stunden schwelte, was auch schon schwelte, vor Jennys Vergewaltigung. Die junge Polizistin lächelte ihn strahlend an, und beide fielen sich in die Arme. "Ich hatte solche Angst vor deiner Reaktion darauf.", sagte Jenny leise an Kevins Kopf vorbei, als sie gegenseitig ihre Arme und Hände an ihren Rücken spürten. "Wir waren damals nicht zusammen. Und ausserdem...", sagte Kevin, als sie sich wieder ein wenig voneinander trennten. "...war ich damals wirklich nicht da, um dir zu helfen... so wie ich es dir versprochen hatte." Sofort schüttelte die junge Frau den Kopf: "Sag sowas nicht. Du konntest nichts dafür."
    Zufrieden seufzte die junge Frau auf, als sie sich ein wenig an ihrem Freund herunterrutschten ließ, und ihren Kopf an dessen Schulter anlegte. Die Gefühle in dem jungen Mann waren wirksamer als jede Schmerztablette, kein blauer Fleck tat ihm im Moment weh, auch die Schürfwunde überm Auge spürte er nicht. Ein riesen Stein fiel Jenny vom Herzen... ihr Gewissen war rein, und der Mann an ihrer Seite war nicht wutentbrannt aus der Wohnung gestürmt, oder hatte sie mit Ignoranz und Verachtung bestraft... beides hätte sie sich bei Kevin vorstellen können. Auch wenn sie Gefühle für ihn hatte... er blieb auch für die Frau teilweise ein Buch mit sieben Siegeln, und niemals wusste man sicher, wie er auf eine Situation reagieren würde.


    "Wirst du Ben darauf ansprechen?", fragte sie dann nach einer Weile, nachdem die beiden nur da saßen, und ihre Nähe genossen. Eigentlich wollte Kevin ihn gar nicht darauf ansprechen... denn er fragte sich, ob Ben selbst die Courage hatte, es seinem Freund zu sagen. Und vor allem... wie nahm Ben diese Sache? Hatte er das gleiche schlechte Gewissen seinem Kurzzeit-Partner gegenüber wie Jenny? Sah er es in erster Linie so wie Kevin, dass die beiden sich in keiner Beziehung befanden, und es deswegen schon okay so war? Oder war es für ihn einfach eine flotte One-Night-Stand-Nummer? Kevin konnte Ben in dieser Beziehung noch überhaupt nicht einschätzen. Und so drückte er sich ein wenig um eine eindeutige Antwort: "Ich weiß es noch nicht... vielleicht, wenn mal der richtige Zeitpunkt ist.", sagte Kevin ein wenig abwesend.
    Die saßen bestimmt noch eine Stunde zusammen, dicht zusammen auf der Couch, bis Kevin sich verabschiedete. Die beiden küssten sich vor der Wohnungstür noch einmal, und der junge Polizist lehnte Jennys Angebot, bei ihr zu übernachten oder ihn nach Hause zu fahren, dankend ab. Er wollte zu Fuß gehen, denn er wollte seine Gedanken nochmal ordnen... das sagte er Jenny aber nicht. Sein Kopf hatte langsam wieder etwas Kontrolle übernommen, und sendete doch den ein oder anderen warnenden Gedanken an den jungen Polizisten, während dieser durch die Straßen Kölns ging. Doch die wollte der Polizist nicht hören... und er wusste, wie er sie betäuben musste. Gegen 3 Uhr morgens saß er, anders als so mancher Penner mit einem Hut vor sich, aber mit einer halbleeren Flasche Whiskey in der Hand vor einem Geschäft in der Fußgängerzone, die menschenleer war. Die Flasche hatte er neben sich gestellt, seine Knie hatte er angewinkelt und die Ellbogen darauf gestützt, die Hände zusammen zu einer Faust geballt, die er sich gegen den Mund drückte. So saß er da, bis es langsam hell wurde.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Semirs Haus - 05:00 Uhr


    Die Bilder waren klar, und Semir wusste nicht, ob er wachte oder träumte. Alle Geräusche um ihn herum waren real, alle Bilder, die er sah, waren realistisch. Er lief durch sein Haus, sein Heim. Er hörte Ayda und Lilly aus ihrem Kinderzimmer laut rufen. "Papa!! Papaaaa!". Semir schwitzte, sein Herz pochte fest gegen seine Brust. Er kam im Wohnzimmer an, und ihm schien die Orientierung zu fehlen, wo er hinlaufen musste. Die Bilder an der Wand hingen schief, der Fernseher lief und er wunderte sich, dass die Möbel, der Couchtisch und die Couch selbst nicht in der Anordnung standen, wie sie sonst standen. Doch seine Aufmerksamkeit wurde sofort wieder auf seine beiden Töchter gelenkt, die laut um Hilfe schrien. "Papaaaaaa!!" Ein schrilles Kreischen war das von seiner jüngeren Tochter Lilly.
    Wie ein Wahnsinniger raste der erfahrene Polizist die Treppe nach oben ins obere Stockwerk. Das Licht funktionierte nicht, als er auf den Schalter neben der Treppe drückte, und er hörte sein Herz im Takt pumpen. Nur noch wenige Meter waren es, bis er die geschlossene Tür des Kinderzimmers erreichte. Die Klinke an der Tür ließ sich aber nicht nach unten drücken, sie war wie festgenagelt, und die Tür verschlossen. "Papaaaaaaa!!" Obwohl Semir vor der Tür des Kinderzimmer stands hörte er die Stimme seiner Tochter so deutlich, als würde sie ihm direkt ins Ohr hinein schreien. Er sah zur Seite, doch sah nichts, ausser den Fußboden. Er hämmerte wild gegen die Tür und schrie laut: "Lass meine Töchter in Ruhe, du verdammtes Schwein.", ohne zu wissen, was hinter der Tür passierte. Doch die Tür war wie eine Mauer, ein unüberwindbares Hindernis und der Mann geriet regelrecht in Panik, als er sich gegen den Holzrahmen warf, ohne dass dieser einen Centimeter nachgab.


    Ein lautes Poltern ließ ihn aus dem Bett schrecken. Sein Atem war so schnell, wie gerade im Traum und auch der Schweiß auf der hohen Stirn war echt. Doch er stand nicht vor der verschlossenen Tür des Kinderzimmers, sondern er saß aufrecht, halb zugedeckt und durchgeschwitzt in seinem Bett. Andrea lag schlafend neben ihm und hatte ihm den Rücken zugewandt, und die Rolladen des Fensters machten das Poltergeräusch aus, weil sich draussen der erste Herbststurm zu Wort meldete. "Oh Mann...", murmelte er und wischte sich mit der Handfläche über die feuchte Stirn, wobei er sich langsam zurück aufs Kissen gleiten ließ. Die Bilder des Traumes, vor allem dieses erschreckende Gefühl der Hilflosigkeit, ließen ihn nicht mehr einschlafen, das Geräusch des Windes, der draussen an den Bäumen zerrte, tat sein Übriges. Immer wieder hörte er Geräusche, die ihn die Augen sofort wieder öffnen ließen, einmal fiel die Plastikgieskanne auf der Terasse um, einmal schien einer der gelben Säcke vor dem Haus gegen eine Gartenmauer zu prallen. Eigentlich mochte Semir es, wenn es draussen Unwetter gab, und er in seinem warmen Bett den Geräuschen lauschte, doch jetzt waren sie ihm unangenehm, denn er lag, wie unter Spannung in seinem Bett und lauschte nach jedem unnormalen Geräusch.
    Irgendwann hatte er die Nase voll. Er schob die Bettdecke von sich, und verließ das Schlafzimmer. Er tapste mit nackten Füßen durch den Flur, tastete sich nach dem Lichtschalter und verhinderte es gerade noch über den Staubsauger zu stolpern, denn Andrea dort stehen gelassen hatte. Langsam, ohne Lärm zu machen, ging er zuerst nach unten, um überall im Erdgeschoss nach dem Rechten zu sehen. Er prüfte, ob alle Rolläden verschlossen waren und sah auch nach, ob er die Haustür abgesperrt hatte. Danach sah er in jedem Kellerraum nach, doch überall war alles in Ordnung. Nur die Windgeräusche begleiteten ihn in jeden Raum.


    Langsam ging er wieder die Treppe nach oben, und blieb für einen Moment unschlüssig im Flur stehen. Er erinnerte sich an den Traum, erinnerte sich an den Moment, als er vor der Tür bei Aydas Schlafzimmer stand und verzweifelt versuchte, diese zu öffnen als er die Hilfeschreie seiner Tochter hörte. Er spürte ein Kribbeln in den Händen, das ihn sofort veranlassten zu dem Raum zu gehen. Die Tür war nicht verschlossen, sondern einen Spalt offen. Ayda konnte bei komplett geschlossener Tür nicht schlafen, ausserdem hatte sie ihre Rollläden offen, da sie Angst vor den lauten Klappergeräuschen hatte. Andrea hatte sie vorsorglich am Abend oben gelassen, weil in der Nacht ein Herbststurm angekündigt war. Jetzt fiel das Licht der Straßenlaterne auf Aydas friedliches Gesicht, als Semir den Kopf zur Tür hinein steckte.
    Er ging leise und langsam zu Aydas Bett, und betrachtete seine friedlich schlafende Tochter, die auf dem Rücken unter der Decke lag und ihre dunkelbraunes langes Haar weit um den Kopf verteilt hatte. Sie atmete ganz ruhig, und schien, anders als Semir, keine Alpträume zu haben.
    Während er seine älteste Tochter betrachtete, wurden die Ängste um sie und ihre kleine Schwester Lilly wieder real. Und doch versuchte sofort der vernünftige Polizist in Semir, diese Ängste zu unterbinden. Du passt auf sie auf, du kannst sie nicht in einen Schutzpanzer packen, ermahnte er sich selbst. Und doch war die Angst davor, dass seinen beiden Mäusen etwas zu stoßen könnte, allgegenwärtig.


    Nachdem Semir auch bei Lilly kurze Zeit danach nach dem Rechten gesehen hatte, die allerdings ebenfalls friedlich schlief, kroch er wieder zurück ins Bett. Er hatte nur noch eine Stunde, bis der Wecker klingelte, und die verbrachte der Polizist damit, jedem Geräusch ausserhalb seines Hauses zu lauschen. Er stand sogar eine Viertelstunde früher auf als sonst, duschte sich um munter zu werden, zog sich an und überraschte seine Frau später damit, bereits das komplette Frühstück hergerichtet zu haben und die Pausenbrote für die Kinder ebenfalls gemacht zu haben. "Was ist denn mit dir los?", fragte sie, nachdem sie sich den Guten-Morgen-Kuss gegeben hatten. "Haben wir Hochzeitstag?" Die Frage war scherzhaft, denn solche Termine vergaß weder Andrea, noch Semir. Der konnte schon wieder lächeln, und meinte: "Nein, aber ich konnte nicht mehr schlafen."
    Andrea ging nochmal nach oben, um nach Ayda zu sehen und Lilly aufzuwecken. Die älteste Tochter brauchte Andrea fast nicht mehr, um sich schulfertig zu machen und erschien bei ihrem Papa zum Frühstück. "Na, kleine Maus? Hast du dich gefürchtet vor dem Sturm?", fragte Semir lächelnd und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Ayda schüttelte sofort den Kopf. "Aber nein, Papa. Mama hat gestern die Rollläden oben gelassen, und ich hab gar nichts mitbekommen." Der Wind wütete weiterhin noch draussen, und langsam wurde es hell. Wenig später erschien auch Lilly mit Andrea zum Frühstück, und Semir genoß diese Momente des Tages, wenn alle zusammen am Tisch saßen, auch wenn die kleine Lilly aussah, als würde sie jeden Moment wieder einschlafen.


