Verbaut

  • Verbaut


    Prolog: Das leere Haus (Vor einigen Wochen)


    Seine Schritte hallten laut wider in den leeren Räumen, auch wenn er sich bemühte, leise aufzutreten. Er schlich von Raum zu Raum, leere Wände, auf denen sich noch nicht einmal die Umrisse der einst an ihnen stehenden Möbel abzeichneten. Zu kurz hatten sie hier gelebt, hatten ihre Stimmen und ihr Lachen die Räume mit Leben gefüllt. Am Fenster zum Garten blieb er stehen und blickte auf das Grundstück runter, das sich unter ihm ausbreitete, auf den Schwimmteich, den sie im letzten Sommer das letzte Mal genutzt hatten. Schloss er seine Augen, meinte er, seine Mädels in Badeanzügen plantschen und schwimmen zu sehen, aufmerksam beaufsichtigt von ihrer Mutter, seiner Frau. Er glaubte sogar, ihre Stimmen zu hören, wenn er sich konzentrierte. Dann öffnete er seine Augen wieder. Der Garten war leer. Wie hinter einem Schleier sah er verschwommen eine Ente auf dem Teich ihre Bahn ziehen.


    Schon bald werden andere Kinder, andere Eltern den Garten und das Haus füllen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Es war vorbei. Das Haus war verkauft, seine Frau mit den Töchtern schon vor längerer Zeit ausgezogen. Und nun war der Tag gekommen, an dem auch er der Vergangenheit den Rücken kehren würde. Es fiel ihm schwer, sich loszureißen. Aber eine Stimme, die Stimme der Vernunft, versuchte, auf ihn einzureden. Ja, und sie hatte Recht. Das Haus war für ihn alleine viel zu groß und außerdem finanziell nicht tragbar. Und es erinnerte ihn in jeder Ecke an die glücklichen Zeiten, die sie hier verlebt hatten und die jetzt ein für alle Mal vorbei waren. Nein, es war besser, an einen Neuanfang auch für ihn zu denken. Von ihm unbemerkt, löste sich eine Träne und rann ihm über das Gesicht, bis er ihren salzigen Geschmack auf seinen Lippen schmeckte. Er regte sich nicht vom Fenster weg, auch als er die Haustür unten ins Schloss fallen hörte. Erst als er eine Stimme hinter sich wahrnahm, wurde er wieder in die Gegenwart geholt. „Semir?“


    Ben Jäger war gekommen, um seinem Freund beim Umzug zu helfen. Er hatte einen geliehenen Transporter rückwärts auf die Auffahrt gestellt, die Türen geöffnet und das Haus betreten. Als er Semir im Erdgeschoss nicht antreffen konnte, war er ins Obergeschoss gestiegen und fand ihn in Aydas ehemaligen Kinderzimmer am Fenster stehen, ganz in Gedanken versunken. „Semir“, wiederholte er seine Ansprache von vorhin und trat hinter seinen ehemaligen Partner. Er merkte, dass dieser gerade Zuwendung brauchte. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Hey komm. Lass es nicht zu, dass es dich zu sehr quält, blick nach vorn. Der Umzug wird dir gut tun. Ich werde dir heute Abend die Vorzüge einer Innenstadtwohnung zeigen. Sind hier oben noch Sachen, die mit müssen?“ – „Nein. Alles unten.“ Semir rührte sich allerdings noch nicht von seinem Platz. „Dann können wir ja gleich starten, was ist das Schwerste?“ Ben war voller Tatendrang und hoffte, Semir mit seiner Stimmung anzustecken. Während er noch sprach, ging er schon voraus die Treppe runter. Semir gab sich einen Ruck und ging hinterher. „Die Waschmaschine!“ – „Dann fangen wir damit an“, beschloss Ben, „je eher wir hier fertig sind, desto eher sitzen wir beim Bier.“


    In den nächsten drei Stunden füllte sich der Transporter mit Möbeln und Kartons, und sie waren bereit zur Abfahrt. Nach einem letzten Kontrollgang, ob er auch nichts vergessen hatte, schloss Semir ein letztes Mal seine Haustür zu und steckte den Schlüssel ein. „Wann ist die Übergabe?“, fragte Ben. „Nächsten Mittwoch, 15:00 Uhr“, antwortete Semir. „Ich werde da sein“, sagte Ben ihm zu, denn das wird wieder kein leichter Tag für Semir werden.


