Drive-by

  • Semir blickte auf Andrés breiten Rücken, der angespannt war, während er den felsigen Weg durch das kanarische Ödland sprintete. Es kam ihm vor, als würden seine Lungen zerbersten, so heftig und schnell atmete er, als der Polizist seinen Freund verfolgte. "Verdammt nochmal, bleib endlich stehen, André!", schrie er laut, die Hand fest um seine silberne Waffe geklammert, den Schweiß auf der hohen Stirn stehend. André hörte nicht, blickte sich nicht einmal um, sondern lief auf den unbefestigten Pfad weiter hinauf, an Kakteen und Trockensträuchern vobrei. Der Polizist hinter ihm biss die Zähne zusammen, nahm all seine Kraft auf und lief schneller, holte aber einfach nicht auf seinen ehemaligen Partner auf, der sportlich immer noch eine Ecke besser drauf war als Semir selbst. Erst als er sah, dass sich zwei Gestalten André in den Weg stellten, und dessen Lauf langsamer wurde, kam Semir näher, laut pumpend. Er blickte auf und sah, wie die beiden Männer ihre Waffen auf André gerichtet hielten, und Semir ebenfalls seine Waffe in Richtung seines Partners erhob. In den Gestalten erkannte er Ben und Kevin, und atmete hörbar auf.


    André stand auf dem Schotterweg und atmete ebenfalls schwer. Er blickte in die Öffnungen zweier Pistolen, gehalten von Semirs Partner Ben und Andrés ehemaligen Schützling Kevin. "Werf die Waffe weg, André.", rief Semir laut und er fühlte wie seine Hand zitterte... vor Anstrengung des Laufens, vor Aufregung dass es so weit gekommen war, dass er seine Waffe auf seinen ehemaligen Freund richten musste. "Bitte...", setzte er beinahe flehentlich dahinter, denn er wusste, dass er nicht abdrücken können würde. Er blickte auf seine beiden Freunde, die André gegenüber standen, während Ben ein wenig schneller atmete und seinen typisch ernsten Blick auf dem Gesicht hatte, die Haare vom Wind ein wenig zerzaust, schaute Kevin beinahe unbeeindruckt, unbeteiligt, mit wachen blauen Augen und ausdrucksloser Miene seinen ehemaligen Mentor an. André hielt die Arme gesenkt, in der rechten Hand hielt er den silbernen Trommelrevolver aus Mallorca, den er von Andrea bekommen hatte, und mit dem Kevin Ben das Leben rettete.
    Schritt für Schritt kam Semir langsam näher an André heran, doch dann stockte ihm der Atem... als André plötzlich den Arm mit der Waffe erhob, und zwei schnelle Schüsse in Richtung Kevin und Ben abfeuerte, die so schnell nicht reagieren konnten. Semir hatte das Gefühl, als würde man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen, als er sah, wie seine beiden Freunde langsam zusammensackten und ihm staubigen Geröll auf dem Rücken liegen blieben. "Oh Gott... oh Gott...", stammelte der erfahrene Polizist, unfähig sich zu bewegen als er realisierte dass André gerade seinen besten Freund Ben und Kevin erschossen hatte.


    Wie in Zeitlupe drehte André sich zu Semir um, die Waffe immer noch ausgestreckt und auf den Polizisten gerichtet, die Gesichtszüge um seinen unrasierten Mund geradezu eingefroren, mit kalten, harten Augen. Die beiden ehemaligen Freunde standen vielleicht 3 Meter voneinander entfernt und der kleine Kommissar war schockiert über den eiskalten Gesichtsausdruck im Gesicht seines ehemaligen Partners. Wie in Zeitlupe schüttelte er den Kopf. "Das bist nicht du, André!", rief er entsetzt, noch entsetzter als er sah dass Ben und Kevin sich nicht mehr rührten. Obwohl er es eigentlich nicht wollte, hob sich sein Arm mit der Waffe in der Hand nach oben, gerichtet auf seinen Freund, der ebenfalls mit der Mündung mittlerweile auf Semir zeigte. Beide standen sich gegenüber, gegenseitiges Bedrohen, und doch könnten die Gesichtsausdrücke nicht unterschiedlicher sein. Dort wo bei Semir Verzweiflung und Entsetzen standen, herrschte bei André Eiseskälte. "Pass auf dich auf, Semir.", sagte André die gleichen Worte, die er seinem ehemaligen Partner beim Abschied aus der PAST gesagt hatten... doch in diesem Moment klangen sie wie Spott und Hohn, und Semir spürte wie ihm schlecht und schwindelig wurde. André hatte seine Freunde erschossen, und wollte nun das Unfassbare tun, denn er hatte seine Waffe gegen ihn erhoben... ohne dass Semir es wollte, löste sich sein Schuss aus der Pistole...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 9:00 Uhr


    Ben hatte einen Arm auf die Kante am Fahrerfenster gestützt, während die rechte Hand ruhig auf dem Lenkrad ruhte. Mit gemächlichen Tempo summte der BMW die Autobahn entlang, als der Polizist auf der ersten Streife des Tages war, nachdem er Semir heute morgen zum Flughafen gebracht hatte. Die beiden hatten sich im Frieden getrennt, Ben war nicht sauer auf seinen langjährigen Freund, der nicht direkt mit der Sprache rausrückte, dass er zu André auf die Kanaren fliegen würde um diesen endlich mit den belastenden Fotos zu konfrontieren. Einerseits wäre er gerne selbst auch mit dabei gewesen, andererseits verstand er seinen Partner auch irgendwo.
    Seine Frau Andrea und die Kinder waren auch mit dabei, wollten die Gerkhans auf diesem Wege doch auch ihren Jahresurlaub machen. Semirs Frau hatte ihrem Mann versprochen, sich notfalls auch allein um die Kinder zu kümmern, sollte er selbst sich mit André beschäftigen und darum war Semir seiner Frau sehr dankbar. Darüber dachte Ben nach, schaute kurz mal in die Wolken, als würde er Semirs Flugzeug irgendwo erkennen, doch ihr Flieger ging schon vor 2 Stunden und dürfte sich bereits irgendwo über Spanien oder dem Atlantik befinden.
    Das krächzende Geräusch des Funkgerätes riss Ben aus seinen Gedanken. "Zentrale für Cobra 11", meldete sich Bonraths bekannte Stimme. Er und sein Kollege Hotte würden Andrea's Sekretärjob mit vertreten. "Cobra 11 hört, Frau Bonrath.", meldete sich Ben grinsend, und konnte beinahe hören wie der lange Polizist die Augen verdrehte. "Mir ist nicht zu Scherzen zumute. Auf dem Rastplatz "Tilsit" wurden Schüsse abgegeben. Der Täter ist schon geflohen, aber offenbar sind mehrere Menschen verletzt. RTW hab ich schon hingeschickt." Sofort wurde der Polizist ernst und schaltete sein Blaulicht in der Frontscheibe an. "Verstanden, ich bin unterwegs.", gab er zurück und trat aufs Gas. "Achja, nochwas...", meldete sich die Stimme von Bonrath über Funk. "Die Chefin schickt dir Semirs Vertretung auch gleich zum Rastplatz." "Vertretung für Semir? Wer soll das denn sein? Hotte?" Bonrath grinste ins Funkgerät. "Warts doch einfach ab. Ende und aus." Ben verzog die Lippen zu einer schnippischen Grimasse, während er sich auf der Überholspur die Bahn frei hupte. Einige Verkehrsteilnehmer fuhren nur zögerlich zur Seite, so dass der Autobahnpolizist mehrfach abbremsen musste, bis er den Parkplatz erreichte.


    Erleichtert stellte er fest, dass bereits der Rettungswagen und ein Notarzt vor Ort war. Eine Menschentraube von 10-15 Leuten hatte sich gebildet, ein Sanitäter lief aufgeregt hin und her, als Ben sich näherte und von weiten hörte er bereits weitere Martinshörner. "Gehen sie mal nen Schritt zurück... Hallo, lass mich mal durch da." Mit Händen und Ellbogen bahnte sich Ben den Weg frei und sah die Bescherung, die ihm ein wenig die Kehle zu zog. Am Boden versuchte der Notarzt verzweifelt mit verschiedenen Materialien die Blutung von zwei Schusswunden im Bauch eines älteren Mannes, der zitternd am Boden lag, zu stoppen. Neben ihm lag eine Frau im gleichen Alter, die Augen weit aufgerissen. Um sie kümmerte sich niemand, den offenbar konnte man ihr nicht mehr helfen. Unter ihr hatte sich eine Blutlache gebildet, und ihre Kleider waren im Bereich der Brust ebenfalls feucht-rot. Ein Getuschel ging durch die Leute, die Ben nun mit einer mehr als eindeutigen Handbewegung weiter zurückdrängte, damit die Schaulustigen was anderes anstieren sollten. Etwas abseits saß eine jüngere, laut weinend, beinahe schreiende Frau, die von einem anderen Rettungssanitäter den Arm verbunden bekam. Ob sie nun vor Schmerzen weinte, oder einfach völlig geschockt war, konnte Ben natürlich nicht sagen, jedenfalls erkannte er, dass der erfahrene ältere Sanitäter sie anscheinend absichtlich so hingesetzt hatte, dass sie nicht die Szenen der Rettung des Mannes mitansehen musste.
    Dieser wurde jetzt mit aller Eile auf eine Trage gelegt und zum Krankenwagen gerollt. Glücklicherweise war die nächste Klinik nur eine Ausfahrt entfernt, weswegen der Notarzt und RTW so schnell am Einsatzort waren, während Ben am anderen Ende der Autobahn sich befand.


    Ein zweiter RWT kam um die Ecke gebraust, bremste und zwei Sanitäter kümmerten sich sofort um die leblose Frau. Puls fühlen, ein Kopfschütteln. Ein weiterer Streifenwagen, der angekommen war, forderte bereits ein Bestattungsunternehmen an. "Was ist mit ihr?", fragte Ben den Sanitäter, der nun der völlig fertigen Frau auf die Beine half. "Streifschuss. Aber ihre Eltern hat es schlimmer erwischt.", sagte er leise, und seine Stimme vermengte sich mit dem heftigen Schluchzen. "Können sie mir sagen, was passiert ist?", fragte der Polizist, nun an die Frau gerichtet, doch der Sanitäter ging sofort dazwischen. "Die Frau ist völlig am Ende. Lassen sie sie, ich bin Notfallseelsorger. Eine Aussge werden sie jetzt eh nicht bekommen.", wimmelte er den Polizisten ab und bewegte sich mit der zitternden, schluchzenden Frau zum Rettungswagen. Ben blieb stehen und atmete erstmal durch. Schüsse auf Rasthöfen hatten sie ja schon öfters, aber wer hatte denn hier mit einem Massaker gerechnet. Noch dazu war er gerade allein. Er sah sich um zu den Leuten, die bereits von den uniformierten Beamten weggeschoben wurden, abgedrängt von der Frauenleiche, die mittlerweile verdeckt war.
    Ben bewegte sich zu der Gruppe hin und rief laut: "Also, wer von ihnen kann mir erzählen was hier passiert ist?" Sofort hörte er ein lautes Stimmengewirr, einzelne Wörter wie "plötzlich, Auto, Fenster" konnte er verstehen. Erneut hob er die Arme und rief: "MOMENT! Einer nach dem anderen." Das Stimmengewirr verstummte, und ein Mann, der ein kleines Kind an der Hand hielt, erhob als erstes wieder die Stimme, und niemand kam ihm zuvor. "Es ging alles ganz schnell. Ein Auto fuhr bei der Familie vorbei, und plötzlich fielen Schüsse. Mehrere, bestimmt 5 oder 6 Stück. Ich sah nur, wie der Wagen wieder verschwunden ist.", sagte er aufgeregt und zeigte mit dem Finger offenbar den Fahrtweg des Wagens. "Haben sie das Kennzeichen erkannt?" "Nein... darauf hab ich in dem Moment gar nicht geachtet. Wir waren erschrocken." "Hat sonst irgendjemand das Kennzeichen sich gemerkt?", fragte der Polizist dann lauter in die Runde, und wurde wieder von einem Stimmengewirr überhäuft, dass aber eher negativ klang. "DANKE!", rief er laut um die Meute wieder zu beruhigen. "Autotyp, Farbe?", fragte er dann den Mann direkt, bevor wieder alle durcheinander plapperten. "Es war ein dunkelblauer 4er BMW. Das neue Modell." "Ach, das haben sie so schnell erkannt, aber das Kennzeichen nicht?", fragte Ben sarkastisch und legte den Kopf ein wenig schief. "Es stimmt ja auch nicht.", meldete sich eine andere männliche Stimme, ein wenig seitlich von Ben. "Es war ein 5er. Und er war auch nicht dunkelblau, sondern schwarz." Nun entrüstete sich der andere Mann: "Sie haben nicht nur keine Ahnung von Autos, sie sind auch noch farbenblind.", rief er erbost in Richtung des etwas kleiner gewachsenen Mannes, und Ben schüttelte verzweifelt den Kopf. "Es war ein 4er, genau der gleiche mit dem der Polizist eben vorgefahren ist.", beharrte er und zeigte mit dem Finger auf Ben's silbernen BMW, so dass die gesamte Personengruppe, inklusive Ben, sich zu dessen Dienstwagen umdrehte. "Mit Verlaub, guter Mann.", sagte der Polizist, bereits reichlich entnervt... "aber das ist ein 3er." Mit verdutztem, stummen Blick starrten beide Männer Bens Wagen an, als hätten sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen 3er BMW gesehen.


    "Also einigen wir uns auf einen dunkelblau bis schwarzen 3er bis 5er BMW, von dem sie das Kennzeichen nicht wissen.", fasste Ben nochmal zusammen und erntete zustimmendes Murmeln. "Kann jemand vielleicht die Person beschreiben?", fragte er dann zögernd, als hätte er Angst vor den nächsten widersprüchlichen Aussagen. Die Leute schauten sich fragend an und einer nach dem anderen schüttelte den Kopf. "Der Wagen hatte ja gar nicht richtig Halt gemacht... der rollte vorbei, es hat geknallt, dann gab es Gas.", sagte eine Frau, die ein wenig bleich um die Nasenspitze war. Ben nickte, er würde wohl nicht mehr erfahren. Er bedankte sich und sah im Augenwinkel, wie der schwarze Mercedes des Bestattungsunternehmens anrollte, um die Leiche der Frau zur Pathologie zu bringen.
    Er selbst ging zu seinem Wagen und gab über Funk an Bonrath durch, dass er eine Fahndung rausgeben soll. "Dunkelblau bis schwarzer BMW...", begann er und wurde von Bonrath sofort unterbrochen. "Wie... dunkelblau bis schwarz?" "Die Experten sind sich noch nicht so ganz einig.", gab der junge Polizist entnervt zurück. "Weiter." "3er bis 5er BMW, Kennzeichen unbekannt..." Erneut unterbrach ihn die Stimme des langen Polizeiobermeisters. "Was ist denn bitte ein 3er bis 5er BMW? Wie sollen wir denn da fahnden?" "Mensch Bonrath, mach doch deine Probleme nicht zu meinen. Geb das durch und fertig, mehr hab ich nicht.", sagte er ungehalten, und blickte herüber als er bemerkte, dass sein grauer Mercedes neben ihm Halt machte, und Semirs Vertretung ausstieg.

    Wenn Engel hassen

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  • Raststätte - 9:30 Uhr


    Ben staunte nicht schlecht als Kevin aus dem Benz ausstieg, der gerade neben ihm hielt und ihn lächelnd begrüßte. Sie hatten sich in den letzten Wochen öfters mal gesehen, der Polizist wusste dass sein Freund wieder in den Polizeidienst zurückkehren wollte... und offenbar war er bei der Autobahnpolizei gelandet. "Du?", fragte er erstaunt als sie sich die Hände schütteln. "Ist das so verwunderlich?", fragte Kevin mit seinen prägnant, manchmal gelangweilt klingenden Stimme, woraufhin Ben den Kopf schüttelte. "Nein... aber... ich hätte nicht gedacht dass der Chefin nochmal in den Sinn kommt, dich für uns arbeiten zu lassen. Nachdem was passiert ist." Anna Engelhardt, die langjährige Chefin der Autobahnpolizei war nicht sonderlich gut auf den jungen Kevin Peters zu sprechen gewesen, nachdem der ein Gangster-Trio eine zeitlang geschützt hatte, weil er sich zu einem jungen Mädchen hingezogen fühlte. Letztendlich hatte er sich aber richtig entschieden, doch Jessy ließ ihn gedanklich immer noch nicht los. Einmal in der Woche besuchte Kevin das Mädchen im Gefängnis und kehrte jedesmal mit schlechter Laune wieder zurück, weil sie sich anschwiegen... doch er ging jede Woche, mittlerweile 4mal hin, weil er spürte dass Jessy es nicht missfiel... schließlich wurde sie nicht gezwungen, den Besuch anzunehmen. "Naja... war nicht ganz freiwillig.", meinte der junge Polizist, während sie gemeinsam zum Tatort gingen, wo bereits einige Kollegen der KTU in ihren weißen Overalls herumschwirrten, Beweisstücke suchten und erste Blicke auf die Leiche geworfen wurden. Ben sah seinen Partner etwas fragend an, bevor der weitersprach: "Anscheiend hat sie ein offizielles Gesuch gestellt für einen Kollegen für zwei Wochen. Naja, und Innenministerium hat mich dann übermittelt, weil ich schon mal hier war. Begeistert war sie darüber nicht." Ben blickte nachdenklich... also hatte die Chefin Kevin gar nicht angefordert, sondern war im Prinzip eher dagegen, dass er nochmal für Cobra 11 in den Dienst ging. Es enttäuschte ihn etwas. "Aber hey. Ich kanns ihr nicht verübeln.", meinte sein Nebenmann, als sie bei der Leiche ankamen. Semirs Freund hatte aber den Eindruck, dass der kürzliche Umzug und die Rückkehr in regulären Dienst Kevin sehr gut getan hatte. Seine Augen waren wach, er lächelte öfters als sonst und er sprach... das war bei Kevin immer ein gutes Zeichen.


    Dr. Volker Meisner, Chefarzt der Patholgie, begrüßte die beiden Polizisten mit einem Lächeln. "Hallo Kevin, hallo Ben." Kevin kannte er von dessen Zeit aus der Mordkommission. "Bist du gewechselt?", fragte der ältere Mann, der sein angegrautes mittellanges Haar immer gescheitelt trug, oft gute Laune hatte und manchmal einen derben Scherz auf den Lippen... musste mit seiner Arbeit zusammenhängen. "Kurzfristig.", meinte Kevin kurz und warf einen Blick auf die Frau. "Also... zwei Einschüsse, einer ging durch, der andere blieb stecken. Vermutlich wurde die Lunge und das Herz getroffen und sie war recht schnell tot. Schussentfernung von ungefähr 2-3 Meter", er warf einen Blick zur Fahrspur, die über den Rastplatz führte "...könnte hinkommen." "Das sieht noch recht frisch aus.", murmelte Kevin, als er die Frau im Gesicht näher betrachtete und bemerkte, dass das Blut noch eine recht rote Farbe hatte. "Jo, ist ja auch eben erst passiert.", merkte sein Partner an und erzählte, dass es zwei weitere Verletzte gab. "Sieht nach einem klassischen Drive-By-Shooting aus.", sagte Meisner, während er sich weitere Notizen machte. "Drive was?", fragte der Polizist mit dem schwarzen Wuschelkopf verwirrt, und der Chefarzt blickte ein wenig missbilligend auf. "Hast du noch nie Dr. Mabuse von 1933 gesehen?", fragte er grinsend, und Ben konterte ebenso grinsend: "Ne, zu der Zeit hatte ich noch keinen Fernseher." Meisner seufzte auf und verdrehte die Augen zum Himmel: "Banause. Also ein Drive-By-Shooting ist eine Attentatsmethode aus den 20er Jahren. Wurde vor allem bei der Mafia oft genutzt in Amerika. Das Opfer wird aus einem fahrenden Auto heraus erschossen. Schnell und einfach, der Mörder kann direkt fliehen, bleibt meist unerkannt." Jetzt war es Ben, der ein wenig missbilligend schaute. "Und das ist jetzt was gnadenlos Neues. Weißt du, wie oft WIR schon aus fahrenden Autos beschossen worden sind?" Kevin musste grinsen bei dem kleinen Wortgeplänkel zwischen Ben und Volker Meisner, während er neben der Frau kniete und auf das Thema zurückkommen wollte. "Wissen wir denn wer die Tote ist?" "Ja, das hab ich in ihrer Handtasche gefunden.", bekam er zur Antwort und einen durchsichtigen Beutel überreicht, in der ein Personalausweis und ein Führerschein lag. "Margarethe Bauer. Kirchstraße 3", murmelte er, als er angestrengt durch die Hülle sah. "Mehr kann ich erst nach der Obduktion sagen... Kugelart und so weiter.", schloß Meisner ab und wandte sich wieder der Leiche zu. Die beiden Polizisten nickten und kehrten zu den Autos zurück.


    "Keine Hinweise auf das Auto, auf die Person... da bleibt wohl nichts anderes als erst mal beim Opfer anzufangen.", sagte Ben in Kevins Richtung, der sich eine Zigarette anzündetete und nickend zustimmte. "Muss ja einen Grund haben, dass auf die ganze Familie geschossen wird. Vielleicht hat sich Herr oder Frau Bauer mit Leuten angelegt, mit denen man sich besser nicht anlegen sollte.", meinte der junge Polizist und nahm einen tiefen Zug aus dem Glimmstengel. "Fahren wir ins Krankenhaus und schauen mal, ob wir nicht doch schon mit der Tochter reden können." Der Mann strich sich einmal durch die langen Haare, die immer mal etwas im Gesicht hingen und streckte die Hand zu Kevin aus. "Komm, ich will mein Auto wieder haben.", lachte er und beide tauschten den Schlüssel. Kevin nahm dann in Semirs BMW Platz, und Ben in seinem Mercedes, bevor sie sich hintereinander auf den Weg zum Krankenhaus machten.