    Semir selbst war auch nicht gerade im fittesten Zustand, als er wenig später in der Dienststelle ankam. Trotzdem war er, wie fast immer, vor seinem Partner Ben da, kochte schon Kaffee vor und war bereits bei der zweiten Tasse, als sein Freund eintrudelte. "Na, du Frühaufsteher?", begrüßte der junge Kollege seinen Partner, als er ins Büro hereinkam, während dieser sich mit: "Morgen, Mittagsschicht.", revanchierte. "Hast du schlecht geschlafen?", fragte Ben der Semir sofort ansah, dass er müde war. "Ein wenig. War laut draussen." "Das kannst du LAUT sagen.", witzelte Ben. "Ich habs heute nacht dreimal krachen hören. Uns hat es in der Nachbarschaft drei Papeln gekostet. Stell dir mal vor, die wäre auf meinen Dienstwagen gefallen." "Das wäre der erste Schaden, an dem du nicht schuld wärst." Semir grinste breit in Bens Richtung, der seinem Partner scherzhaft die Zunge rausstreckte. "Das sagt gerade der Richtige. Wegen dir bekommen wir von BMW doch regelmäßig Fresskörbe geschickt."
    Jenny unterbrach das kleine freundschaftliche Geplänkel, als sie gegen die Glastür klopfte und hereinkam. Sie lächelte... nein, sie strahlte beinahe. So hatten Semir und Ben die junge Kollegin schon länger nicht mehr gesehen, und sie wünschten ihr einen guten Morgen, was sie sofort erwiederte. "Das Krankenhaus hat eben die Ergebnisse der Untersuchung geschickt.", sagte sie und übergab Semir ein Fax. Der überflog es schnell, und wusste nicht ob er erleichtert ob der Nachricht sein sollte, oder sich ärgern sollte weil er Schobler nicht drankriegen könnte. Er entschied sich, zum Wohl der jungen Nele, für Ersteres. "Keinerlei Hinweise auf eine vollzogene Vergewaltigung oder anderswertigen sexuellen Missbrauch. Keine blauen Flecken, keine Blutergüsse... nichts." Dann sah er auf zu seinem Gegenüber. "Scheinbar hat der Kerl die Wahrheit gesagt." "Das heißt, wir müssen ihn laufen lassen?", fragte Ben, der von diesem Gedanken nicht begeistert war. "Sieht wohl so aus."


    Bevor Jenny den Raum verließ, sah sie nochmal Ben an: "Ben... könnten wir uns mal ganz kurz in der Teeküche unterhalten?" Semir richtete seinen Blick sofort auf Ben, denn er konnte sich schon fast denken, um was es ging. "Ich wollte sowieso noch zu Bonrath, bleibt einfach hier.", sagte er sofort und erhob sich von seinem Stuhl, um das Büro zu verlassen.

    Wenn Engel hassen

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    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Dienststelle - 9:00 Uhr


    Ben schaute Semir beinahe sehnsüchtig hinterher, als dieser das Büro verließ um ihn und Jenny alleine zu lassen. Wenn er gekonnt hätte, wäre er hinterher gelaufen, denn Jenny schien über das Thema sprechen zu wollen, dass ihm in den letzten Tagen wieder vermehrt im Kopf umher ging... ihre gemeinsame Nacht vor einigen Wochen.
    Die junge Polizistin setzte sich auf Semirs Platz und schaute am Computerbildschirm vorbei auf den gegenübersitzenden Ben, der seine Kollegin mit etwas verkniffenem Gesichtsausdruck ansah. "Und?", fragte er erwartungsvoll, obwohl er das Thema der Unterhaltung kannte. Vermutlich wollte sie nun doch darauf drängen, Kevin endlich Bescheid zu sagen, doch dann überraschte sie ihn, mit der direkten Aussage: "Ich habe es Kevin gesagt." In Ben wechselten sich für einen Moment Erleichterung und Schock ab, und er konnte sich nicht für ein Gefühl entscheiden, dass jetzt dominieren sollte. "Was hast du?", fragte er nochmal nach und legte den Kopf ein wenig schief. "Ich sagte, ich habe es Kevin gesagt... unsere Nacht." Sein Herz schlug etwas schneller, und er atmete hörbar aus. Jennys Stimme und ihr Gesichtsausdruck war selbstsicher, und er meinte, er konnte auch bei ihr eine gewisse Erleichterung verspüren, dass sie es geschafft hatte. "Warum... warum hast du mir vorher nicht Bescheid gesagt?" Ein wenig zuckte die junge Frau mit den Schultern. "Es war... gestern spontan. Nicht geplant. Kevin hatte einen Motorradunfall, den ich über Funk mitbekommen habe, und da bin ich hingefahren. Wir haben uns unterhalten... und... dann hab ich es ihm gesagt."


    Ben schreckte bei dem Wort Motorradunfall sofort zusammen, aber da die beiden sich danach unterhalten haben, und Jenny ihm die Nacht mit Ben gebeichtet hatte, schien er ja keinerlei Verletzungen fortgetragen zu haben. "Wie hat er reagiert?", war die Frage, die Ben am meisten auf der Seele brannte. Jenny wog den Kopf hin und her, bevor sie antwortete: "Er hat gemeint, dass ich keinerlei Verpflchtung ihm gegenüber gehabt hätte... dass ich mich dafür also nicht entschuldigen müsste." Bens Stirn zog sich ein wenig in Falten, mit dem Inhalt der Aussage war er zwar zufrieden, aber die Antwort von Jenny kam sehr zögerlich. "Das klang aber nicht überzeugend?", meinte er und beugte sich nach vorne, um sich mit den Ellbogen auf dem Tisch abzustützen. "Ja... also. Irgendwie, hatte ich den Eindruck, dass es ihm doch etwas ausgemacht hat. Aber irgendwie auch nicht... er hat es nicht gezeigt und es war ein sehr schöner Abend noch danach." Sie seufzte auf und sah einen Moment nach rechts aus der großen Fensterfront auf den trüben, immer noch stürmischen Morgen. "Ach, Ben. Dieser Mann ist so schwer zu durchschauen. Für einen Moment denke ich, ich verstehe ihn und begreife ihn... und 5 Minuten später stellt er mich vor unlösbare Rätsel. Ich kann jetzt nicht mit Bestimmtheit sagen, dass es ihm gestern wirklich nichts ausgemacht hat, wie er behauptet." Ben konnte ihr diesen Eindruck sehr gut nachfühlen, und ähnliches hatte Semir schon vor Monaten von Kevin gesagt. "Wem sagst du das.", murmelte er und sah auf seinen Schreibtisch.
    "Ich denke... ich denke, es wäre gut, wenn du auch nochmal mit ihm redest. Oder ihm zumindest irgendetwas sagst dazu.", meinte Jenny vorsichtig und strich sich über die, zu einem Zopf gebundenen Haare. Ben nickte abwesend und blickte Jenny dabei an. "Und ihr hattet noch einen schönen Abend?", fragte er, wie zur Sicherheit oder einer Forderung einer erneuten Bestätigung, was Jenny bejahte. "Und ihr seid jetzt... beide...?", meinte er und machte dabei eine eindeutige Geste mit seinen beiden kleinen Finger, die er ineinander verhakte. Jenny musste lächeln und nickte, wenn auch ein wenig zögerlich. Sie hatten sich gestern abend geküsst, sie haben lange dicht beieinander gesessen und er hatte ihr gesagt, dass er sich verliebt hätte.


    Ben wunderte sich ein wenig, über einen Anflug von Traurigkeit, die ihn befiel, als Jenny seine zweite Frage ebenfalls bejahte, auch wenn er sie anlächelte und meinte, dass dann ja alles in Ordnung wäre. Doch er konnte diesen Gedanken nicht verscheuchen, der sich in seinem Kopf festgeklammert hatte. Er fand die Nacht mit Jenny zusammen sehr schön, und hatte sich eingebildet, dass sie nicht nur aus gegenseitigem Trost entstanden war. Und er hatte die Hoffnung, dass Jenny selbst nicht genau wusste, was sie wollte... und sich vielleicht anders entscheiden würde. Jetzt war er zwar erleichtert, dass sein Freund die gemeinsame Nacht offenbar zumindest akzeptierte... und Ben keine Bedenken haben musste, dass Kevin dadurch eine Art Rückfall erleidet... in was auch immer.
    Jenny lächelte, und tippte zweimal auf den Tisch, als sie sich von Semirs Stuhl erhob. "Na dann...", meinte sie versöhnlich, und auch Ben stand auf um Jenny noch einmal in die Arme zu schließen. Die beiden würden nie mehr einfach normale Kollegen sein wie früher, diese Nacht würde die beiden immer miteinander verbinden. "Danke, dass du damals für mich da warst, trotzdem.", sagte die junge Polizistin, als sie sich aus der Umarmung wieder trennten. "Kein Ding. Ich war ja auch froh drum.", sagte Ben mit seinem typischen Gute-Laune-Lächeln... auch wenn er sein Gefühl nicht betrügen konnte, was in ihm stattfand. Aber er würde sich damit abfinden. Das bevorstehende Gespräch mit Kevin, irgendwann in naher Zukunft, lag ihm allerdings jetzt schon im Magen. "Dann mache ich mich mal wieder an die Arbeit.", meinte die Polizistin und verließ das Büro. Durch die offene Tür konnte er sehen, wie Semir und die Chefin sich mit zwei, wichtig aussehenden Männern in Sakkos angeregt unterhielten. Er zog die Augenbrauen etwas zusammen und gesellte sich zu den Vieren.


    "Auf jeden Fall haben sie in diesem Fall nichts mehr zu schaffen, meine Herren.", sagte der Wortführer der beiden Männer, die scheinbar Polizisten waren. "Sie hätten uns diesen Vorfall sowieso sofort melden müssen." Anna Engelhardt, die Chefin der Autobahndienststelle hob beschwichtigend beide Hände. "Moment mal, meine Herren.", sagte sie in ihrer natürlichen Autorität. "Wenn sie diese Sache so unter Verschluss halten, woher sollen wir dann überhaupt wissen, dass in diesem Fall bereits ermittelt wird? Geschweige denn, dass hier überhaupt ein Verbrechen vorliegt." Den Einwand ließen die LKA-Ermittler Schöneberg und Reuter gar nicht gelten und schüttelten fast synchron die Köpfe. "Ich bitte sie, uns alle nötigen Unterlagen und Ermittlungsakten in diesem Fall vorzulegen." "Es gibt keine Ermittlungsakte. Wir haben einen Zigarettenstummel neben dem Mädchen gefunden, und dort einen vorbestraften Kinderschänder heraus ermittelt, denn wir verhört haben. Davon können wir ihnen gerne das Protokoll geben, und den Urheber gleich mit, der sitzt nämlich in unserer Zelle. Allerdings hat sich der Verdacht nicht bestätigt, der kam nur zufällig vorbei. Den Bericht der Untersuchung im Krankenhaus können sie auch haben.", erklärte Semir.
    Die drei blickten in zwei fassungslose Gesichter. "Wie kommen sie überhaupt dazu, so weit zu ermitteln. Sie sind für die Autobahnen zuständig.", polterte Reuter und wurde von Ben sofort gekontert: "Das Mädchen haben wir nicht neben der Bahnstrecke gefunden." Er wurde mit einem spöttischen Blick bedacht, der aussagen sollte, wieso er sich den einmische. "Das ist mein Partner, Ben Jäger.", stellte Semir ihn noch schnell vor. "Die beiden Herren sind vom LKA Düsseldorf, Fachgebiet Menschenraub." Ben schaute ein wenig verständnislos: "Menschenraub?" Schöneberg seufzte künstlich auf. "Entführungen, lieber Kollege.", belehrte er den jungen Polizisten hochnäsig. Der grinste ironisch: "Danke, Kollege, aber ich weiß was Menschenraub ist. Aber was hat das mit dem Mädchen zu tun?" "Das kann ihnen ihr Kollege erklären. Wir hätten jetzt gerne die Unterlagen, wir haben nämlich auch noch anderes zu tun." Die beiden Autobahnpolizisten bemerkten, dass die Chefin mit ihrer Geduld einen kritischen Punkt erreichte, als sie schnaubte und nur kurz angebunden meinte: "Semir, sie erledigen das mit den Unterlagen. Meine Herren.", um sofort in ihren Büro zu verschwinden.