    Semir hatte sich in der Kölner Altstadt, nicht weit von Rhein und Fußgängerzone eine 3-Zimmer-Wohnung gemietet, unterm Dach mit einer kleinen Dachterrasse. Ben war sichtlich angetan von der Raumaufteilung. Es gab ein großes helles Wohnzimmer mit Zugang zu eben dieser Terrasse und zwei kleinere Zimmer mit schrägen Wänden. „Wie willst du dich einrichten? Sofa dort, Fernseher dort?“ – „Egal, so wie es gerade passt.“ – „Und welches wird das Kinderzimmer?“ – „Das größere von den beiden, ich selbst brauche nicht soviel Platz“, antwortete Semir gleichgültig. Er konnte die Begeisterung seines Freundes noch nicht recht teilen. „Hey, das Bad ist ja riesig, hier passt ja sogar die Waschmaschine rein! In welchem Stock waren wir noch mal?“


    Ja, die Waschmaschine war der krönende Abschluss ihrer Schlepperei, aber dann war alles an Ort und Stelle. „So, fang du schon mal an mit dem Aufbau deiner Möbel, ich fahre den Transporter weg und dann helfe ich dir. Und heute Abend erkunden wir die Gegend, ich will doch mal sehen, wo du hingezogen bist.“ Semir zuckte nur mit den Schultern, hatte aber auch schon den Akkuschrauber in der Hand. „Nun guck nicht so, Semir. Wir kriegen das hin. Ich bin doch da, und wenn es hier erst einmal eingerichtet ist, geht es dir schon viel besser. Denk daran: Nächstes Wochenende kommen Ayda und Lilly, und die erwarten ein schick eingerichtetes Kinderzimmer. Also ran an die Arbeit. Das lenkt dich auch ab.“ Er gab Semir einen aufmunternden Klaps auf die Schulter und wandte sich zum Gehen. „Ich bin in einer Stunde zurück, und wenn sich hier dann nichts getan hat, zahlst du nachher die Rechnung!“ Damit war Ben im Treppenhaus verschwunden.

  • Der Fahrer (Vor zwei Wochen)


    Alex und Semir fuhren über die Landstraße zurück zur PAST, da der Unfall, dessen Aufnahme sie soeben abgeschlossen hatten, zu einem langen Stau auf der Autobahn geführt hat, den zu umfahren sie sich durch den kleinen Umweg über Land erhofften. Doch auch hier kamen sie nicht wirklich voran. Denn vor ihnen fuhr ein Transporter sehr langsam und sehr dicht an der Mittelspur. Alex versuchte, links an dem vor ihnen fahrenden Sprinter vorbei zu schauen, doch er konnte keinen Grund für das langsame Tempo erkennen. Überholen war aber auch nicht möglich, da ihnen ständig Autos entgegen kamen. Alex fuhr jetzt nach rechts auf den Seitenstreifen. „Kannst du was sehen, Semir?“, fragte er seinen Beifahrer. Semir verneinte. „Nein. Ob die hier blitzen?“ – „Bei 20 km/h? Hier ist 80 erlaubt. Und so langsam, wie der fährt, wird er nicht geblitzt, sondern gemalt.“ Alex mochte es gar nicht, wenn er nicht schnell voran kam, da stand er seinem Partner in nichts nach.


    Endlich war die Spur frei und Alex zog an dem Transporter vorbei. Semir betrachtete sich den Wagen genauer. An dem Gefährt war nichts auszusetzen. Es war ein weißer Mercedes Sprinter, pieksauber, noch recht neu, und auf der Seite prangte eine Werbeaufschrift: Wilckens Hoch- und Tiefbau. Als das Fahrerhaus in seinen Blick kam, fuhr Semir zusammen. Der Fahrer hing vornüber über sein Lenkrad gebeugt. „Alex! Setz dich davor, wir müssen ihn anhalten. Der Fahrer scheint bewusstlos zu werden.“


    Der Aufgeforderte fuhr vor dem Sprinter zurück auf die rechte Spur und bremste ihn langsam aus. Er machte einen schmerzverzerrten Gesichtsausdruck, als litte er körperlich mit seinem Dienstwagen mit, als der Transporter auf dessen hintere Stoßstange prallte. Sachte trat er auf die Bremse und verringerte die Fahrt. Irgendwann rutschte der Fuß des Fahrers im Transporter vom Gaspedal, und da noch ein Gang eingelegt war, erstarb irgendwann der Motor seines Wagens, und das Gefährt kam zum Stehen.


    Alex und Semir stiegen aus. Während Alex mit dem Warndreieck auf den nachfolgenden Verkehr zuging und die Stelle absicherte, wandte sich Semir der Fahrertür zu. Als er diese öffnete, fiel ihm der Fahrer bereits entgegen, Semir fing ihn auf und zog ihn aus dem Gefahrenbereich auf den Seitenstreifen, wo er ihn sanft ablegte. Nach einem kurzen Atem-Check legte er ihn in die Seitenlage und zog sein Handy aus der Tasche, um die Hilfe zu organisieren.


    Die eingetroffenen Rettungssanitäter kümmerten sich um den Bewusstlosen, luden ihn in den Rettungswagen und brachten ihn in die nächste Klinik. Bis zur Abfahrt des Rettungswagens erlangte er nicht mehr das Bewusstsein.


