Verbaut

  • Ben und Andrea


    Ben saß mit Andrea und ihren Kindern bei Konrad am Frühstückstisch. Andrea machte sich Sorgen. Robert wurde irgendwo festgehalten. Will Wilckens verhindern, dass Robert ihn verrät? Kann sie eigentlich noch länger mit diesem Mann zusammenleben, dessen ganzer Wohlstand aus einem Verbrechen stammt? Und muss Robert dafür womöglich ins Gefängnis? Möchte Sie ihre Kinder mit diesem Mann, der vielleicht einmal ihr Stiefvater hätte werden sollen, aufwachsen sehen? Und Semir, den sie wegen Robert verlassen hatte, tat jetzt alles, um Robert da rauszuholen, obwohl er den Mann hasste, was sie auch gut verstehen konnte. Er war Polizist durch und durch und würde auch Schwerverbrecher aus einer Geiselhaft befreien. Sie dachte zurück an den Freitag, als er mit Alex sie und Lilly früh morgens aus dieser Hütte befreite und dabei von zwei Kugeln getroffen wurde, die mit Sicherheit tödlich gewesen wären, hätte er keine kugelsichere Weste getragen. Wenn sie ihn nicht ständig mit seinem Job hätte teilen müssen, der in der Gunst um sie stets gewann, sie wäre bei ihm geblieben. Bei Gott, sie liebte ihn doch! Aber liebte sie auch Robert noch? Konnte sie einen Mann lieben, der auf diese Art straffällig geworden war? Ihm noch vertrauen? Ihm Semirs Kinder anvertrauen? Sie würde sich bald entscheiden müssen.


    Konrad scherzte mit Ayda und Lilly, die Bens Vater schon in ihre kleinen Herzen geschlossen hatten. Und Ben kannte seinen Vater kaum wieder. War er doch so ein Familienmensch? Er versprach den Kindern, heute mit ihnen zu einem nahen Waldspielplatz zu gehen und die Kinder machten ihrer Freude darüber lautstark Luft. So war die eine Hälfte des Frühstückstisches von Nachdenklichkeit und Trübsal geprägt, die andere dagegen von Fröhlichkeit.


    Dann klingelte Bens Handy. „Alex“, stand auf dem Display und Ben klickte auf den grünen Hörer. „Jäger“ – „Ben? Ich bin’s, Alex.“ Etwas lag in Alex Stimme, das Ben bewog, sich vom Tisch zu erheben und ins Nebenzimmer zu gehen, gefolgt von Andrea, die spürte, dass auch sie dieser Anruf betraf. „Ja, Alex. Habt ihr Robert gefunden“ – „Er ist tot, Ben.“ – „Was? Wer? Robert? Von wem redest du?“ Alex Stimme bebte, als er kurz schilderte, was sich zugetragen hatte. „Er hat es nicht geschafft, Ben. Das Haus ist gesprengt worden und er ist noch drin.“ – „Alex, wer?“ Ben traute sich kaum, den Namen auszusprechen. „Semir?“ Jetzt machte auch Andrea große Augen. „Ja. Semir ist verschüttet. Es gibt wohl keine Chance. Er hat Robert befreien können.“ – „Alex, das kann nicht sein. Ich spüre, dass er noch lebt. Läuft die Suchaktion bereits?“ – „Ja, Ben, THW, Feuerwehr, alles hier, die Bergung läuft.“ – „Sag nicht Bergung, Alex, sag Rettung!“ – „Sag mir, was los ist, Ben“, forderte nun Andrea, die heftig zu zittern begonnen hatte. Ben legte einen Arm um Andreas Schultern. „Alex! Gib mir die Adresse, wir sind unterwegs.“


    Er sah versteinert auf Andrea. „Semir hat Robert befreien können, ist aber selbst im Haus geblieben, als dieses gesprengt wurde, er ist verschüttet und sie gehen davon aus, dass er nicht mehr am Leben -“ Seine Stimme brach, und Andrea und er fielen sich in die Arme. „Wir fahren hin, Andrea, ich will jetzt da sein.“ Andrea antwortete nicht. Hatte Ben eben noch ihr bebendes Schluchzen wahrgenommen, wurde sie jetzt plötzlich schwer in seinen Armen. „Andrea?“, fragte er leise. Sie war ohnmächtig geworden, und Ben hatte Mühe, sie zu dem Sofa an der gegenüber liegenden Wand zu bugsieren. Er ließ sie auf den Polstern nieder und legte auch ihre Beine hoch. Ben konnte die Nachricht von Alex noch immer nicht begreifen, das würde er erst, wenn er es mit seinen eigenen Augen gesehen hatte. Semir und er hatten ein Gespür füreinander, wussten, wenn einer von ihnen in Gefahr schwebte. Dieses Gefühl hatte Ben heute nicht. Sollte es sich etwa in der Zeit abgebaut haben, die sie nicht mehr zusammen arbeiteten? Er verwarf zunächst diesen Gedanken. Er musste sich um Andrea kümmern. Ben schluckte den sich bildenden Kloß im Hals runter, wischte sich die ersten Tränen aus den Augen und ging zur Esszimmertür. Sofort hatte er die Blicke seines Vaters auf seinem Gesicht, der ihn fragend ansah.