    Nachdem die widerspenstigen Kollegen des LKA Düsseldorf die benötigten Unterlagen bekamen, übernahmen sie auch sofort den festgenommenen Kinderschäner, um ihn erneut zu verhören. Semir und Ben kehrten in ihr Büro zurück und ließen sich in ihre Stühle fallen. "So, dann erzähl mal was.", forderte ihn Ben sofort auf, denn er brannte vor Neugier. "Also...", begann der erfahrene Polizist seinen Bericht. "Diese Kinder im Koma sind allesamt Entführungsfälle. Alle in kürzester Zeit, zeitweise waren drei Kinder gleichzeitig verschwunden. Insgesamt sind es bis jetzt 7." Ben stand vor Erstaunen der Mund offen. "Wie kommt es, dass wir davon nichts gehört haben?" "Die Eltern sind nicht zur Polizei. Scheinbar wurde gedroht, ein weiteres Kind zu entführen, wenn nach der Geldübergabe das bewusstlose Kind gefunden wurde. Die Kinder werden ins Koma gespritzt. Diese Info darf das Krankenhaus nur an eine Handvoll Ermittler herausgeben. Die haben auch die Polizei beim dritten Kind informiert, das ohne ersichtlichen Grund im Koma liegend ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Allerdings gibt es eine absolute Nachrichtensperre und eben höchste Geheimhaltung.", erklärte er mit sorgenvoller Miene, denn er dachte sofort an seine beiden Töchter.
    "Puh... harter Tobak.", sagte Ben. "Allerdings... die Entführer sind offenbar in der Lage, mit diesem Mittel die Stärke des Komas zu bestimmen. Die Kinder, bei denen das Lösegeld ohne Probleme überbracht wurde, würden sich auf den Weg der Besserung befinden. Zwei Mädchen werden wohl irreperable Schäden behalten, bei denen war die Übergabe zu spät. Und bei einer Entführung ist die Übergabe geplatzt. Das Kind wurde im Koma gefunden und ist mittlerweile der erste und einzige Todesfall." Bedrückende Stille herrschte im Büro der beiden Polizisten, nach diesem Bericht. Jetzt wussten sie, was hinter den Komakindern steckte, und waren doch unfähig etwas zu tun, denn man hatte ihnen den Fall weggenommen, bevor er begann.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 11:00 Uhr


    Nach dem die Kollegen des LKA die Autobahnpolizisten über den Fall der Komakinder aufgeklärt hatten, schien sich die bedrückende Stimmung wie das graue Wetter über die gesamte Dienststelle zu legen. Es wurde weniger gelacht und gescherzt, denn jeder der von dem Fall mitbekommen hatte, machte sich seine Gedanken darüber. Unschuldige Kinder, die ins Koma gespritzt wurden, war ein Verbrechen was in seiner Dimension beinahe neu für die Autobahnpolizei war, die mit sowas eigentlich nichts zu tun hatte.
    Vor allem Semir nahm der Fall sehr mit. Er war schweigsam, und hing während der gemeinsamen Tour in Ben's Mercedes seinen Gedanken nach, in dem er den Kopf auf seine Hand gestützt hatte, und durch das Seitenfenster in die Ferne blickte. Auch Ben war mit seinen Gedanken beschäftigt, jedoch war er weniger bei den entführten Kindern, sondern eher bei Jenny, wobei er jedoch Semirs Bedrücktheit schnell ebenfalls bemerkte, als sie auf Streife fuhren. Der Verkehr war ruhig, es gab wenig Meldungen und beide Polizisten hatten reichlich Zeit zum Nachdenken.


    "Dir gehen die Kinder nicht aus dem Kopf, hmm?", fragte Semirs bester Freund, und sah immer wieder zu seinem Kollegen herüber, während seine Hände des Lenkrad fest in der Hand hielten. Semir antwortete nicht direkt auf die Frage, doch seine Antwort die er gab, war eindeutig. Er sagte, mit einem leichten Kopfschütteln: "Ich stelle mir vor, wie ich reagieren würde. Was ich tun würde, wenn ich am Bett meiner Töchter sitzen würde, die im Koma liegen. Das muss doch ein schreckliches Gefühl der Hilflosigkeit sein." Ben konnte die Gedanken nachfühlen, auch wenn er selbst keine Kinder hatte. Doch er liebte Semirs Töchter, als wären sie seine eigenen, nicht umsonst war er quasi der "Onkel" der Familie Gerkhan, schenkte den Kindern regelmäßig etwas zu Weihnachten und Geburtstag, und war erster Babysitter, wenn Andrea und ihr Mann abends etwas unternehmen wollten. "Ja, das muss sehr schlimm sein.", antwortete er mit leiser Stimme.
    "Weißt du, es ist ja nicht nur, dass das schlimm für uns ist. Aber als Vater bist du doch der, der seine Familie beschützt. Der auf sie aufpasst. Und wenn deinem Kind dann sowas passiert...", er stockte kurz und sah zu seinem Freund herüber: "Hat man dann als Vater versagt?" Der junge Polizist konnte Semir auf diese Frage keine Antwort geben, aber er war erstaunt über die Gedankengänge. Solche Fragen zu beantworten war normalerweise Semirs Art, die Dinge sachlich und weise zu sehen. Ben meinte, er würde Selbstzweifel aus Semirs Stimme heraushören. "Ich weiß es nicht... aber... naja, du kannst ja nicht immer um deine Töchter herumschwirren. Sie werden älter, sie werden erwachsen." "Ich weiß, Ben.", gab der erfahrene Ermittler zu. "Aber immer, wenn sowas passiert, bekomme ich Paranoia. Jetzt waren wir selbst hautnah dran, und ich bekomme die Gedanken nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe sogar schon Albträume." Sein Partner tätschelte ihn tröstend, und beinahe liebevoll mit der Hand auf dem Oberschenkel und gab Semir ein ermutigendes Lächeln.


    "Weißt du was?", sagte Ben irgendwann, nach dem die beiden eine Zeitlang geschwiegen hatten. "Lass uns ins Krankenhaus fahren. Wir reden mal mit Neles Eltern, vielleicht erzählen sie uns etwas. Details, die uns weiterhelfen." Semir wollte spontan sofort zustimmen, doch die Order der Chefin hielt ihn zurück. "Aber Ben, du hast doch gehört. Das ist nicht unser Fall, und da hat das LKA ausnahmsweise mal Recht." Normalerweise scherte sich Semir wenig um Anweisungen des LKAs, und auch der Anweisung der Chefin folgte er nur, wenn er es selbst für richtig hielt. "Ach, wir ermitteln doch nicht.", sagte Ben mit einem Augenzwinkern. "Wir haben Nele gefunden, und wir haben ein verdammtes privates Recht zu erfahren, wie es ihr geht." Semir dachte nach... Ben hatte recht. Niemand könnte es ihnen verbieten sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Welche Worte dann mit den Eltern gewechselt werden, ging niemanden etwas an. Sie würden dort als Helfer erscheinen, nicht als Polizisten.
    "Und jetzt mal ehrlich... ich hab echt keinen Bock vor diesem LKA-Wich... Wichtigtuern mit einzurollen, oder?", meinte Semirs jüngerer Partner und stieß ihn mit dem Ellbogen motivierend an die Schulter. "Je eher dieser Typ, oder diese Typen geschnappt sind, desto eher kommst du wieder zur Ruhe. Und wenn wir etwas zu tun haben, dann lenkt uns das beide ab." Der erfahrene Polizist sah Ben ein wenig von der Seite an. "Und von was willst du dich ablenken?"


    Ben fühlte sich etwas ertappt. Er hatte den Satz eher beiläufig gesagt. "Naja... ich habe demnächst ein Gespräch mit... Kevin.", meinte er etwas zögerlich, und Semir wusste sofort um was es ging. "Willst du beichten?" Der junge Polizist schüttelte den Kopf. "Nicht mehr nötig. Jenny hat es Kevin gestern abend gesagt." Semir zog die Augenbrauen überrascht nach oben. Es tat gut, sich mal wieder die Probleme anderer anzuhören, statt sich pausenlos den Kopf über die eigenen zu zerbrechen. "Und?" "Er schien ganz okay reagiert zu haben... von wegen, sie hätte ihm gegenüber damals keine Verpflichtung gehabt." Semir zog beinahe anerkennend die Mundwinkel nach unten und nickte kurz: "Hätte ich jetzt von unserem unberechenbaren Freund nicht gedacht." "Tja, ich auch nicht.", meinte Ben und äusserte in der Art dieser Antwort sofort seine Bedenken, inwiefern Kevins Reaktion ehrlich war, die gleichen Gedanken, die auch Jenny ihm mitgeteilt hat.
    "Jenny meinte, ich sollte aber trotzdem nochmal mit ihm darüber reden.", sagte Ben nun und zog an einem LKW auf der Überholspur vorbei. "Ja, das ist sicher besser. Wenn er bei Jenny mit Verständnis reagiert hat, dann wird er bei dir sicher nicht ausflippen.", machte Semir seinem Freund Mut. "Die beiden sind jetzt übrigens... zusammen.", schob der junge Beamte noch hinterher, und erneut sah sein Partner überrascht auf. "Und das scheint dir nicht zu gefallen?" Semir hatte den Tonfall seines Freundes sofort bemerkt und sah mit einem Lächeln herüber auf den schulterzuckenden Mann am Steuer. "Hast du dir Chancen bei ihr ausgerechnet?" Wieder ein Schulterzucken von Ben, der beinahe melanchonisch auf die Straße blickte, während sein Freund ihn weiter ansah. "Ich sag mal so...", meinte Ben. "Dem Gefühl nach zu deuten, das ich verspürt habe, als sie es erzählt habe... scheint es mir zumindest nicht egal zu sein." Das hörte sich für Semir noch sehr unentschlossen an...