    Um den Verkehr auf der mittlerweile verstopften Landstraße möglichst schnell wieder freigeben zu können, entschied sich Semir dafür, den Transporter selbst auf das Gelände der PAST zu fahren, wo er auf die Abholung durch die Firma Wilckens warten könnte. Dort angekommen blickte er noch kurz in den Laderaum, fand aber nur Baumaterial vor, keine verderbliche oder lebende Fracht. Semir rief bei der Baufirma an, um die Abholung zu beauftragen.


    Einen Tag später erfuhren Alex und Semir, dass der Fahrer des Transporters, ein Walter Schmaller, nicht mehr zu Bewusstsein gekommen und in der Klinik verstorben war. Todesursache: Herzversagen.Sie hakten den Fall ab, und der tote Fahrer rückte in den nächsten Wochen mehr und mehr in Vergessenheit.

  • Vermisst

    Es war Freitagnachmittag kurz nach 17:00 Uhr. Alex und Semir fuhren im BMW über die A4 Richtung Köln und freuten sich auf den baldigen Feierabend und das freie Wochenende, welches ihnen bevorstand. „Und triffst du dich am Wochenende wieder mit dieser Lena?“, versuchte Semir von seinem Partner zu erfahren. Dieser druckste etwas herum. „Weiß nicht, mal sehen.“ – „Wie?“, Semirs Neugier war geweckt, „was heißt das, du weißt es nicht? Habt ihr euch etwa schon gestritten?“ – „Das nicht direkt. Ich habe unsere Verabredung am Mittwoch vergessen“, gab Alex leise zu. „Du hast sie versetzt? Den ganzen Tag konntest du keinen klaren Gedanken fassen, weil du pausenlos an deine Traumfrau denken musstest, und dann vergisst du eine Verabredung? Wie hat sie reagiert?“ – „Sie ist mit ihrer Freundin ausgegangen und hat sich seitdem nicht mehr bei mir gemeldet.“ – „Da hast du jetzt ein mittelgroßes Problem, das kann ich dir sagen.“ – „Meinst du, sie ist nachtragend?“ – „Nein, Frauen sind absolut niemals nachtragend, nur vergessen tun sie nichts. Das kannst du dir abschminken.“ – „Und wenn ich mich bei ihr entschuldige?“ – „Das kannst du nicht. Du kannst dich nicht entschuldigen. Du kannst höchstens Lena um Entschuldigung bitten, sie muss dich entschuldigen.“ – „Bist du jetzt unter die Germanisten gegangen, Semir? Hast du einen Tipp für mich, wie ich bei ihr um Entschuldigung bitten könnte? Aus deinem umfangreichen, nahezu unerschöpflichen Repertoire sozusagen?“ Semir täuschte längeres Grübeln vor. „Alex“, begann er langsam und zog den Namen dabei betont in die Länge, „es gibt exakt acht Arten, bei Frauen um Verzeihung zu bitten.“ – „Und?“ – „Keine funktioniert, aber den größten Erfolg hast du mit Ehrlichkeit. Ruf sie an, sag ihr, es täte dir leid. Wenn ihr etwas an dir liegt, wird sie dir eine Chance geben, ansonsten sehe ich schwarz. Apropos schwarz, wie wäre es mit einem Kaffee zum Feierabend?“


    Sie waren gerade an dem Hinweisschild vorbeigefahren, welches auf den Rastplatz Frechen hinwies. „Da bin ich dabei“, stimmte Alex zu. Semir setzte den Blinker und lenkte den BMW auf den Parkplatz. Jetzt am Freitagnachmittag war dieser gut gefüllt. Sie parkten hinter dem Rasthaus auf einer eigentlich gesperrten Fläche, dachten sich aber nichts dabei, denn die Dienstwagen der Autobahnpolizisten waren den Pächtern der Raststätte bekannt, anschließend betraten sie die Gaststätte und stellten sich an das Ende der Schlange am Selbstbedienungstresen.