    „Kannst du mal ein Glas Wasser für Andrea holen, Papa?“ – „Ja, natürlich, warum?“ Konrad war schon aufgestanden und ging in Richtung Küche. „Was ist mit Mama?“, kam Aydas Frage aus der Zimmerecke, in der sie mit Lilly spielte. „Alles gut, ihr ist nur etwas schwindelig geworden. Spiel ruhig weiter, Ayda.“ Das sensible Mädchen schüttelte ihren Kopf, spielte jedoch weiter mit ihrer kleinen Schwester, sie war jedoch nur noch halbherzig und unkonzentriert bei der Sache. Irgendwie klang Ben nicht wie sonst. Und Mama ging es nicht gut? Sie hielt es nur noch wenige Minuten aus, dann stand sie auf und ging zum Durchgang zum Nebenzimmer, wo Andrea jetzt zwar völlig aufgelöst aber zumindest aufrecht auf dem Sofa saß und an dem von Konrad gereichten Wasserglas nippte. „Ben, ist es ganz sicher, dass er tot ist?“


    Ayda hatten sie noch nicht entdeckt, daher fuhren sie entsetzt herum, als eine Mädchenstimme von der Tür her fragte: „Wer ist tot, Mama?“

  • Gedanken


    Ben fasste sich als Erstes wieder. „Jemand, den deine Mama und ich kannten. Mach dir keine Sorgen, Ayda.“ Die Wahrheit würde warten müssen, Andrea und er würden zum gesprengten Haus fahren, da wäre es nicht korrekt, Ayda vorher von der wahren Vermutung in Kenntnis zu setzen. Das hätte Zeit bis zur Gewissheit. Und um diese zu erlangen, wollte Ben los. „Ich fahre hin. Ich muss wissen, was passiert ist.“ Andrea blickte zwischen Ben, Ayda und Konrad hin und her. Dann sagte Bens Vater: „Fahr ruhig mit, Andrea, ich werde mit den Kindern zum Waldspielplatz gehen und mich um sie kümmern. Soll ich deine Eltern anrufen?“ – „Danke Konrad, aber das mache ich selbst, später.“ Konrad nickte.


    Konrad kannte Semir eigentlich nur von Erzählungen seines Sohnes, hatte ihn bei der Hochzeit seiner Tochter Julia kennen gelernt, und damals, als er selber unter Korruptionsverdacht stand und Semir mit seiner Waffe auf ihn zielte, später aber sein eigenes Leben für die Aufklärung des Falls aufs Spiel setzte. Die Trennung von Andrea hatte ihm in den letzten Monaten ziemlich den Boden unter den Füßen weggerissen, und er begann gerade, sich wieder davon zu erholen. Ben hatte ihm von Semirs Umzug in die Innenstadt erzählt, und dass er sich dort gerade richtig einlebte. In den letzten Stunden hatte er auch Andrea näher kennen gelernt und war sich sicher, dass sie ihren Noch-Ehemann noch liebte. Seine Beobachtungsgabe hat ihn bislang selten im Stich gelassen. Und jetzt dieser Schicksalsschlag? War vielleicht doch noch Hoffnung? Es klang so endgültig. Ein eingestürztes Haus. Als Bauunternehmer wusste er, dass bei einer kontrollierten Sprengung keine Hohlräume entstanden, um den Schutthaufen möglichst klein und dicht zu halten und die weitere Einsturzgefahr zu minimieren. Würde er ein solches Haus sprengen, im Keller würden keine Hohlräume verbleiben, die groß genug wären, einem Hund Unterschlupf zu gewähren. Diese Gewissheit hielt Konrad aber für sich. Konrad glaubte nicht an Wunder aber wünschte sich eines für Andrea, Semir und ihren Töchtern.


    Die Fahrt zum ehemaligen Firmengelände verlief schweigend. Andrea blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie der Tag in Köln allmählich Fahrt aufnahm. Wie konnte sich die Welt weiterdrehen, während ihre eigene gerade still stand? Wie konnte jeder seiner alltäglichen Beschäftigung nachgehen, während sie zur Bergung ihres toten Mannes fuhr und später ihren kleinen Töchtern erzählen müsste, dass ihr Vater nie wieder nach Hause kommen würde. Die Betriebsamkeit von Köln verschwamm vor ihren Augen und bildete bald den unscharfen Hintergrund aus Bildern von Semir, im Urlaub am See, mit den kleinen Kindern auf dem Arm, im Garten, sie sah wie er schlammbespritzt in den Kreißsaal stürzte, um dort vor den Augen der Hebammen in Ohnmacht zu fallen. Ihre Eifersucht und seine Liebeserklärung am Rhein, Bilder aus den vergangenen gut 10 Jahren standen klar und deutlich vor ihr. Ihre Ehe war eine Achterbahn der Gefühle gewesen, Todesangst und Familienglück, ein Spagat, den sie schließlich nicht mehr gewillt war, länger zu ertragen, und doch vermisst hatte. Ihr fiel gar nicht auf, dass in diesen Gedanken kein Platz, aber auch nicht der geringste Platz für Robert war.


    Auch Bens Gedanken kreisten um Semir. Er dachte an seinen langjährigen Kollegen, aus dem erst ein verlässlicher Partner und dann sein bester Freund wurde. Wie oft hatten sie sich gegenseitig aus der Scheiße gezogen? Als er lebendig in einem Sarg begraben lag, dem Tod schon näher als dem Leben, hatte Semir ihn im letzten Moment gerettet. Ben musste aber auch an den Unfall denken, der Semir beinahe das Leben gekostet hätte, und an den Moment, in dem Semir gezwungen war auf ihn, seinem Partner anzulegen und abzudrücken, weil Verbrecher seine Familie in ihrer Gewalt hatten und ihn dazu zwangen. Immer mehr Bilder ihrer gemeinsamen beruflichen Vergangenheit traten in sein Bewusstsein. Auch sein Abschied von der Autobahnpolizei war nicht ausgenommen. Und das soll jetzt für immer in der Kiste der einsamen Erinnerungen verschwinden, die man nicht mehr gemeinsam würde teilen können?


    Hätten Andrea und Ben sich in diesem Moment angesehen, sie wären im Auto zusammengebrochen, aber indem sie jeder in eine andere Richtung aus dem Fenster blickten, schafften sie es, zu der von Alex genannten Adresse zu gelangen.