    Ben parkte den Dienstwagen auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus. Durch die automatische Tür schlug ihnen sofort der unverwechselbare Gerucht des Krankenhaus entgegen, der den einen nichts ausmachte, und bei anderen spontane Krankheitsgefühle weckte. Sie gingen auf die Kinderstation, und klopften an das Zimmer, in dem sie wussten, dass Nele dort lag. Sie klopften, und die junge Frau mit blonden Haaren war es, die ihr die Tür öffnete. "Oh... sie sind es.", sagte sie leise. "Wir wollten uns erkundigen, wie es ihrer Tochter geht?", meinte Ben mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Maria Lauer nickte mit müden Augen, und ließ die beiden Männer in das Krankenzimmer eintreten. Die kleine Nele hatte ein Einzelzimmer ohne andere Kinder, sie lag im Bett und sah aus, als würde sie friedlich schlafen. Auch war sie nicht an einem Beatmungsgerät angeschlossen, so dass der Anblick nicht ganz so unangenehm war. Trotzdem spürte Semir eine Klammer, die sich um seine Brust legte und zu zog, dass er beinahe um Atem ringen musste. "Der Arzt sagt, dass... dass das Koma nicht ganz so tief zu sein scheint.", meinte die Frau, während sie die Hand des Mädchens fasste, und die Augen nicht von ihrem friedlichen Gesicht lassen konnte. "Aber ob sie Schäden davon trägt, und wann sie aufwacht... weiß niemand."
    Ben sah Semir an, und bemerkte dessen Blässe im Gesicht. Die ganze Szene schien den erfahrenen Ermittler mehr mit zu nehmen, als Ben gedacht hätte. Deswegen übernahm er es, die Mutter auf das schwere Thema anzusprechen. "Frau Lauer... ist Nele entführt worden?" Die Reaktion konnte nicht eindeutiger sein... wäre diese Frage völliger Blödsinn, wäre die junge blonde Frau nicht aufgeschreckt bei dem Wort "entführt." "Nein... wie... wie kommen sie darauf?", fragte sie mit zitternder Stimme. "Frau Lauer, wir haben die Informationen vom LKA. Wir wissen über die Komakinder Bescheid, und wir wollen ihnen nur helfen." Er blickte in die Augen von Neles Mutter, deren Augen sich langsam mit Tränen füllten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Krankenhaus - 12:00 Uhr


    Ben und Semir konnten Neles Mutter Maria ruhig zu reden, ihre Tochter für einige Minuten alleine zu lassen. Es fiel ihr schwer, das Zimmer zu verlassen und die beiden Polizisten gaben ihr alle Zeit der Welt, dem jungen Mädchen noch einmal durchs Haar zu streichen, und ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. Semir beobachtete dies mit einer Beklemmung, die in diesem Moment nur Eltern verstehen konnten, und sein Blick drückte unendliches Mitgefühl aus, als die drei das Krankenzimmer verließen und sich auf die Stühle im Flur setzten.
    Immer, wenn ein Arzt oder eine Krankenschwester, sowie andere Patienten an ihnen vorbeigingen, verstummten die Gespräche. Sie wollten nicht, dass jemand etwas mitbekam, wenn die ganze Sache wirklich so geheimnisvoll war. "Frau Lauer.... ich weiß, dass das unglaublich schwer für sie sein muss, aber sie müssen uns die ein oder andere Frage beantworten.", sagte Ben mit ruhiger, und vertrauenserweckender Stimme, während Maria sich die Nase schneuzte und die Tränen wegwischte. Sie wollte stark und mutig sein, sie wollte den beiden Polizisten helfen damit nicht noch mehr Eltern dieses furchtbare Schicksal erleiden mussten. "Erzählen sie uns der Reihe nach: Wie kam es zu der Entführung, was haben sie mitbekommen?"


    Die Frau seufzte auf, schaute einen Moment in ihr Taschentuch, als würde dort die Antwort auf Bens Frage stehen. Dann antwortete sie mit müder, und leiser Stimme: "Nele war in der Schule. Normalerweise gehe ich sie mit dem Auto holen und bringe sie hin. Aber an diesem Tag hatte sie früher frei, wie wir später erfahren haben." Unbemerkt, fast automatisch, rieb Semir sich die Hände, während er an den Lippen von Neles Mutter hing. Dieses Szenario, was er beschrieb, kam ihm so verdammt bekannt vor. Es war, als erlebe er gerade seinen persönlichen Alptraum. "Normalerweise ruft sie dann an. Ich bin ja den ganzen Tag zu Hause. Oder sie fährt mit einem Nachbarskind mit. Aber dieses Mal...", stockte sie und spürte wieder, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ben tippte einige Notizen ins Handy, während Semir die Frau betrachtete... ansah... und mitlitt. "Sie kam einfach nicht. Ich stand an der Schule, und sie kam nicht. Ein Lehrer hat mir dann erzählt, dass sie eine Stunde früher Schluss hatten, und Nele zu Fuß nach Hause gehen wollte. Das sind vielleicht 2 km bis zu unserem Haus."
    "Was haben sie dann gemacht?", fragte Ben und merkte, dass Semir zwar unglaublich konzentriert schien, aber nicht in der Lage eine Frage zu stellen. "Ich habe meinen Mann angerufen, der kam sofort nach Hause. Er ist die Straßen abgefahren, ich habe bei Freundinnen von ihr angerufen. Niemand wusste etwas von ihr. Ihre beste Freundin in der Nachbarschaft hatte an diesem Tag noch eine AG und blieb in der Schule. Auch sie hatte gesagt, dass Nele alleine heimgegangen ist." Auf dem Heimweg musste die Entführung stattgefunden haben. Irgendwo zwischen der Grundschule, und dem feinen Viertel, in dem Lauers wohnten. "Ungefähr am... am späten Nachmittag... kam dann der erste Anruf.", sagte die Frau stotternd und ihre Hände begannen zu zittern. In ihrem inneren Auge erlebte sie das Grauen erneut, dass sie erfuhr, als sie die verzerrte Stimme am Telefon hörte, die ihr gerade erzählte, dass man ihre Tochter entführt hatte.


    "Welcher Anruf?", fragte Ben sofort und blickte zu der Frau auf. Sie verstummten kurz, als eine Krankenschwester an der Gruppe mit dem Stühlen vorbeiging. Dann erst fuhr Neles Mutter fort: "Es war eine verzerrte Stimme. Sie sagte, sie haben Nele entführt, und forderten Lösegeld." "Sie?", wurde die Frau sofort von Semir unterbrochen, der bisher schweigend mitgehört hatte, und jede Situation, die Maria beschrieb auf sich und seine Kinder übertragen hatte. Doch jetzt wachte sein kriminalistischer Spürsinn endlich auf. "Haben sie von mehreren gesprochen?", wiederholte er sofort. Geiselnehmer sprachen in der Mehrzahl wenn sie Profis waren, oder tatsächlich mehrere. Ein nervöser Einzeltäter würde von "ich habe... entführt", sprechen. Das war seine Erfahrung. "Ja... er sagte deutlich "Wir haben"... da bin ich mir sicher.", meinte die Frau und rief sich das schreckliche Gespräch nochmal in Erinnerung. "Hatten sie das Gefühl, er war nervös? Hatte er gestottert, hatte seine Stimme gezittert? Sprach er einen Akzent?" Semir überflutete die Frau mit Fragen, so dass Ben kurz davor war, ihn ein wenig einzubremsen, doch das tat die Frau bereits, die ein wenig abwehrend die Hände hob. "Die Stimme war wie eine verzerrte Computerstimme... da konnte man.... sowas nicht raushören.", meinte sie, und ihre Stimme hörte sich keineswegs sicher an.
    "Frau Lauer, wie gings dann weiter?", fragte Ben nun wieder etwas ruhiger und bedachte Semir mit einem tadelnden Blick, ob seines plötzlichen Übereifers. Die Frau atmete kurz durch. "Sie verlangten, dass wir keine Polizei einschalten sollten. Sie würden sich... sie würden sich abends wieder melden. Das haben sie dann auch getan und... und 250.000 Euro verlangt." Die beiden Polizisten beobachteten die Frau, von der man merkte, dass sie diese Befragung schnell hinter sich bringen wollte, um wieder zurück ins Zimmer ihrer Tochter zu können. Vermutlich könnten Semir und Ben das alles auch aus den Akten des LKA herauslesen, doch da würde man sie niemals heranlassen. Und für das Schnüffeln in fremden Akten hatte Hartmut erst einen empfindlichen Rüffel bekommen...


    "Wir... wir sind in der Lage, das Geld zu bezahlen. Wissen sie... wir haben viel Geld, was sie vermutlich an unserem Haus bemerkt haben. Eventuell... könnten das auch die Männer gewusst haben." An ihrer Stimme konnte man erkennen, dass ihr dieses Thema ein wenig unangenehm war, und Ben kam ihr mit einem: "Wir verstehen, was sie meinen", zur Hilfe. "Jedenfalls sahen wir uns in der Lage die Sache durchzuziehen, und das Leben unserer Tochter nicht zu gefährden, in dem wir die Polizei einschalteten." Ein Gedanke, der oftmals falsch war. Immer wieder machte die Polizei Kampagnen um den Leuten einzuprägen, sich bei einer Entführung immer an die Polizei zu halten. Semir wollte gar nicht wissen, wie hoch die Dunkelziffer an Entführungen, auch Kindesentführungen mit Lösegeldforderungen war, die abliefen ohne dass die Polizei davon etwas mitbekam. Es wäre sicher unvorstellbar, und auch dieser Fall würde, ohne das Auffinden der Komakinder, niemals in einer Statistik auftauchen.
    "Wie sollte die Übergabe ablaufen?", fragte Ben, nachdem erneut zwei Krankenschwestern an der Gruppe vorbei stolziert waren. "Mein... mein Mann sollte über den Domplatz gehen, mit einer Sporttasche und dem Geld. Irgendwann wurde er angerufen, und sollte die Tasche in einen toten Briefkasten verstecken... in den öffentlichen Toiletten. Sobald er dort wieder rauskam, wurde von ihm verlangt, dass er den Platz sofort verlassen sollte. Man sagte uns zu, dass wir unsere Tochter bald... bald auffinden würden." Am Schluß des Satzes begann sie erneut zu weinen, denn das Auffinden ihrer Tochter war nicht so, wie sie es sich erhofft hatte. Sie fand ihre Tochter nicht vielleicht verängstigt, aber unverletzt vor, sondern tief im Koma liegend, und niemand der Ärzte konnte ihr sagen, was mit Nele passieren würde. Die beiden Polizisten wollten die Frau nicht weiter quälen, und begleiteten sie zurück in Neles Zimmer, das Ben langsam und sanft wieder verschloß, als sie sich ans Bett gesetzt hatte.