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  • Flugzeug - 9:45 Uhr


    Ein leichtes Rucken hatte Semir aufgeweckt, das konstante Brummen des Ferienfliegers, der gerade das Festland von Spanien überquerte drang an sein Ohr. "Bist du erschrocken, Schatz?", hörte er neben sich die Stimme seiner Frau Andrea, die auf der andere Seite des Durchgangs saß. "Nein, nein...", gab er zur Antwort und blickte sich um. Seine kleine Tochter Lilly hing neben ihm im Flugzeugstuhl, angeschnallt und tief schlafend, den Kopf auf seinen rechten Oberschenkel gelegt. Ayda saß neben Andrea und spielte an Semirs Handy herum. Angst kannte das kleine Mädchen nicht, und sie sah vom Bildschirm nicht auf, als das Flugzeug sich weiter bewegte, und die Stewardess leichte Turbulenzen ankündigte. "Komm, schnall dich an.", forderte Andrea ihre ältere Tochter auf, die nur widerwillig das Handy für einige Minuten bei Seite legte.
    Semir sah aus den kleinen Fenster an Lilly vorbei nach draussen, sah den blauen Himmel und die Wolkendecke unter ihnen, bis er wieder Andreas Stimme vernahm. "Du hast unruhig geschlafen. Ist alles okay?" Er bewegte den Kopf leicht zur Seite und lächelte: "Ja... schon. Ich mach mir ein wenig Gedanken." "Um André, hmm?", erriet seine Frau richtig, denn sie kannte ihren Mann lange genug um zu wissen, was in seinem Kopf vorging. Semir nickte mit zusammengepressten Lippen, ihm lag es schwer im Magen André mit den Fotos zu konfrontieren, und am liebsten würde er es so weit hinauszögern wie möglich. Er spürte die Hand seiner Frau über den Gang greifend auf seiner eigenen, die auf der Armlehne ruhte und über die Seinige strich, das Lächeln seiner Frau beruhigte ihn ein wenig und er spürte diese tiefe Verbundenheit. Andrea wusste genau um die Gedanken Bescheid, auch für sie war die Situation emotional. Sie kannte André schließlich genauso lange wie Semir, hatte ebenfalls mit ihm zusammen gearbeitet, hatte getrauert als er verschwand und war überrascht, als er wieder auftauchte. Und sie wusste Bescheid über die Fotos, die zeigten wie André einen Mann erschoss, jedoch wusste Semir nichts davon, dass Andrea Bescheid wusste. Ben hatte es ihr im Geheimen verraten, nachdem das Verhältnis zwischen den beiden Polizisten an Semirs Konflikt zu leiden begann, und schließlich hatte Andrea ihren Mann auch zu diesem Urlaub überredet, um André wieder zu sehen... in der Hoffnung, dass Semir die Sache hinter sich bringen würde. Sie selbst könnte allerdings nicht entscheiden... André verhaften, oder doch laufen lassen? Seine Erklärung abwarten? Zum Glück musste die zweifache Mutter diese Frage nicht beantworten, auch wenn sie ihrem Mann natürlich beistehen würde.


    Das Flugzeug begann ein wenig zu rütteln, das Geräusch des Windes und der Turbinen wurden lauter. Lilly schlief immer noch tiefenentspannt, Ayda nach wie vor in das Handyspiel vertieft. Für die beiden Eltern ein entspannter Flug. "Der Urlaub wird sicher erholend, und das hast du dir gerade nach den letzten Monaten verdient.", sagte Andrea lächelnd, während Semir nickte. Für wahr, das hatte er sich verdient. Viele anstrengede Fälle mit einer Menge Überstunden lag hinter ihm, dazu diese beinahe traumatisierende Situation im Keller des Fabrikgeländes, wo er mit ansehen musste wie Kevin unter Drogen gesetzt wurde und eine psychische Folter über sich ergegen lassen musste. Erstaunlich, wie schnell sich sein junger Kollege wieder gefangen hatte, auch wenn er bei dem nächsten Fall ins Visier der internen Ermittler geraten ist, was Ben und Semir in Zusammenarbeit mit Anna Engelhardt noch abwenden konnten, auch wenn Letztere dies eher unwillig getan hatte. "Wer arbeitet jetzt eigentlich mit Ben, während du weg bist?", fragte Andrea dann einige Zeit später und Semir zuckte unwissend mit den Schultern. "Ich weiß nicht genau... Bonrath vielleicht.", sagte er und lachte dann kurz auf. Er hatte selbst mal mit Bonrath zusammengearbeitet, und wusste dass das manchmal Nerven kosten konnte.



    Krankenhaus - 10:00 Uhr


    Am Empfang des Krankenhauses erkundigten sich die beiden Polizisten nach der Notaufnahme und dem Notarzt, der bei dem Einsatz auf dem Rastplatz dabei war, und bekamen dementsprechend Auskunft. Über zwei lange Flure gelangten sie dann in die Notaufnahme, wo sie sahen dass ein junger Mann auf einem der zahlreichen Stühle saß, und sich angeregt mit dem Arzt unterhielt, den die beiden wieder erkannten. "Tschuldigung. Sie waren doch der Notarzt eben am Rastplatz?", unterbrach Ben die Unterhaltung und zeigte, wie auch sein Partner Kevin, den Dienstausweis vor. Die Arzt blickte zu beiden auf: "Ja bitte?" "Können wir die junge Frau schon vernehmen?" "Das wird noch nicht möglich sein. Sie steht unter Schock und wir mussten ihr starke Beruhigungsmittel geben." Ben nickte und verzog die Lippen ein wenig. "Was ist mit dem Mann? Wird er durchkommen?", fragte Kevin dann, der ein wenig hinter Ben stand. "Herr Bauer ist im Krankenwagen verstorben, das tut mir leid.", sagte der Arzt und die Mienen der Kommissare verfinsterte sich. Ein Doppelmord, das war schon harter Tobak. "Und wer sind sie, wenn ich fragen darf?", sprach Kevin den jungen Mann auf dem Stuhl an, der recht blass um die Nase aussah. "Ich... ich bin der Lebensgefährte von Anna... also, Anna Bauer." "Der junge Frau, die am Arm getroffen wurde.", half der Notarzt den beiden Polizisten auf die Sprünge, die sofort das kleine Puzzle zusammensetzten, dass es hier wohl eine komplette Familie erwischt hatte. "Können wir uns kurz unterhalten?", fragte Ben und setzte sich neben den blassen jungen Mann, der ein wenig nach vorne gebückt auf dem Stuhl saß, und offenbar noch nicht zu seiner Freundin ins Zimmer durfte. Er nickte zögerlich, und der Notarzt verabschiedete sich bei dem Geräusch seines Piepers. "Wir haben alles besprochen, Herr Gussek. Ich muss wieder."


    Kevin lehnte sich an die gegenüberliegende Wand und wollte erstmal Ben das Feld überlassen. Verhöre mit Angehörigen der Opfer waren nicht unbedingt seine Stärke, auch wenn er auch einfühlsam sein konnte wirkte er oft emotionslos auf andere Menschen. "Sie sind der Lebensgefährte von Frau Bauer? Wie ist eigentlich ihr Name?", fragte Ben nochmal und erhielt ein Nicken sowie den Namen "Kai Gussek". "Wissen sie was Herr und Frau Bauer arbeiten?" Der junge Mann dachte kurz nach. "Herr Bauer ist Geschäftsführer einer größeren Elektrofirma." Er wurde kurz darauf von Kevin unterbrochen. "Der Bauer von Bauer Electronics?" Wieder ein Nicken des jungen Mannes. "Ja... er hat die Firma von seinem Vater übernommen und expandiert. Seine Frau hat arbeitet nicht. Sie ist..." Er stockte kurz: "Sie war Hausfrau." Ben, der neben dem Mann saß schaute ihm von der Seite ins Gesicht um die Reaktionen zu beobachten. "Haben sie mal etwas mitbekommen von Konkurrenz, Problemen, Drohungen?" Die Augen des jungen Mannes blickten immer wieder zwischen dem stoisch ruhig blickenden Kevin und der weißen Wand hin und her. "Nein. Herr Bauer hat selten über seine Arbeit geredet, wenn ich bei Anna war.", sagte er mit leicht zitternder Stimme, versuchte sich aber dennoch zusammen zu reißen. "Anna hat auch nichts gesagt?", hakte der Polizist mit dem Wuschelkopf nochmal nach. "Nein... nichts.", versicherte der Mann und sowohl Kevin als auch Ben fanden dass er recht glaubwürdig erschien. Der junge Polizist, der an der Wand lehnte, hatte zwar die Frage nach dem Alibi von Gussek selbst auf der Zunge, doch er schluckte sie herunter, fand er sie doch jetzt so früh noch für unangebracht. Ben signalisierte seinem Kollegen, dass sie erstmal hier nichts weiter rausbekommen würden, und wohl warten mussten, bis Anna Bauer wieder aufgewacht war, und den Schock über den Verlust der Eltern erstmal verdaut hatte. Sie bedankten sich, Ben hinterließ bei Kai noch eine Visitenkarte und der Bitte, sich zu melden, sobald Anna sich im Stande sah, etwas zu dem Vorfall zu sagen.


    Als die Polizisten das Krankenhaus verließen und zu ihren Dienstwagen gingen, blieb Kevin kurz an der Fahrertür stehen. "Du, ich muss nochmal für ne Stunde oder so weg. Fährst du schon mal zur Dienststelle?", sagte er und blickte Ben an. "Ja, alles klar. Kein Ding. Ich versuch mal was über die Elektronikfirma rauszubekommen.", sagte der, auch wenn sein Gehirn sofort einen unwiderstehlichen Drang danach hatte, zu wissen wo Kevin hin wollte. Er konnte gar nicht sagen warum er diesen Drang hatte, doch sein Instinkt flüsterte ihm zu, dass es etwas sei was Ben nicht unbedingt wissen sollte. Semir zb sagte immer gleich, wo er hin musste, was einkaufen, zum Amt oder irgendwas. "Alles klar, danke.", nickte Kevin ihm zu und ließ sich in den BMW gleiten.

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  • JVA - 10:30


    Die Prozedur kannte Kevin mittlerweile zur Genüge. Anmelden, Wertsachen wie Handys, Schlüssel und Dienstwaffe abgeben, dann mit einem Beamten den langen Flur entlang zum Besucherraum. Kevin kam einmal die Woche hierher und Jessy zu besuchen... das Mädchen, das ihn mit ihren Brüdern zusammen entführt hatte, gefangen hielt und sich mit ihm angefreundet hatte. Nein, angefreundet war das falsche Wort... beide spürten eine innere Verbindung zueinander, sie fühlte sich zu dem jungen unbekannten Mann hingezogen. Erst recht als sie merkten, dass soviel in ihren Leben gleich abgelaufen war. Doch die Situation eskalierte, Semir erschoss einen ihrer Brüder, und als Kevin seinen älteren Kollegen schützen wollte, hätte Jessy ihn erschossen wenn noch eine Kugel in der Waffe gewesen wäre, die sie dem jungen Polizisten gegen das Herz gedrückt hielt.
    Kevin konnte es trotzdem nicht vergessen, nicht verdrängen. Er hatte zwar in seinem Leben einige alte Zöpfe abgeschnitten, nachdem er vor allem aus seiner Plattenbauwohnung ausgezogen ist, aber immer wieder dachte er noch daran, dass Jessy doch seine Hilfe brauchen konnte. Das "Großer Bruder" - Syndrom, das ihn in diese Situation erst gebracht hatte, ließ sich nicht einfach besiegen. Doch er hatte immer wieder das Gefühl, als sässe er einem kaputten Spielzeug gegenüber und sogar der Beamte, der das Pärchen bewachte, sprach Kevin bereits darauf an. Das junge Mädchen sprach nicht mit dem Polizisten, sie sahen sich an, rutschten hin und wieder auf ihren Stühlen, räusperten sich, bis die Besuchszeit, die immer kürzer wurde, vorbei war. Kevin nahm schon gar nicht mehr den Hörer in die Hand, um mit ihr zu sprechen, er wartete auf eine Reaktion von ihr... doch sie nahm das Treffen jedesmal wahr, sie könnte sich ja auch verweigern. Diese Tatsache bestärkte Kevin immer wieder in die JVA zurück zu kehren und ihr nicht das Gefühl zu geben, dass sie allein sei.


    So war es auch heute wieder. Er setzte sich auf den Stuhl, lehnte sich zurück und legte ein Bein über Kreuz auf das andere. Jessy setzte sich im gegenüber, nur die Glasscheibe trennte die beiden. Sie kreuzte die Beine und die Arme ebenso und schaute Kevin an. Ihre Augen wirkten müder als sonst, ihre Haare ein wenig strähnig. Stumm wie die Fische blickten sie sich an, hin und wieder huschten über die Gesichter ein leichtes Lächeln. 'Warum spricht sie nicht mit mir...', dachte sich der junge Polizist immer wieder. Er spürte, dass Jessy froh war, dass er da war... dieses Gefühl beschlich ihn immer wieder, das erste Mal als er in der Hütte im Wald saß, gefesselt und geknebelt. Schon da spürte er es, dass Jessy jedesmal froh war, wenn sie bei ihm in der Nähe war. Sie hasste es alleine zu sein, genau wie der Kommissar selbst, das war etwas, was sie miteinander verband. Die Uhr in dem Gesprächsraum tickte, tickte immer lauter, als wolle sie Kevin daran erinnern dass ihm die Zeit durch die Finger ran. Es war wie ein Prozess mit einem kranken Menschen... an manchen Tagen hatte man den Eindruck, es ging aufwärts, an manchen Tagen dachte man, es ist ein Rückschritt. Heute hatte er ersteres Gefühl, Jessy lächelte öfter als sonst, sie bewegte sich mehr als sonst, als könne sie es schlecht aushalten Kevin anzuschweigen. Aber ihre Hand wollte sich einfach nicht zum Hörer bewegen, um diesen abzuheben und mit dem jungen Mann zu sprechen. Es war für ihn noch mehr entmutigend als sonst, noch enttäuschter war er, als der Kollege Jessy auf die Schulter tippte, um ihr zu signalisieren dass die Besuchszeit vorbei war. Still und bewegungslos schaute er dem Mädchen hinterher, wie sie wieder abgeführt wurde, und hinter einer schweren Eisentür in einem langen Gang verschwand. Sein Blick ging nach unten auf den Boden, und ein Seufzer entfuhr aus seinen Lippen...



    Dienststelle - 11:00 Uhr


    Ben tippte mit schnellen Fingern mehrere Informationen über die Elektronikfirma von Günter Bauer zusammen, telefonierte hier und da, recherchierte und schenkte sich schon den dritten Kaffee ein. Auch Hotte Herzberger, die dickbäuchige älteste Beamte der Dienststelle brachte ihm in einem Ordner noch einige Informationen zu der Familie. Er, sein Kollege Dieter Bonrath und die junge Jennifer Dorn vertraten im Dreier-Akkord Andrea als Sekräterin, Jenny war erst seit einigen Wochen bei der Autobahnpolizei und wechselte sich mit den beiden erfahrenen Kollegen im Streifendienst ab. Sie war von Kevins kurzem Auftreten heute morgen überrascht, hatte sie den jungen Mann hier noch nie gesehen und ihn neugierig gemustert, bevor er mit Bens Dienstwagen zum Rastplatz fuhr.
    Die Chefin hatte bereits kritisch gefragt wo sich Kevin denn herumtrieb, doch Ben hatte sie erstmal erfolgreich abgewimmelt. Es behagte ihm nicht sonderlich, dass Anna Engelhardt, sonst immer loyal zu ihren Mitarbeitern, die Zusammenarbeit mit Kevin gar nicht schmeckte. Er hoffte, dass sein neuer Partner schnell wieder im Revier auftauchte, damit sie in dem Fall des ermordeten Ehepaares schnell weiterkamen.


    Wie auf Kommando tauchte der junge Polizist wieder auf, Ben sah ihn durch die Glasscheibe bereits ins Großraumbüro eintreten und ... "Oh weia... der hat ja prima Laune.", dachte Ben laut, als er Kevins vereisten Gesichtsausdruck sah, wie er mit schnellen Schritten durch das Büro schritt, Hotte an Andreas Platz kurz grüßte und dann die Glastür öffnete. Er ließ sich nur ein kurzes "Hi...", entlocken, bevor er sich auf Semirs Drehstuhl niederließ. "Oha... kommt da der Gute-Laune-Express?", fragte Ben sarkastisch, und ließ seinen Partner missmutig aufblicken, der sofort konterte: "Wer fragt das? Der Dumme-Sprüche-Dampfer?" Der Kommissar mit dem Wuschelkopf kniff ein wenig die Lippen zusammen und wollte gar nicht nach Kevins schlechter Laune fragen. Er hatte sich selbst quasi auferlegt, nachdem er vor kurzem von sich aus gesprochen hatte, seinen jungen Kollegen nicht mehr alzu sehr zu bedrängen. Wenn er reden wollte, sollte er von sich aus reden. Deshalb kam er schnell auf den Fall zurück. "Also ich hab da mal ein bisschen recherchiert. Bauer Electronics ist ein Imperium, kann man sagen. Die fertigen alles, von kleinsten Widerständen bishin zu Mainboards für Millionen-PCs.", erzählte Ben von seinen Online-Ermittlungen. "Bauer hat in den letzten Jahren sowohl nach Asien, als auch nach Südamerika expandiert." "Dann dürfte der Schwiegersohn und die Tochter ganz schön was zu erben haben, oder?", überlegte Kevin laut und seine Miene taute etwas auf. Wie immer konnte er private Gedanken am besten mit Arbeit überdecken, ablenken. "Möglich... aber nur wenn der Kollege Gussek auf Schuldscheine steht... hier." Ben warf Kevin einen Ordner mit einigen Blättern darin herüber, denn der Polizist auffing und einen Blick hineinwarf. "Dass Bauer expandierte ist schon fast 10 Jahre her... und zumindest in Südamerika hat er eine Bauchlandung hingelegt. In Asien lief es auch nicht." Kevins Augen folgten den Buchstaben und Zahlen auf dem Blatt, von oben nach unten. "Der Konzern steht ja kurz vor der Insolvenz...", murmelte er nachdenklich. "Ja... da ist nicht mehr viel übrig.", stimmte ihm Ben zu und fügte an: "Wäre interessant zu wissen, ob der Gussek davon wusste oder nicht." "Aber würde der auf seine eigene Freundin schießen? Aus dem fahrenden Auto, da hätte doch auch jeder Schuss knapp daneben gehen können, und es hätte sich ausgeerbt." Dieser Gedanke galt es zu berücksichtigen, als Kevin ihn ansprach. "Ich glaube eher, dass Bauer sich eine Finanzspritze geholt hat... entweder privat, weil er mit seinem Vermögen haftet, oder für seinen Konzern. Nur eben von den falschen Leuten." Der junge Polizist lehnte sich zurück, Ben verzog die Lippen ein wenig seitlich, eine typische Geste, wenn er scharf nachdachte. "Dann muss dieses Geld ja irgendwo sein... wir hatten uns jetzt nur die Konzern-Konten angesehen.", murmelte er. "Dann schauen wir uns die anderen Konten doch mal genauer an... die privaten. Ausserdem sollten wir vielleicht einen Durchsuchungsbefehl besorgen, für sein Haus und seine Büroräume.", meinte Kevin und stand von seinem Stuhl auf.
    Er beugte sich durch die offene Glastür und lächelte Hotte an, erntete sofort ein Gegenlächeln. Der dicke Polizist konnte sich gut erinnern, wie er vor Monaten auf den damals labilen Kevin einredete, als der blind vor Rache und völlig zerstört vor Schuldgefühlen gegenüber seiner Schwester am PC saß. Hottes Worte hatten Kevin damals sehr geholfen, und das hatte er ihn kurz danach wissen lassen. Er konnte es auch nicht verstehen, dass seine langjährige Chefin solche Vorbehalte gegen den Jungen hatte, auch wenn er natürlich mitbekam, was Kevin in dem Entführungsfall gemacht hatte.