  • Andrea und Robert


    Dort waren viele Einsatzkräfte damit beschäftigt, den Schutt abzutragen. Ein Bagger hob größere Steinbrocken zur Seite. Eine Suchhundestaffel war alarmiert und bereits auf ihrem Weg zu der Einsturzstelle. Etwas entfernt stand der gerufene Rettungswagen, die Sanitäter und ein Arzt saßen in der Fahrerkabine und warteten. Sie hatten alle anwesenden Personen im Blick, waren bislang aber nicht zum Einsatz gekommen, hatten lediglich einem Arbeiter ein Pflaster für seine abgeschürften Fingerknöchel aushändigen müssen. Ben und Andrea fanden Alex Brandt und Kim Krüger am Rand auf einer steinernen Mauer sitzend. Auch Susanne war statt in die PAST an diesen Ort gefahren. Frank Wilckens und Robert sollten von Bonrath und Jenny abgeholt werden, aber diese ließen sich mit dem Abtransport der Festgenommenen Zeit und so saßen diese noch auf der Rücksitzbank des Streifenwagens. Zu schwer war diese Stunde für alle, um gleich zum Alltagsgeschäft über zu gehen. Als Andrea und Ben auf die Gruppe zugingen, blickten ihnen fünf traurige Augenpaare entgegen.


    Alex sah die fragenden Augen von Ben und antwortete mit einer leichten Kopfbewegung. Diese Bewegung reichte aus, um bei Andrea alle Dämme zum Brechen zu bringen, und sie flüchtete in die Arme ihrer Freundin Susanne.


    Als Andrea nach einer Weile die Augen wieder öffnete, entdeckte sie über Susannes Schultern hinweg den Streifenwagen und erkannte in ihm Robert, der mit gesenktem Blick zu ihnen rüber schaute. Sie löste sich aus den Armen ihrer Freundin und ging langsam auf die offen stehende Tür des Polizeiwagens zu. „Warum, Robert? Er hat dich gerettet, warum bist du alleine raus gekommen?“, fragte sie verzweifelt. Robert sagte zunächst nichts. „Warum, Robert“, wiederholte sie daher ihre Frage, „Sprich mit mir!“ – „Ich, Andrea, ich konnte…“, stammelte Robert, „es tut mir leid. Andrea, wir…“ Andrea unterbrach ihn: „Es gibt kein ‚wir‘ mehr, Robert. Du hast den Vater von Ayda und Lilly dem sicheren Tod überlassen. Ich will dich nicht mehr wiedersehen.“ Damit drehte sich Andrea um und schritt zurück zu ihren Freunden. „Andrea!“, rief ihr Robert hinterher. Da trat Bonrath beherzt an den Streifenwagen und schlug die Tür mit den Worten „Du hast jetzt Sendepause!“ zu.


    Wie gebannt blickten sie auf die Rettungskräfte, die jeden Stein umdrehten und abtrugen. Es war lange Zeit nichts weiter zu hören als das Geräusch von Steinen, die auf Steine fielen und aneinander schrammten. Dann mischte sich plötzlich ein anderes Geräusch darunter. Ein Handy-Klingelton aus der Jackentasche von Alex Brandt. Dieser registrierte das Geräusch zunächst nicht, doch als Ben ihn anstieß und schließlich jeder in der Runde auf den jungen Hauptkommissar starrte, da erwachte er langsam aus seiner Trance und zog mit bebenden Händen sein Smartphone hervor. Wie gebannt blickte er auf das Display: „SEMIR ruft an!“, stand da!


    Alex blickte in die wartenden Gesichter der anderen. „Semir? Wie kann das möglich sein?“, fragte er leise. Sein Daumen zitterte heftig, als er auf den Hörer drückte.

  • Semirs Geschichte


    Semir konnte mit Robert kaum Schritt halten. Sein Knöchel war immer noch lädiert von seinem Sturz in diesen Keller im Wald vor fast zwei Wochen und dem Autounfall vor wenigen Tagen, als er im Auto unter den Pedalen eingeklemmt war. Er kam nicht schnell genug voran. Dann ertönte die erste Detonation, er riss sich das Mikro und den Ohrstöpsel runter, um sich seine Ohren zuhalten zu können. Hinter ihm bildete sich eine Staubwolke, füllte den Keller vom Boden bis zur Decke und drohte ihn zu überrollen. Weitere näher kommende Explosionen erschütterten das Gebäude. Semir wurde von herumfliegenden Steinen am Bein getroffen und zu Boden geworfen. „Laufen Sie, Robert. Das Haus stürzt ein“, konnte er noch dem Freund von Andrea nachrufen, nicht wissend, ob der Ruf seinen Empfänger noch erreichte, dann füllte sich sein Mund mit Baustaub, und er musste husten. Robert zögerte erst und drehte sich um, aber als er Semir nicht mehr erblicken konnte, der Kellerflur war eine einzige Staubwolke und füllte sich zusehends mit Schutt. Auf der anderen Seite befand sich der rettende Ausgang. Er entschied sich für das Licht und lief nach draußen, wo er geradewegs Alex in die Arme lief, bevor das Gebäude von weiteren Detonationen erschüttert wurde und begann in sich zusammen zu stürzen.