    "Das klingt alles nach einer recht normalen Entführung, mit Lösegeldübergabe.", meinte er, als er sich die Notizen nochmal durchlies. "Achja? Was ist denn normal daran, dass man seine Entführungsopfer ins Koma spritzt, nachdem man das Lösegeld erhalten hat?", fragte sein Partner mit einer Prise Aggressivität in der Stimme. Ihn nahm der Fall mit, denn alles was passierte projezierte Semir als potentielle Gefahr auf seine eigene Famile. Dies nahm ihn mehr mit, als er zugeben wollte, und Ben hatte dafür Verständnis, also ging er nur auf den Inhalt der Antwort ein. "Das ist natürlich nicht normal. Die Frage ist, was er damit bezwecken möchte?" Für einen Moment waren nur ihre Schritte im Krankenhausflur zu vernehmen, bis sie durch die Empfangshalle wieder nach draussen auf den Parkplatz zurückkehrten, und in den Mercedes stiegen. Erst dort meinte Semir, nun nicht aggressiv, sondern eher resignierend: "Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass das verdammt kranke Typen sein müssen, die Eltern sowas antun." Da konnte sein Kumpel ihm nur zustimmen, und tätschelte ihm wieder ermutigend auf dem Oberschenkel, bevor er den Dienstwagen startete.
    "Lass uns mal den Weg von Neles Schule abfahren. Vielleicht finden wir dort etwas verdächtiges.", sagte Ben, als er den Parkplatz des Krankenhauses verließ. "Gute Idee.", antwortete sein Partner, und griff zu seinem Handy. "Ich rufe mal Jenny an. Sie soll die Lageberichte der letzten Wochen durchforsten. Wenn die ersten Entführungen da stattfanden, müssen sie ja auch drinstehen, bevor man gemerkt hatte, dass dies eine Serie ist, und man die ganze Angelegenheit zur Hochgeheimsache erklärt hatte." Was als privater Besuch begann, waren nun doch wieder handfeste Ermittlungen...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Übungsgelände - 12:30 Uhr


    Es war ihm übel - kein Wunder. Nach einer Flasche Whiskey und nur 3 Stunden Schlaf steckte Kevin die Nacht in den Knochen, und das ließ ihn sein Körper spüren. Er hatte sich morgens bereits mehrfach übergeben, er hatte keinen Bissen runterbekommen, und er wandelte bei jeder Sportübung, und bei jedem Programmpunkt während der GSG9-Ausbildung an einem Kreislaufkollaps. Eisen-Kasper hatte allerdings kein Erbarmen, als er den schlechten Zustand seines "liebsten" Schülers bemerkte, und es schien im Spaß zu machen den jungen Polizisten mehr zu quälen, als jeden anderen in der Gruppe. Er ließ Kevin doppelt zu viele Liegestütze und doppelt soviele Sit-Ups machen, bei denen Kevin immer wieder schwarz vor Augen wurde, und er wieder und wieder das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Den ganzen Vormittag standen verschiedene Ausdauersportarten auf dem Programm, die dem Freund von Ben normalerweise keine Probleme machten... doch heute fiel ihm jeder Schritt, jede Bewegung schwer.
    Auch beim Mittagessen in der Kantine des Ausbildungslagers stocherte er nur lustlos im Essen. Sein Magen brannte und rebellierte gegen jede Form fester Nahrung. Christian, einer der wenigen in der Truppe, die keine Vorbehalte gegen Kevins Vergangenheit hatte, setzte sich zu ihm an den Tisch. "Du siehst aus, als hättest du gestern das komplette Nachtleben von Köln auf links gezogen.", meinte er mit einem Lachen im Gesicht, und begann zu essen. Christian war breit wie ein Schrank, und äusserlich der typische GSG9-Mann. Seine Haare hatte er an den Seiten abrasiert und trug einen typsichen amerikanischen GI-Schnitt, trug gerne hautenge T-Shirts, die seinen muskulösen Oberkörper besonders zur Geltung brachten. Doch trotz seinem, für manche primitiv wirkenden Auftretens hatte Christian enorm was im Kopf, war in Einsatztaktik der Beste der Truppe, und würde bei der GSG9 eine große Karriere vor sich haben. "Ja, so fühle ich mich auch.", meinte Kevin kurz angebunden und schaffte es doch ein paar Kartoffeln hinunter zu würgen.


    Christian war ein schneller Esser und in Windeseile hatte er bereits die Hälfte seines Tellers leer. Robert Kowalke, der Typ der Gruppe, der Kevin vermutlich am meisten verabscheute, kam an dem Tisch der beiden vorbei. "Na, Peters... bist du dir sicher, nachher am Selbstverteidigungstraining teilnehmen zu wollen. Nicht dass wir noch den Doktor rufen müssen." Dabei lachte er scheckig, dass ihm fast sein Teller vom Tablett rutschte. Kevin sah ihn nur mit unbewegtem Blick von der Seite an, und meinte mit gelangweilter Stimme: "Dich stoß ich auch nach Feierabend noch aus dem Anzug." Es klang wie ein lustiger Spruch, die Tonlage glich eher einer ernst zu nehmenden Drohung. "Tja... Disziplin kann man von einem Typ, der auf der Straße aufgewachsen ist, eben nicht verlangen.", versuchte der, ebenfalls recht muskulös gebaute Kowalke Kevin zu provozieren, der jedoch auf ein verbales Scharmützel weder Motivation, noch Lust verspürte. Das bemerkte auch Christian, der sich an Kowalke wandte: "Komm schon, Robert. Setz dich auf den Arsch, iss deine drei Brocken und halt hier nicht den Verkehr auf." Aus Christians Mund klang es nicht wie eine Drohung, sondern wie eine vernünftige Schlichtung der Diskussion. Der Muskelprotz war, nicht nur aufgrund seiner Erscheinung, sondern vor allem aufgrund seines Wesens bei allen geschätzt. Man wollte es sich mit ihm nicht verderben, und so drollte sich auch Robert mit seinem Tablett.
    "Keiner, mit dem Mann abends ein Bierchen zusammentrinken würde, was?", meinte der GSG9-Schüler grinsend zu seinem grimmig dreinblickenden Kollegen, der bei den Worten "Bier" und "trinken" am liebsten wieder auf der Toilette verschwinden wollte. "Ganz und gar nicht.", meinte er kurz angebunden, und dachte daran, wann er das letzte Mal mit Semir und Ben ein Bier trinken war. Es war definitiv schon zu lange her...


    "Du bist nicht so glücklich hier.", meinte Christian dann nach einer Weile, als er das Gefühl hatte, dass nicht nur die letzte Alkoholnacht Schuld an Kevins mieser Stimmung war. Er schien ein feines Gespür für die Stimmung eines Menschen zu haben, denn er hatte ganz recht... Kevin war hier nicht glücklich. Es gab soviele Möglichkeiten, als guter Polizist bei der Polizei in eine interessante Abteilung zu kommen, doch nach der Sache im Knast war Kevin in echten Nöten, wieder Anschluß im Polizeidienst zu finden. Zur Autobahnpolizei wollte er nicht, wegen Jenny... was er im Nachhinein bereute. Und jetzt, wo mit Jenny alles geklärt war, und die beiden sogar zusammen waren, erst recht. Bienert hatte ihm einen Platz im Drogendezernat angeboten, doch hier befürchtete der ehemalige Dealer zuviel Kontakt zu Ex-Freunden und noch bestehenden Freunden in der Szene. Wechseldienst kam für ihn ganz und gar nicht in Frage, und in der Mordkommission hatte er ebenfalls keinerlei Freunde mehr, noch dazu würde er auf seinen ungeliebten Ex-Partner Plotz treffen.
    Bei der GSG9 kannte ihn niemand, und hier hatte er sich eine Art Flucht erhofft. Er hatte sich ein Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe erhofft, das sich nicht einstellte, denn die Knast-Geschichte hatte sich in der kompletten Polizei herumgesprochen, genauso wie das interne Ermittlungsverfahren gegen ihn... und es gab nur wenige, die keine Vorbehalte hatten. "Das hast du gut bemerkt.", antwortete er auf Christians Feststellung. "Dann solltest du nicht hierbleiben. Dieser Job ist der härteste, der dir bei der Polizei begegnen kann, und dafür musst du leben. Versteh mich nicht falsch, Kevin. Du bist ein klasse Polizist, ein 1A-Karatekämpfer und wärst in der GSG9 sicher ein sehr guter Mann. Aber du musst nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen dabei sein." Er unterbrach seine Rede kurz, bevor er mit dem Tablett in der Hand aufstand. "Und das bist du nicht." Kevin konnte nichts anderes, als ihm zu zu stimmen. Sein Herz war in der Tat woanders.


    Es ging ihm nicht unbedingt besser, während er in der Umkleidekabine seine Sporthose und ein kurzärmeliges Shirt anzog. In der Turnhalle wärmten sie sich auf, dass ihnen sofort der Schweiß aus den Haaren rann. Dann wurden mehrere Stunden verschiedene Kampfportarten trainiert, vom Boxen über Karate, zu Kung-Fu. Auf jeden erdenklichen Angriff musste man eine entsprechende Antwort parat haben, wurden sie von Eisen-Kasper instruiert, der einen erfahrenen Boxer und einen erfahrenen Karate-Kämpfer zur Unterstützung dabei hatte. Kevin war eher aus der Puste als sonst, aber immerhin waren seine Reflexe von dem Restalkohol im Blut nicht alzu beeinträchtigt.
    "Okay. Stellt euch auf zu den Karate-Zweikämpfen. Die Tritte und Schläge werden nur angedeutet, es gibt keinen Kontakt.", rief Kasper mit seiner sonoren Stimme durch die Turnhalle. Dann gab er die Paare bekannt, die sich gegenüber stellten... am Ende stellte er Kevin und Robert zu einem Zweikampf zusammen. Kevins Gegner grinste, bevor er ihm beinahe überfreundlich die Hand reichte, die Kevin mit einem arroganten Blick verweigerte. Sofort gefror Roberts grinsende Miene. Kevin war niemand, der Gemeinheiten schnell vergaß und gute Miene zum bösen Spiel machte. Eine Abneigung ließ er andere mehr als deutlich spüren. Die beiden begannen mit verschiedenen Tritten und Schlägen, schlugen aber nie so weit, dass sie den anderen verletzten. Als Karate-Kämpfer konnte man dies gut abschätzen, die Faust kurz vor der Nase zu stoppen. Der junge Polizist hatte beinahe vergessen, dass es der ungeliebte Kotzbrocken der Truppe war, der ihm gegenüber stand, so konzentriert war er, als Robert einen Schlag in Richtung der Magengrube von Kevin voll durchzog, und dem Polizist der Atem wegblieb. Sofort gaben Kevins Beine nach, und er krümmte sich vor Schmerz auf der Matte, sofort kam die Übelkeit zurück, die er schon den ganzen Morgen bekämpfte. Robert machte ein erschrockenes Gesicht und beugte sich sofort runter zu Kevin: "Oh scheisse... tut mir leid, Mann. Das war keine Absicht." Er wurde von Kevin, der das gespielte Mitleid sofort erkannte, weggeschubst, wobei er danach entschuldigend die Hände hob. Eisen-Kasper sah die Szene, und grinste in sich hinein, ohne einzugreifen.