    Plötzlich stürzte eine junge Frau in den Verkaufsraum, aufgeregt rief sie: „Bastian? Bist du hier? Ist hier ein kleiner Junge reingekommen? Mein Sohn ist verschwunden!“ Gleichzeitig drehten sich Semir und Alex um und sprachen nahezu gleichzeitig: „Was ist passiert? Wir sind von der Polizei.“ Sie zogen ihre Ausweise und stellten sich der Frau vor. „Sie suchen Ihren Sohn? Wie alt ist er denn und wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?“ – „Kommen Sie, ich zeige es ihnen. Er ist zehn Jahre alt“, die Stimme der Mittdreißigerin überschlug sich förmlich, als sie die Beamten nach draußen führte. Sie ging in Richtung der seitlichen Parkplätze am kleinen Waldstück, welches sich neben dem Autobahn-Rastplatz befand. „Dort hinten, der grüne Ford Mondeo, das ist mein Auto. Dort haben Bastian und ich uns getrennt.“ – „Jetzt mal von Anfang an. Sie haben sich von ihrem Sohn getrennt?“ – „Das war etwas missverständlich ausgedrückt, oder?“, die Frau fasste sich etwas und sprach nun deutlich langsamer, „Bastian und ich sind auf den Weg zu meinen Eltern. Wir kommen aus Aachen, aber meine Eltern wohnen in Remscheid. Vor einigen Kilometern meinte Bastian, Bella müsse mal.“ – „Bella ist ein Hund, vermute ich?“, fragte Alex nach. „Ja, ein Münsterländer-Collie-Mix, etwa kniehoch. So fuhr ich hier raus. Ich sagte Bastian, er solle mit Bella dort unten am Waldrand auf diesem Weg entlang gehen, sich aber nicht zu weit vom Auto entfernen. Ich sagte ihm auch, dass ich nur kurz auf die Toilette gehen und dann noch etwas zu trinken besorgen wollte. Wir hatten noch einige dieser 50ct-Gutscheine, die man immer bei der Toilettenbenutzung an der Autobahn bekommt. Als ich wieder herkam, war Bastian nicht mehr zu sehen. Ich legte alles ins Auto und bin dann los, ihn suchen. Auf dem Waldweg konnte ich ihn nicht sehen. Auf dem Spielplatz war er nicht, in der Gaststätte nicht, auch in der Tankstelle nicht. Ich weiß nicht mehr weiter. Da ist bestimmt etwas passiert.“ – „Nein, das dürfen Sie nicht denken“, versuchte Semir, die Frau zu beruhigen. Er führte sie zu dem dunkelgrünen Wagen. „Setzen Sie sich bitte in Ihren Wagen, Frau …?“ – „Winter, Nadja Winter“ – „Frau Winter. Was hat ihr Sohn angehabt?“ – „Jeans und ein knallrotes Sweat-Shirt, so eins mit Kapuze.“ – „Gut, mein Kollege und ich werden das Waldstück abgehen und ihn suchen. Bleiben sie bitte hier, bis wir wieder da sind?“ Dann wandte er sich Alex zu. „Alex, komm wir gehen einmal um das Waldstück herum. Du nach rechts, ich nach links und zusammen durch die Mitte zurück. Wäre doch gelacht, würden wir das Kind nicht finden.“

  • Sturz


    Das Waldstück war etwa 400m lang und 200m breit, auf der einen langen Seite begrenzt durch den Rastplatz, auf der anderen durch einen Feldweg, dem sich Getreidefelder bis zum Horizont anschlossen. Es führte ein schmaler Weg um das Waldstück herum, der gerne von Autofahrern benutzt wurde, die den Gang auf eine der Rastplatztoiletten scheuten, sich lediglich die Füße vertreten oder – wie in diesem Fall – dem mitreisenden Hund etwas Auslauf gönnen und ihm dabei die Gelegenheit geben wollten, sich zu erleichtern.Semir wandte sich auf die linke Seite, und Alex begann, das Waldstück entgegen dem Uhrzeigersinn zu umrunden. Ein kleiner Junge in einem roten Sweat-Shirt, knallrot, wie seine Mutter sich ausgedrückt hatte, musste ihm doch auffallen in dem lichten Wald. Er rief den Namen des Jungen und hörte auch aus der Ferne Alex nach ihm rufen. Dann plötzlich vernahm Semir ein leises Winseln und ein Rascheln im liegen gebliebenen Laub des vergangenen Herbstes. Er blieb abrupt stehen und blickte aufmerksam ins Unterholz. Da war es wieder, das Winseln. Er tat einige Schritte in die Richtung, aus der er das Geräusch hörte. Zu sehen war immer noch nichts. „Bella?“ rief er in der Hoffnung, der Hund möge zumindest kurz aufschauen und ihm so seine Position verraten. Und tatsächlich wurde das Rascheln lauter, und es hob sich ein wuscheliger Hundekopf vom Waldboden ab, etwa 25m vom Waldweg entfernt. Sofort legte sich der Hund aber wieder nieder. Also ging Semir langsam in Richtung der Hündin und sprach leise auf das Tier ein. „Ja, was hast du denn? Wo ist denn dein Herrchen?“ Weiter schritt er langsam in gebückter Haltung auf Bella zu, streifte durch lose auf dem Waldboden liegende Äste. „Habt ihr euch verl—AAAH!“ Semir schrie erschrocken auf, als er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab und er in die Tiefe stürzte.