    Semir rappelte sich auf, den Schmerz in seinem Bein im Moment ignorierend, und versuchte weiter Richtung Robert zu laufen, aber die Staubwolke nahm ihm jede Sicht. Zudem begannen sich jetzt auch große Brocken der Kellerdecke zu lösen und herabzustürzen. Nachdem er sich zwei, drei mal um sich selbst gedreht hatte, verlor er jede Orientierung. Wo war der Ausgang? Wo der rettende Treppenaufgang? Er kam an einer Türöffnung vorbei und erblickte dahinter einen noch nahezu unversehrten Raum, anscheinend waren hier die Decken und Wände extra verstärkt worden. Von diesem Raum hatte die Staubwolke noch nicht vollständig Besitz ergriffen. Er konnte einen Schrank entdecken, einen Stahlschrank! Ein alter Tresor stand hier, etwa zwei Meter hoch, mit offener Tür, das war auch die Erklärung dafür, dass hier die Wände besonders stark waren, hier wurde damals das Firmenvermögen aufgehoben. Das Schließsystem war bereits vor langer Zeit ausgebaut worden, um zu verhindern, dass sich spielende Kinder hier versehentlich einschlossen. Die Regale waren mit Ausnahme eines fest verschweißten Bordes in der Mitte aus dem Schrank entfernt und wahrscheinlich längst bei einem Schrotthändler in bare Münze verwandelt worden. Dieser Umstand erwies sich jetzt als Vorteil für Semir, der sich just in dem Moment in der unteren Hälfte des Schranks zusammenkauerte, als die Decke auch in diesem Raum nachgab und einstürzte und damit ihn und den übrigen Kellerraum unter sich begrub.


    Mit angezogenen Beinen und krummem Rücken, den Kopf auf die Arme gelegt, die er auf die Knie gestützt hatte, verschaffte er sich in diesem kleinen Schrank den nötigen Raum zum Atmen, während sich der Platz unter seinen Beinen zusehends mit kleinem Schutt füllte. Semir fühlte sich bald in dem Schrank einbetoniert und kaum mehr bewegungsfähig. Der Staub brannte in seinen Augen, mischte sich mit Blut, welches ihm aus einem kleinen Kratzer am Kopf ins Gesicht lief. Allmählich kam das Haus, oder das, was von ihm übrig geblieben war, zur Ruhe. Er öffnete die Augen. Es war stockfinster. Mit der rechten Hand fühlte er über und rechts von sich den Schrank, ebenso hinter sich im Rücken und vor sich vor den Füßen. Links von ihm war nur Geröll. Er hatte tatsächlich einen Hohlraum gefunden. Nahezu bewegungsunfähig hockte er in diesem Stahlschrank. Er schloss seine brennenden Augen und ließ den Kopf sinken, unfähig, in diesem Moment einen klaren Gedanken zu fassen, und nickte ein.


    Lange Zeit hätte er ein Vermögen dafür gegeben, seine Beine ausstrecken zu können, auch sein Rücken dankte ihm die dauerhafte krumme Haltung mit Schmerzen. Aber jetzt, als er wieder erwachte, spürte er seine Beine gar nicht mehr, der Taubheit war er in dieser Lage nicht undankbar. Dann hörte er entfernte Stimmen und ein Kratzen, wie es Eisen verursachte, welches über Steine schrammte. Er musste sich irgendwie bemerkbar machen, hätte es wahrscheinlich gleich tun sollen und schalt sich nun wegen seiner Gedankenlosigkeit. Es wollte rufen, bekam aber keinen lauten Ton raus, sein Mund war staubtrocken, auch sein Rachen war mit Staub belegt, und er musste stattdessen husten. Dann fiel ihm sein Handy ein. Ja klar! Er griff mit seiner rechten Hand in die Brusttasche seiner Jacke zog das Telefon hervor. Hinter der Kurzwahltaste 1 verbarg sich traditionell sein Partner. ‚Alex, geh ran‘, dachte er, während mehrere Klingeltöne vergingen. Er erinnerte sich daran, dass sie ihre Handys auf lautlos gestellt hatten, um sich nicht durch Anrufe zu verraten. Alex wird sein Handy doch hoffentlich mittlerweile wieder lautgestellt haben? Oder war er auch in diesem Schutthaufen begraben?


    Dann endlich klang eine zaghafte Stimme aus seinem Gerät. „Semir?“ – „A…“, Semir versuchte, ein klares Wort herauszubringen und sammelte zu diesem Zweck Feuchtigkeit in seinem Mund. „Alex – hol mich hier raus!“ – „Semir!“, jetzt gewann Alex Stimme wieder an Festigkeit, „wo bist du? Wo müssen wir suchen?“ – „Ein Tresor, ein großer Stahlschrank“, ein Hustenanfall überfiel ihn. Jetzt meldete sich Ben, der Alex das Handy aus der Hand genommen hatte. „Halt durch, Partner, wir sind unterwegs!“ Semir erkannte Bens Stimme und musste lächeln. „Ich lauf schon nicht weg, Ben.“

  • Suche


    Kim, die mitgehört hatte, lief so schnell sie konnte hinüber zum Streifenwagen und riss die Tür neben Frank Wilckens auf. „Stahlschrank im Keller! Wo? Und gleich die richtige Antwort!“ – „Stahlschrank? Sie meinen den Tresor?“ – „Ich meine den einzigen Hohlraum in diesem ganzen gottverdammten Schutthaufen, Sie Idiot! Jetzt raus mit der Sprache, wo ist der Tresor?“ Frank konnte nicht anders, als ihr den genauen Platz zu nennen. „Genau in der Mitte des Hauses im Keller.


    Jetzt ließen sich auch Alex und Ben Arbeitshandschuhe vom THW geben und halfen mit, die Steine zur Seite zu räumen. Die Niedergeschlagenheit von eben war schlagartig einem gewaltigen Tatendrang gewichen. Von Zeit zu Zeit unterstützte ein Bagger die Männer, wenn es galt, größere Brocken zur Seite zu räumen. Dieser war es dann auch, der plötzlich auf Metall stieß, die Decke des Stahlschranks war erreicht, jetzt galt es diesen so weiträumig wie nötig freizulegen, um Semir aus seinem Gefängnis befreien zu können. Hier war wieder Handarbeit angesagt und Ben, Alex und ein paar Männer vom THW gruben sich so immer tiefer in den Bauschutt, dass sie bald von dem Platz, an dem Kim, Susanne und Andrea warteten, nicht mehr zu sehen waren. Bonrath und Jenny hatten Frank Wilckens und Robert in die PAST gefahren und dort in eine Zelle gesperrt. Anschließend waren sie zurück zu dem Ort der Sprengung gefahren, wo sich Bonrath zu seinen Kollegen gesellte und ebenfalls bei der Freilegung des Stahlschranks mithalf. Andere Männer waren damit beschäftigt, zu verhindern, dass das geschaffene Loch wieder von den Seiten zu rutschte. Es musste wie ein Trichter aufgebaut werden, damit es sicher war, und das dauerte seine Zeit.