    "Wir bräuchten einen Durchsuchungsbefehl im Haus der Bauers und von Herr Bauers Büroräumen. Wir haben den Verdacht, dass er sich bei den falschen Leuten Geld geliehen hat.", bat Kevin. "Kein Problem, ich rufe sofort bei der Staatsanwaltschaft an.", nickte der erfahrene Polizeiobermeister.
    Hinter Kevin erschien Ben dann und klopfte seinem neuen Partner auf die Schulter. "Wir fahren mal in die Firma, erstmal vorsichtig anklopfen. Vielleicht kann uns ja jemand was erzählen..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Flughafen Las Palmas - 13:00 Uhr


    Der restliche Flug über den Atlantik und einen Teil von Afrika verlief ruhig und ohne Vorkommnisse. Semir schlief nochmal ein und wurde diesmal nicht von Träumen aufgeschreckt, Andrea las weiter in ihrem Buch, das sie sich extra für den Urlaub gekauft hatte. Wenn sie am Pool lagen würde sie sicher viel Gelegenheit haben zu lesen. Ayda war mittlerweile in der Lage auch auf ihre kleine Schwester aufzupassen, auch wenn natürlich einer der beiden Elternteile immer ein Auge auf die Mädchen hatte, vor allem wenn sie am Wasser spielten.
    Jetzt waren die beiden Kleinen aufgeregt, als der Ferienflieger langsam aber sicher in den Sinkflug ging, und man das Meer schon deutlich erkennen konnte. "Papa, was sind die weißen Dinger da auf dem Wasser?", fragte Lilly neugierig, als die beiden Mädchen an dem kleinen Fenster hingen um hinaus zu schauen. "Das sind die Wellen, mein Schatz.", antwortete Semir lächelnd, und er musste zugeben, dass sich doch ein kleines bisschen Urlaubsstimmung einstellte. Man flog über den Atlantik, über ein kleines Stück Strand und eine Autobahn als der Pilot langsam aber sicher den großen Stahlvogel zur Landebahn lenkte. Mit einem leichten Knall setzte er das Flugzeug auf den Asphalt und die Passagiere applaudierten höflich für die gelungene Landung. Geschickt wurde das Flugzeug zum Gate gelenkt, wo es die Turbinen abstellte und die fahrbaren Treppen an die Ausgänge des Fliegers geschoben wurden. "Auf geht's, Kinder.", meinte Semir und seine beiden Töchter ließen sich das nicht zweimal sagen. Beide hatten ihren kleinen Rucksack dabei, Andrea ihre Handtasche und Semir prüfte mit einem kurzen Blick nochmal, ob nichts von den Gerkhans im Flugzeug vergessen wurde.


    Draussen war es warm, aber nicht unangenehm. Eine leichte erfrischene Brise wehte, man konnte bereits erste Palmen sehen und Andrea meinte, dass sie das Meer schon riechen könnte. Die vierköpfige Familie nahm in einem der Busse Platz, die die Passagiere zum Terminal fahren sollten, wo sie dann am Laufband geduldig auf ihr Gepäck warteten. Die beiden Mädchen waren wie aufgedreht, freuten sie sich doch auf den Urlaub, das Toben im Hotelgarten und im Pool. Semir hatte ihnen Tischfussball, Tischtennis, Bogenschießen und Wasserspiele versprochen, nachdem er sich über das Hotel, in dem André als Animateur arbeitete, informiert hatte.
    Der Polizist ergriff die drei großen Koffer, die einträchtig nebeneinander auf dem Band lagen und hob sie auf den Gepäckwagen, den er nun in Richtung Ausgang schob. Normalerweise wurden Hotelgäste mit dem Bus eines Reiseveranstalters zum Hotel gefahren, doch André hatte es sich nicht nehmen lassen mit einem kleinen Bus vom Hotel zu kommen, und seinen ehemaligen Partner selbst vom Flughafen abzuholen. Er erkannte die Familie sofort, als sie durch die Ausgangstür trat und kam näher. "Da seid ihr ja.", begrüßte er sie mit einem Lächeln und seiner markant kratzigen Stimme. Zuerst umarmte er Andrea, gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dabei strich er Lilly und Ayda einmal über den Kopf, bevor er seinem Freund Semir die Hand gab. Auch der begrüßte André mit einem "Hallo", doch er merkte dass es nicht seine kräftige selbstsichere Stimme war, die da sprach. Sein Herz rutschte ihm in die Hose als er André wieder sah, sofort kamen ihm die Bilder in den Kopf, die jetzt ganz unten im Koffer lagen.
    "Hattet ihr keinen guten Flug? Du siehst so blass aus...", meinte André und Semir erschrak innerlich. Sah man ihm seine Verunsicherung und seine Gedanken so sehr an? "Was? Nein, nein... der Flug war okay.", sagte er schnell und lachte. Andrea beobachtete ihren Mann ein wenig sorgenvoll, sie spürte und fühlte seine Verunsicherung ganz genau. Ihr Mann wollte auch schnell von sich selbst ablenken und schaffte so gleich die Koffer zu dem Minibus, von dem André aus gekommen war. Er öffnete den Kofferraum und half seinem Freund. André war braun gebrannt, man merkte dass er schon länger hier war... und er sah wirklich gut erholt aus, verglichen vor einigen Monaten, als er in Deutschland aufgetaucht war. Die Gruppe stieg in den Bus, Andrea mit den Kindern nach hinten, Semir stieg zu André auf den Vordersitz. "Na dann wollen wir mal.", meinte er lächelnd und auch Semir fand sein Lächeln. Er wollte die Bilder erstmal vergessen... erstmal ein bisschen Urlaub machen.


    André fuhr, entgegen seiner Gewohnheit, den Vorschriften entsprechend. Er lenkte den Bus direkt auf die Autobahn, die vom Flughafen nach einer halben Stunde ins Touristengebiet führte. "Ist alles klar bei euch auf der Dienststelle.", fragte er interessiert und sein Freund nickte: "Beim letzten Fall hat uns Kevin wieder geholfen.", antwortete Semir, und erntete einen überraschenden Blick. "Naja, was heißt geholfen.", lachte der kleine Kommissar, "er wurde entführt, und so kamen wir wieder zusammen." André schmunzelte, kannte er doch Kevin und dessen Art. "Da haben sich die Entführer ja gerade den Richigen ausgesucht.",meinte er und Semir nickte. Er würde ihm später genau erzählen, warum der Fall Kevin mitgenommen hatte.
    Die ersten, etwas höher gebauten Hotels schälten sich ins Blickfeld, als der Bus um eine Hügelkette herumfuhr. "Dort hinten ist eine Kartbahn, da können wir mal zusammen hinfahren.", sagte André, als sie zwei Ausfahrten vor der ihrigen vorbeikamen. Dann tauchten sie in das Touristengebiet ein, nahmen die Abfahrt nach Playa del Ingles und erblickten, nachdem sie durch eine Unterführung durchfuhren und in einem Kreisel landeten schon ihr Hotel. Es war, anders als viele andere in diesem Ort, kein Betonklotz, sondern ein, im kanarischen Stil gebauter Komplex, der aus drei dreistöckigen Gebäuden in U-Form bestand, die in der Mitte einen tropischen Garten mit Pool hatten. Ausserdem hatte das Hotel zwei runde Türme. Es hob sich ab von den anderen Hotels in dem Ort, die meist ein mehrstöckiges Gebäude und weniger Garten hatten.
    Der ehemalige Polizist und jetzige Animateur stellte den Bus auf dem Parkplatz gegenüber dem Hotel ab und half Semir beim Ausladen der Koffer.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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  • Dienstwagen - 13:00 Uhr


    Die Fahrt zum großen Firmengelände ausserhalb von Köln verlief recht schweigsam. Kevin war die gute Laune von heute Morgen seit dem Besuch bei Jessy irgendwie abhanden gekommen, und Ben merkte das, denn er bemerkte Kevins ernsten Blick auf die Straße, er bemerkte sein ruckartiges Gasgeben und sein haltloses "Grüner wirds nicht", als der Vordermann nicht in der selben Sekunde Gas gegeben hatte, nachdem die Verkehrsampel auf Grün sprang. Mehrmals blickte der Kommissar mit dem Wuschelkopf seinen neuen Partner von der Seite an, sagte jedoch nichts... die Blicke aber signalisierten deutlich: Spucks endlich aus. "Wenn du ein Bild von meiner rechten Profilhälfte willst, kann Hotte sicher nachher Fotos machen.", merkte Kevin knarzig an, denn er hatte Bens Blicke bemerkt. "Die brauch ich nicht, wenn du mir erzählst, was denn schon wieder los war.", konterte Ben und behielt nun den Blick auf Kevin, der die Augen ein wenig zusammenkniff. Die Sonne brannte vom Himmel, es war sommerlich warm. Ben trug ein kariertes modernes Hemd, bei dem er den oberen Knopf offen ließ. Auch Kevin trug ein Hemd, es war allerdings offen weil er darunter ein ärmelloses Shirt trug. Sie rollten an die nächste Ampel, und beide Polizisten bemerkten durch die Heckscheibe des anderen Autos, wie der Fahrer mit einem Handy am Ohr telefonierte. "Also war der Kaffee heute morgen schlecht?", vermutete Ben und sah seinen Freund herausfordernd an. Die Ampel sprang auf Grün, doch vorne tat sich nichts. "Sag mal...", knurrte Kevin und schlug mit der flachen Hand auf die Hupe, und der klapprige Ford Fiesta bewegte sich von Platz, weiter über eine viel befahrene Stadtstraße, die von Ampeln nur so gesäumt war. "Es ist nichts.", murmelte der Polizist und Ben verdrehte die Augen. Hatte er doch vor kurzem Vertrauen gefasst, sich Ben mit einigen Gefühlen und Gedanken ohne Nachfrage anvertraut, so baute er jetzt wieder seine Mauer des Schweigens um sich herum. Er bemerkte, dass der Blick seines Freundes stur nach vorne ging, kein Umherschauen nach dem weiteren Verkehr. Wieder hielt der Vordermann an einer Ampel, die Polizisten dahinter.


    "Naja, dann werd ich der Chefin, die nach dir gefragt hat, wohl sagen müssen, dass ich nicht weiß, wo du warst.", merkte der junge Polizist mehr als beiläufig an. Kevin seufzte auf, stützte einen Arm aufs Lenkrad um die Stirn in der Hand zu vergraben. "Ich war bei Jessy in der JVA, zufrieden?", sagte er genervt und Ben sah ihn verblüfft, überrascht... ja beinahe erschrocken an, in dem Moment als die nächste Ampel auf Grün sprang, der Vordermann aber nach wie vor am Handy hing. "Jetzt hab ich die Schnauze aber voll.", giftete Kevin, löste seinen Sicherheitsgurt und stieg aus dem Wagen aus. Ben wollte ihn im ersten Moment verbal noch halten, doch beinahe amüsiert lehnte er sich auf dem Beifahrersitz zurück und betrachtete das Schauspiel, wie sein Kollege neben die Fahrertür ging und offenbar vom Fahrer hinter dem offenen Fenster überhaupt nicht bemerkt wurde. Bemerkbar machte sich der junge Polizist, als er mit Wucht auf das Wagendach schlug und sich der Fahrer so sehr erschreckte, dass er vor Schreck das Handy in den Fußraum fallen und den Kopf ruckartig zur Tür drehte. "Sagen sie mal, sind sie...", wollte sich der Fahrer gerade empören, ohne daran zu denken das Handy aufzuheben. Kevin jedoch kam ihm zuvor, beugte sich in den Wagen und zischte: "Wenn du an deinem Führerschein hängst, rate ich dir auch nicht nur eine Zehntelsekunde zu zögern wenn die Ampel das nächste Mal auf Grün springt, verstanden? Und dein Handy bleibt, wo es ist." Ohne zu warten, ob der Fahrer protestierte oder nicht, drehte sich Kevin wieder um und stapfte zurück in den Dienstwagen. Als Ben erkannte, dass der Mann völlig perplex und erschrocken in den Rückspiegel sah, hielt er nur kurz warnend die Polizeikelle nach oben, um zu zeigen, dass Kevin's Wort Gewicht hatte... auch wenn es nicht gerade den Vorschriften entsprach.
    Der junge Polizist ließ sich in den BMW zurückgleiten, und wurde sofort wieder von den Blicken seines Partners durchbohrt. "Du warst bei Jessy im Knast? Warum?" Bens Stimme klang immer noch überrascht, beinahe ein wenig vorwurfsvoll. "Weil ich... denke dass sie jemanden braucht. Damit sie nicht das Gefühl hat, alleine zu sein.", sagte der junge Cop, wenig überzeugend. Ben verzog den Mund zu einer fassungslosen Miene, seine Augenbrauen hoben sich, und sein Kopf wich ein wenig von Kevin zurück: "Hä? Und das musst ausgerechnet du sein? Sie hätte dich er-schos-sen!" Dabei betonte er jede Silbe des Verbes einzeln, und Kevin blieb die Antwort mit zusammengepressten Lippen schuldig. Die Ampel sprang auf Grün, und der Fiesta vor ihnen setzte sich schon in Bewegung, als "Rot" und "Gelb" noch gleichzeitig brannten. Offenbar spürte der Fahrer Kevins Blick im Nacken. "Und warum bist du dann so mies drauf?", hakte Ben weiter nach, jedoch nicht bohrend oder nervend, sondern mit einer gewissen Fürsorge in der Stimme. Der junge Mann neben ihm atmete hörbar aus, bevor er antwortete: "Weil sie immer noch nicht redet." Wieder blickte sein Partner überrascht. "Wie, ihr redet nicht? Was tut ihr dann die ganze Zeit?" "Wir... wir sitzen da und schauen uns an." Ben spürte, dass es Kevin unangenehm war, es zu erzählen, dass sie nicht miteinander sprachen, dass sie einfach stumm füreinander da waren. "Ihr... schaut euch an?" wiederholte er langsam, und sah dann wieder durch die Frontscheibe. So ganz klar war ihm das alles nicht, und er konnte nicht ganz nachvollziehen was bei Kevin im Kopf vor sich ging. "Meine Güte... ich will ihr einfach das Gefühl geben, dass sie nicht alleine ist. Und wenn sie mich nicht sehen wollen würde, dann würde sie es bei den Wärtern ablehnen, in den Besucherraum zu kommen." Ein wenig schüttelte Ben seinen Kopf... er verstand seinen Freund einfach nicht. Wie stark musste so eine Verbindung sein, wenn er sogar darübere hinweg sah, dass Jessy ihn erschossen hätte, wenn noch eine Kugel im Lauf gewesen wäre.


    Einige Minuten schwiegen sich die Männer wieder an. Kevin war in gewisser Weise dankbar darum, er war kein großer Redner. Er mochte es nicht, von sich zu erzählen, schon gar nicht von seinen Gedanken und Gefühlen. Doch Ben wollte unbedingt noch etwas los werden. Er wusste zwar, dass er nicht die Weisheit von Semir hatte, dessen Worte bei Kevin oft sehr viel Anklang fanden, aber er hatte Wörter auf der Seele, die er loswerden wollte. "Niemand kann dir verbieten, Jessy zu besuchen.", meinte er, ohne Kevin anzusehen. "Aber wenn du mich fragst, dann machst du dich daran kaputt. Sie hat ihr Schicksal gewählt, als sie auf dich geschossen hatte. Sie hätte dir die Waffe geben können, und nichts wäre passiert. Vergiss sie, glaub mir, es ist besser für dich." Kevin schwieg, während Ben weitersprach. "Ich kenn dich doch mittlerweile. Wenn du dich in etwas festbeißt, zieht es dich runter." Er erinnerte sich daran, wie schwer Kevin am Tod seiner Schwester zu knabbern hatte, bis der Mörder endlich gefunden war. "Lass sie los... mach dich nicht daran kaputt.", wiederholte er nochmal gebetsmühlenartig. Kevin gab keine direkte Antwort auf Bens Worte, die er jedoch aufmerksam verfolgte. "Sie hat ihr Schicksal nicht selbst gewählt... wenn sie das gekonnt hätte, wäre sie jetzt nicht im Gefängnis." Sondern sie wäre Lehrerin, hätte einen Mann und Kinder... so wie sie es Kevin erzählt hatte, wie sie sich ihre Traumwelt vorstellte. Doch sie wuchs im Plattenbau auf, ihr Vater hat sie missbraucht, und sie ist mit ihren Brüdern weggelaufen.
    Ben verzog die Lippen ein wenig und nickte... nachdenkliche, verständnisvolle Geste. Vielleicht würde es Kevin etwas bringen, wöchentlich oder täglich dort hin zu gehen. Ein wenig von der Pflicht erfüllen, die ihm noch bleibt... die Pflicht, die er sich als Ersatz für seine Schwester aufgeladen hatte.

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  • Bauer Electronics - 13:15 Uhr


    Mit Schwung fuhr Kevin auf den Parkplatz des großen Firmengeländes... so schnell, dass der Mann an der Pforte nur unwillig den Kopf schüttelte. Unter dem Schatten einer Birke, die auf dem Parkplatz stand, parkte der Polizist den BMW und beide Männer stiegen aus. Der Pförtner näherte sich ihnen mit schnellen Schritten, und dessen Stimme hallte über den Parkplatz schon von weitem. "Hey sie! Hören sie, sie können hier nicht einfach auf den Parkplatz rasen... wir sind doch nicht am Nürburgring." Ben kramte schon in seiner Brusttasche des Hemdes nach seinem Ausweis, doch Kevin kam ihm bereits zuvor. "Geh in dein Höschen da hinten...", dabei deutete er mit der Hand zu dem kleinen Glashäuschen am Eingang des Parkplates, wo der Pförtner seinen Arbeitsplatz hatte... "und geh mir nicht auf die Nüsse." Der etwas dickliche Mann lief abwechselnd rot und blau an, bevor Ben endlich seinen Dienstausweis zückte. "Wir sind von der Polizei, und wollen mit einem Verantwortlichen hier sprechen." Dabei warf er einen missbilligend Blick auf seinen übelgelaunten Kollegen. Der Mann schnaubte und wies mit dem Finger auf eine große Drehtür aus Glas. "Dort ist der Eingang, an der Informationen wird ihnen weitergeholfen.", sagte er mit unterdrückter Wut, schob aber noch hinterher: "Und das nächste Mal in einem anderen Ton!" Diesmal kam Ben seinem Kollegen, der gerade antworten wollte, zuvor: "Verzeihen sie. Mein Kollege hat einfach schlecht geschlafen." Dabei schubste der Kommissar seinen Partner an den Schultern in Richtung Drehtür um deutlich zu machen, dass es nun genug sei. Der gereizte Polizist verschluckte die Worte und ging mit ausdrucksloser Miene in Richtung des Einganges, während der Pförtner sich Richtung Glaskasten trollte.


    An der Informationen fragten sie nach dem stellvertretenden Geschäftsführer. Eine aufgelöste junge Dame, die wie alle anderen im Konzern bereits von der Nachricht erfahren hatte, verwies sie in den achten Stock des Gebäudes, die Chefetage. Ben bedankte sich, und hielt auf die Treppe zu, während Kevin auf den Aufzug zu steuerte. "Bist du wahnsinnig? Ich lauf doch nicht acht Etagen Treppen, wenn es nen Aufzug gibt.", meinte der junge Kommissar, und bemerkte sofort wie Ben schluckte. "Na komm... bisschen Bewegung würde deinem Gemüt gut tun.", meinte er. Doch er wollte sich keine Blöße geben und blieb bei Kevin am Aufzug stehen, als dieser den Knopf drückte... er spürte wie sein Herz schneller schlug. Die Aufzugtüren öffneten sich, der Fahrstuhl war neu und verspiegelt, wirkte größer als er war. Kevin ging hinein, doch sein Kollege zögerte ein wenig. "Was ist denn?", wurde er gefragt, doch dann überwand er sich und stieg ein. Sein Puls steigerte sich, als die Aufzugstüren sich schlossen und der Aufzug sich in Bewegung setzte. Obwohl er es nicht wollte, atmete er hörbar etwas schneller und schaute sich immer hektisch um... lauernd auf irgendwelche Geräusche, die er nicht kannte, schlimmer war jedoch die Wand, die so dicht bei ihm war. "Ist alles in Ordnung?", wurde er von seinem Freund gefragt, der an der Spielgelwand lehnte und etwas fragend dreinblickte. Ben nickte schnell und stumm, und betete dass die Türen schnell wieder aufgingen. "Hast du Angst vorm Fahrstuhl fahren?", fragte Kevin dann, ein wenig peinlich berührt und vorsichtig. Wieder schüttelte sein Partner den Kopf, und meinte dann. "Nicht vorm Fahrstuhl fahren..."
    Die Fahrstuhl hielt, die Türen gingen auf und Ben ging einen schnellen Schritt in den großen, breiten Flur... der unendlich viel Platz hatte, so kam es dem Polizisten vor. Sein Atem beruhigte sich, sein Puls fiel... er fühlte sich wie nach einem Marathonlauf. "Sondern?", fragte Kevin dann, obwohl er die Antwort beinahe kannte. Beide blieben einen Moment vor dem Fahrstuhl stehen, und Ben blickte auf Kevin, die Stirn ein wenig schweißbedeckt. "Ich... hab Platzangst. Ich wurde mal...", seine Stimme stockte kurz... "ich wurde mal in einem Sarg begraben... Lebendig." Stille trat ein, niemand war auf dem Flur, der sie hätte belauschen können. Kevin verlor selten mal die Fassung oder zeigte wirklich Gefühle, doch diesmal war er erschüttert. Mit halb offenen Mund sah er seinen Partner an, dessen Gesichtsfarbe sich langsam wieder neutralisierte. Er konnte nicht fassen, dass der immer gut gelaunte Ben Jäger so ein Trauma mit sich herumtrug. "Lebendig begraben?", murmelte er und ihn überfiel eine Gänsehaut. Ben nickte stumm... "Es war... ein Straftäter, den ich mal hinter Gitter gebracht habe. Er wollte den Aufenthaltsort einer Zeugin und hat mich entführt. Danach hat er mich betäubt, und ich bin in einem Sarg aufgewacht. Semir hat mir damals das Leben gerettet." Leise setzte er noch hinzu: "Aber was war verdammt knapp."