    „Verdammt!“, fluchte er, als er merkte, dass er etwa 2,5 m tief unter dem Waldboden in einen gemauerten Raum gefallen war. Als er versuchte aufzustehen, fuhr ein stechender Schmerz in seinen Knöchel. Er war bei der unsanften Landung umgeknickt. Aber er konnte zumindest auftreten und blickte sich um. Der Raum war etwa 3 mal 3 Meter groß und vor vielen Jahren einmal weiß getüncht gewesen, mittlerweile blätterte die Farbe großflächig ab, die Decke bestand aus Holzbrettern, die im Laufe der Zeit morsch geworden waren und so zu seinem heutigen Einbruch geführt hatten.


    Dann sah er ihn in einer Ecke liegen, abgestürzt wie er selbst. Das eine Bein war verdreht und schien gebrochen zu sein, das rote Sweat-Shirt dreckig vom Schmutz, der sich auf dem Betonboden angesammelt hatte und bei der unsanften Landung aufgewirbelt war. Der Junge war nicht bei Bewusstsein. „Bastian?“, fragte Semir und humpelte zu dem Knaben. Er ging neben ihm auf die Knie, stellte dessen Atmung fest und drehte den Körper, so gut es ging, in die Seitenlage und zog sein Handy aus der Tasche.


    Der erste Anruf galt der Rettung. „Susanne? Schick doch bitte einen RTW zum Rastplatz Frechen und die Feuerwehr, wir brauchen eine lange Leiter. Die sollen in das Waldstück am Parkplatz gehen und den linken Weg nehmen, ich schicke ihnen Alex entgegen.“ Er sparte sich, ihr die näheren Umstände zu erklären, dafür war später noch genug Zeit. Dann rief er seinen Partner an. „Alex. Ich habe Bastian gefunden. Komm zum linken Weg, links davon befindet sich ein unterirdischer Raum. Bastian ist dort eingebrochen und ich auch. Der Hund liegt auf dem Waldboden. Pass auf, dass du nicht auch einbrichst!“


    Dann zog Semir seine Jacke aus und deckte Bastian mit ihr zu.

  • Falltür


    Die Wartezeit verbrachte Semir damit, sich genauer umzuschauen. Dass er eben eine Leiter geordert hatte, um über diese den unterirdischen Raum verlassen zu können, war ihm im Nachhinein merkwürdig vorgekommen. Sollte dieses ein Keller sein, so musste es einen Zugang von oben geben. So ließ er seine Augen über alle vier Wände gleiten und bemerkte tatsächlich eine Tür an der im Schatten liegenden Wand, sie war ebenso wie die Wand weißgestrichen und hob sich nur durch die über die Mauersteine vorstehenden Angeln hervor. Er humpelte langsam auf die Tür zu, das Auftreten war zwar schmerzhaft, aber Semir war überzeugt davon, sich den Knöchel lediglich verstaucht zu haben. Die Tür war abgeschlossen, wie er nach einem Klinkendruck feststellte, gab aber bei einem beherzten Zug nach und öffnete sich.


    Sofort schlug Semir ein modriger Geruch entgegen, und da war noch etwas anderes in der Luft, ein Duft, der sich mit jeder Sekunde, die er die Tür länger geöffnet hielt, verstärkte, bis er sich seinen Arm vors Gesicht schlug, um ihm zu entgehen, um ihn daran zu hindern, ihm tief in die Nase und ins Gehirn zu steigen. Es stank bestialisch! Und Semir konnte den Geruch auch identifizieren. Es war Leichengeruch, der Geruch verwesender Körper. Das muss es gewesen sein, was den Hund an- und Bastian schließlich in die Falle lockte. Ihm wurde übel und er musste die Tür kurz schließen, um tief Luft zu holen.


    Dann nahm er seinen Mut zusammen und riss die Tür ganz auf. Im Gegensatz zum ersten Raum, in den durch die teilweise eingestürzte Decke Tageslicht fiel, war dieser Raum stockdunkel, lediglich durch die nun geöffnete Tür strömte etwas Licht, aus zweiter Hand sozusagen, hinein und gab den Blick frei auf eine Stiege, die nach oben führte, und an der Decke aufhörte. Seine Neugierde war geweckt. Versucht, möglichst wenig Luft zu holen, ging er auf die schmale Treppe zu und erklomm die Stufen. Genau über der Treppe befand sich eine rechteckige, hölzerne Falltür, die nach oben zu öffnen war. Aber so sehr Semir sich dagegen stemmte, sie gab dem Druck nicht nach. Er schüttelte seinen Kopf, machte sich auf den Rückweg in den ersten Raum und schloss die Verbindungstür hinter sich. Bastian hatte sich nicht bewegt. „Semir?“, klang jetzt die Stimme seines Partners von oben. Als Semir nach oben blickte, erkannte er Alex Gesicht genau an der Stelle, an der er vor etwa 10 Minuten eingebrochen war. „Hey, pass auf, du bist noch auf der brüchigen Decke“, warnte er ihn, „ist die Feuerwehr und der RTW schon zu sehen? Was ist mit dem Hund?“ – „Nein, noch ist keiner zu sehen“, kam die Antwort, nachdem Alex sich kurz zum Parkplatz umgeblickt hatte, „den Hund habe ich hier angebunden“. „Einer von uns sollte sie hierher lotsen, und auch Bastians Mutter. Hier ist noch ein zweiter Raum, Alex. Etwa 6 Meter weiter dort“, Semir wies mit dem Arm in die Richtung, „befindet sich eine Falltür, die du vielleicht von oben öffnen kannst. Aber ich warne dich, darin stinkt es nach Verwesung.“ – „Ich sehe mal nach.“