    Vom erlösenden Anruf bis zur Freilegung des Stahlschranks vergingen mehrere Stunden. Semir saß, schon länger nahezu unfähig, sich zu bewegen, in dem Hohlraum, bekam die Bemühungen seiner Befreier natürlich mit; er war erschrocken zusammen gezuckt, als die Metallschaufel des Baggers oben auf dem Schrank entlang schrammte, hatte einen Moment befürchtet, er würde nachgeben und auch noch einstürzen, gerade wo die Rettung schon so nah zu sein schien. Er hoffte, es möge nicht mehr allzu lange dauern, die Minuten vergingen ihm wie Stunden. Mittlerweile hatte die Taubheit von seinem gesamten Körper Besitz ergriffen, seine Beine spürte er schon seit Stunden nicht mehr, einzig seinen Kopf und seine Schultern konnte er etwas in Bewegung halten. Er wusste nicht, ob er überhaupt in der Lage sein würde, sich aufzurichten, aber dennoch sehnte er diesen Augenblick herbei. Und er schob den Gedanken an die kommenden Schmerzen noch weiter von sich, als er links oben endlich einen Spalt Tageslicht wahrnahm, bald darauf sogar Stiefel erkennen konnte und kurz danach in ein schmutziges, verschwitztes aber strahlendes Gesicht blickte.


    Es war Ben, der sich in die Hocke begeben hatte und einen Blick in den Hohlraum, den der Schrank bildete, warf. Der Anblick von Semirs gereizten Augen und dem blutverkrusteten, schmutzigen Gesicht schockte und erfreute ihn zugleich. Er streckte eine Hand durch das Loch und berührte seinen Freund an der Schulter. „Noch eine halbe Stunde, dann haben wir dich hier raus, Partner!“ Semir versuchte zu lächeln und nickte. Er atmete die frische Luft, die zu ihm runterströmte, tief ein. Ben drehte sich zu den anderen um: „Beeilt euch, dann haben wir es gleich geschafft!“


    Und dann war es endlich so weit. Der Sorge, er würde sich nicht aufrichten können, folgte die bittere Realität. Er musste sich einen Aufschrei verkneifen, als Ben ihn mit Alex Hilfe aus dem Schrank und langsam in die Höhe zog. Seine Beine, in denen jetzt die Blutzirkulation wieder in Gang kam, vermochten nicht sein Körpergewicht zu tragen, sein Rücken dankte ihm die Versuche ihn durchzustrecken, mit Schmerzen, er zitterte am ganzen Körper und selbst das Atmen fiel ihm schwer.


    Ben hatte vorsorglich einen Arm um Semirs Rücken gelegt und mit dem anderen hatte er ihn untergehakt. Aber ein Blick in Semirs schneeweißes Gesicht und Ben war klar, dass sich Semir nicht mehr lange auf den Beinen halten konnte.


    Alex erfasste die Situation und erkannte, dass Semir immer schwerer in Bens Armen wurde. Beherzt griff er zu und half Ben, Semir, der plötzlich die Augen verdrehte, langsam auf den Boden gleiten zu lassen. Leicht panisch, weil er nicht wusste, ob es bei Semir nur um einen Kreislaufzusammenbruch handelte oder doch eine schwerwiegende innere Verletzung vorlag, rief Ben nach dem Notarzt, der sich aber auch schon in ihre Richtung aufgemacht hatte und nur Sekunden später den Schutthaufen zu erklimmen begann. Ben kniete neben Semir und hielt seine Hand, während Alex aus dem Loch stieg, um dem Arzt mit der Trage auf den Schuttberg zu helfen und für ihn und die Trage Platz bei Semir zu schaffen.


    Der Notarzt war noch nicht mit der ersten Untersuchung fertig, als Semir sich bereits wieder regte, nun war er sich sicher, dass es sich bei Semir um einen Kreislaufkollaps handeln musste, anders wäre das schnelle Wiedererlangen des Bewusstseins nicht zu erklären gewesen. Ben atmete vor Erleichterung auf, als er sah, dass Semir die Augen wieder aufschlug. „Semir, wie geht es Dir?“, fragte er und Semir, der sich erst ein bisschen orientieren musste, schaute Ben an und sagte kaum hörbar: „Es ging mir schon mal besser“ und schloss wieder die Augen. Ben blickte direkt wieder voller Angst zum Notarzt. „Keine Sorge“, sagte der Arzt, „er ist nicht wieder bewusstlos, er ist nur total erschöpft“.