    Kevin wusste nicht, welche Worte helfen würden... aber es war wichtig, solche Informationen über Ben zu haben. Aufzug fahren war jetzt natürlich tabu. "Wie lange ist das her?" "Schon lange... 6 Jahre, glaub ich. Es war ganz zu Beginn meiner Zeit bei Cobra 11. Ich denk auch nicht mehr oft daran, aber seitdem habe ich ein Problem mit engen Räumen.", meinte Ben und atmete tief durch, als Kevin verständnisvoll nickte. "Okay. Ab jetzt nur noch Treppen.", meinte er lächelnd um Ben ein wenig die Unangenehmheit zu nehmen, die der junge Polizist bei seinem Freund spürte, diese Schwäche zu zu geben. Auch sein Gegenüber lächelte, und beide machten sich nun wieder an die Arbeit und klopften beim stellvertretenden Geschäftsführer von Bauer Electronics. Die Sekretärin ließ die beiden herein, sie zeigten die Ausweise und Ben äusserte die Bitte mit Herrn Heinrich sprechen zu dürfen. "Einen Moment...", sagte sie und griff zum Telefonhörer. "Hier sind die Herren Jäger und Peters von der Kripo... ja, wegen Herr Bauer... okay, ich schicke sie hinein." Die Dame legte auf, und wies mit dem Finger auf eine weitere Tür. "Bitte sehr." Die beiden Polizisten nickten, und traten in das sehr edel eingerichtete Büro. "Wenn das nur der Stellvertreter ist, dann hängt beim Chef Gold an den Wänden.", murmelte Kevin Ben ins Ohr, ohne dass Philipp Heinrich, der sich hinter seinem Schreibtisch erhob, etwas davon hörte. Ben musste grinsen.


    "Guten Tag, mein Name ist Philipp Heinrich, ich bin stellvertrender Geschäftsführer von Bauer Electronics." Der, noch recht jung ausschauende Mann im dunkelblauen Anzug erhob sich und schüttelte beiden Polizisten die Hände. "Tag. Jäger, mein Kollege Peters. Wir ermitteln in dem Mordfall ihres Chefs." Mit einer Handbewegung deutete Heinrich auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch, damit die beiden Polizisten sich setzen konnten. "Schrecklich was mit Günter passiert ist. Wir stehen alle sehr unter Schock.", sagte der Mann und strich sich seinen Seitelscheitel gerade. "Werden sie jetzt automatisch der Nachfolger?", fragte Kevin, dessen Instinkt plötzlich anschlug, nach Jahren bei der Mordkommission. Heinrich blickte ein wenig misstrauisch auf, die Trauer verschwand sofort aus seinem Gesicht... "Gehört diese Frage schon zu ihren Ermittlungen?", fragte er und erschien dem jungen Polizisten plötzlich extrem unsympathisch. "Wenn sie so fragen... ja, gehört sie.", sagte er unterkühlt, und war gespannt auf die Antwort. Der Mann im Anzug räusperte kurz und meinte dann: "Vorübergehend ja. Alles weitere wird der Aufsichtsrat entscheiden, die Geldgeber ebenfalls." Im Kopf der Kommissare baute sich schon das erste Motiv auf, doch noch war es zu früh um nach Alibis zu forschen. "Können sie sich vorstellen dass Herr Bauer persönliche Feinde hatte?", fragte Ben und schlug die Beine übereinander. Der misstrauische Ausdruck in Heinrichs Augen verschwand wieder etwas, er spitze die Lippen und schüttelte den Kopf. "Nicht dass ich wüsste." "Gabs Probleme in der Firma? Finanzielle vielleicht?", fragte Kevin dann und ließ sofort durch seinen Tonfall durchblicken, dass beide Polizisten über die finanzielle Situation des Konzerns Bescheid wussten. Zwischen Philipp Heinrich und Kevin war es sofort Liebe auf den ersten Blick. "Ich weiß, worauf sie anspielen, Herr Hauptkommissar. Aber ich kann sie beruhigen, die Chemie in unserem Konzern stimmt. Wir stehen kurz vor der Fertigstellung eines neuen Computerprozessors, der auf dem IT-Markt einschlagen wird. Diese neue Entwicklung wird uns sanieren. Das ist vor allem Herrn Bauers Verdienst, der sich sehr um Geldgeber für dieses Projekt bemüht hat.", sagte der Stellvertreter und hob seinen Chef in ein gutes Licht. "Was ist das für eine Entwicklung?", fragte Ben und nahm sein Handy hervor. Er wählte über Whatsapp den Kontakt seines Technik-Kollegens Hartmut. "Der neue Prozessor heißt PP2000. Er ist um ein vielfaches leistungsstärker, als der bisher schnellste Prozessor der Welt. Er wird die Messlatte in dieser Kategorie weit nach oben verschieben.", erzählte der Mann stolz. Ein guter Verkäufer war er sicherlich, dachte Ben während er eine Nachricht an seinen rothaarigen Kollegen schickte. "Trag bitte mal zusammen was du über einen neuen Prozessor PP2000 von Bauer Electronics finden kannst. Kommen später vorbei. Ben." "Es gibt doch sicherlich um diese neuartige Erfindung genügend Konkurrenz, oder?", fragte Kevin dann interessiert, und sein Gegenüber bewegte den Kopf ein wenig hin und her. "Natürlich gibt es Konkurrenz. Aber in der IT-Branche ist es unüblich, dass man Mordanschläge verübt. Industrie-Spionage, Sabotage in der Entwicklung, durchaus. Aber Mord?" Energisch schüttelte Heinrich den Kopf.
    "Wie war Herr Bauer denn als Geschäftsführer? Wie war das Verhältnis zu seinen Mitarbeitern?", fragte Ben dann nach. "Sehr gut.", kam wie aus der Pistole geschossen. "Sie können anhand der Unterlagen nachvollziehen, dass wir trotz der schlechten Zahlen nicht einen einzigen Mitarbeiter entlassen haben. Die Gehälter wurden und werden pünktlich bezahlt und Herr Bauer hatte für alle Anregungen der Mitarbeiter ein offenes Ohr. Sei es neue Toilettenanlagen für die Ingenieure, oder ein neuer Kaffeeautomat für die Bandarbeiter." Die Antwort kam überzeugend und selbstsicher... die Wahrheit oder ein tadelloser Schauspieler. "Ein Arbeitgeber, wie man ihn sich vorstellt.", meinte Kevin mit leicht sarkastischem Unterton, und Heinrichs Miene verfinsterte sich wieder ein wenig. "Ich finde es respektlos, sich so gegenüber dem Tod von Herrn Bauer zu äussern. Er wird hier im Betrieb sehr fehlen, und ich werde alles tun, solange ich Geschäftsführer bin, seinen Weg weiter zu gehen." Kevin sah Ben von der Seite an, und machte eine Kopfbewegung zum Ausgang. Ben nickte und meinte: "Das wäre erstmal alles... sie halten sich bitte zur Verfügung. Wir werden auch zeitnah mit einigen Mitarbeitern sprechen, die am meisten mit Herrn Bauer zu tun hatten. Faxen sie uns diesbezüglich bitte eine Liste." Er legte dem Mann ein Kärtchen auf den Tisch, die Männer schüttelten sich die Hände und Philipp Heinrich sagte den beiden Polizisten seine Unterstützung zu.


    Als die beiden Männer durch die Glas-Drehtür herausgingen, zog Kevin sich eine Zigarette aus der Hosentasche, ließ sein Feuerzeug aufschnappen und zündete sich den Glimmstengel an. Die Flamme war gerade erloschen, als er erneut die Stimme des Pförtners vernahm, der von der Toilette gestiefelt kam. "Hey! Hier ist Rauchen verboten." Ruckartig drehte sich der Polizist zu dem Mann um, Ben sah amüsiert, grinsend zu. "Pass mal auf, Hausmeister. Mich einmal dumm anzuquatschen ist Dummheit, aber mich zweimal dumm anquatschen, DAS ist lebensmüde. Haben wir uns verstanden?" Innerlich musste Ben lachen, beinahe gespielt setzte er eine mahnende Miene auf, als sich Kevin wieder umdrehte und ins Auto einstieg, während er den, nach Luft schnappenden Pförtner einfach stehen ließ.

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  • KTU – 14:30 Uhr

    Ben ließ sich von seinen Gedanken, rund um den Vorfall im Aufzug nichts anmerken. Er sprach ganz normal, in seiner gewohnt lockeren Art mit Kevin über den Fall. „Dir gefällt der Heinrich nicht so, hab ich Recht?“, meinte er mit einem Seitenblick auf Kevin, der eine Hand am Schaltknauf hatte, während die linke Hand auf der Mitte des oberen Lenkradkranzes ruhte. Der junge Polizist wiegte den Kopf nach links und rechts. „Ich weiß nicht so recht. Einmal klang er absolut überzeugend, und sofort danach furchtbar unsympathisch und konstruiert.“ Ben hatte einen ähnlichen Eindruck und nickte zustimmend. „Aber ich hab bis jetzt noch keinen Grund gefunden an seinen Worten zu zweifeln. Ich meine, wie sicher ist es, dass der Stellvertreter auch gleichzeitig Nachfolger wird.“ „Keine Ahnung…“, murmelte Kevin und sah zum Seitenfenster heraus, während sie durch die Innenstadt rollten. „Aber ein Motiv ist es definitiv. Aber ob der das wirklich gerade mitten in der Endentwicklung dieses neuen Prozessors durchzieht…“ Die Stimme des jungen Cops war von Zweifeln belegt. „Erst mal abwarten, was unser Genie uns über diesen Wunderchip so erzählt.“, meinte Ben lächelnd und dachte an seinen Kollegen aus der KTU. Hartmut Freund war ein Genie auf seinem Gebiet. Er hatte Chemie und Physik studiert, das ganze später mit dem Polizeidienst verknüpft und konnte einem stundenlange Vorträge mit zahlreichen Fremdbegriffen um die Ohren hauen. Ausserdem war er ein IT-Ass, es gab kein Computersystem, in das er sich nicht hätte hacken können. Für Semir und Ben war er schon oft eine wertvolle Hilfe.

    Der Nachmittagsverkehr in der Innenstadt nahm langsam zu, und die beiden Autobahnpolizisten kamen im Stau nur langsam vorwärts. „Sag mal, was erhoffst du dir eigentlich von den Gefängnisbesuchen?“, fragte Ben plötzlich und drehte sich zu Kevin. Er hatte die ganze Zeit nachgedacht, ob er den Polizisten das fragen sollte, die Frage ging ihm seit heute Morgen im Kopf herum. Doch er hatte das Gefühl, dass Kevin eine gewisse Brücke überschritten hatte, um Ben Vertrauen zu schenken, sonst hätte er ihm heute Morgen gar nicht erzählt, dass er im Gefängnis bei Jessy war. Sein Kollege am Steuer brauchte einen kurzen Moment für eine Antwort. „Antwort auf die Frage, warum sie abgedrückt hat.“ Seine Stimme klang beinahe etwas mechanisch, melancholisch ohne große Betonung auf einzelne Verben. „Das kann ich dir auch so sagen… sie wollte Semir töten, weil der ihren Bruder erschossen hatte.“, sagte Ben und spürte dass es noch einen anderen Grund geben musste. Er vermutete, dass Kevin doch so etwas wie Gefühle für Jessy hegte, auch wenn er sich nur schwer in diese Lage hineinversetzen konnte. „Trotzdem… ich will es von ihr hören.“, meinte Kevin kurz und knapp und bog schon auf das Gelände der KTU ein. Ben beließ es erst mal bei dieser Antwort, und beide Polizisten stiegen aus.

    Sie klopften bei Hartmut im Büro, das eher aussah wie eine Mischung aus Werkstatt und Labor. Einige Versuchsanordnungen standen auf dem einen Tisch, auf dem anderen ein offener Computer, mehrere blinkende Monitore mit unzähligen Zahlenkolonnen und Buchstabensalat. „Na, du Genie.“, begrüßte Ben den rothaarigen Mann per Handschlag. Auch Kevin gab Hartmut freundlich grüßend die Hand. „Hast du was zusammengetragen für uns?“ Hartmut lachte kurz auf. „Willst du mich veräppeln? Da brauche ich nichts zusammen zu tragen, die Entwicklung dieses Chips verfolge ich quasi stündlich im Live-Ticker.“ Freilich, das war ein wenig übertrieben, aber Hartmut musste zu diesem Thema tatsächlich nicht recherchieren. In Neuerungen der Computerwelt hatte der KTU-Mitarbeiter immer die Nase ganz vorne im Wind. „Dieser Computerchip wird die IT-Welt revolutionieren.“, begann er und lehnte sich gegen die Theke seiner Versuche, während die beiden Polizisten sich an den Tisch setzten. „Klingt wie der Beginn einer Werbeveranstaltung.“, lachte Kevin und zwinkerte Hartmut zu, damit der diesen Einwurf auch als Scherz verstand. Das Schmunzeln bestätigte dies. „Ruhe auf den Plätzen.“, grinste er. „Dieser neue Prozessor von Bauer Electronics wird der schnellste und stärkste Prozessor sein, der je gebaut wurde. In sogenannten Supercomputer arbeiten bis zu 64000 Computerchips, während wir für unseren Hauscomputer gerade mal einen davon benötigen. Bauer entwickelt jetzt einen Chip, der ungefähr 4mal so schnell und stark ist, wie der stärkste, das bedeutet dass man nur noch 16000 in einen Supercomputer einbauen muss, was den Stromverbrauch um drei Viertel senken wird.“ Hartmut redete sich in Rage, und soweit kamen die beiden Polizisten auch noch gut mit. „Er wird fast 100 MB Cache haben, eine Taktung vom 8 Ghz und bis zu 16 Kerne in einem Prozessor… das ist…“ „Hartmut, bitte vernachlässige mal die technischen Details.“, wurde er von Ben unterbrochen, der gerade an genauen Spezifikationen nicht interessiert war. „Was machen solche Supercomputer, wer kann an solchen Chips interessiert sein? Es ist vielleicht möglich, dass der Mord begangen wurde, weil einer aus dem Konzern bestimmte Dinge mit dem Chip vor hatte.“ „Banausen…“, murmelte Hartmut und räusperte sich.

    „Wie gesagt, solche Chips kommen in Supercomputer vor. Der momentan stärkste steht in China, der zweitstärkste in den Staaten. Solche Computer werden zur Berechnung von physikalischen Prozessen benutzt, zb in der Flug- oder Raumfahrttechnik. Chemische Berechnungen zur Untersuchung von Erdöl und Erdgas. Simulation von Kernwaffentests, und vieles…“ „Kernwaffentests?“, unterbrach ihn diesmal Kevin, dem sich die Nackenhaare aufstellten. „Ja… Funktionsweise, Zerstörungsgrad… sowas kann man heutzutage alles berechnen, da muss man keine Atombombe mehr im Bikini-Atoll zünden.“, erklärte das rothaarige Superhirn. Kevin schaute zu Ben rüber, der ebenfalls scharf nachdachte. „Wäre nicht so gut, wenn der Chip in so einem Computer missbraucht werden würde.“ Er erntete ein Nicken von seinem Partner. „Ab dann wäre das auch nicht mehr unser Job, sondern ein Job fürs BKA.“, bekam er als Antwort.
    Hartmut war aber noch nicht ganz fertig. „Kleinere Supercomputer können aber auch für andere Dinge eingesetzt werden. Zum Beispiel zum Knacken von Passwörtern, oder zum sicheren Löschen von riesengroßen Datenmengen. Ein Beispiel…“ Er stand auf und ging an ein Flipchart, und die beiden Polizisten fühlten sich für einen Moment wie in der Schule. „Angenommen, wir beschlagnahmen die Festplatte eines Kinderporno-Konsumenten, der seine 1 TB-Platte mit einem Algorithmus und Passwort verschlüsselt hat. Ist das Passwort mit Zahlen und Sonderzeichen versehen, und hat einen mittelschweren Algorithmus braucht unser jetziger Superrechner beim BKA in Wiesbaden ungefähr ein halbes Jahr um alle Möglichkeiten des Passwortes und des Algorithmuses durchzuchecken.“ Er hielt kurz inne und fuhr dann fort. „Wäre der Supercomputer mit der gleichen Anzahl dieser neuen Chips ausgestattet, könnte er das Passwort und die Verschlüsselung innerhalb weniger Tage lösen… oder 50 Festplatten gleichzeitig in der alten Zeit entschlüsseln.“ Kevin strich sich mit dem Finger über die Lippen. „Das wäre doch eigentlich etwas Gutes.“ „Richtig“, wurde er von Hartmut bestätigt. „Allerdings ist die Prozedur beim Zerstören von Daten ähnlich, und ähnlich langwierig. Will jemand große Datenmengen sicher löschen, braucht er so einen Chip.“

    Hartmut schloss die Informationsstunde, nachdem Ben noch eine Frage stellte: „Kannst du dir vorstellen, was man mit diesem Chip anrichten könnte, wenn er in falsche Hände gelangen würde. Oder ob man überhaupt etwas anrichten könnte.“ Hartmut dachte einen Moment nach, doch dann schüttelte er den Kopf: „Eine einzelne Person nicht. Der Prozessor ist zwar Hauptbestandteil eines solchen Supercomputers, aber da gibt es noch unzählige Komponenten mehr. Das wäre gar nicht zu finanzieren, abgesehen vom Standort. Ein Supercomputer steht nämlich nicht gerade unter eurem Tisch, sondern nimmt den Platz eines ganzen Rechenzentrums ein.“ Die beiden Polizisten bedankten sich bei Hartmut und gingen wieder zu ihrem Dienstwagen. „Wirklich wissen, was man damit anstellen kann, werden wohl nur die Ingenieure, oder?“, meinte Ben, als Kevin den Wagen wieder anließ. Er erhielt ein zustimmendes Nicken. „Lass uns mal prüfen, welche Ausbildung unser Freund Philipp Heinrich so genossen hat, bevor er zum Nachrutscher aufgestiegen ist.“, sagte Kevin und rollte auf die Hauptstraße. Beiden tat ihre Arbeit momentan sichtlich gut und lenkte sie von persönlichen Problemen ab.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Hotel – 14:30 Uhr

    Semir schnappte ein bisschen von der frischen canarischen Luft, als er durch die Terrasse in den großen subtropischen Garten trat, der viele kleine Wege, einen Bachlauf mit Wasserfall enthielt, geschützt von großen und hohen Palmen. Er hörte hinter sich das sorglose Plappern seiner beiden Kinder, die ihrer Mutter „helfen“ wollten, die Koffer auszupacken. Kurz drehte sich der Polizist zu seiner Frau um, die tauschten ein gegenseitiges Lächeln aus. Kurz bevor sich Andrea ran machte, auch Semirs Koffer auszupacken hatte er bereits den Umschlag mit den Fotos genommen und in den Zimmersafe gepackt. ER wusste ja nicht, dass Andrea von Ben längst eingeweiht wurde.
    In Bermudashorts und einem kurzärmeligen Hemd ging Semir ein wenig gedankenverloren über die Wege, die am Rand von Terracota-Lampen gesäumt waren, die Luft war angenehm warm, die Sonne knallte aber ordentlich. Das merkte der kleine Kommissar, als er an einer Stelle von der Palmenüberdachung an den länglich ovalen Swimmingpool trat, und sich ein wenig umsah. Fast alle Liegen waren belegt, viele ältere Leute, Leute mit Kindern und Jugendliche waren im Wasser. Er hörte Lachen und Geschrei, er sah wie einige Männer Zeitung und die Frauen Bücher lasen und sah, wie zwei Jungen Autokarten austauschten. Er spürte, dass er im Urlaub war, und doch drückten diese unseeligen Bilder auf seine Stimmung, auf sein Gemüt. Wie sollte er André darauf ansprechen? Sollte er noch etwas warten, um sich und seiner Familie den Urlaub nicht zu versauen? Wann war der richtige Augenblick?

    Der Kommissar spürte seine ausgetrocknete Kehle und schlappte in seinen Flip-Flops an die, ganz aus dunklem dicken Holz gebaute Poolbar, vor der ein großes Sonnendach gespannt war. Darunter waren viele Stühle und Tische aufgebaut, doch er selbst setzte sich an die Bar auf einen Hocker und bestellte eine eiskalte Cola. Er ließ die Cola aufs Zimmer anschreiben und wollte gerade einen Schluck nehmen, als sich André, wie aus dem Nichts, neben ihm niederließ. „Na, hast du dich schon ein wenig umgesehen?“, fragte er mit seiner kratzigen Stimme und einem Lächeln auf dem Gesicht. Erstaunlich, was für eine positive Ausstrahlung André hier hatte, im Gegensatz zu ihrem Wiedersehen, und als sie gemeinsam den Mörder eines von Horns Männer gesucht hatten. „Ja, ein bisschen. Es ist toll hier, André.“, meinte Semir und nippte an seiner Cola, während André sich vom spanischen Barkeeper ein Wasser geben ließ. Er saß neben Semir, hatte eine Badehose und ein weißes T-Shirt mit dem Emblem des Hotels darauf an. Um seinen Hals hing ein Handtuch. „Es scheint dir hier echt gut zu gehen, was?“, fragte sein kleiner Freund, der innerlich sehr froh war, dass es André gutging, andererseits wurde die Last um die unheilvollen Fotos dadurch noch größer. „Semir…“, begann André, lächelnd und doch ein wenig nachdenklich. „Ich glaube, das hier das Beste was mir je passiert ist. Ich habe meine Freiheit, ich mache was mir Spaß macht. Ich fühl mich so gelöst von dieser ständigen Gefahr, dass mir etwas passieren könnte.“ Semir verfolgte jeden Blick von André, und spürte die Freude seines ehemaligen Partners über sein neues, drittes Leben. „Es ist fantastisch.“, endete er seinen kurzen Gefühlsausbruch und trank einen tiefen Schluck Wasser. Der Polizist nickte, er lächelte, ein ehrliches Lächeln, ein Freuen über Andrés Zufriedenheit. „Das freut mich wirklich. Und ich freue mich auch, dass du uns gefragt hast, ob wir kommen wollen.“ „Na, das ist doch klar, Semir. Wir haben schließlich 14 Jahre aufzuholen.“, sagte André lachend und auch Semir musste kurz auflachen. „Mein Chef hat mir erlaubt, die nächsten Tage ein wenig kürzer zu treten, wenn wir mal etwas gemeinsam unternehmen wollen. Ich kenne ein paar herrliche Eckchen auf der Insel. Und für uns beide…“, meinte er augenzwinkernd… „habe ich noch was ganz besonderes vor.“ André grinste, und sein Freund konnte beinahe erraten, dass es irgendetwas mit Fahren oder Autos zu tun haben musste, wenn André so grinste. „Ich bin gespannt.“, sagte Semir und das gute Gefühl, das Gefühl von Urlaub und einer Freundschaft, die so lange ruhte, verdrängte langsam die unheilvolle dunkle, bedrohliche Wolke, die scheinbar über ihm hing, seit er in Düsseldorf ins Flugzeug gestiegen war.