    Kevin rappelte sich langsam wieder auf, presste eine Hand auf die schmerzende Stelle, und sah sein Gegenüber an. Der streckte Kevin die Faust, als nochmalige Entschuldigung hin, wobei er gleichzeitig grinsend fragte: "Oder soll ich doch den Doktor rufen." Eine Anspielung auf seine Provokation aus der Mittagspause, was Erklärung genug war, dass der Schlag nicht unabsichtlich passiert ist. Als wolle Kevin die Entschuldigung annehmen, berührte er mit der rechten Faust die Faust von Robert, um gleichzeitig mit Links einen Schlag gegen dessen Gesicht zu landen. Seine Faust landete krachend an Roberts Wange, der sofort zurücktaumelte und der junge Polizist ging sofort nach. Einen rechten Schlag auf die Leber konnte der Fiesling aufgrund seiner Benommenheit nicht mehr abwehren, und beugte sich, schmerzensgekrümmt nach vorne. Bevor Christian, der das ganze aus der Nähe, weil er direkt neben den beiden trainierte, eingreifen konnte, zog Kevin dem vor ihm nach vorne gekrümmten Robert das Knie unters Kinn, was diesen endgültig und im Gesicht blutüberströmt zu Boden gehen ließ.
    "Bist du bescheuert?", fuhr Christian Kevin an und packte den jungen Polizisten sofort an den Armen, um ihn von Robert wegzuziehen, aus Angst dass er nochmal zuschlagen würde. Doch das hatte der Polizist gar nicht vor, und er ging ein paar Schritte zurück. Erst Christians Ruf hatte alle anderen Polizisten dazu bewogen, sich zu der Szene zu drehen, und auch jetzt erst bekam Kasper mit, was geschah, denn er hatte sich gerade zwei anderen Schülern zugewandt. Er drängte sich zu dem Schauplatz, wo Robert keuchend und Blut spuckend versuchte, sich aufzusetzen. "Was ist hier los? Was soll das, Peters?", schrie er wütend. Kevin hob die Arme, wobei ihm Roberts Blut von einem Handrücken lief. "Das war keine Absicht.", meinte er mit seiner montonen Stimme, genau wie Robert vorher, und sein Blick auf den stöhnenden Kerl am Boden drückte Gleichgültigkeit aus. Er spürte immer noch Christians stahlharten Blick am Arm, und erntete von diesem einen vorwurfsvollen Blick. "Los, ab unter die Dusche! Wir sprechen uns noch, Peters.", wütete der Ausbilder, und der Muskelprotz lies Kevins Arm los, der sich kommentarlos die Hand an der Sporthose abwischte, und sich in die Umkleidekabine verdrückte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Wohngebiet - 13:30 Uhr


    Die Stimmung im Dienstwagen von Ben und Semir war nicht unbedingt die beste, nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatten, und Ben den Mercedes in Richtung des Wohngebietes steuerte, in dem die Lauers wohnten. Sie sprachen nur die nötigsten Sätze miteinander, man konnte als Aussenstehender fast das Gefühl haben, dass die beiden Krach miteinander hätten, was natürlich nicht der Fall war. Aber Semir fühlte sich nicht besonders gut in seiner Haut, als solle sich ein größeres Unheil androhen, und er es bereits vorspüren. Ben warf immer mal wieder einen Seitenblick auf seinen Partner, es war ungewohnt in so einer Stille und Ernsthaftigkeit zu arbeiten, wo beide doch immer recht locker zueinander waren und immer einen lustigen Spruch auf den Lippen.
    Der Polizist lenkte den grauen Mercedes zu der Grundschule, und hatte sich die Route zu Neles Adresse in das Navi einprogrammiert. Nun fuhren sie langsam die Strecke ab, die komplett in einem kleinen Vorort von Köln lag, direkt an der Autobahn. Immer waren Häuser in der Nähe, nie hätte das Kind auf dieser direkten Route durch ein längeres einsames Waldstück oder Teil einer Landstraße gehen müssen. Die Gangster mussten skrupellos und eiskalt zugeschlagen haben, blitzschnell ohne dass es jemand mitbekommen hatte. Sicherlich hatte das LKA bereits alle Nachbarn auf Auffälligkeiten befragt, sicherlich hatten die auch schon Neles Weg zur Schule genauestens untersucht. Doch die beiden Autobahnpolizisten spürten, dass sie irgendetwas tun mussten, sie konnten nicht einfach zur Tagesordnung übergeben.


    Plötzlich hielt Ben an. Auf der rechten Seite der Straße war, vielleicht gerade mal 100 Meter eine kleine Waldfläche an der Straße entlang. Dahinter lag direkt die Autobahn, man konnte durch dieses kleine Wäldchen durchspazieren und stand direkt hinter der Leitplanke. In 10 Minuten hatte man diese Baumgruppe durchschritten, gegenüber standen allerdings immer noch Häuser. "Was hälst du davon?", meinte Ben und zeigte mit dem Finger in das kleine Waldstück hinein, das auf dieser Seite die Wohnsiedlung quasi unterbrach. Die Autobahn machte hier einen kleinen Schwenk zum Wohngebiet, und offenbar wollte man niemandem zumuten, den Garten direkt an der Lärmschutzwand zu haben. "Hmm... da könnte man zumindest ein Auto hinstellen und ein Kind schnell von der Straße zerren.", meinte Semir nachdenklich. Sein Partner drehte den Schlüssel des Autos um, um den Motor abzuschalten und beide Freunde stiegen aus.
    Sie überquerten die Straße und verschwanden dann schnell in dem kleinen Wäldchen. Der Boden des Feldweges, der einmal quer durch den Wald führte, war bereits von Blättern durch den gestrigen Sturm übersät, einige Äste lagen herum und über den Köprfen der beiden Polizisten rauschten die bunten Bäume im immer noch steifen Wind, der vor allem Bens Haare durcheinander brachte, die er mit der rechten Hand mehrmals zu bändigen versuchte. "Wird langsam Zeit für ein Haargummi, hmm?", meinte Semir, während sie den Weg abgingen und die Augen offen hielten. Ben war froh, mal wieder etwas Lustiges aus Semirs Mund zu hören und konterte mit: "Das ist der Neid der Besitzlosen." Sie spähten auf den Weg, versuchten irgendwelche Hinweise wie Reifenspuren, weggeworfenen Zigarettenkippen oder sonstige Dinge zu finden... doch nichts, was in irgendeiner Art und Weise verdächtig erschien, kam ihnen vor die Augen.


    Der Wald war reine Natur, und je weiter sie sich von der kleinen Ortsstraße entfernten, desto lauter konnten sie die Autobahn hören und allmählich auch sehen. Sie kamen tatsächlich bis an die Leitplanke der Fahrtspur heran. "Sie könnten das Auto auch hier am Seitenstreifen abgestellt haben.", rief Ben gegen den Verkehrslärm, während Semir die Leitplanke abging. Aber auch hier waren keinerlei verdächtige Spuren zu sehen, bis etwas gelbes, plastikähnliches aus dem grünen Gras herausstach. Der ältere Polizist der beiden bückte sich, und beförderte tatsächlich ein gelbes Plastikschild mit einer schwarzen 2 darauf hervor. Es hatte einen Winkel, damit es schräg auf dem Boden stehen konnte. "Wir sind nicht die Ersten, die hier suchen.", rief er laut und hielt es nach oben, damit auch Ben den Fund begutachten konnte. Ohne Zweifel war es eines der Markierungsschilder, die der Suchtrupp der KTU benutze um Beweisstücke auf dem Boden zu markieren, Fotos davon zu schiessen, bevor sie eingesammelt wurden. "Haben die das hier vergessen, oder was?", fragte Ben, als er näher bei seinem Freund war, und das Schild in die Hand nahm. Es war nicht verwittert oder besonders alt, es konnte also noch nicht lange hier liegen. "Scheinbar haben sie ja zumindest etwas gefunden... als war unsere Vermutung mit dem Wald nicht ganz falsch. Lass uns zurückgehen."
    Auch bei dem Rückweg klebten die Augen der beiden Polizisten auf dem Boden, sie gingen nicht auf dem Weg, sondern quer durch die Bäume. Doch wenn die Entführer Nele wirklich auf dem Gehweg abgepasst hatten und hier in den Wald geschleppt hatten, dann wären sie kaum abseits des Weges gelaufen, soviel war den beiden klar. Und der Feldweg war zu fest, von den Bäumen vor starkem Regen geschützt, als dass sich dort wirklich hätten Fußspuren finden lassen können. Ausserdem ging hier auch sicher mal der ein oder andere Bewohner der Wohnsiedlung mit seinem Hund Gassi.


    Semir war nicht niedergeschlagen, als sie aus dem Wald wieder ans Sonnenlicht, das sich mal ausnahmsweise durch die graue Wolkendecke gebrochen hatte, zurückkehrten. Er spürte, dass er diese Jagd, diese Ermittlungen betrieb, weil er Angst hatte. Angst davor, ähnliches zu erleben, Angst um seine Kinder... eigentlich eine Angst, die tagtäglich herrschen musste, und die er niemals so intensiv gespürt hatte. Sie war jetzt so intensiv, weil er das Schicksal dieser Eltern und der Kinder im Krankenhaus hautnah gesehen hatte. Ihm war klar, dass er damit Schluß machen musste, dass ihn diese Gedanken mehr ängstigten, als dass sie ihn therapierten.
    "Na komm... machen wir wieder unsere Arbeit.", meinte er zu Ben, als sie wieder ins Auto einstiegen. Er wurde von seinem jüngeren Kollegen etwas irritiert angesehen. "Was meinst du?" "Na, auf die Piste. Zeit für unsere Runde." Bens Augen bewegten sich etwas unsicher hin und her, hatte er doch den Eindruck dass gerade Semir besessen davon war, diese Ermittlungen an sich zu reißen, gegen den Befehl der Chefin, gegen die Anweisungen des LKAs... eben weil er sich durch seine Töchter so betroffen fühlte. So ganz wurde er auch der Meinung seines Freundes nicht ganz schlau, und das spürte Semir auch. "Wir sind keine Superbullen. Wer weiß, welche Erkenntnisse das LKA schon hat. Lass die ihren Job tun, wir tun unseren." Ben lenkte den Mercedes wieder auf die Straße und nahm die Route in Richtung Autobahn auf. "Okay... aber eben hatte sich das noch ganz anders angehört.", sagte er vorsichtig ohne zu Semir herüber zu schauen. "Ja, ich hab mich von der Situation etwas vereinnahmen lassen. Aber als ich jetzt das Schild gefunden habe wurde mir klar, dass wir doch hier nach etwas suchen, was das LKA vielleicht längst gefunden hat. Ausserdem...", meinte er und lächelte zu Ben, was eher aufgesetzt war, als dass es ein ehrliches Lächeln war: "... wir dürfen nicht immer denken, dass wir alles besser können als andere Abteilungen." Sein Freund wiegte mit einer Schnute den Kopf hin und her, wobei er kurz nickte. "Okay, dann kümmern wir uns wieder um unsere bösen Buben."