    Bonrath inspizierte inzwischen den Schrank. „Sag mal Semir, da warst du die ganze Zeit drin?“, fragte der lange Streifenpolizist verwundert. „Ja, Bonrath“, krächzte Semir mit geschlossenen Augen, „es ist halt manchmal auch von Vorteil, keine zwei Meter groß zu sein.“

  • Rettung


    Zwei kräftige THW-Helfer zogen zuerst Semir aus dem freigelegten Loch und halfen dann auch Ben und Bonrath. Semir wurde zu dem Rettungswagen getragen, er saß mittlerweile halb aufrecht auf der Trage. Andrea erschrak, als sie Semir sah, er war grau von Kopf bis Fuß, getrocknetes Blut an der Schläfe, welches auch über das Gesicht gelaufen war, die Augen gerötet, ein Hosenbein war vom Blut verfärbt. Langsam trat Andrea auf ihn zu und erreichte ihn in dem Augenblick, in dem er auf dem Platz vor dem gesprengten Haus abgesetzt wurde. Der Rettungswagen hatte bislang in sicherer Entfernung gestanden und wurde nun näher herangefahren. Sie ging neben ihm in die Knie und ungeachtet des ganzen Schmutzes nahm sie Semir in den Arm und fing an zu weinen. Als sie sich wieder gefasst hatte, sagte sie stockend und leise: „Ich habe solche Angst gehabt, Ayda und Lilly deinen Tod erklären zu müssen.“ Semir bekam eine Flasche mit Wasser gereicht, und nachdem er seinen Mund gründlich ausgespült hatte, trank er einen großen Schluck und antwortete: „Ich habe ehrlich auch nicht damit gerechnet, dort herauszukommen. Diesmal war es wirklich knapp.“


    Jetzt konnte sich der Arzt auch den anderen Blessuren zuwenden, er sah aber bald, dass Semir keine schweren Verletzungen davon getragen hatte, jetzt auch wieder bei klarem Bewusstsein war und untersuchte die getrocknete Platzwunde am Kopf und das zerschundene Bein, schaute dem Hauptkommissar prüfend in die roten Augen und entschied kurzerhand: „Wir nehmen Sie zur weiteren Untersuchung erst mal mit.“ Von Semir kam kein Widerspruch. Er fühlte sich auch nicht in der Lage, einen einzigen Schritt alleine zu gehen. Er war froh dort, wo er jetzt war. Deshalb nickte er zustimmend und sah zu Andrea: „Kommst du mit?“


    Andrea nickte erleichtert lächelnd, drehte sich zu Ben um, der aber schon abwinkte. „Ich komme nach und bringe Semir auch was Frisches zum Anziehen mit. Und Ayda und Lilly sind bei Papa gut aufgehoben.“ Nachdem auch Susanne, Kim und Jenny ihrer Erleichterung über die glückliche Rettung Ausdruck verliehen hatten, trat Alex an Semir heran. „Ich fahre in die PAST und fange mit der Vernehmung von Frank Wilckens und Robert an. Komm schnell wieder auf die Füße, Ja?“ – „Verlass dich darauf, Partner. Und danke!“. Damit lehnte er sich zurück und ließ sich in den Rettungswagen schieben. Semir war dankbar, dankbar dafür, dass seine Zeit im engen Verlies vorbei war, dass Ben und Alex ihn gefunden und sie ihn mit vereinten Kräften ausgegraben hatten, dankbar, dass Andrea jetzt neben ihm saß, dass er sie davon hat überzeugen können, dass Roberts Leben auf einer Lüge beruhte und sein „Wohlstand“ nur Folge seiner Korruption war. Erleichtert schloss er seine Augen und drückte noch einmal Andreas Hand, wie um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich wahr war.

  • Wieder auf den Beinen


    Zwei Stunden später ging es ihm schon wesentlich besser, gebadet, verarztet und mit Nahrung und Getränken versorgt, fühlte er sich gestärkt und ging langsam im Zimmer auf und ab, um wieder in Bewegung zu kommen. Seine Verletzungen waren nicht schwerwiegend und konnten schnell versorgt werden, lediglich der Knöchel, an dem Semir von einem herumfliegenden Trümmerteil getroffen worden war, wird ihn noch einige Zeit beschäftigen. Jetzt war er geröntgt, getapt und dadurch stabilisiert worden. Die Schnittwunde, die für das blutgetränkte Hosenbein verantwortlich war, wurde gereinigt und genäht. Semir konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er sich geschnitten haben könnte, aber Eisenteile, die scharfkantig aus den Wänden ragte, gab es in dem alten Keller zuhauf. Alles in allem begründeten seine Verletzungen keinen Krankenhausaufenthalt, was seine Stimmung merklich hob.


    Andrea telefonierte mit Ben und teilte ihm die gute Nachricht mit. So stand Semirs bester Freund bald mit einem Satz Wäsche und frischer Klamotten, sowie Ayda und Lilly im Schlepptau im Krankenzimmer, um Semir und Andrea abzuholen. Er brachte Familie Gerkan in Semirs Wohnung und ließ sie dort alleine. Sicher hatten die beiden einiges aufzuarbeiten, da wollte Ben nicht anwesend sein. Er fuhr stattdessen zu seinem Vater, um ihm vom glücklichen Verlauf des Tages zu berichten, denn Konrad Jäger hatte ja auch seit dem überstürzten Aufbruch von Ben und Andrea nach dem Frühstück lediglich erfahren, dass Semir lebendig gefunden werden konnte, und als Ben Andreas Sachen und die Kinder abholte, hatte er auch wenig erzählt, da Ayda und Lilly ihm kaum von der Seite wichen, aus Angst, er könnte seinem Versprechen, sie zu ihren Eltern mitzunehmen, nun keine Taten folgen lassen. Die genaue Schilderung hatte Ben seinem Vater für seine Rückkehr versprochen.


    Ayda und Lilly bezogen bald nach dem Betreten von Semirs Wohnung ihr dortiges Kinderzimmer, spielten noch ein wenig, ließen sich aber bald von Andrea überreden, in ihre Betten zu gehen, schließlich war es schon spät am Abend, und Andrea fand, sie sollten ab morgen dann auch wieder in die Schule bzw. den Kindergarten gehen, Ayda hätte in den letzten Tagen genug versäumt.