    „Was genau machst du jetzt hier eigentlich so?“, fragte Semir, nachdem er einen weiteren Schluck aus dem Cola-Glas genommen hatte. „Alles was mit Sport und Gästeunterhaltung zu tun hat. Ich hätte zwar nie gedacht, dass ich so etwas kann… also mit Leuten… aber es macht Spaß.“, antwortete der große Mann mit dem breiten Kreuz. „Bogenschießen, Volleyball am Strand, Minigolf für die Kleinen. In einer Viertelstunde ist Aquagymnastik im Pool. Kann ich dir empfehlen, ist gut für die Muskeln.“ Dabei griff er mit festem Griff an Semirs Oberschenkel, der davon aufquickte und beide Männer lachten wie Schulbuben.
    Als sie sich ein wenig beruhigt hatten, sagte André: „Ich bin momentan dabei, bei meinem Chef durchzubringen, eine Stunde Selbstverteidigung anzubieten, für Kinder und Jugendliche. So etwas wie damals bei uns zu Hause… nur eben nicht mit Straßenkids, sondern mit Urlaubern.“ Sein Freund fand die Idee gut und nickte zustimmend. „Sowas haben sicher nicht viele Hotels.“ „Nein, deshalb wäre es etwas Besonderes. Momentan trainiere ich nur für mich, ich darf den Fitnessraum nutzen. Morgens um 6 Uhr ist es da schön ruhig.“ „Und du hast jetzt vor, für immer hier zu bleiben?“, fragte Semir. André überlegte kurz, sah über das Dach des Hotels in den blauen Himmel, der nur einige weiße Wattewölkchen zu bieten hatte. „Ich weiß nicht. Momentan würde ich sagen, ja! Aber dass ich unentschlossen bin merkt man daran, dass ich immer noch hier im Hotel wohne.“ Dann sah er seinem Freund direkt in die Augen. „Ich weiß es wirklich nicht. Mal sehen, was noch so kommt.“ Dieser Satz löste in Semir sofort ein unbehagliches Gefühl aus… „Mal sehen was noch kommt.“ Er erinnerte ihn an das Unheil, was im Zimmersafe auf Semir und André lauerte…

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Dienststelle – 16:30 Uhr

    Die Glastür und die große Glaswand, die das Büro der beiden Autobahnkommissare vom Rest des Großraumbüros abteilte, hielt den gleichmäßigen Geräuschpegel aus Funkdurchsagen, Telefongeklingel und Gespräche ein wenig ab. Zu hören war er dennoch, als Ben im Internet sich auf die Suche nach Informationen über Philipp Heinrich einholte. Kevin war kurz nach draußen um eine Zigarette zu rauchen und kam soeben in das gut klimatisierte Büro hinein, wo er sah wie konzentriert sein Kollege auf den Bildschirm starrte, sich hin und wieder Notizen machte und dann weiterlas. „Gut gefülltes Facebook-Profil, der Kollege.“, murmelte er und erhaschte somit Kevins Aufmerksamkeit, der sich mit verschränkten Armen hinter seinen Freund stellte.
    In dem bekannten Sozialen Netzwerk blickte Philipp Heinrich den beiden Polizisten lächelnd entgegen. Darunter standen Anzahl der Freunde und sein bisheriger Lebenslauf, auf welcher Schule er Abitur gemacht hatte, und welchen Studiogang er besucht hatte. „Hat Informatik studiert, danach auch eine Ingenieursausbildung gemacht.“, las der junge Polizist hinter Ben aus dem Zusammenhang und nickte, wie als Selbstbestätigung. „Der weiß, was man mit diesem Hyper-Super-Prozessor so anfangen kann.“, sagte Ben als weitere Bestätigung. Das Puzzle bekam einige weitere Teile dazu, die sich die beiden Kommissare ins Bild legten. Der Polizist auf dem Bürostuhl, der vorher noch ein wenig weiter nach unten scrollte, dabei Bilder von Philipp und der heute morgen angeschossenen Anna Bauer sah, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinterm Kopf. „Also mal angenommen, Philipp Heinrich wittert das Megageschäft mit diesem Super-Prozessor, wenn dieser eben nicht für das eingesetzt wird, wofür er entwickelt wurde, sondern für schmutzige Geschäfte…“, begann er laut zu denken und drehte sich zu Kevin um, der ihn anblickte und aufmerksam zuhörte. „Entweder, er versucht seinen Chef einzuweihen, der aber ablehnt… oder er weiß vorher, dass sein Chef ablehnt. Kurzerhand beseitigt er ihn, wird zum neuen Chef berufen, und kann über den weiteren Werdegang des Chips frei verfügen.“ Ben hatte die Hände gefaltet in den Schoß gelegt, drehte den Stuhl, auf dem er saß, mit den Füßen immer ein wenig hin und her und wartete auf eine Reaktion von Kevin, die nach kurzem Nachdenken auch nicht auf sich warten ließ.

    „Problem Nr.1: Als Geschäftsführer kann er noch lange nicht machen was er will, da gehört der Aufsichtsrat ebenfalls noch dazu.“ Kevin zeigte den Daumen nach oben, bei jedem Punkt mehr nahm er einen Finger dazu. „Problem Nr.2: Sind die Ingenieure eingeweiht und wenn ja, sind die so skrupellos für einen Verbrecher zu produzieren? Und Problem Nr.3: Das Motiv?“ Bei Nr.1 und 2 nickte Ben noch leicht, bei Nr.3 allerdings zog er die Brauen in die Höhe. Danach machte er eine Geste, in dem er Daumen und Zeigefinger einer Hand aneinander rieb, und diese Kevin vors Gesicht hielt. „Money, Money, Money?“ „Ich weiß nicht… als Geschäftsführer wird man auch so an diesem neuartigen Chip extrem gut verdienen, wenn er denn so einschlägt. Wie viel mehr wird denn ein Syndikat bezahlen? Und ausserdem… hat ein kleiner IT-Ingenieur einen potenziell gefährlichen Abnehmer? Der wird den Chip kaum auf seiner Facebook-Seite bewerben und das mit Al-Qaida oder sonstigen Terrorgruppen teilen?“ Ben verzog ein wenig die Lippen, und man merkte, wie es in seinem Kopf arbeitete. Es schien, als hätte jemand die Puzzle-Teile, die er gerade in das Puzzle eingesetzt hatte, wieder auseinander genommen und durcheinander geschmissen. „Und wenn er einfach nur auf den Chefsessel scharf war? Ohne Absicht, den Chip zweck zu entfremden?“, fragte er und auch Kevin setzte eine nachdenkliche Miene auf. Er wich der Frage aus, weil er keine Antwort dafür parat hatte, und ging mit gemächlichen Schritten wieder auf die andere Seite des Schreibtisches, wo er sich auf dem Drehstuhl niederließ. „Wir können nur hoffen, dass wir bei der Durchsuchung der Büros etwas finden. Kontaktdaten, Waffen, unbekannte Autoschlüssel, Rechnung eines Auftragskillers… irgendwas.“, meinte er und schaute auf, als sich die Glastür des Büros öffnete.

    Jenny Dorn, seit einigen Wochen bei der Autobahnpolizei, trat ins Büro hinein, nachdem sie kurz angeklopft hatte. Jenny war Ende 20, eine äußerst hübsche Erscheinung, mit aufmerksamen, manchmal verträumten grünen Augen und einem, meist fröhlichen Lächeln. Sie hatte sich gut eingelebt bei der Autobahnpolizei, wurde von den erfahrenen Beamten Bonrath und Herzberger unter deren Fittiche genommen und hatte sichtlich Spaß im Team. Ben hatte sie auch als sehr herzliche Erscheinung kennengelernt, Kevin blickte jetzt ein wenig erstaunt auf, den er kannte sie noch nicht. Jenny lächelte, wie sie immer lächelte, es wirkte manchmal ein wenig scheu, aber nie aufgesetzt. Sie hatte ein Papier in der Hand, zusammen getackert und aus mehreren Seiten bestehend. „Ich hab hier den Durchsuchungsbeschluss für Bauer Electronics.“, meinte sie und ging herüber zu Ben, der ihn abnahm und sich bedankte. Dann blieb Jenny bei Kevin stehen, dem sie die Hand hinstreckte, während sie ihn unauffällig, aber neugierig musterte. „Ich bin Jenny, wir kennen uns noch nicht.“, sagte sie, und der junge Polizist ergriff ihre Hand und lächelte ebenfalls. „Ich heiße Kevin.“, meinte er mit seiner prägnanten Stimme, und blickte in Jennys grüne Augen. „Du vertrittst Semir, habe ich gehört?“, fragte sie und lehnte ihren Körper an Kevins Tischplatte. „Sagen wir so, ich soll auf den Kollegen ein wenig aufpassen.“, meinte der Kommissar und nickte mit dem Kopf seitlich zu Ben, der von dem Durchsuchungsbeschluss kurz aufblickte, und schnippisch den Mund verzog. „Das werden wir ja noch sehen, wer hier auf wen aufpassen muss.“, konterte er grinsend. Auch Jenny lachte auf und meinte dann: „Na, dann sehen wir uns ja jetzt öfters.“ Es klang, als wäre ihr das nicht unbedingt unangenehm, und bevor sie den Raum verließ, warf sie nochmal einen kurzen Blick auf den eigenwilligen Kommissaren, der sogar nicht dem äußerlichen Ideal eines Polizisten entsprach, mit seiner wilden Frisur, seinem Tattoo am Arm und seinem Kleidungstil verkörperte er immer noch ein wenig die Straße, von der er kam. Ben hatte zwar auch ein Tattoo am Arm, jedoch war es bei Ben eher der Typ „Rockmusiker“, der immer mal wieder an der Polizeifassade kratzte, als ein Junge von der Straße.

    Als Jenny die Tür hinter sich geschlossen hatte, blickte auch Kevin nochmal kurz zur Zimmeröffnung, und hörte sofort Bens Stimme: „Ich würde nicht mal dran denken.“ Der junge Polizist drehte den Kopf zur Stimme und hob die Augenbrauen. „Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst?“, sagte er mit Unschuldsstimme, und grinste gleichzeitig diabolisch. Natürlich wusste er, was Ben meinte, und er genoss es seinen Kollegen ein wenig zu necken. „Wildere ich etwa in deinem Terrain?“, fragte er provokant und ließ Ben ein weiteres Mal vom Beschluss aufblicken. „Nein, aber ich kenne Beziehungen am Arbeitsplatz von Semir und Andrea. Und ich kann dir nur sagen: Nur Streß!“ Dabei nickte er nochmal abschließend, als sei es ein unumstößliches Gesetz. „Keine Bange.“, meinte Kevin und lehnte sich im Stuhl zurück. „Ich bin an keinerlei Beziehung interessiert.“ Dabei wippte er nun mit dem Stuhl ein wenig hin und her, und hörte sich selbst beim Lügen zu. In Wahrheit machte in die Einsamkeit zu Hause manchmal wahnsinnig, und manchmal wünschte er sich sehr, dass jemand zu Hause auf ihn warten würde… außer seiner Ziehmutter Kalle.
    „Wann gehen wir hin?“, fragte Ben, und hielt das Stück Papier nach oben. „Morgen früh… da wird jetzt niemand mehr da sein. Und ob der nette Pförtner uns nochmal alleine reinlässt, bezweifle ich stark.“ „Ob er DICH nochmal reinlässt.“, verbesserte der Polizist mit dem Wuschelkopf seinen neuen Partner.

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  • Playa del Inglés – 22:00 Uhr

    Sie hatten einen herrlichen ersten Urlaubstag zusammen verbracht. Semir und Andrea gingen, nachdem Andrea die Koffer ausgepackt hatte, gemeinsam mit den Kindern ein wenig am Strand spazieren. Ayda und Lilly durften mit den Füßen bereits ins Wasser, kicherten und lachten was das Zeug hielt, immer wenn der Sand unter ihren Fußsohlen zurückgesogen wurde, wenn sich das Wasser zurückzog und sich zu einer neuen Welle sammelte. Sie gingen von der kleinen Hotelbucht bis zum großen Hauptstrand, um dort dann über Treppen wieder hinauf in den belebten Ort zu gehen. Dort spazierten sie durch Fußgängerzonen, vorbei an Restaurants, die ihre Menüs anboten, an Straßenhändler die allerlei Touristen-Touren verkaufen wollten. Es dunkelte bereits etwas am Horizont, als sie zurück im Hotel ankamen, sich duschten und ins schöne Restaurant zum Abendessen gingen. Das Büffet, wo sich jeder holen konnte soviel er mochte, gefiel vor allem den beiden Kindern, als es an den Nachtisch ging. Es dauerte jedoch nicht lange, und Lilly schlief noch am Tisch ein, zu anstrengend war das frühe Aufstehen und der aufregende Flug. Auch Ayda begann langsam zu quengeln, so dass Familie Gerkhan die gemeinsame Abendunterhaltung im Hotelgarten an der Poolbar heute noch ausfallen ließ.
    Während Andrea die beiden Kinder bettfertig machte, kehrte Semir nochmal zur Poolbar zurück. Er sagte seiner Frau Bescheid ,noch etwas trinken zu wollen, er sei noch nicht müde und die Mutter von Ayda und Lilly ließ ihn gewähren. Sie wusste ja Bescheid, was ihn bedrückte, was ihm Sorgen machte und weshalb er wohl nur schwer zum Schlaf finden würde.

    Als Semir sich an die Theke der Bar setzte, und seinen Blick zu den Flamengo-Tänzerinnen auf der Bühne zuwandte, hörte er eine bekannte Stimme neben sich. „Was darf’s sein, der Herr?“, vernahm er die kratzige Stimme von André neben sich und blickte überrascht zu dem kräftigen Mann, der hinterm Tresen stand. „Bist du hier ein Mädchen für alles, oder was?“, fragte der kleine Polizist erstaunt, und sein Freund lächelte. „Ne, aber ein Kollege ist kurzfristig krank geworden, für den bin ich eingesprungen. Aber nur noch ne halbe Stunde… dann zeig ich dir ein bisschen das Nachtleben hier.“, meinte er und zwinkerte Semir zu. Ohne zu fragen stellte er ihm eine Flasche spanisches Bier auf den Tresen, und der Deutsch-Türke prostete seinem ehemaligen Kollegen zu.

    Semir sagte noch schnell Andrea Bescheid, dass er mit André nochmal in die Stadt gehen würde, während der seine Arbeitskleidung gegen Alltagsklamotten eintauschte. Dann zogen das äußerlich etwas ungleiche Paar aus dem Hotel los in Richtung der Partymeile von Playa del Inglés. „Ich muss dich gleich vorwarnen. Hier in Playa del Inglés gibt es eine recht große und bekannte Schwulenszene. Kann also passieren, dass man uns für ein Paar hält.“, meinte der große Karatekämpfer und grinste. „Passen wir den so gut zusammen?“, lachte Semir und boxte seinem Freund in die Rippen. „Playa del Inglés ist der Ballermann der Kanaren. In einigen Einkaufszentren, die vollgestopft sind mit Kneipen, Discos und Bars meint man, die Zeit wäre stehengeblieben und man befindet sich noch in den 70ern. Viele sagen, die Dinger müssten endlich abgerissen werden, da sie teilweise marode sind. Aber ich finde, sie haben einen eigenartigen Charme.“, erklärte André, beinahe wie ein Fremdenführer, während die beiden Männer auf dem Bürgersteig immer näher an die Partymeile kamen. Die Hotels wurden höher, man konnte hier und da, wenn der Wind ein wenig wehte, die Wellen am Strand hören und das Salz riechen. Die Umgebung wurde heller, durchzogen von bunter Leuchtreklame, Disco-Lichtern und man konnte Lachen, Gröhlen, Singen und viel Geplauder hören. In manchen Bars traten Elvis-Parodien auf, in anderen Discos lief laute Rock- und Popmusik. Viele junge Menschen, aber auch Menschen im Alter von André und Semir waren in den Einkaufszentren weit verstreut. „Hier kann man tatsächlich auch Spaß haben.“, meinte Semir und schaute zu seinem Freund auf. „Bist du deswegen hierher gekommen?“ André schüttelte den Kopf. „Nein, aber es ist ein schöner Nebeneffekt, wenn man mal frei hat.“

    Die beiden entschieden sich für eine Bar, in der es nicht gerade ganz laut war, in der Rockmusik aus den 70ern und 80ern gespielt wurde, und wo sie sich an eine gemütliche Theke setzten, die bis ins Freie hinausführte, so dass man das Gefühl hatte, teilweise unter freiem Himmel zu sitzen. Es war immer noch herrlich angenehm, Semir trug ein halb offenes Hemd mit kurzen Armen, André ein kurzärmeliges Shirt. Sie bestellten sich Bier und stießen einander an. „Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass ich mit dir nochmal ein Bier trinken kann…“, sagte Semir, halb nachdenklich und halb freudentrunken. Darüber, dass André lebte… darüber, dass sie das Misstrauen überwunden hatten, und dass André damals nicht zu den Bösen gehörte, wie vermutet. Und trotzdem lastete immer noch diese eine Sache, diese verdammten Fotos auf Semir, als die Gläser aneinander klirrten. André nickte zu Semirs Worten und stimmte ihm zu. „Vergiss einfach, was passiert ist.“, meinte der ehemalige Polizist. „Ich schaue nur noch nach vorne. Du hast deinen Job noch, wie du ihn liebst, und ich habe jetzt eben eine neue Liebe hier.“ Semir würde so gerne mit dieser Vorstellung leben können, zurückkehren und seinen Job tun. Verbrecher jagen, was er schon seit 18 Jahren bei Cobra 11 getan hatte, und einen guten Freund hier auf der Insel wissen, der 3 Jahre mit ihm durch Dick und Dünn gegangen, der ihm mehrmals das Leben gerettet hat, und dem er mehrmals das Leben gerettet hat. Der 14 Jahre als tot galt, und plötzlich wieder aufgetaucht ist.
    Doch leider Gottes, so einfach war es nicht. Schenkte man den Fotos Glauben, so war André ein eiskalter Mörder, ein Mann der auf Befehl einen anderen Menschen hinterrücks hingerichtet hat. Dieser Gedanke ließ alles um Semir herum verschwimmen, als der kühle Gerstensaft Semirs Kehle herunterfloß, ein wenig gedämpft das Gewummer von einer Disco die hauptsächlich Techno-Musik spielte. „Du hast sicher Recht… aber…“, sagte Semir, erst ein wenig leiser. André hörte es dennoch und beugte sich zu seinem kleinen Freund herunter. „Aber was?“ Semir suchte nach Worten, suchte nach Antworten. Sollte er ihn hier darauf ansprechen, mitten in der Stadt? War das eine gute Möglichkeit, so ein Gespräch zu führen… nein! „Ich meine… ich will nicht alles vergessen.“, wich er der Frage aus und blickte André ins Gesicht, und begann zu lachen. „Zum Beispiel werde ich nicht vergessen, als du meinen BMW in den Kanal gesetzt hast, als wir den Stuntman verfolgt haben.“ Auch André fiel in das Lachen mit ein, als er sich daran erinnerte. „Ich hab dir noch gesagt: Lass es sein!! Aber nein…“ Semir schlug seinem Freund auf den Rücken, der prustete: „Du weißt genau, dass das nur an deiner Karre hing. Mit dem Porsche hat es geklappt, Mann.“ Von außen betrachtet sahen die beiden aus wie beste Freunde, die sich einen Witz nach dem anderen erzählten, wie sie auf ihren Hockern saßen, nach einiger Zeit bereits das zweite und dritte Bierglas in der Hand. „Weißt du noch, als ich dich erschossen hab.“, lachte Semir und spielte auf einen Undercover-Einsatz an, als er einen Profikiller doubelte und André einen Kronzeugen. „Na klar!“, meinte André glucksend „Nur weil Bonrath wieder mal seine Klappe nicht halten konnte.“ Das Lachen der beiden Männer verstummte nur langsam, und Semir lief eine Lachträne über die faltige Wange. „Ja, das waren schon tolle Zeiten. Wahnsinn, was wir in drei Jahren alles erlebt haben.“, sagte er wieder ein bisschen ruhiger, und sah seinen Freund an, der ihn lächelnd ansah. „Schau nicht zu viel zurück, Semir. Die Zeiten waren toll, aber sie sind nun mal vorbei. Du hast jetzt einen anderen guten Partner, guten Freund mit Ben. Ich bin froh, dass das so ist. Die Frage hat mich manchmal beschäftigt, kurz nachdem ich auf Mallorca untergetaucht bin.“ André leerte das vierte Glas Bier. „Du meinst, wer mein neuer Partner wird?“, hakte Semir ein wenig verwundert nach, und sein Freund nickte. „Ja. Jemand, der genauso auf dich aufpasst wie ich, und auf den du genauso aufpasst, wie auf mich.“ Der große kräftige Mann legte einen Arm um die Schulter des kleineren, aber mittlerweile nicht weniger kräftigen Semir, der ein wenig gedankenverloren nickte. „Glaub mir…“, sagte er leise „Tom hat sehr gut auf mich aufgepasst. Aber Ben würde ich auch nicht eintauschen wollen.“ Dabei lachte er wieder und auch André lachte mit. Sie ließen den Abend ausklingen, bevor sie sich, Semir ein wenig schwankend, wieder in Richtung Hotel begaben. An die Fotos hatte Semir nicht mehr gedacht, bis er sich neben Andrea ins Bett fallen ließ…

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Dienststelle - 8:00 Uhr


    Ben war heute extra pünktlich gekommen, weil man frühzeitig zu Bauer Electronics fahren wollte, um den Durchsuchungsbeschluss umzusetzen. Dafür mussten noch einige Vorbereitungen getroffen werden, Beamte alarmiert werden, eventuell sogar mit Spürhunden. Als der Polizist auf den Parkplatz fuhr hoffte er, dass auch sein junger Partner Kevin pünktlich in der Dienststelle sein würde, und war angenehm überrascht als er den silbernen BMW, normalerweise Semirs Dienstwagen, bereits auf dem Parkplatz vorfand.
    Als er in die Dienststelle eintrat und auf dem Flur Richtung Großraumbüro einige Kollegen grüßte, sah er bereits durch die Tür, dass Kevin an Jennys Tisch lehnte, die Arme verschränkt hatte und sich mit der jungen Frau unterhielt, die vom Schreibtisch aufblickte. Beide lächelten, beide redeten abwechselnd und zwischendurch lachte Jenny einmal auf. Beider Blicke wechselten zu Ben, als dieser durch die Raumöffnung schritt und einen guten Morgen wünschte, den Gruß erwiederten Jenny und Kevin lächelnd. "So früh schon da?", wunderte sich Ben, den er hatte seinen Partner nicht unbedingt als pünktlichen Menschen im Kopf... oder traf das nur auf den damaligen Kevin zu, der nur mit Whisky einschlafen konnte? "Wer sagt denn, dass ich überhaupt weg war?", meinte Kevin lächelnd und Jenny neben ihm grinste ebenfalls, so dass Ben irritiert zwischen den beiden jungen Leuten hin und her blickte, bevor er sich jedoch fing und seinen Freund von oben nach unten anblickte. "Deine Gaderobe.", antwortete er schlagfertig, denn Kevin hatte nicht das Shirt und offene Hemd von gestern an, sondern diesmal ein dünnes Langarmshirt mit Schnüren am Hals. "Gut beobachtet, Sherlock.", konterte der junge Polizist, und die junge Frau in Uniform spürte die gute Chemie zwischen den beiden Männern, wie auch ihr Tischnachbar, der erfahrene Hotte Herzberger erkannte.