    Alex erhob sich und ging in einem Bogen um die Einbruchstellen herum. Er zog dabei immer mal mit dem Fuß durch die Blätter und Zweige, um zu erkennen, wo der Waldboden aufhörte und die Holzdecke begann. So tastete er sich vorsichtig am Rand des unterirdischen Gemäuers entlang, bis er die Falltür sah. Der Griff war ein massiver, leicht verrosteter Eisenring. Alex drehte an dem Ring und zog kräftig an der Holztür. Knarzend öffnete sie sich und Alex trat gleich zwei, drei Stufen hinab. Dann schlug er sich die Hände vors Gesicht. Bei Gott! Semir hatte nicht übertrieben mit seiner Warnung vor diesem Gestank. „Igitt“, rief er, „was ist denn das für ein Gestank? Das ist ja furchtbar!“ – „Ich freue mich auch, dich zu sehen“, entgegnete ihm Semir, der jetzt auch an die Stiege getreten war. Der Junge hat sich das Bein gebrochen. Wo bleiben die denn?“ – „Ich werde den Hund zu Frau Winter bringen und die Rettungskräfte herbringen, hältst du es noch ein wenig hier unten bei dem Jungen aus, Semir?“

  • Grausiger Fund


    Alex hatte durchaus den angenehmeren Teil der Aufgabe abbekommen, dachte Semir und setzte sich neben Bastian auf den Fußboden. „Da sind wir beide in einen schönen Schlamassel geraten, was Bastian?“, meinte er zu dem Reglosen. Als hätte er ihn mit seiner Stimme geweckt, kam Leben in den Jungen. „Mama? Bella? AU!“ – „Hey Bastian, nicht bewegen, du bist gefallen und hast dir das Bein gebrochen. Deine Mama wird gleich hier sein.“ – „Aua. Das tut so weh!“, weinte der Junge, „wer - sind - Sie?“ – „Ich heiße Semir, ich hatte dich gesucht und bin dann selber hier reingefallen. Wieso bist du hier entlang gelaufen?“, wollte er von dem Zehnjährigen wissen, auch um ihn in ein Gespräch zu verwickeln und so von seinem Schock und den Schmerzen etwas abzulenken. „Bella hat sich losgerissen, ich bin ihr nachgerannt. Plötzlich bin ich gestürzt und hier gelandet.“


    Alex hatte mittlerweile mit Bella, die artig an ihrer Leine mit ihm mitlief, den dunkelgrünen Ford Mondeo erreicht. Nadja Winter kam ihm schon entgegen. „Haben sie ihn? Bella!“ Die Hündin freute sich, ihr Frauchen wieder zu sehen, wurde aber nach der Begrüßung von ihrem Frauchen in den Wagen gesperrt. „Wo ist er?“, wollte sie von dem Polizisten wissen. „Er ist in ein Loch gestürzt und hat sich das Bein gebrochen. Mein Partner ist bei ihm. Wir haben schon einen Rettungswagen gerufen, müssen den Sanitätern aber den Weg zeigen, damit nicht noch mehr Leute einstürzen.


    Er wurde unterbrochen durch die Martinshörner der Feuerwehr und des Rettungswagens, die nun auf dem Rastplatz eintrafen. Er hob seine Arme, um die Fahrer auf sich aufmerksam zu machen und winkte sie an den Rand des Parkplatzes. „Guten Abend, begrüßte er die Rettungskräfte, „ich bin Alex Brandt von der Kripo Autobahn. Das ist Frau Winter, ihr Sohn ist hinten im Wald in einen unterirdischen Raum gestürzt und hat sich wahrscheinlich das Bein gebrochen. Ich bringe Sie hin. Mein Partner ist bei ihm“, erläuterte er kurz und knapp die Situation. „Eine Leiter brauchen wir nicht mehr, wir haben eine Treppe gefunden, und es ist uns gelungen, die Falltür zu öffnen“, wandte er sich nun an die Feuerwehr, während die Sanitäter bereits die Trage aus ihrem Wagen holten, „aber Sie sollten den Bereich absperren und sichern, damit nicht noch mehr passiert, vielleicht sollten wir die morsche Decke einfach ganz einreißen, dann ist das Loch zumindest zu sehen. Ach, da fällt mir was ein, haben Sie Scheinwerfer an Bord? Irgendetwas hat da im Loch bestialisch gestunken. Wir wollen doch mal genau nachsehen, was das ist.“


    Alex ging mit den Sanitätern und Nadja Winter voran, die Feuerwehr folgte mit Absperrband, Scheinwerfern und Äxten. Als sie die offen stehende Falltür erreicht hatten, warnte er seine Begleiter erneut vor dem Gestank, der sie jetzt erwartete, dann ließ er den Sanitätern den Vortritt.