    Andrea ging zu Semir in die Küche und öffnete den Kühlschrank. „Ist nichts drin, außer Licht. Das hat Ben neulich auch schon festgestellt“, sagte Semir leise, „wenn ich gewusst hätte, dass ihr heute hier seid, hätte ich noch eingekauft.“ – „Kein Problem, ich besorge morgen was, ist eh schon zu spät zum Essen. Semir, ich habe nachgedacht“, Andrea drehte sich zu ihrem Noch-Ehemann um, „ich werde nicht zu Robert zurück kehren. Es war töricht von mir, zu denken, es könnte uns woanders besser gehen.“ – „Nein, Andrea, ich habe es dir auch nicht einfach gemacht, zu bleiben. Ich liebe meine Arbeit, aber ich hätte mehr an euch denken müssen. Man kann als Familienvater nicht genauso weitermachen, wie vorher.“ – „Meinst du, du könntest mir noch mal verzeihen, was ich in den letzten 10 Monaten angerichtet habe?“ – „Das ist doch hier nicht die Frage. Was ich in den letzten 10 Jahren versäumt habe, ist wesentlich schwerwiegender. Aber ehrlich gesagt, sollten wir erst einmal darüber schlafen. Heute bin ich nicht mal mehr in der Lage, mich zu streiten. Und die Tür möchte ich mir dann doch offen halten.“ Semir erhob sich langsam vom Küchenstuhl und streckte seine Glieder. „Das gibt einen Muskelkater, ich spüre ihn schon jetzt.“„Hast du ein Gästebett?“ Semir sah Andrea länger an und schüttelte dann langsam seinen Kopf. „Nein. Und Andrea, ist das wirklich nötig? Mein Bett ist 2m breit, wir sind beide über 18, von mir geht heute Nacht bestimmt keine Gefahr aus und außerdem“, er legte eine kleine Pause ein, „sind wir immer noch verheiratet.“


    In dieser Nacht schliefen Andrea und Semir tief und fest und so gut und erholsam, wie schon seit Wochen nicht mehr.

  • Andrea und Semir


    Andrea und Semir saßen in der Küche und frühstückten gemütlich. Andrea hatte zuvor Ayda und Lilly zur Schule bzw. in die KITA gefahren und war mit frischen Brötchen, Aufschnitt und der Tageszeitung zurück in Semirs Wohnung gekommen. Während sie mit der einen Hand ihre Kaffeetasse hielt, schlug sie mit der anderen die Wohnungsanzeigen auf und scannte diese kopfschüttelnd. „3 Zimmer, 4 Zimmer, Hürth, Porz, 700€ warm, 4. Stock, hier eine mit Garten, 1100€, …“ – „Andrea“, wurde sie von Semir unterbrochen, hob aber ihren Kopf nicht von den Anzeigen. „Andrea?“, wiederholte Semir, jetzt etwas lauter, nahm ihr das Anzeigenblatt aus der Hand, faltete es zusammen und legte es zur Seite. Dann legte er ihr seine Hand auf ihre und fragte mit einem Blick in ihre Augen: „Warum lässt du das mit der Wohnungssuche nicht sein und bleibst einfach hier? So kommst du erst mal selbst zur Ruhe, und auch Ayda und Lilly hätten es verdient, nicht gleich wieder packen zu müssen. Lass es uns doch wenigstens für die beiden probieren.“ – „Du meinst …?“ Semir nickte „Obwohl ich ...?“ Semir nickte wieder. Andreas Augen füllten sich jetzt mit Tränen, Semir erhob sich mühsam von seinem Stuhl und rückte mit diesem näher an Andrea ran. Dann nahm er seine Frau in den Arm. „Andrea, was du gemacht hast, ist jetzt nicht wichtig. Vielleicht hatte ich es auch gar nicht anders verdient. Ich liebe dich mehr als alles andere, das ist mir in den letzten Monaten richtig klar geworden.“ Er drückte sie an sich und Andrea entspannte sich etwas. Dann löste sich Semir, um Andrea in die Augen blicken zu können. „Willst du hier bei mir bleiben?“ Sie lächelte unter Tränen. „Ich hatte gehofft, dass du das fragst.“ Er küsste ihre Tränen weg, fühlte den salzigen Geschmack auf seinen Lippen. „Vielleicht“, sagte er schließlich, „war ja unsere Trennung ein noch größerer Fehler, als unsere Ehe?“


    Nach dem Frühstück fuhr Andrea Semir gut gelaunt in die PAST, bevor sie sich zu Roberts Haus aufmachte, um einige Sachen für sich und die Kinder zu holen. Aber lange hielt sie es dort nicht aus. Sie würde lange Zeit brauchen, um zu begreifen, was Robert gemacht hatte. Bepackt mit 2 Koffern und 2 Kartons begab sie sich zurück in Semirs Wohnung, sortierte ihre Sachen in seinen Kleiderschrank und füllte das Kinderzimmer mit den Lieblingssachen von Ayda und Lilly. Dann stand sie lange auf der Dachterrasse und blickte auf die Straße hinunter. ‚So eine Wohnung in der Innenstadt hat auch etwas für sich‘, dachte sie.Dann machte sie sich auf den Weg, um Semirs Kühlschrank zu füllen, mit allem, was benötigt wurde, um aus einem Junggesellen- einen Familienhaushalt zu machen.

  • In der PAST


    Alex und Semir saßen an ihren Schreibtischen und verfassten den Bericht zu dem hinter ihnen liegenden Fall. Ein toter Fahrer, drei hingerichtete Buchhalter, Entführung, Körperverletzung, Korruption, sie trugen alles peinlich genau zusammen, das Beweismaterial und die Zeugenaussagen sollten ausreichen, den Firmenchef und seinen Sohn, sowie ihre Helfer und auch Robert vor Gericht zu bringen.