    Während Kevin sich vom Tisch abstieß, mit einem kurzen Lächeln von Jenny "verabschiedete" und Ben ins eigene Büro folgte, stand Herzberger auf, um sich einen Kaffee zu holen. Vorher blieb er bei Jenny am Tisch stehen und beugte sich zu der jungen Frau herunter: "Es freut mich wirklich, dass die beiden so gut miteinander klarkommen.", raunte er ein wenig leiser der Polizistin zu. Sie blickte ein wenig fragend zu ihm auf. "War das denn vorher anders?", fragte sie neugierig, denn sie kannte Ben bisher wenig und Kevin überhaupt nicht. Vom letzten Fall bekam sie gar nichts mit, und im Winter als Ben, Semir und Kevin André als Mordverdächtigen unter Verdacht hatten, war sie noch nicht auf der Dienststelle. "Warte einen Moment.", sagte Herzberger und ging gemächlich zuerst zur Kaffeemaschine, um mit zwei dampfenden Tassen zu Jenny an den Schreibtisch zurück zu kehren. "Bitte, mit Milch und Zucker, richtig?", fragte er lächelnd und schob Jenny die Tasse hin, die dankend nickte. Herzberger trank seinen Kaffee schon immer schwarz. "Ich sag es dir im Vertrauen, okay?", begann er kurz und blickte einmal kurz durch die Glasscheibe in das Büro der beiden Polizisten. "Als ich Kevin kennenlernte war er ein anderer Mensch. Er stieß in dem Fall mit Semir und Ben auf den Mörder seiner Schwester. Das hatte ihn sehr mitgenommen.", erzählte er leise mit seiner beinahe väterlichen Stimme. "Seit er jetzt aber mit Ben zusammenarbeitet, ist er viel offener, lebensfreudiger geworden. Das freut mich für den Jungen. Ben tut ihm gut, weil er im gleichen Alter ist, und die beiden als Typ zwar sehr verschieden, aber doch recht gleich sind." Jenny schaute etwas bestürzt, als Hotte die Ermordung von Kevins Schwester ansprach. "Was ist damals passiert?", fragte sie mehr betroffen, als wirklich neugierig. Der erfahrene Polizist schaute nachdenklich, als würde er grübeln, ob er alles selbst erzählen sollte. "Ich weiß nur, dass sie damals vor seinen Augen erstochen wurde, nachdem man ihn schwer verletzte, und er trotzdem alles mitbekam. Das war für ihn sehr schwer, weil er sich Vorwürfe gemacht hat." Die junge Frau blickte mitleidsvoll durch die Glasscheibe ins benachbarte Büro, blickte auf Kevins Seitenprofil, da er den Kopf gerade aus dem Fenster richtete. "Und wie meinst du, dass Ben ihm gut tut?", fragte sie um von diesem unangenehmen Thema abzulenken, denn Jenny war klug und spürte instinktiv, dass Hotte es schwer fiel, zuviele Details zu verraten. "Kevin hatte mir mal erzählt, dass er durch seine Art und sein äußerliches Auftreten auf vielen Dienststellen nie akzeptiert wurde, isoliert wurde. Er ist ein Junge von der Straße, und das hat er nie abgelegt.", erzählte Herzberger. "Ja... das fällt ein wenig auf.", wurde ihm beigepflichtet. "Und Ben ist selbst von seiner Art her kein typischer Vorzeigepolizist, wie die Spießer beim LKA oder der Mordkommission, wo Kevin war.", lachte er ein wenig beherzt auf, und auch Jenny musste grinsen, und ihm erneut beipflichten. "Ich glaube, Kevin hat zum ersten Mal einen Partner, der mit ihm auf einer Wellenlänge liegt. Semir natürlich auch. Es freut mich einfach, dass der Junge aus seinem Tief herausgekommen ist." Die Polizistin nickte, und es war interessant Kevins Geschichte ein wenig zu hören. Sie war neugierig, und wollte den, trotzdem immer noch etwas schweigsamen jungen Mann gerne kennenlernen. "Er ist ein guter Junge im Herzen... aber ich glaube das jeder es schwer hat, wirklich hinter seine Fassade zu blicken.", meinte Hotte, bevor er sich wieder zurück an seinen Schreibtisch zog, und weiter Anzeigen bearbeitete von der letzten Streife mit seinem Partner Dieter Bonrath.


    Ben warf den Hörer auf die Gabel und blickte zu seinem Partner rüber. "Also, die Hundestaffel ist in einer Stunde soweit. Wir kriegen drei Wau-Waus und 30 Mann." Sein Gegenüber warf einen Blick auf die Uhr hinter sich an der Wand. "Also schlagen wir so gegen viertel vor 10, 10 da hinten auf.", mutmaßte er und empfing Bens Nicken als Zustimmung. "Was denkst du werden wir finden?", fragte er noch, den er wollte eine Erwartungshaltung von Ben wissen. Erwin Plotz, sein erster Partner bei der Mordkommission, ein übelgelaunter zynischer Kommissar hatte dem jungen Polizisten doch oftmals auch recht nützliche Dinge während den Ermittlungen beigebracht, so auch immer wieder nach den Gedanken und Gefühlen des Partners zu fragen. Oftmals verlor man sich in den eigenen Gedanken über den Fall, ohne diese dem Partner mitzuteilen. Jede Einschätzung oder Meinung über solche Gedanken konnten wichtig sein. "Viele Akten, die zum Sichten sind.", vermutete Ben und zwinkerte scherzhaft, während Kevin die Augen verdrehte und den Kopf in den Nacken warf. "Nein, ernsthaft. Ich bin mir gar nicht sicher, dass wir was finden. Wenn das ein großangelegter Verkauf zu illegalen Zwecken werden soll, wird der Typ kaum so blöd sein, und verräterrische Unterlagen in seinem Büro verstecken. Wir können nur auf einen Zufallsfund hoffen." Diesmal nickte Kevin zustimmend. "Die gleichen...", begann er und wurde unterbrochen, als Bonrath zur Tür hereinstürzte: "Leute... auf dem Rasthof "Zum Oerschbach" wurde wieder aus einem fahrenden Auto auf andere Menschen geschossen. Wir haben wohl wieder Verletzte!", rief er schwer atmend, während Ben und Kevin sich erschrocken und verwundert anschauten...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • 08:30 Uhr - Dienstwagen


    Ben und Kevin schnappten sich gerade noch die Jacken von ihren Stühlen, bevor sie im Laufschritt zum silbernen BMW liefen. Das Wetter draussen war recht frisch, es war zugezogen und hatte sich abgekühlt. Kevin setzte sich hinters Steuer, der junge Kommissar war noch auf dem Beschleunigungsstreifen als sein Partner das blaue Blinklicht einschaltete. "Verstehst du das?", fragte er herüber. "Ne... ausser es gibt noch Entscheidungsträger, die bei Bauer Electronics was zu sagen haben, und aus dem Weg geräumt werden müssen.", antwortete der Fahrer des silbernen BMWs, wechselte auf die Überholspur und beschleunigte. Sein Freund dachte nach und sah dabei aus dem Fenster in den grauen Himmel. "Ich weiß nicht...", murmelte er leise. Zwei Anschläge innerhalb von zwei Tagen... da schien jemand keine Zeit zu verlieren. Aber zweimal auf einem Rastplatz... war es jedesmal ein Zufall dass der Killer die Zielpersonen auf einem Rastplatz vorfand? Ben zog die Stirn in Falten und blickte durch die Seitenscheibe, sah die Autos an sich vorbeizischen, als Kevin auf der Überholspur an einer Kolonne vorbeizog.


    Einige Fahrzeit später erreichten sie den Parkplatz. Zwei Streifenwagen waren bereits da, hielten Schaulustige von dem Tatort ab. Auch ein RTW war bereits vor Ort, die Zentrale hatte schnell reagiert und Cobra 11 erst später informiert. Ein Beamter hielt die Absperrung hoch, damit Kevin darunter durchfahren konnte, und beiden Polizisten stockte kurz der Atem als sie die beiden weißen Laken sahen. "Offenbar doch nicht nur Verletzte.", murmelte Ben düster, und beide stiegen aus. Kollege Meisner war bereits da, sah immer wieder unter eins der Laken, machte sich Notizen, ging über den Parkplatz, suchte hier und da nach Spuren. Ihm folgte wieder eine Schar von weißgekleideten Mitarbeitern der SpuSi. "Morgen Männer.", begrüßte er die beiden Polizisten freundlich, hob aber abwehrend die Hände, über die er sich Gummihandschuhe gezogen hatte, als Ben ihm die Hand geben wollte. "Achja...", sagte der "Morgen...". "Wird wohl zur Gewohnheit, dass wir uns morgens auf Rastplätzen treffen, hmm?" kalauerte der Chefarzt der Pathologie und SpuSi, grinste dabei die beiden Kommissare an, denen gerade nicht zum Lachen zu Mute war. "Ich hoffe nicht.", meinte Kevin kurz und knapp. Er beugte sich herunter und griff das weiße Laken, doch Meisner hielt ihn erst davon ab. "Ich hoffe, du hast noch nichts gegessen..." Der junge Polizist verharrte kurz in der Hocke, und sah nach oben. "Wieso?" "Sieht nicht so hübsch aus da drunter." Kevin blickte Ben kurz an, er wusste nicht wie sein Kollege auf sowas reagierte. Er selbst hatte schon viele Todesopfer bei der Mordkommission gesehen, und hübsch war sowas nie, also hob er die weiße Folie an und linste drunter. Er empfand keinen Ekel oder Grauen, aber dennoch verzog er das Gesicht. "Boah, ne ... das sieht nicht gut aus." Von dem Gesicht der männlichen Person war nur noch wenig zu erklären, zwei Kugeln trafen den Mann in Wange und Augenhöhle. Von der Kleidung her erfüllte er jedes Klischee eines Motorradfahrer, er trug schwarze Lederhose und Jacke, mit einigen Nieten. Eine große Blutlache hatte sich um den Kopf des Mannes gebildet.
    Ben trat neben Kevin und schaute ebenfalls drunter. Ihm stellten sich zwar die Nackenhaare auf und der Magen wurde etwas flau, aber auch Ben war einiges gewohnt. Als Autobahnpolizist hatte man es tagtäglich mit Unfallopfern zu tun, und wenn ein LKW mit einem Smart zusammenrauschte konnte auch das manchmal sehr hässlich sein. "Sieht nicht unbedingt wie ein Entscheidungsträger eines Großkonzerns aus.", meinte Ben nachdenklich, als Kevin die Plane wieder fallen ließ und zum zweiten Opfer ging. Hier gab es keine Warnung von Volker Meisner, hier war es auch nicht so schlimm. Zwei Treffer in die Brust waren todesursächlich, und anhand der Kleidung schien es ein Kollege des ersten Opfers zu sein.


    "Kannst du uns schon was sagen?", fragte Ben dann den Chefarzt, der sich kurz erhob und seine Arbeit unterbrach. Er hob zwei Plastikbeutelchen nach oben. "Einmal die Personalausweise der beiden Herren.", dabei winkte er mit dem rechten Beutelchen... "und einmal eine Kugel, die ich aus der Leitplanke da hinten rausgekratzt habe. Der Schütze hat sein Opfer einmal verfehlt. Schussrichtung von der Fahrspur...", gestenreich drehte sich Meisner und deutete auf die Fahrspur des Rastplatzes hin... "hier rüber. Die Zeugen haben euren Kollegen gesagt, er hätte wieder aus dem fahrenden Auto geschossen." Kevin zog die Stirn in Falten und sah Meisner ein wenig schräg an. "Wieder? Hast du im Gefühl, es war derselbe wie gestern?" "Der Hergang ist exakt gleich. Entweder der gleiche Täter, oder ein Trittbrettfahrer, der auf Kosten des ersten Killers mal eben auch rumballern wollte." Beide Kommissare sahen sich ein wenig wehleidig an. "Na klasse, das erleichtert die Ermittlungen ja ungemein.", stöhnte Ben. "Die Kugel jedenfalls gehört zum gleichen Waffentyp wie gestern. Den Bericht wollte ich euch heute morgen eigentlich faxen. 9mm, wie in euren Heckler & Koch." Kevin drehte sich nochmal zur Plane des ersten Opfers und sah nochmal drunter. "Glaubst du, der wollte die Kugel genau dahin haben? Ins Auge?" Meisner und Ben kamen zu ihm. "Ich weiß nicht. Ob das nicht Zufall war?", murmelte sein Partner. "Wenn es gewollt war ist er ein hervorragender Schütze. Aus einem fahrenden Auto schnell schießen um 4 Kugeln abzugeben und dann einmal so gut zielen.... ich weiß nicht.", war sich auch Meisner nicht unbedingt sicher. Kevin ließ die Plane erneut fallen und wischte sich die Hände, obwohl absolut sauber, an der Jeans ab. "5 Schüsse", verbesserte Ben den Arzt, der ihm scherzhaft die Zunge rausstreckte.


    Inzwischen standen Bonrath, Herzberger und auch Jenny bei den Schaulustigen, und schrieben eifrig Zeugenaussagen. Ben war froh, dies diesmal nicht übernehmen zu müssen, und beide Polizisten ließen Meisner weiterarbeiten. Kevin lächelte in Jennys Richtung, die sein Lächeln erwiederte. "Na, was habt ihr rausgefunden?", fragte Ben und lächelte auffällig ebenfalls in Jennys Richtung um Kevin ein wenig zu verulken. Auch Bonrath und Herzberger kamen dazu. "Ach, Ben... man könnte meinen, 10 Leute hätten 11 verschiedene Fahrzeuge gesehen." "Einer sah einen mintblauen Mercedes, der aussah wie ein BMW.", vervollständigte Bonrath das Dilemma. "Mintblau?", wiederholte Kevin verständnislos, und musste, wie jeder der Dienststelle, zu Bonrath aufsehen. "Wunderst du dich jetzt noch über die tolle Fahndungsmeldung von gestern?", fragte Ben und fuhr sich mit einer Hand durch die langen Haare. "Der einzige, der sich relativ sicher war mit dem, was er gesehen hatte, war der Junge da hinten.", sagte Jenny und zeigte auf einen kleinen Jungen mit halblangen blonden Haaren. "Er meinte, es wäre sicher ein Mercedes gewesen, eine neue A-Klasse in himmelblau. Er hatte die Modellbezeichnung genau gesehen und konnte mir sogar Hubraum und PS sagen.", lachte sie ein wenig. "Autoquartett.", sagte Kevin einsilbig und wurde von Ben fragend angesehen. "Ja, der Junge spielt bestimmt Autoquartett. Ich wusste das als Kind auch von allen Autos.", meinte der Polizist schulterzuckend, während sein Freund eine Seite der Lippen hochzog und grinste. "Aber das Nummernschild hat er nicht gesehen. Er sah das Auto, sah die Bezeichnung, hat in seinen Karten gesucht... dann gab es die Schüsse und das Auto fuhr davon.", berichtete Jenny weiter. "Naja... dann... Fahndung ohne Nummernschild nach einem A-Klasse mit der Modellbezeichnung, die der Junge gesehen hat.", sagte Ben... doch er sagte es unsicher, als wüsste er dass dort zuviele Fahrzeuge für in Frage kommen. Trotzdem erhielt er von Kevin ein Nicken, und ein kurzes "Bleibt uns ja nichts anderes übrig..."

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  • Dienststelle - 10:00 Uhr


    Die fünf Polizisten trafen in ihren Dienstwagen fast zeitgleich wieder in der Dienststelle ein. Ben und Kevin hingen gerade ihre Jacken wieder über die Stühle als Jenny, Dieter und Hotte ins Büro hereinkamen. "Jenny, wir brauchen alle Informationen über die beiden toten Motorradfahrer. Vor allem im Hinblick auf eine Verbindung zu Bauer Electronics. Egal was, ob die da mal gearbeitet haben, für eine Zubringerfirma oder ne solarbetriebene Taschenlampe dort gekauft haben, das müssen wir wissen." Jenny grinste ob Bens kleinem Scherz und nickte. Die junge Frau setzte sich an Andreas PC und begann sofort konzentriert zu tippen. "Ben.", rief Herzberger und der Polizist drehte sich aufmerksam zu seinem dicken Kollegen, als auch Kevin dazukam. "Mir ist die unterschiedliche Größe des Motorradfahrers aufgefallen. Der, der die Verletzungen im Gesicht hatte war um einiges kleiner. Ich glaube nicht, dass der absichtlich ins Gesicht getroffen wurde." Die Polizisten nickten zustimmend. "Ja, das ist mir auch schon aufgefallen.", antwortete Ben, und sah hektisch auf die Uhr. "Die Hundestaffel wartet sicher auf den Einsatzbeginn... wir müssen die anrufen, und...", doch er wurde von der Chefin unterbrochen, die wohlwollend beobachtete, wie Ben langsam Semirs Führungsrolle einnahm. Kevin traute sie das nicht zu. Sie ging auf ihre Beamten zu, und sagte: "Brauchen sie nicht. Die Staatsanwaltschaft hat sofort nach dem Mord heute morgen den Durchsuchungsbeschluß zurück gezogen." Alle vier Polizisten sahen überrascht auf, während Jenny weiter am tippen war. "Wieso kann die Staatsanwaltschaft einfach den Beschluß zurückziehen?", fragte Kevin verständnislos, während er neben Jenny am Tisch lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. "Ich musste sowieso mit Engelszungen reden um den Beschluß zu bekommen. Bauer Electronics hat im Ruhrgebiet ein sehr hohes Ansehen, was niemand beschmutzen will. Der zuständige Staatsanwalt gab den Beschluß nur sehr widerwillig heraus. Und da jetzt noch ein Mord passiert ist, der anscheinend nichts mit Bauer Electronics zu tun hat, war das eine günstige Gelegenheit um den Beschluß zurück zu ziehen.", erklärte die Chefin, und man hörte deutlich ihren Missmut darüber aus ihrer Stimme. "Aber Chefin, das wissen wir ja noch gar nicht, ob die beiden Toten etwas mit Bauer Electronics zu tun hatten.", entgegnete Ben aufgebracht. Anna Engelhardt war zu lange im Geschäft um sich darüber noch aufzuregen und nickte mit weiten Augen. "Und wenn sie es rausgefunden haben, dann können wir einen neuen Antrag stellen, meine Herren." Ben ließ resignierend die Hände sinken, Kevin verzog neben Jenny keine Miene. "Und vor allen Dingen... finden sie heraus wer unsere Raststellen als Schießstand benutzt.", setzte die Chefin streng hinzu und warf die heutige Ausgabe des Kölner Express bei Hotte auf den Schreibtisch. "Anschlag auf Rasthof" prangte dort in großen Buchstaben. "Nehmen sie diesen Bullshit etwa ernst?", fragte Kevin ein wenig provokant, und die Augen der Chefin verengten sich ein wenig. "Ich nicht, Herr Peters. Aber die Bevölkerung und der Polizeipräsident. Das sollte reichen.", meinte sie gereizt. "Ermitteln sie in alle Richtungen und ziehen sie alle Möglichkeiten in Betracht. Lassen sie mich wissen, wenn sie Verstärkung von der Mordkommission brauchen." Mit diesen Worten drehte sie sich um und kehrte ins Büro zurück.