    Freilich, besser fühlte sich Semir keinesfalls. Aber er war abgelenkt irgendwann, durch seine Arbeit. Sie hielten einen Raser an, der beinahe mehrere Verkehrsunfälle verursacht hatte und stellten fest, dass dieser sowohl unter Alkohol- als auch unter Drogeneinfluss stand. Er wurde aufs Revier verfrachtet und dort von Kollegen der Drogenfahndung am späteren Mittag abgeholt.
    Ben war gerade zur Toilette, Andrea bereits nicht mehr im Büro, als Semirs Handy klingelte. Auf dem Display erschien das Anruferbild seiner Frau Andrea, und der erfahrene Kommissar konnte nicht sagen, warum er plötzlich und unweigerlich ein beklemmendes Gefühl in den Magen bekam. Diese Beklemmung entwickelt sich zu einem Stechen, als er die zitternde, beinahe aufgelöste Stimme seiner Frau am Hörer hörte. "Semir...?", fragte sie leise, noch bevor er sich melden konnte, und der Kommissar spürte, wie es ihm heiß und kalt den Rücken herunterlief. "Andrea... was ist los?" Die Worte, die Semir nun von seiner Frau vernahm, wollten ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Obwohl sie nicht automatisch etwas Schlimmes bedeuteten, so öffneten sie doch Tor und Tür für jeden erdenklichen Alptraum, der Semir in den letzten 24 Stunden über den Weg gelaufen war. Ihm wurde schwindelig, er musste sich setzen. "Ayda ist nach der Schule nicht nach Hause gekommen..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienststelle - 16:00 Uhr


    Semir versuchte zunächst, einfach nur zu funktionieren. Die Panik, die Angst, der Horror, der in ihm aufkam zu unterdrücken. Er musste als Familienoberhaupt, als erfahrener Polizist, den kühlen Kopf bewahren, den er hatte, wenn er auch als Polizist in dieser Situation mit Fremden arbeitete. Er versuchte am Telefon Andrea zu beruhigen. "Was meinst du damit? Hast du sie nicht abgeholt?" Die Stimme seiner Frau zitterte, wie ihr ganzer Körper, und sie drückte das schnurlose Haustelefon so fest an ihr Ohr, als ob sie Angst hatte, jemand würde sie belauschen. "Ich... ich habe eine Lehrerin getroffen, als ich an der Schule wartete. Sie hat gesagt, dass Aydas Klasse eine Stunde früher Schluß hatte, und sie mich nicht auf dem Handy erreichen konnte. Da wäre sie den kurzen Weg zu Fuß gegangen." In Semir taten sich schreckliche Paralellen zu Nele Lauer auf... das konnte doch kein Zufall sein. Beobachteten die Kerle etwa Schulen, und passten Kinder ab, die zu Fuß sich auf den Heimweg machten? Nein, nein, an so etwas durfte er zunächst nicht denken. "Es sind zu Fuß höchstens 15 Minuten bis zu uns nach Hause. Kann es sein, dass sie vielleicht bei Jasmin ist, deren Haus liegt doch auf dem Weg." Der erfahrene Polizist versuchte krampfhaft, seine Stimme ruhig und sachlich zu halten, um Andrea zu beruhigen. Es wäre kontraproduktiv, würde Andrea merken, dass er auch er völlig hippelig wurde. "Dort geht niemand ans Telefon.", sagte Andrea sofort. "Okay, wir fahren dahin. Bleib du am Telefon, falls Ayda doch noch anruft, okay? Danach kommen wir nach Hause.", sagte er und legte auf.
    Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Stimme begann zu zittern nachdem er aufgelegt hatte. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren, und sein Bart wirkte grauer als sonst. "Was ist passiert?", fragte Ben sofort, der das Gespräch natürlich verfolgt hatte, und plötzlich einen Klos im Hals spürte. "Ayda... sie ist nicht nach Hause gekommen.", sagte Semir, und seine Sachlichkeit, mit der er Andrea beruhigen wollte, war wie weggeblasen. "Ach du Scheisse...", murmelte Ben zuerst geschockt, um dann beschwichtigend die Hände zu heben. "Vielleicht... bei einer Freundin?" "Das müssen wir jetzt herausfinden... Los!"


    Die beiden Polizisten schnappten ihre Jacken und liefen durch das Großraumbüro nach draussen auf den Parkplatz. Jenny und die beiden Streifenbeamten Hotte und Dieter sahen ihnen überrascht hinterher, sie hatten gar nichts von einem dringenden Einsatz mitbekommen. Ben drängelte sich draussen an den Autos vor und setzte sich in den Mercedes, denn er hatte ein ungutes Gefühl, Semir in diesem Gefühlschaos ans Steuer zu lassen. Der willigte nur widerwillig ein, denn gerade jetzt wollte er die Kontrolle behalten, wollte er Einfluss darauf nehmen, wie schnell sie von A nach B kamen. Doch da brauchte er sich eigentlich bei Ben keine Sorgen zu machen, denn der erkannte den Ernst der Lage sofort. Und selbstverständlich machte sich der junge Polizist mit den wuscheligen Haaren selbst große Sorgen um "seine kleine Maus", wie er Ayda immer liebevoll nannte, war er doch schließlich sowas wie der Onkel der beiden Kinder.
    Im Eiltempo wechselten die beiden Autobahnpolizisten die Kölner Vororte und hielten vor einem anderthalb stöckigen Einfamilienhaus mit kleinem Vorgarten. Es lag in Semirs Wohnviertel, denn hier wohnte Aydas Freundin Jasmin, wo sie häufig zum Spielen hinging. Die beiden Männer stiegen aus und hetzten an die Tür, wo Semir sofort Dauerfeuer gab. "Reiß nicht die Klingel ab, Semir.", meinte Ben, der zwar die Hektik und Aufgeregtheit seines Freundes nachvollziehen konnte, aber gerade deshalb auch selbst versuchte, klaren Kopf zu bewahren. Würden sie jetzt beide völlig durchdrehen, würde ihnen das überhaupt nicht helfen. In solchen Situationen bewunderte er manchmal seinen Freund Kevin, der in manchen Situationen, wo manch einer durchdrehte zumindest nach Außen hin eine absolute Ruhe und Gelassenheit vermittelte, und damit auch seine Mitmenschen in seiner Umgebung dazu brachte, eher ruhig zu bleiben. Doch alles klingeln war umsonst, im Haus blieb es still, und in der Einfahrt vor der Einzelgarage parkte auch kein Wagen. "Verdammt nochmal...", meinte Semir mit zusammengepressten Lippen.


    Doch diesmal schien ihnen das Glück zu helfen, denn gerade fuhr ein dunkelblauer Kastenwagen an der Einfahrt vor. Zora Unger, die Mutter von Jasmin und das Mädchen selbst saßen im Auto und blickten den Polizisten überrascht an. "Semir, was machst du denn hier?", fragte die Frau, mit feuerrot gefärbten Haaren, als sie gerade aus dem Wagen ausstieg. Der erfahrene Kommissar versuchte seine Aufgeregtheit so gut es ging zu überspielen, als er die Treppen herunterging und zu Zora in die Einfahrt kam. "Zora, gut dass du kommst. Ayda ist nicht von der Schule nach Hause gekommen, und wir suchen sie gerade." Sein Blick fiel auf die kleine Jasmin, die im Vergleich zu Ayda einen guten halbe Kopf größer war, als Semirs Tochter. "Jasmin... bist du heute mit Ayda nach der Schule nach Hause gegangen?" Das Mädchen nickte, und Semir war erleichtert und noch verängstigter zugleich. "Wir hatten eine Stunde früher Schluß, und sind zusammen hier her. Von hier ist sie dann alleine weiter. Sie konnte ihre Mutter auf dem Handy nicht erreichen.", plauderte das Mädchen. Von hier bis zu Semirs Haus waren es vielleicht nur noch 5 Minuten zu Fuß. Das einzige, was noch auf dem Weg lag, war ein kleiner Park mit einem Spielplatz. "Semir, reg dich doch nicht so auf. Vielleicht ist sie noch zu einer anderen Freundin... so klein ist Ayda doch nun nicht mehr, dass sie sich verlaufen würde.", meinte die junge Mutter und erkannte scheinbar Semirs Aufgeregtheit. Der Polizist konnte ihr die sachliche Sichtweise nicht verübeln, denn in den Medien war so gut wie nichts über die Komakinder bekannt. Dass innerhalb kurzer Zeit zwei Kinder bei angeblichen Unfällen ins Koma gefallen sind assozierte niemand mit einem Verbrechen. Wäre die unheimliche Serie der Kindesentführung in den Medien ein Thema, würde Zora die Sache sicher nicht zu locker sehen.
    Semir bedankte sich bei den Frauen und meinte selbst, dass sich wohl alles ganz harmlos aufklären lassen würde. Es kostete ihn viel Überwindung, ruhig zu bleiben, und die beiden Polizisten zogen wieder ab. "Von der Schule bis hier ist also alles gut gegangen.", meinte er dann, als er wieder mit Ben im Auto saß. "Hat sie noch Freundinnen in dem Wohngebiet, zu denen sie kann." Semir nickte, schränkte aber sofort ein: "Ines, aber die sind heute schon in Urlaub geflogen, weil nächste Woche Herbstferien sind. Ayda weiß das." Damit schied diese Möglichkeit aus.


    Semir wies Ben den Weg zu dem kleinen Park, der mitten in der Wohnsiedlung lag. Ayda ging dort oft mit ihrer Freundin hin, auf den Spielplatz zum Toben, zum Fahhrad fahren oder einfach nur zum Spazierengehen. Auch mit Lilly und ihren Eltern war sie öfters da. Es war zumindest ein wenig abseits der Häuser, und man war eher ungestört, als mitten auf der Straße. Ben ließ den Wagen auf dem Bürgersteig zur Seite des Parks ausrollen. "Ben, wir müssen den ganzen Park da durchkämmen. Groß ist das nicht, irgendwas müssen wir finden." Sein Partner nickte wie selbstverständlich und meinte: "Kein Problem, auf gehts." Widerworte gab es jetzt nicht, und Ben würde sich vollends dem fügen, was Semir nun anordnete, auch wenn er natürlich einige Sachen kritisch hinterfragen würde. Gebückt und wie Spürhunde mit der Nase am Boden, durchschritten sie die Wege in dem kleinen Park, gingen zwischen den Bäumen hin und her und gelangten schließlich zum Spielplatz. Der Spielplatz war, anders als der Park, mit weichem feinen Sand ausgelegt. In diesem Sand fiel Ben sofort etwas auf, als er nahe der Schaukel stand. "Semir... schau mal hier." Sofort kam der kleine Polizist angelaufen, und blieb bei Ben stehen, der auf den Boden bei der Schaukel deutete. Die klare Kuhle unter der Schaukel war zu sehen, an der der Sand dunkler und hart zusammengepresst war, wo die Kinder mit den Füßen über den Boden streiften. Dahinter war der Sand weicher und heller... doch es waren ganz klar mehrere Verwerfungen zu sehen, dunkler unterer Sand, der an die Oberfläche geworfen würde. "Siehst du... als hätte hier irgendeine Bewegung stattgefunden. Und da ist nicht nur jemand vorbei gelaufen. Das sieht aus, als hätte hier jemand gerauft, unkontrollierte Bewegungen gemacht." Semirs Herz klopfte fest gegen seine Brust, in seinem Kopf tauchten Horrorbilder davon auf, dass seine Tochter nichts ahnend und rücklings von der Schaukel gekidnappt wurde. Er blickte starr auf die Verwerfungen im Sand, und konnte keine Antwort geben, denn es war, als würde sich die Welt vor seinem inneren Auge zu drehen beginnen. "Semir?", hörte er Bens Stimme ganz weit weg, und spürte nur schwach dessen Hand an seinem Oberarm.