    Semir war extra für diesen Bericht in die PAST gekommen. Eigentlich war er bis auf weiteres krank geschrieben, wollte aber Alex nicht alleine mit dem Papierkram lassen. „Und Andrea wohnt jetzt erst mal bei dir?“, fragte dieser seinen Partner beiläufig ohne seinen Kopf zu heben. „Hm, ja“ – „Hältst du das für eine gute Idee? Ich meine, immerhin hat sie dich ganz schön hintergangen und sitzen lassen, oder? Gibst du euch doch noch eine Chance, Semir?“ Semir tippte noch seinen Satz zu Ende, speicherte das Dokument und blickte dann Alex über seinen Monitor hinweg an. „Ich denke mal, das sind wir unseren Kindern schuldig, dass wir uns noch eine Chance geben. Für sie sollten wir alles dran setzen, miteinander auszukommen.“


    Alex nickte stumm, dann fuhr Semir fort: „Ich bin für heute fertig, was ist mit dir? Hunger?“ – „Auch fertig. Hunger!“ Semir griff sich die Prospekte der Liefer-Services. „Komm, Semir. Nichts bestellen, wir gehen was essen. Ich muss hier auch raus.“ – „Okay, aber ich fahr!“ – „Du kannst ja nicht mal richtig laufen, wie willst du da fahren?“ Alex sprang von seinem Schreibtisch auf und griff sich seine Jacke, Semir tat es ihm gleich, war aber aufgrund seiner Verletzung deutlich langsamer in seinen Bewegungen. „Wer zuerst beim Auto ist, fährt!“ – „Das ist gemein.“ So schnell er konnte, humpelte er hinter Alex her, war ihm aber deutlich unterlegen.


    „Jungs!“, wurden sie von Susanne aufgehalten, „auf der A4 hat ein LKW eine Ladung Rollrasen verloren, es haben sich bereits mehrere Unfälle ereignet. Fahrt ihr hin?“ – „Rollrasen?“, fragte Semir. „Rollrasen, habe ich auch verstanden“, meinte Alex, „Rasen auf der Autobahn gehört immer noch zu den häufigsten Unfallursachen, was damit mal wieder bestätigt wäre. Wir sind unterwegs!“


    Kim Krüger und Susanne blickten ihnen kopfschüttelnd hinterher. „Manchmal könnte ich Sie beide auf den Mars schicken!“, rief die Chefin ihren beiden Kommissaren hinterher, die fluchtartig und grinsend aus der PAST flüchteten. „Lassen Sie es lieber, Frau Krüger“, mischte sich Susanne ein, die sich ein Lachen nicht verkneifen konnte, „die bringen es fertig, selbst die Milchstraße in Schutt und Asche zu legen.“ -„Da könnten Sie Recht haben, Susanne. Und mir würde hier auch etwas fehlen.“


    Epilog


    Um meiner Tradition treu zu bleiben, füge ich auch dieser Geschichte einen Epilog an.


    War der Sprinterfahrer Walter Schmaller in den Korruptionsfall verwickelt?


    Die Ermittlungen in dem Korruptionsfall laufen noch, bislang ist der Name nirgendwo aufgetaucht. Es wird momentan davon ausgegangen, dass er tatsächlich am Lenkrad eines natürlichen Todes verstarb, obwohl natürlich ein gewisser Verdacht bestehen bleibt.


    Was ist aus Bastian, seiner Mutter Nadja Winter und dem Hund Bella geworden?


    Bastians Beinbruch stellte sich als unkomplizierter Bruch heraus, der operativ versorgt wurde und in den folgenden Wochen ausheilte. Seine Mutter hat den Schrecken gut verarbeitet, und auch dem Hund Bella geht es bestens.


    Was macht eigentlich Lena?


    Bis zum Ende der Geschichte war sie ja auf Reisen. Aber zumindest steht Alex wieder mit ihr in Kontakt, und wer weiß – vielleicht wird ja doch noch was aus den Beiden?


    Was ist aus der Firma Wilckens geworden?


    Die Firma hat den Korruptionsskandal überstanden. Der Firmenchef Horst Wilckens und sein Sohn, sowie die beiden Handlanger Olaf und Kai-Uwe werden sich zwar vor dem Gericht verantworten müssen, wegen des Mordes an den drei Buchhaltern, Entführung von Andrea und den Kindern und der Korruption, und sehen einer langen Haftstrafe entgegen, aber die Firma konnte einen Geschäftsführer einsetzen, die die Geschäfte der Baufirma unter einem neuen Namen fortführen wird. Die Firma wird sich in Zukunft auf private Auftraggeber beschränken müssen, von der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen bleibt sie für lange Zeit ausgeschlossen.


    Was ist aus der Ausschreibung geworden?


    Die Ausschusssitzung hat am Mittwoch selbstverständlich nicht stattgefunden, es mussten nach der Festnahme von Robert und dem Wegfall des Angebots der Firma Wilckens, alle Angebote neu überprüft werden. Vierzehn Tage später erhielt wider Erwarten Konrad Jäger den Zuschlag für das Bauprojekt.


    Ist euch eigentlich aufgefallen, dass …


    • Semir gar nicht seinen BMW zerlegt hat und auch Alex‘ Dienstwagen sich bester Gesundheit erfreut?
    • Robert gar keinen Nachnamen hat? Ich konnte in der Serie keinen heraushören, so habe ich mich dann entschieden, ihm auch keinen anzudichten, beim Beruf war kreativer
    • in dieser Geschichte die Chefin das letzte Wort hat?


    Und die letzte Frage wie immer zum Schluss: Gibt es eine Fortsetzung?


    Kann sein, dass ich da schon etwas in Arbeit habe. Aber erst einmal mache ich im August einen kreativ-aktiven (=kreaktiven) Urlaub „von Hameln bis Bochum“, Insider wissen, was das bedeutet.


    Und jetzt seid ihr dran: Wie hat sie euch gefallen?


    Bin gespannt auf euer Feedback.

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