    "Hoi, hat die eine Laune...", pfiff Bonrath, der früher desöfteren den Missmut der Chefin abbekommen hatte. Herzberger pflichtete ihm nickend bei, während Ben kopfschüttelnd durch das Großraumbüro schritt. Kevin stand immer noch schräg hinter Jenny und sah ihr über die Schulter. Im Lebenslauf der beiden Toten, namentlich Egon Ritter und Paul Uth, war Bauer Electronics kein Thema. Beide waren LKW-Fahrer bei einer Zuliefererfirma einer Stahlfabrik im Ruhrgebiet. "Also auf den ersten Blick sehe ich keine Verbindung zu Bauer Electronics.", meinte Jenny ein wenig enttäuscht. "Also wenn das nur ein Trittbrettfahrer war, dann können wir uns gratulieren.", meinte auch Kevin einigermaßen resignierend, und blickte zu Ben auf, der die Hände in den Nacken gelegt hatte und Jenny vor dem Tisch gegenüber stand. "Und wenns ein Verrückter ist?", fragte Bonrath nun und schaute zwischen seinen Kollegen hin und her. "Wie meinst du das?" "Naja... ein Irrer eben... der wahllos auf Menschen schießt, aus Auto heraus. So etwas hatten wir schon mal vor Jahren." Er stupste Herzberger neben sich an. "Du weißt das doch noch. Dieser Irre mit der Metallplatte im Kopf der mit Granaten auf Autos geworfen hat, weil er als Kind einen Autounfall hatte, und dabei fast ums Leben gekommen war." Hotte nickte nachdenklich, kam seinem Freund aber zuvor: "Aber der Kerl ist mit seinem Hubschrauber in die Luft geflogen. Tom und Semir hatten das doch ganz klar gesehen." Kevin zog einen Mundwinkel nach oben und wog den Kopf hin und her: "Seit André vertraue ich niemandem mehr, der mir sagt, er wäre tot." "Trotzdem!", beharrte der erfahrene Polizist. "Ausserdem ging es dem doch um Feuer und Explosionen, weil er das Traume im brennenden Wagen hatte. Und nicht darum, Leute abzuknallen." "Da hast du auch recht.", sagte Bonrath nachdenklich.


    "Also wir ermitteln erstmal in die Richtung Bauer. Wir müssen uns mit den Familien der beiden Toten unterhalten. Am besten gleichzeitig und so schnell wie möglich.", sagte Ben, der den Gedanken seiner Kollegen stumm gefolgt war. "Gute Idee. Ich fahre mit Jenny zu der einen Familie, und du mit Hotte zu der anderen.", schlug Kevin vor und grinste erst Richtung Ben, dann in Richtung Jenny, der dieser Vorschlag offenbar gefiel. Ben setzte eine freundlich grinsende Miene auf, als hätte er diesen Vorschlag nicht schon von seinem Freund vermutet. "Schon klar.", war sein Kommentar, und sein Nicken war eine Bestätigung. Hotte und Jenny verschwanden in die Umkleidekabine um zivile Kleidung anzuziehen, Bonrath übernahm den Sekretärsjob. Ben stellte sich dicht neben Kevin, und nahm dessen Haltung ein. "Du stehst auf Jenny, oder?", fragte er leise. Kevin zog die Stirn etwas ablehnend in Falten und schüttelte den Kopf. "Ich finde sie nett, und würde sie gern besser kennenlernen. Sonst nichts.", wehrte er Bens Vermutung ab und sah seinem Kollegen ins Gesicht. "Keine Sorge."

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  • Pool – 11:00 Uhr

    Semir, Andrea und die Kinder waren am Morgen mit herrlicher Urlaubslaune aufgestanden, und ins Restaurant zum Frühstück gegangen. Semir hielt immer mal wieder Ausschau nach André, doch er konnte den großgewachsenen Animateur nirgends entdecken. Am Frühstückstisch wurde viel mit den Kindern gelacht, Ayda war stolz darauf, alleine mit Lilly zum Büffet zu gehen und Frühstück zu holen, und die Kinder waren begeistert, dass sie sich nehmen konnte, so viel und so oft sie wollten. Die Familie wollte sich beim Frühstück so satt essen, dass man mittags nur noch ein Imbiss oder etwas Obst aß, dafür aber dann beim Abendessen wieder ordentlich zulangen konnte.
    Nach dem Frühstück wollten die Kinder unbedingt in den Hotelpool, statt ein wenig den Ort weiter zu erkunden und richtig ins Meer zu gehen. Andrea und Semir gaben den Wünschen ihrer Kinder lächelnd nach, und relaxten zusammen am Pool.

    Eine Zeitlang tollte Semir mit seinem beiden Töchtern im Wasser herum. Ayda hatte eine neue Taucherbrille bekommen und konnte schon recht anständig schwimmen. Semir hob sie über die Schulter, als sie es zum ersten Mal schaffte unter seinen Beinen durch zu tauchen. Lilly hatte ihre Schwimmflügelchen an und planschte an sicheren Stellen mit ihrem Papa. Andrea beobachtete das Ganze mit großem Vergnügen von der Liege aus, wenn sie über den Rand ihres Buches blickte. Nach einer halben Stunde setzte sich Semir japsend zu ihr und gab ihr einen nassen, mit chlorgeruch umsäumten Kuss auf die Wange. Die Liegen standen dicht am Pool, so dass sie immer ein Auge auf ihre Töchter hatten, doch Ayda konnte man ihre kleine Schwester durchaus schon anvertrauen.

    Andrea spürte immer noch, wie Semir sein Problem vor sich her schob. Sie kannte es, doch das wusste ihr Mann nicht… doch irgendwann müsste sie es ihm beichten, dann konnte sie ihm besser helfen, dann würde der Polizist auch mit ihr offen darüber reden, was ihm sicherlich helfen würde. Sie legte ihr Buch zur Seite und blickte ihren Mann durch die verspiegelte Sonnenbrille an. „Semir, weißt du was ich an dir schätze.“ „Oh, da fallen mir viele Dinge ein.“, sagte er scherzhaft und lachte auf. Andreas Finger glitten über die noch feuchte Haut seiner Oberarme. „Ich mag es, dass du geradeaus und ehrlich bist zu deinen Freunden... und zu mir.“, meinte sie leise und traf damit genau den wunden Punkt bei Semir. Er verschwieg seiner Frau einen zentralen Grund dieses Urlaubs, dieses dunkle Geheimnis was ihm Seitenfach seines Koffers versteckt war. Und er war nicht ehrlich zu seinem Freund André. „Findest du?“, fragte er unsicher und erhielt von seiner Frau ein bestärkendes Nicken, das ohne Nachdenken erfolgte. In Semirs Bauch breitete sich Unbehagen aus. „Aber ich bin auch ehrlich zu dir.“, sagte sie leise weiter, als würde sie ihm die schönsten Liebesgeständnisse ins Ohr flüstern. „Ich weiß weshalb wir hier sind.“ Semirs Augen weiteten sich, ihm lief es plötzlich kalt und heiß den Rücken runter, und obwohl das Wasser auf seiner Haut noch kühlend wirkte, fühlte er sich plötzlich wie in einer Sauna. „Was… was meinst du damit?“, stotterte er unsicher. Beruhigend und sehr vertraut legte Andrea eine Hand auf seine behaarten Oberschenkel und streichelte ihn zärtlich. „Ben hat es mir gesagt. Sei ihm nicht böse… er wusste selbst nicht weiter.“ Andrea war ehrlich zu ihrem Mann, auch wenn sie Ben damit verriet. Doch sie war sich sicher, dass Semir seinem besten Freund nicht böse war, wenn sie ihm dabei half. „Es ist doch auch okay. Ich wusste es, bevor wir hierherkamen und ich bin mitgekommen. Ich mache mit den Kindern Urlaub, und du löst euer Problem. Okay?“, sagte sie mit aufmunternder Miene und wunderte sich über sich selbst. Der Schock, als sie hörte das André ein kaltblütiger Mörder sei, kam überhaupt nicht mehr in ihr auf und Semir bewunderte seine starke Frau dafür. „Was… was weißt du genau?“, fragte er, und die Unsicherheit konnte er nicht ganz ablegen. „Alles Semir. Von den Fotos, und davon was André Kevin erzählt hat.“ Semir atmete hörbar aus und strich sich mit einer Hand über die, fast schon wieder getrockneten kurz geschorenen Haare. „Semir… ich glaube Kevin, was er gesagt hat. Aber trotzdem müsst ihr eine Lösung finden. Du kannst die Sache nicht dein Leben lang vor dir herschieben.“, redete die Sekretärin der Dienststelle auf den kleinen Polizisten ein. „Du sagst es so einfach…“, entgegnete der. „André hat sich hier ein neues Leben aufgebaut, mit dem er glücklich ist. Er hat mehrmals betont, dass er seine Vergangenheit endlich hinter sich lassen will. Ich…“, er stockte kurz und sah auf die Terracotta-Fliesen zu seinen Füßen… „ich kann ihm das doch nicht alles zerstören.“

    Andrea sah ihren Mann nachdenklich an und konnte jedes Wort nachvollziehen. Das war wirklich ein schreckliches Dilemma. „Und… wenn du ihn darauf ansprichst um nur seine Sicht zu hören? Dann fällt dir eine Entscheidung, was du tust, vielleicht leichter. Und vielleicht ist das alles, was dich belastet… seine Erklärung.“ Semir blickte auf seine beiden spielenden Kinder und seine Gedanken waren plötzlich weit abgerückt. Sie waren bei André, in dieser staubtrockenen Umgebung wo der Mann mit verbundenen Augen vor ihm kniete, André seine Waffe auf ihn richtete und im nächsten Moment abdrückte. „Eins kann ich dir versprechen… wenn du hier wegfliegst, und nicht mit ihm darüber geredet hast, wird es dich weiterverfolgen.“ Der erfahrene Polizist konnte gar nicht anders, als seiner Frau mit einem Nicken recht zu geben.

    Als Andrea kurz aufblickte verstummte sie und rief überdeutlich laut: „Guten Morgen, André.“ Semir blickte ein wenig aufgeschreckt herum und sah den großgewachsenen Mann in Flip-Flops, Hotel-Shirt und Bermuda-Shorts auf sie zu schlappen. „Guten Morgen. Na, habt ihr gut gefrühstückt?“, fragte er sie einerseits als Freund, andererseits schon beinahe als Hotel-Angestellter, um freundlich zu wirken. Doch sein Grinsen verriet ersteres. „Oh ja. Das frische Obst, der Sekt… sehr gut.“, schwärmte die Frau und lächelte, während Semir nur etwas scheu blickte und nickte. „Darf ich mir das Familienoberhaupt mal für 2-3 Stunden ausleihen?“, fragte der ehemalige Polizist mit Blick auf Semir, dessen unsicherer Gesichtsausdruck nun einem überraschten wich. „Natürlich.“, meinte Andrea und würde mit den Kindern am Mittag die ein oder andere Attraktion im Kinderclub besuchen. Dort stand heute Bogenschießen und Minigolf auf dem Programm.
    „Was hast du vor?“, fragte Semir nun neugierig seinen Freund, der lächelte. „Es wird dir gefallen. Es ist eine Überraschung.“, meinte er zwinkernd. „Wir treffen uns in 10 Minuten am Hoteleingang. Zieh dir ne kurze Jeans oder so an, und feste Schuhe. Und ein kleiner Rucksack mit ein oder zwei Flaschen Wasser, okay?“ Das klang nach Spaß, dachte Semir im ersten Augenblick… und vielleicht nach der richtigen Gelegenheit, André auf die Fotos anzusprechen. Er nickte jedenfalls mit Vorfreude, und versprach gleich am Eingang zu sein…

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  • Playa del Inglés - 11:30 Uhr


    Semir's Kopf glühte, als er sich im Hotelzimmer umzog. Das kam nicht etwa davon, dass es bereits sehr warm draussen war, sondern von Andrea's Gespräch. Sie hatte die ganze Zeit von André's Geheimnis gewusst, war stumm mitgeflogen und quasi ihren Jahresurlaub aufs Spiel gesetzt, auf den sie sich so lange schon freut, im Wissen dass es vielleicht kein idyllischer Urlaub wird. Semir bewunderte seine Frau, und war ihr im Stillen unglaublich Dankbar für ihren Beistand.
    Jetzt packte er seinen Rucksack zusammen... weiß Gott was André vor hatte. Der Polizist nahm zwei Plastikflaschen Wasser, und stellte sie hinein, dazu etwas Proviant und seine Sonnenbrille. Für einen Moment stand er im Raum und sah auf die Uhr... André wartete sicher schon. Sein Herz pochte, und der kleine Kommissar hörte seinen eigenen Atem im ruhigen Hotelzimmer, durch dessen Fenster von Palmenblättern geschützt nur ein bisschen Sonne einfiel. Langsam, mit schwitzenden Händen durchwühlte er seinen Koffer bis zum untersten Fach, wo er den braumen DIN-A4-Umschlag mit den Bildern herauszog. Er wollte sie sich nicht nochmal ansehen um sich zu vergewissern, dass sie wirklich alle drin sind, sondern er schob sie einfach nur in den Rucksack, den er dann schloß und sich selbst umhängte. Ein kurzes Durchatmen, bevor er das Zimmer verließ...


    André wartete vor dem Hoteleingang, als sein Freund Semir durch die Eingangshalle ging, den Rucksack auf einer Seite tragend, und seinen ehemaligen Partner erblickte. Semirs etwas angespannter Gesichtsausdruck löste sich in einem Grinsen, als er sah was André vorbereitet hatte. "Das ist ja mal klasse.", meinte er mit breitem Mund. "Zu viel versprochen?", fragte André und freute sich, dass die Überraschung gelungen war. Am Straßenrand parkten zwei Strandbuggys, die für die beiden Männer bereitstanden. "Ich dachte, das wäre das richtige Gefährt um ein wenig die Insel zu erkunden, oder?" Semir klopfte seinem Freund auf den Rücken und ging zum hinteren Buggy. "Da hast du verdammt recht gehabt.", sagte er nur und ließ sich voll Vorfreude in das Gefährt hineingleiten. Der dünne Schlüssel steckte und André musste seinem ehemaligen Partner nicht erklären wie diese Babys funktionierten. Er kannte sich aus, als würde er vorfahren und Semir einige herrliche Küstenstraßen und Bergstrecken zeigen. Helmpflicht bestand nicht in diesen Dingern, doch beide Männer setzten ihre Sonnenbrille auf um vor Staub und Steinchen geschützt zu sein. Die kleinen Motoren der Buggys krächzten auf, als sie den Schlüssel umdrehten und André fuhr vorne erst ein Stück durch den Ort und dann Richtung Schnellstraße, die zu den Küstenstraßen führte.



    Einfamilienhaus Ritter - 11:45 Uhr


    Das leise Ticken der Küchenuhr hatte etwas von einem gespenstischen Zusatz zum regelmäßigen, immer leiser werdenden Schluchzen von Christina Ritter. Sie hatte sich an den Küchentisch gesetzt und hemmungslos begonnen zu weinen, als Ben und Herzberger ihr so schonend wie möglich den Tod ihres Mannes beigebracht hatten. Zur Sicherheit hatten sie einen Krankenwagen bereits in Bereitschaft und einen Notfallseelsorger im Auto vor der Tür stehen gehabt, doch Christina fing sich langsam wieder. Sie wurde kreidebleich, begann zu weinen, doch jetzt wurde sie leiser. Ben nahm vorsorglich den Topf mit kochendem Wasser vom Herd und schaltete diesen aus, während der erfahrene Herzberger der armen Frau alle Zeit ließ, sich zu beruhigen.
    "Ich weiß, es ist sicher schwer für sie, Frau Ritter... aber wir müssten ihnen einige wichtige Fragen stellen.", sagte Ben leise, der sich nun zu Frau Ritter und Herzberger, die beide am Tisch saßen, stellte. Er war erleichtert, denn die Reaktion von der Witwe war noch recht angenehm für die Polizisten. Viele Menschen, denen sie Todesnachrichten überbringen mussten, reagierten anders, unvorhergesehen, aggressiv... Das einfache Weinen war da noch recht annehmbar. Frau Ritter nickte zweimal, eine hübsche Frau, vielleicht Ende 30 mit rehbraunen Augen und langen, zum Zopf zusammengebundenen Haaren. Ben taste sich nach vorne mit seinen Fragen, wie ein Blinder der immer langsam einen Fuß vor den anderen setzte um zu ertasten, wann der Abgrund kommen möge...


    "Hatte ihr Mann vielleicht irgendwelche Feinde?" Die Frau schien kurz nachzudenken, als ihre feuchten Augen durch den Raum glitten. Dann schüttelte sie den Kopf. "Nicht dass ich wüsste...", sagte sie beinahe im Flüsterton. "Vielleicht aus seiner Motorradgruppe? Oder einer anderen Gruppe?", fragte Herzberger nun, ebenfalls vorsichtig und mit leisen Worten. Ein kurzes Schluchzen unterbrach die Stille, bevor die Frau antwortete: "Nein. Die haben sich da alle gemocht. Und die haben sich auch nie mit anderen Gruppen angelegt. Da bin ich mir sicher." Ben tippte einige Informationen in sein Smartphone, bevor er nach dem heutigen Tag fragte, aber wirkliche Hinweise konnte er der Frau nicht entlocken. Ihr Mann habe Urlaub, und sei deswegen öfters mit seinem Motorrad unterwegs. Den Freund, mit dem er unterwegs war kenne sie nur vom Sehen. Es waren allgemeine Infos, nichts was Ben oder Hotte aufhorchen ließ, und so behielt sich der Polizist die letzte Frage zum Schluß auf. "Kennen sie Bauer Electronics?" Die Frau blickte zu Ben auf, eine Mischung aus Verständnislosigkeit und Verwirrtheit. "Nein... was soll das sein?" Ein wenig Enttäuschung machte sich in dem Polizisten breit. "Es gab gestern einen ähnlichen Anschlag auf die Familie eines großen Elektronikkonzerns, Bauer Electronics. Wir prüfen Zusammenhänge zu diesem Anschlag.", erklärte er und hing der Frau mit den Augen an den Lippen. Nochmals überlegte sie, ihr Blick ging an den beiden Männern vorbei, als suche sie irgendwelche Erinnerungsschnippsel, die sie mit diesem Namen oder dieser Firma in Verbindung bringen könne... doch sie fand nichts. Sie verneinte abermals, und so sprachen die beiden Polizisten ihr Beileid aus, bevor sie ohne hilfreiche Informationen das Haus verließen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Mehrfamilienhaus Uth - gleiche Zeit


    Jenny und Kevin hatten sich im Auto die ganze Zeit unterhalten, so dass beiden die Fahrt zum Mehrfamilienhaus, in dem das zweite Mordopfer Paul Uth gemeldet war, sehr kurz vorkam. Jenny erzählte, warum sie sich entschieden hatte, zur Polizei zu gehen, und dass sie froh war jetzt langsam den Schritt vom Streifendienst zur Kripo zu wagen. Kevin war sehr interessiert, hörte zu, erzählte von sich allerdings eher wenig... nur dass er mit 4 Jahren von Hamburg nach Köln gezogen war. Die junge Frau auf dem Beifahrersitz fragte ihn auch nicht besonders viel, weil sie Angst hatte in Bereiche vorzustoßen, die vielleicht sensibel waren. Von Hotte kannte sie ja einiges von der Vorgeschichte des Mannes, der neben ihr saß, und trotzdem war sie unheimlich neugierig. Doch sie hielt sich zurück, und hoffte inständig dass der Polizist dies nicht als Desinteresse ihrerseits deutete.


    Die privaten Dinge waren aber vergessen, als die beiden Polizisten auf die Klingel in einem älteren großen Wohnhaus drückten, an dem zwei Klingelschilder angebracht waren. "Paul Uth" und darunter stand "Marvin u. Sandra Uth". "Die Eltern?", fragte Jenny, als der Summton ertönte und Kevin die Tür aufdrückte. "Möglich...", antwortete dieser kurz und knapp. Im Treppenhaus empfing sie zunächst Stille, bis im Erdgeschoss die Wohnungstür aufging. Ein groß gewachsener Mann, ungefähr im gleichen Alter wie der Tote, schaute heraus und erblickte die beiden Kommissare. "Guten Tag, Kripo Autobahn", sagte Kevin, nannte seinen Namen und zeigte seinen Ausweis, während Jenny es ihm gleichtat. "Wir haben leider eine traurige Nachricht für sie. Können wir vielleicht...", doch der junge Polizist wurde von dem Mann mit einem verachtenden Blick bestraft und sofort unterbrochen. "Wir wurden bereits informiert...", raunte der Mann und blieb auf der Türschwelle stehen, während Kevin überrascht aufblickte. "Von wem, wenn ich fragen darf?" "Eine Bekannte von uns war kurz danach am Tatort und hatte den Namen aufgeschnappt." Beide Polizisten tauschten Blicke aus, Jenny schaute ein wenig verwirrt, während es bei Kevin hinter der Stirn bereits arbeitete. "... und wie ich sehe nimmt die Polizei diesen Mord verdammt ernst, wenn sie uns ihre beiden erfahrensten Mitarbeiter schicken.", meinte Marvin Uth, der Bruder des Toten ironisch, als er Jenny und Kevin, die beide noch jünger wirkten als sie waren, betrachtete. "Wir nehmen jeden Mord gleichermaßen ernst, Herr Uth?", meinte Kevin ohne Regung in Gesicht und Stimme, formulierte das Ende des Satzes zur Frage. "Ich bin der Bruder von Paul. Er hat oben gewohnt." "Dürfen wir vielleicht doch kurz reinkommen?", fragte Jenny, ein wenig zaghaft aber lächelnd und schien den Mann doch ein wenig zu erweichen. Ohne seine kalte Miene abzusetzen gab er den Weg frei in die, etwas altmodisch eingerichtete Wohnung. Am Wohnzimmertisch saß eine Frau, die Augen leicht gerötet. Offenbar die Schwägerin des Toten, dachte Jenny, begrüßte sie und entschuldigte sich für die Störung. "Schatz, die beiden Praktikanten dürfen sich am Mord meines Bruders austoben.", fand Marvin zu seiner Ironie zurück und diesmal wurde Kevin deutlicher. "Herr Uth, wenn sie wirklich wollen dass der Mord an ihrem Bruder aufgeklärt wird, würde ich an ihrer Stelle ihre Hirnenergie nicht für Provokationen, sondern für Informationen aufbewahren.", sagte er mit seiner monotonen Stimme, die manchmal provokant wirkte und den ein oder anderen heißblütigen Menschen schnell auf die Palme bringen kann. Für einen Moment herrschte gespannte Stille und Jenny wurde es ein wenig unwohl ohne einen erfahrenen Polizisten wie Hotte oder Bonrath, mit denen sie sonst Streife fuhr.