    Die Welt stand plötzlich still, als er in den Verwerfungen etwas entdeckte. Der Polizist fiel in dem Sand auf die Knie und begann einiges an Gestein zur Seite zu schieben, um das ans Tageslicht zu befördern, was er gerade entdeckt hatte. Als er es in den Händen hielt, und von allen Seiten betrachtete, begann er zu zittern. Sein Herz wollte zerspringen, als er die kleine Haarspange entdeckte, die eindeutig Ayda gehörte, denn Semir kannte sie. Er hatte sie ihr selbst aus der Türkei mitgebracht, als er dort vor einigen Jahren mit Ben zusammen war. "Oh mein Gott...", hörte er sich selbst flüstern. Ben stand schräg hinter ihm, und konnte erkennen, was sein Freund in der Hand hielt. Es war unnötig zu fragen, ob die Haarspange Ayda gehörte, denn sonst würde Semir nicht so reagieren. Der junge Polizist fühlte sich schrecklich hilflos für einen Moment und wusste nicht, welche tröstenden Worte er für seinen Freund finden konnte. Was sagte man in diesem Moment einem Mann, der selbst für andere immer die richtigen Worte fand. Und ausserdem... wie groß war die Möglichkeit, dass Ayda hier war, schaukelte und die Spange verloren hatte? Aber die ganzen Verwerfungen im Sand? Und warum ist sie nicht nach Hause gegangen...
    Es war eigenartig, Semir im Sand knien zu sehen, wie hypnotisiert auf die Haarspange zu starren, und den großgewachsenen Ben daneben. Irgendwann griff der seinem Freund unter die Arme, und versuchte ihn wieder hoch zu ziehen. "Komm Semir. Wir müssen zu dir nach Hause fahren. Wenn sie Ayda entführt haben, dann rufen sie bei dir an, und dann musst du da sein." Das überzeugte den Polizisten, der sich von Ben wieder auf die Beine heben ließ und mit ihm zum Auto zurückging. Die Spange hielt er dabei wie ein Kind fest an die Brust gedrückt, wobei er sein Herz deutlich spüren konnte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

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    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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  • Verlassenes Krankenhaus - 1 Stunde früher


    War er verrückt? Nein, das war er wahrlich nicht. Andere würden das glauben, doch er war überzeugt davon, das Richtige zu tun. Auf dem Weg zu einer besseren Welt, musste es Opfer geben. Kein Krieg, der einem Land eine bessere Zukunft versprach, verlief ohne Opfer. Keine Revolution, die die Diktatur beendete verlief ohne Blutvergießen. Doch er spielte keinen Krieg... er half der Menschheit, davon war er überzeugt. Seine Gedanken drifteten ab, als er über den unzähligen Aufzeichnungen auf dem Schreibtisch vor ihm brütete, mit komplizierten Formeln und Aufzeichnungen. Vor ihm standen Glaskolben, ein Mikroskop und andere Apparaturen, die er sich für viel Geld gekauft hatte, und somit in diesem halb verfallenen, seit Jahren verlassenen Krankenhaus am Stadtrand sich ein Labor eingerichtet hatte.
    Ohja, er war ein kluger Kopf gewesen, im Labor für Medizinforschung. Studienbester, Lehrgangsbester... die besten Vorraussetzungen, eine große Karriere zu machen. Wenn, ja wenn ihm nicht dieser verdammte Ideallismus im Weg gestanden hätte, der ihn zum Kriminellen werden ließ... nein, er war kein Krimineller. Sofort schüttelte er bei diesem abstrusen Gedanken den Kopf. Diese Kinder waren Mittel zum Zweck. Um der Menschheit zu helfen, war Geld nötig... Forschungen kosten Geld, Apparaturen, Medikamente... alles kostete Geld. Doch er war nah dran, den Durchbruch zu schaffen, glaubte er und lächelte still in sich hinein. Dieses Medikament würde die Medizin revolutionieren, es würde eine ganze Volkskrankheit in Europa, auf der Welt, ausrotten. Er fuhr sich über seinen grauen Mittelscheitel, die Haare fielen ihm immer wieder vor die Brille auf seiner Nase. Ja, diese Forschungen mussten finanziert werden. Und dafür war die Entführung reicher Kinder nötig.


    Er wusste, dass Eltern alles für ihre Kinder tun würden. Niemand wäre so töricht, die Polizei zu informieren, wenn sie selbst das Geld haben, um eine Viertel-Million zu bezahlen. Für ihn, als Mediziner war es ein leichtes, die Kinder "ruhig zu stellen", und damit ein optimales Druckmittel zu haben. Ein selbst entwickeltes Medikament, mit dem man Menschen in einen komatösen Zustand versetzen kann. Die Dosierung bestimmte den Schweregrad des Komas, und deren, leider immer noch nicht vorausschauenden Folgen. Würde man nach einer gewissen Zeit wieder aufwachen? Trug man Schädigungen davon? Starb man vermutlich daran? Er hatte lediglich Tests angestellt, die ihm genügten. Die Kinder, die starben, waren Kolleteralschäden, in seinen Augen. Was waren schon 3 oder 4 Kinder gegen Millionen von Menschen, die er hätte retten können.
    Johannes Reuter hatte längst den klaren Blick über sein Handeln verloren. Manchmal wusste er das, es gab Momente in denen er sich in seinem Labor verkroch und die Sinnlosigkeit seines Vorhabens greifbar vor sich sah. Doch die meiste Zeit, so wie jetzt, war er von sich selbst überzeugt, das Richtige zu tun. In seinen theoretischen Forschungen hatte er den goldenen Schlüssel gefunden... die endgültige Krebsheilung. Keine schmerzhafte, anstrengende Chemo-Therapie war mehr nötig, niemand musste mehr unter unmenschlichen Schmerzen und Unwohlsein leiden, niemand musste mehr die Haare verlieren, um dann in vielen Fällen trotzdem den Kampf zu verlieren. Es wäre ein großer Schritt, in der Geschichte der Menschheit gewesen, doch er kämpfte gegen einen mächtigen Gegner. Die Pharmaindustrie, die jährlich Millionen Gewinne an Krebsmedikamenten verbuchte... und noch viel mehr Gewinne an Medikamente, die die Nebenwirkungen der Chemotherapie behandelten. Ein einzelnes Medikamente würde unglaubliche Verluste für die Hersteller üblicher Krebs-Medikamente bedeuten, und man lehnte seine Theorien unter fadenscheinigen Gründen ab. Reuter, ein krankhafter Idealist, sah sich aber dazu berufen, die Menschheit von dem Joch des Krebses zu befreien um Millionen von Menschen das Leben zu retten.


    Nach einem Brandanschlag auf ein Hauptbüro der Pharmaindustrie saß Reuter im Gefängnis. Dort lernte er den Kidnapper Cablonsky kennen, den er für seinen teuflischen Plan gewinnen konnte. Nur ein paar Entführungen von reichen Kindern, und er würde gut entlohnt werden, bis Reuter das Medikament hergestellt hatte. Danach wollte er dieses Medikament an todgeweihten Krebspatienten testen, denen man keine Überlebens- und Heilchancen mehr einräumte, um danach mit diesen an die Presse zu treten und der Pharmaindustrie die Pistole auf die Brust zu setzen. "Sehr her, ich kann Krebs ohne Qualen heilen... und die Pharmaindustrie will es verhindern." So sah er seine eigene Schlagzeile. Cablonsky und dessen Freund Zange entführten die Kinder reicher Eltern, von den Lösegeldern bezahlte Reuter die Forschungen.
    Gerade war er tief in einer guten Geistesphase, wie er es selbst nannte, als eine grobe Faust an die blechernde Schwingtür schlug, die diesen Raum von dem Flur abtrennte. Reuter zuckte beinahe etwas zusammen, bevor er sich umdrehte und einen ärgerlichen Zug im Gesicht hatte. "Was ist denn?" Cablonskys heimtückisches Gesicht tauchte mit einem Grinsen durch die Schwingtüre auf und vermeldete, dass man das Kind des türkischen Chiruges aus Köln geschnappt hätte, und in das Haus gebracht hatte. "Gut gemacht, ihr Zwei. Habt ihr Kontaktdaten?" "Na sicher doch. Wir sind doch keine Anfänger.", sagte Cablonsky und warf dem Mediziner Aydas bunten Geldbeutel auf den Tisch. Reuter nahm den Geldbeutel in die Hand und klappte ihn auf. Im Beutel war ein Zettel, auf dem ihr Name, die Adresse und die Handynummer von Semir stand, falls sie den Geldbeutel irgendwo verlieren sollte. Das Gesicht von Reuter verfinsterte sich schlagartig. Er war ein ausgezeichneter Mediziner, jedoch konnte er von einem auf den anderen Moment zum Wüterich werden, wenn er dafür Anlaß sah.


    "Ihr Idioten! Ihr bescheuerten Einzeller!", schrie er laut, nahm den Geldbeutel und warf ihn Cablonsky an die Stirn, der zwei Schritte zurückwich. "Was ist denn jetzt kaputt?" "Ihr habt das falsche Mädchen entführt. Die Tochter des Chirugen heißt nicht Ayda Gerkhan, sondern Nesrin Gerkhan." Cablonsky wurde bleich... so etwas war ihm noch nie passiert. "Aber Chef... sie... sie war in dem Wohnviertel, und in der Schule. Die Informationen unseres Mannes war noch nie falsch. Das hat alles gepasst, auch das Aussehen.", stotterte er. Der Kidnapper unterhielt Kontakt zu einem Computerhacker, der in kürzester Zeit jede Information über eine Familie aus dem Netz ziehen konnte, die es gab. So konnte man eine günstige Gelegenheit zur Entführung perfekt abpassen. "Na super.", knurrte Reuter und hob abwertend die Hand. "Fakt ist, dass das die Falsche ist. Für sie wird uns der Arzt nichts bezahlen." Knurrend drehte er sich zu seinen Formeln.
    Cablonsky sah ein wenig verärgert drein, er mochte es nicht, wenn man so mit ihm umging. Aber der Mediziner bezahlte gut, und so nahm er es hin. Er rieb sich die Stirn und konnte sich noch genau daran erinnern, wie der Typ ihn damals im Knast angesprochen hatte. Er hatte ihm von einer Vision erzählt, den Krebs besiegen und so weiter... Cablonsky hatte da schon nicht mehr hingehört. Interessant wurde es erst, als es ums Geld ging, da war er in seinem Element. Die Hintergründe dieses komischen Weißkittels interessierten ihn nicht... auch nicht, warum er die Kinder ins Koma spritzte. "Kinder sind besser zu entführen als Erwachsene.", hatte er mal gesagt, und damit hatte er recht, musste Cablonsky zugeben. Erwachsene wehrten sich mehr, Erwachsene konnten sich kleine Details, wie die Aussprache und Klang der Stimme besser merken als verängstigte eingeschüchterte Kinder.


    "Und... was machen wir jetzt?", fragte Cablonsky etwas vorsichtig vom Rücken des Mediziners aus, der sich wieder zu seinem, gezwungenermaßen, Geschäftspartner umdrehte. "Du hast die Adresse, eine Handynummer und den Namen des Kindes. Dein Hacker soll alles über die Familie herausbekommen... und dann sehen wir weiter. Wenn du nicht gerade das Kind eines Arbeitslosen entführt hast, können wir ja vielleicht doch noch etwas Geld machen. Und die drei anderen Kinder in dem Haus, für die bereitest du spätestens in drei Tagen auch die Geldübergabe vor. Ich hatte die junge Tochter der Gerkhans nur wegen des möglichen hohen Lösegeldes vorgezogen, aber nicht gedacht dass ihr die Falsche entführt, ihr Flaschen." Cablonsky zog, mit einem Handy in der Hand, murrend ab. An den Wänden des Krankenhauses hing der Putz in Streifen ab, kein Strom funktionierte hier, weswegen der Mediziner nur tagsüber, oder mit Taschenlampe arbeitete. Er ließ seinen Ärger verrauchen, als er sich wieder den Formeln widmete... den Formeln, die der Menschheit ein besseres leben bieten sollten.

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