    Während die Sanitäter sich um den verunglückten Jungen und dessen aufgebrachte Mutter kümmerten, begann die Feuerwehr mit dem Aufbau ihrer akkubetriebenen Scheinwerfer, um den dunklen Raum unterhalb der Falltür zu erhellen. Der Raum war komplett leer, abgesehen von der Ecke unterhalb der Treppe. Dort lagen drei große, schwarze Säcke, einer davon eingerissen. Und hier lag auch die Ursache für den Verwesungsgeruch in diesem Raum. Ein junger Feuerwehrmann trat vor, zog sein Messer hervor und schnitt den Sack ganz auf. „WAASS?“, schrie er und fuhr zurück, als ihn zum einen der verstärkte Leichengeruch in die Nase stieg und er im selben Augenblick den Inhalt des Sacks erkannte: es war der schon leicht verweste Körper eines Menschen, „d…d…das ist ein T…T…Toter“, stammelte er weiter.


    „Hände weg!“, befahl Alex, als sich ein anderer Feuerwehrmann dem Fund nähern wollte, „das ist ein Fall für die Spurensicherung. Wir sollten hier nichts weiter anfassen.“ Er hatte sein Handy bereits in der Hand, um die zuständigen Beamten zu alarmieren. Semir, von dem Aufschrei und den bestimmenden Worten seines Partners angelockt, trat aus dem anderen Raum, in dem er gerade noch die Personalien von Nadja Winter und ihrem Sohn aufgenommen hatte, der mittlerweile gut stabilisiert und versorgt auf der Trage lag. „Was habt ihr?“, fragte er in die Runde. „Einen Toten im ersten Sack. Und noch zwei weitere Säcke, noch ungeöffnet.“ Semir trat vorsichtig auf den Fund zu und verzog bei dem Anblick des Toten angewidert sein Gesicht.


    Hinter ihm wurde jetzt Bastian von den Sanitätern herausgetragen, gefolgt von seiner Mutter. „Lasst uns auch hier rausgehen“, schlug Semir vor, „hier unten bekommt man ja keine Luft. Und die SpuSi weiß schon, was sie zu tun hat. Sperren wir das Gebiet ab.“

  • Aufnahme


    Die Feuerwehr brachte ihre Äxte wieder zum Wagen, zunächst musste die Flatterbandabsperrung ausreichen. Erst wenn die Aufnahme des Leichenfundorts komplett abgeschlossen war, konnte an den Einriss der morschen Decke gedacht werden, Um den Einsturz weiterer Personen oder Tiere zu verhindern, sollte dann ein engmaschiges Drahtgitter über die Öffnung gelegt werden.


    Alex und Semir gingen zum Parkplatz zurück und warteten dort auf das Eintreffen der Spurensicherung und Gerichtsmedizin. Sie meldeten dem diensthabenden Beamten in der PAST, was sie im Wald entdeckt hatten. Kim Krüger hatte schon Feierabend gemacht, und Susanne saß auch nicht mehr im Büro, der Telefonist sagte aber zu, die Chefin sofort zu alarmieren und zum Fundort zu schicken. Die beiden Hauptkommissare begrüßten die Männer und Frauen der Spurensicherung und brachten sie dann zu der abgesicherten Falltür, die offen stand, seit sie den Raum verlassen hatten. Die Feuerwehr hatte ihre Scheinwerfer stehen gelassen, die Polizei würden sie nach der Aufnahmen und Untersuchung des Leichenfundorts zurück zur Station bringen.