    Für einen Moment schauten sich Kevin und Marvin an, doch es schien als würde der Bruder des Toten einlenken. "Was wollen sie wissen?", presste er hervor und setzte sich zu seiner Frau auf die Couch. "Hatte ihr Bruder Feinde, von denen sie wussten?" Die eiskalten Gesichtszüge verschwanden langsam, die Augen suchten einen Punkt an der Wand, und es schien als würde der Mann nun ein wenig die Trauer ans Licht kommen. "Paul war doch harmlos. Der hatte sich niemandem zum Feind gemacht.", sagte er und es war eine ganze Menge Schärfe aus seiner Stimme verschwunden. "Paul hat über uns gewohnt. Er war ledig, hatte gearbeitet und den Rest seiner Zeit an seinem Motorrad rumgeschraubt." Ein Eigenbrödler-Leben, dachte Jenny, wollte es aber so abwertend nicht sagen. "Und sein einziger sozialer Punkt waren sie, und die Motorradgruppe?", fragte die junge Kommissarin mit freundlicher Stimme. Der Mann nickte, bevor er der nächsten Frage vorgriff. "Aber bevor sie fragen... ich kenne niemanden aus der Gruppe." "Ist ihnen etwa an Paul aufgefallen? Hat er sich in letzter Zeit verändert, war er nervös, reizsam... irgendwas?", hakte Kevin noch einmal nach, doch ein dumpfes Gefühl beschlich ihn, dass der Bruder des Opfers nicht wirklich Bescheid wusste über das Leben seines Bruders. "Nichts... Paul war Paul, und Paul war wie immer.", beharrte er und seine Stimme wurde wieder deutlicher, er blickte dem Polizisten jetzt auch wieder in die Augen.
    Auch wenn Kevin nicht mit einer positiven Antwort rechnete, fragte er trotzdem: "Kennen sie Bauer Electronics?" Marvin Uht nickte, und sagte: "Vom Namen her ja. Wieso?" "Sie haben doch sicherlich von dem Anschlag auf Herrn Bauer und seine Familie gelesen. Wir prüfen Zusammenhänge. Kann es sein, dass ihr Bruder etwas mit Bauer Electronics zu tun hatte?" Marvin Uth schüttelte irritiert den Kopf. "Das weiß ich nicht. Vielleicht hat er sich mal etwas für sein Motorrad bestellt... aber sonst..." Jenny fühlte die Unwissenheit in den Aussagen des Mannes, und ein wenig die Angst, keine guten Informationen weiterleiten zu können. "Schauen sie mal bitte bei ihrem Bruder, ob sie irgendwas finden... Rechnungen, Unterlagen, Kostenvoranschläge von Bauer. Schicken sie uns das zu." Das Nicken des Mannes zu Kevins Forderung war schon beinahe überraschend, als sich die beiden jungen Beamten verabschiedeten.


    "Puh... der hatte ja sofort eine Ablehnung gegen uns.", sagte Jenny, als sie wieder in Richtung Auto gingen und steckte die Hände in die engen Jeanstaschen. "Sei froh", erwiederte Kevin mit einem Lächeln. "Solange sie dich noch für zu jung, statt für zu alt halten." Sofort zauberte sich auch auf Jennys Lippen ein Lächeln und ihre kurzzeitige Unsicherheit, mit Kevin als Partner an ihrer Seite verschwand wieder. "Wollen wir nicht zusammen was zu Mittag essen gehen?", fragte sie ohne eine Spur Schüchternheit in ihrer Stimme zu haben. Spontan hätte der junge Polizist sofort zugesagt, denn er fühlte sich wohl bei Jenny und hätte sich gerne noch weiter mit ihr unterhalten. "Ein anderes Mal... ich hab heute Mittag schon was vor", antwortete er stattdessen, als er sich hinter das Lenkrad saß und den Motor startete. "Dann musst du es mir morgen aber versprechen.", beharrte die junge Frau scherzhaft darauf und setzte eine gespielt beleidigte Miene auf, dass Kevin auflachen musste. "Okay... morgen ist versprochen." Doch heute hatte er anderes vor...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Gran Canaria Küstenstraße - 12:15 Uhr


    Semir bekam das Grinsen die ganze Zeit nicht aus dem Gesicht, als er dem Buggy von André über die kurvigen Straßen an Gran Canarias Steilküste folgte. Dem Kommissar machte die Fahrt im wendigen Buggy unglaublich Spaß, hin und wieder überholten sich die beiden Männer an Stellen, wo man den Gegenverkehr beobachten konnte. Auch André grinste unter seiner Sonnenbrille, die er auf hatte und hatte ebenfalls sichtlich Spaß an der Fahrt.
    Sie fuhren an der Küste entlang, dann bogen sie irgendwann rechts ab in Richtung Landesinnere. Weite Berge, viel brauner Sand und hin und wieder einige grüne Büsche. Die urkanarischen Dörfer hatten enge Gassen und weißte Häuser mit roten Ziegeldächern. An einem, etwas abseits stehenden Haus, das schöne Blumen vor den Fenstern hatte, blieb André stehen und machte den Motor aus. Semir stoppte neben ihm und sah seinen Freund ein wenig überrascht an. "Kleine Pause.", raunte dieser und stieg aus seinem Buggy aus, während auch Semir den Motor ausschaltete. Der hatte gerade seine Brille von der Nase genommen, zusammengeklappt und in den Shirtkragen gesteckt, als die Tür des Hauses aufging und eine äusserst hübsche Frau herauskam. Sie war vielleicht Ende 30, hatte ein weißes Sommerkleid an und die schwarzen langen Haare trug sie offen. Man konnte direkt erkennen, dass sie eine Spanierin war, ihre Teint war braungebrannt und dunkel, und ihre Augen funkelten ebenfalls temperamentvoll braun. Sie lächelte und fiel André um den Hals, der sie ebenfalls umarmte, und Semirs Magen zog sich zusammen. Wo zuerst Freude aufkommen wollte darüber, dass André hier neben seiner neuen Arbeit wohl auch privates Glück gefunden hatte, so sehr brachte die Erinnerung an die unheilvollen Fotos Gänsehaut über seinen Körper, und er wusste für einen Moment nicht, ob er weinen oder lachen soll.


    "Na komm schon raus.", forderte André ihn auf, nachdem er sich seine Begrüßung abgeholt hatte, denn Semir schien wohl in eine Art Schockstarre gefallen zu sein. Mühsam schälte er sich aus dem tiefen Sitz des Buggys, setzte ein mühsam natürliches Lächeln auf und kam näher zu den beiden. "Hallo", sagte er nickend zu der Frau, die eine Hand von André festhielt und ebenfalls nickte. "Semir... das ist Felicita.", stellte er stolz vor, und sagte auf Spanisch zu seiner Freundin: "Das ist mein Freund Semir aus Deutschland, von dem ich dir erzählt habe." Semir konnte von dem Spanisch fast nichts verstehen, doch er sah wie sich das Gesicht der Frau weiter aufhellte, als sie Semir die freie Hand hinstreckte und in gebrochenem Deutsch, als hätte sie den Satz auswendig gelernt sagte: "Schön sie kennenlernen." Die süße, etwas schüchtern klingende Stimme, die nicht ganz zu ihrem offenen strahlenden Gesichtsausdruck passte und das gebrochene Deutsch ließen den kleinen Kommissar nun wieder natürlicher lächeln, und er verdrängte die dunklen Wolken abermals nach hinten.
    André und Felicita baten Semir in das kleine Domizil, ein Häuschen typisch spanisch eingerichtet, mit viel Holz, klein und gemütlich. Mit einer Terasse, die einen Blick über das halbe Dorf und einen großen Teil des Barrancos hatte, in der das Dorf lag. Felicita hatte einen kleinen spanischen Snack hergerichtet, über den sich die beiden Männer hermachten, um danach zusammen auf der Terasse zu sitzen und den Ausblick genossen. "Das war mal eine gelungene Überraschung.", meinte Semir mit einem lächelnden Seitenblick auf André, der zustimmte: "Ja, es macht echt Spaß mit den Dingern zu fahren." Sein Freund lachte auf: "Ja, das auch. Aber ich meine das hier." Da bei hob er die Hände und gestikulierte damit sein Haus. André nickte und meinte dann etwas gedankenverloren: "Ja. Das hier ist das i-Tüpfelchen. Ich hätte mir das vor Monaten nicht träumen lassen, als ich in Deutschland war." "Hattest du sie schon auf Mallorca kennengelernt?" André schüttelte den Kopf. "Nein, erst nachdem ich hierher kam. Sie arbeitet auf dem Einwohnermeldeamt, und ich war ziemlich knapp dran damals, als ich meinen Pass fort ausstellen lassen wollte." Semir grinste, Pünktlichkeit war nie Andrés Stärke. "Und da hab ich, spontan wie ich bin, sie eingeladen die Formalitäten doch bei einem Kaffee nach Feierabend zu klären.", sagte der Karatekämpfer breit grinsend, und Semir lachte auf. "Ich hab dir ja erzählt, dass es mir auf Mallorca zu gefährlich war, eine Beziehung zu führen. Aber ich habe mich danach gesehnt. Und jetzt...", sagte er verträumt in den Himmel blickend. Dann sah er zu Semir herüber und sagte einen Satz, der den kleinen Polizisten von einem Gefühlsextrem ins andere stürzen ließ. "Semir, ich glaube ich war noch nie glücklicher als ich es jetzt bin." Wie eine Schiffsschaukel fühlte sich Semir, der von Punkt A zu Punkt B pendelte, der von absoluter Freude über seinen Freund zur absoluter Angst darüber, das zu offenbaren weshalb er überhaupt nach Gran Canaria gekommen war, schaukelte. So war sein Blick beinahe undefinierbar, eine Mischung aus lächelnder Freude, aber quälendem Blick, als der Kommissar zweideutig sagte: "Du glaubst nicht, was das für Gefühle in mir auslöst, André." Der Ex-Bulle nahm diesen Satz natürlich positiv auf, es sind positive Gefühle die es auslöst. Er schloß seine Hand um Semirs Oberarm und lächelte, eine freundschaftliche Geste. Er war sich sicher sein Glück gefunden zu haben, auch wenn er selbst um die Schatten seiner Vergangenheit wusste. Doch er wusste auch um die Umstände und hoffte, dass nach Horns Verhaftung niemals etwas davon mehr an die Oberfläche kam, und niemand sein Glück zerstören würde. Darum würde er kämpfen bis zum Tod...



    Dienststelle - 12:30 Uhr


    Ben stand in seinem Büro und sah häufiger auf die Uhr. Er wartete auf Kevin und Jenny, um die Ergebnisse der Befragung zu erfahren. Er hatte einige Dinge an die Flipchartwand gekritzelt, viele Namen, die der Opfer, Bauer Electronics, Philipp Heinrich. Pfeile zeigten Beziehung zwischen den Opfern, bei den beiden letzten stand auf dem Pfeif der zu Bauer Electronics stand erst ein Fragezeichen, dann wischte Ben den Pfeil von Egon Ritter zu Bauer Electronics wieder weg.
    Er sah auf, als er den BMW von Kevin hörte, er hörte eine Tür zuschlagen, dann brummte der große Motor des Dienstwagens wieder auf und entfernte sich. Ben verzog den Mund und sah auf die Uhr... sein Kollege hielt seine Mittagspause offenbar ein, und er sah dass Jenny alleine ins Büro kam. Der Polizist kam ihr ein Stück entgegen im Großraumbüro und meinte: "Ich hoffe, Kevin geht Currywurst holen und bringt mir was mit." Es klang ironisch, denn der junge Polizist konnte sich beinahe denken, wo sein Kollege jetzt hinfuhr. Jenny schüttelte mit dem Kopf und zuckte mit den Schultern. "Er sagte, er hätte noch was zu erledigen in seiner Pause. Wir sollten aber nicht auf ihn warten." Sie zog ihre dünne Stoffjacke aus, in ihrem Top wirkte sie noch schlanker. "Ich hätte ihn aber schon gerne dabei...", murmelte Ben und lehnte sich gegen die Glaswand, die sein Büro vom Großraumbüro abgrenzte, dabei verschränkte er die Arme. "Es gibt eh nicht viel Neues. Paul Uth scheint keine Verbindung zu Bauer Electronics zu haben. Lebte sehr zurückgezogen im Haus seines Bruders. Der will alle Rechnungen durchforsten, aber wenn du mich fragst...", dabei zuckte sie nochmal mit den Schultern, und sank auf den Stuhl ihres Tisches. Es sagte aus, dass die junge Frau an keine Verbindung glaubte. "Bei uns siehts ähnlich aus, Jenny.", meinte Hotte, der sich gerade eine XL-Pizza einverleibte. Ben seufzte und warf den Filzstift, den er in der Hand hatte theatralisch nach oben weg... "Keine Verdächtigen, keine Spur, gar nichts... müssen wir wirklich warten, bis irgendeiner das genaue Kennzeichen von dem Typ sieht, bei einem Anschlag?", sagte er resignierend.


    Hotte wischte sich mit einer Serviette den Bart ab, stand auf und watschelte zu Ben an das Flipchart und an die Karte. "Die Anschläge passierten auf zwei Rastplätzen, die genau nebeneinander liegen." Dabei kreiste er mit einem roten Stift beide Rastplätze ein. "Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er die Rastplätze in Reihenfolge "abarbeitet."?, fragte er und blickte in die Runde, bestehend aus Dieter, Jenny und Ben, der mit den Schultern zuckte. "Ich weiß nicht. Ich meine, das kann auch Zufall sein, dass er jetzt dort zweimal zuschlug." Hotte legte den Kopf ein wenig schief und lächelte. "Dieter und ich haben da ein Prinzip, nicht wahr Dieter?" Der lächelte und zwinkerte seinem dicken langjährigen Partner zu. "Das Zufallsprinzip.", sagte er dann, als würde er die Weltneuheit verkünden. Ben blickte einigermaßen irritiert und ratlos zwischen den beiden erfahrensten Beamten der Dienststelle hin und her. "Bevor wir die Wahrscheinlichkeit steigern, und abwarten bis er morgen an dem dritten Rastplatz auf der Strecke zuschlägt, versuchen wir einfach unser Glück und schicken ein paar Beamte hin. An den Rastplatz hinter dem zweiten, und dem Rastplatz vor den ersten." Ben verstand nun, was Hotte meinte und nickte zustimmend. "Es bleibt uns nichts anderes übrig... besser als Däumchen zu drehen.", murmelte er. Und Jenny meinte vielsagend: "Dann hoffen wir mal auf den... Zufall."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • JVA - 13:00 Uhr


    Das Gefühl, das Kevin heute im Bauch hatte, war beklemmender als sonst während er auf dem harten Plastikstuhl saß, und die durchsichtige Glasscheibe anstarrte. Wenn er sich konzentrierte, konnte er Umrisse und Konturen seines Spiegelbildes erkennen. Er wartete darauf, dass ein Wachmann Jessy hereinbrachte, die er jeden Tag für einige Minuten, manchmal eine Viertelstunde besuchte, die aber bis jetzt kein Wort mehr mit ihm gesprochen hatte. Sie schwiegen sich an, als würden sie sich per Gedankenübertragung unterhalten.
    Doch das Gefühl war heute anders, denn Kevin war kurz davor den Besuch heute zu übergehen. Er war etwas überrascht von Jennys Einladung zum Mittagessen, und spontan aus dem Bauch hätte der junge Polizist sehr gerne "Ja" gesagt. Doch er spürte immer noch eine Art Verantwortung für das junge Mädchen, das im Gefängnis keinerlei Kontakt zu ihrem Bruder haben durfte und völlig allein war. Er blickte auf, als die Tür im gegenüberliegenden Raum aufging und ein Wärter mit dem jungen Mädchen eintrat. Ihre Augen wirkten noch müder, als am Vortag, und Kevin meinte, dass er eine leicht rötliche Schwellung an ihrer Wange erkennen konnte. Jessy setzte sich auf den Stuhl, und das Spielchen begann wieder. Ein kurzes Lächeln, Schweigen. Aber heute war etwas anders, das spürte der Polizist. Jessy strahlte eine unheimliche Traurigkeit aus, eine Schwere die bis zu dem sensiblen Mann auf die andere Seite der Scheibe herangetragen wurde. Ihr Lächeln war zaghaft, beinahe erzwungen. Sie fühlte sich nicht wohl, sie hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen, als wolle sie sich vor irgendjemandem schützen, als wolle sie sich verstecken, verkriechen.


    Kevin fühlte sich hilflos. Er spürte ihre Stimmung, doch konnte er nichts tun... ihr nicht die Hand auf die Schulter legen, sie nicht umarmen. Die Zeit zerinn ihm wieder zwischen den Fingern, als sein Herz einen Hüpfer machte. Jessy bewegte sich... sie löste in Zeitlupentempo den linken Arm aus ihrer Umklammerung. Ihr Lächeln war immer noch von Traurigkeit erfüllt, als ihre Hand sich langsam auf der kalten Scheibe platzierte, der andere Arm blieb um ihren Oberkörper geschlungen. Es war ein neues Zeichen der Annäherung, ein neues Zeichen der Kommunikation zwischen ihr und dem jungen Mann, der sich nun ebenfalls, zuerst sehr unsicher nach vorne beugte, und seine größere Hand auf exakt die gleiche Stelle auf der anderen Seite der Scheibe legte. Ohne sich zu berühren fühlten die beiden jedoch diese unheimliche Verbindung, diese gleiche Geschichte, gleichen Gefühle, die sie verbanden. Kevin hatte seine Schwester verloren, Jessy ihren Bruder. Kevin hatte den Ausstieg aus der Kriminalität gerade so geschafft... Jessy nicht. Oder vielleicht doch? Nach dem Gefängnisaufenthalt? Konnte sowas funktionieren, war sie stark genug? Mit ihm war sie es ganz sicher, dachte der Polizist für einen Moment, als sie in ihrer Stellung kurz verharrten.


    Wie in Zeitlupe rutschte Jessys Hand langsam von der Scheibe zu dem grauen Hörer auf dem Pult. Ihre kleinen Finger schlossen sich um den Kunststoff und der Polizist spürte wie sein Herz schneller schlug. Auch er griff, deutlich schneller als Jessy, die sich jeden Centimeter ihrer Handbewegung überlegen zu schien, den Hörer und hielt ihn ans Ohr... doch er überließ dem Mädchen den ersten Satz. Für eine Minute schwiegen sie sich durch den Hörer an, doch Kevins Augen ermutigten Jessy dazu, etwas zu sagen... zu sagen was sie fühlte, zu sagen was sie Kevin jetzt in diesem Moment sagen wollte. Und er hörte ihre piepsige Stimme, die nichts mehr mit der fröhlichen, beinahe unbeschwerten Stimme der Jessy zu tun hatte, die er in der Hütte kennengelernt hatte. Die Stimme war ängstlich, tonlos, wie von einer gebrochenen Seele die noch lebte, weil sie leben musste. Er erschrak regelrecht, was er in seinem Gesicht nicht verbergen konnte. "Es ist schön, dass du immer da warst.", sagte sie leise und Kevin lächelte, auch wenn es missriet. "Du kommst hier wieder raus, Jessy.", sagte er ebenfalls mit leister Stimme, aber sie war so anders als die von Jessy. Sie klang selbstbewusst, sie klang wie der Fels in der Brandung, der Kevin für andere immer sein wollte, obwohl er mental längst nicht so stark war, wie er sich gab.
    Er hätte den Wachmann und die Zeit gleichermaßen verfluchen können, als letztere ablief und ersterer Jessy auf die Schulter tippte, um ihr zu signalisieren, dass sie den Hörer auflegen sollte, und aufstehen sollte. Jessy folgte der Geste ohne Widerworte, ihre Augen schimmerten leicht und ihr Lächeln, dass sie Kevin zum Abschied schenkte brannte sich unendlich tief in sein Gedächtnis, in seine Seele. Es dauerte einen Moment, bis er registrierte, dass er noch immer mit dem Hörer am Ohr und der Hand an der Scheibe da sass, obwohl Jessy längst den Raum verlassen hatte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

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