    Jetzt, wo die Dämmerung bereits vollständig Besitz von dem Waldstück ergriffen hatte, drang das Scheinwerferlicht wie ein gelber Lichtkegel aus der Tiefe in die Baumkronen und warf gespenstige Schatten auf die Umgebung. Die Beamten der Spurensicherung zogen sich ihre weißen für den einmaligen Gebrauch vorgesehenen Anzüge, Handschuhe und Mundschutze über und begannen den Abstieg in den unterirdischen Raum. Alex und Semir hielten sich im Hintergrund. Es waren jetzt schon mehr als genug Leute dort unten, sie konnten genauso gut an der frischen Luft auf Ergebnisse und auf das Eintreffen ihrer Chefin warten. Kim Krüger traf ein, gerade als der Fotograf nach getaner Arbeit die Stiege emporstieg und zu den Kommissaren trat. Er deutete die fragenden Blicke der drei Beamten richtig und schilderte den Fund in knappen Worten: „Drei Leichen in drei Säcken, alle männlich, mittleren Alters“ – „Was zur Todesursache?“ – „Ich bin Fotograf, Frau …“ – „Krüger, Kripo Autobahn“ – „Frau Krüger, da müssen Sie die Kollegen der Gerichtsmedizin fragen.“ – „Danke, die Fotos schicken Sie bitte auch zu uns?“ – „Aber natürlich, ich beeile mich.“ Der Fotograf verabschiedete sich und ging über den Waldweg zu seinem Auto.


    Kim Krüger wandte sich jetzt an ihre beiden Beamten. „Was hatten Sie hier zu suchen?“ Semir übernahm die Antwort. „Wir wollten uns gerade einen Kaffee holen, da kam eine Frau in die Gaststätte und suchte ihren 10-jährigen Sohn, wir halfen ihr beim Suchen. Er sollte sich ihrer Aussage nach mit seinem Hund in diesem Waldstück aufhalten, also sind wir den Wald abgegangen. Ich fand den Hund hier im Unterholz, aber bevor ich ihn erreichte, bin ich durch die morsche Decke eingebrochen und landete direkt neben dem Jungen. Er hat sich das Bein gebrochen und ist bereits im Krankenhaus. Auf der Suche nach einem Ausstieg, fand ich die Stiege mit der Falltür und den Säcken, denen ein unangenehmer Gestank entströmte. So fanden wir die Leichen.“ Kim nickte und schritt dann zu der aufgeklappten Falltür. Als sich Semir und Alex nicht rührten, drehte sie sich um. „Kommen Sie, meine Herren?“


    Ein Mann der Spurensicherung war schon dabei, die Taschen der Männer, die allesamt Anzüge trugen, nach Gegenständen zu untersuchen. Alle Fundstücke legte er in kleine Plastiktüten und legte diese auf die Brust des jeweiligen Eigentümers, die jetzt nebeneinander hingelegt waren. Semir griff sich eine der Tüten. Streichhölzer, Zigaretten, Schlüssel, mp3-Player, keine Papiere, keine Brieftasche. „Bringt ihr das alles in die KTU, das soll Hartmut sich mal anschauen. Und bringt nichts durcheinander“, bat Semir einen der Beamten der Spurensicherung, der diese Bitte mit einem so vielsagenden Blick quittierte, dass Semir schnell entschuldigend und lächelnd die Hand hob. Nachdem auch der Gerichtsmediziner ihnen zugesagt hatte, sich mit der Auswertung beeilen zu wollen und ihnen die baldmöglichste Übersendung der Ergebnisse zugesichert hatte, schlug Semir vor: „Ich denke, wir sollten zurück zur Dienststelle fahren und Feierabend machen. Ergebnisse werden sicher nicht vor morgen früh vorliegen. Tja Alex, das war’s dann wohl mit dem Wochenende“, und in die Runde rief er noch: „Tschüß Jungs.“

  • PAST


    Am nächsten Morgen war Semir schon um halb Acht auf dem Revier. Zum einen trieb ihn natürlich die Neugier in die Dienststelle nach dem, was wohl die Spurensicherung herausgefunden haben mag und ob schon Ergebnisse der Gerichtsmedizin vorlagen, zum anderen ließ der Schmerz in seinem Knöchel ihn nicht länger schlafen. Er hatte den Knöchel am Abend noch gekühlt und über Nacht einen Salbenverband angelegt, konnte aber nicht verhindern, dass dieser heute Morgen angeschwollen und dunkelblau war. Die Tatsache, dass er auftreten und auch einigermaßen auf ebenem Grund laufen konnte, beruhigte ihn aber etwas. Er war wohl lediglich verstaucht.


    Er legte seinen Fuß auf einen herangezogenen Besucherstuhl und blätterte durch die Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Statt KTU oder Gerichtsmedizin hatte Susanne Neuigkeiten für sie. Eine entsprechende Notiz hatte sie am Vorabend auf seinen Schreibtisch gelegt. Sie kündigte ihr Erscheinen im Büro für 9:00 Uhr an. Mittlerweile war der Rechner hochgefahren und im Maileingang fanden sich Bilder der drei toten Männer. Frontalaufnahmen der Gesichter und Detailaufnahmen von Hand- und Fußgelenken, an denen Wunden zu erkennen waren, die auf Fesselung hindeuteten. Die Hinterköpfe aller drei waren blutverkrustet. Semir startete damit, die Fotos auszudrucken und stand auf, um sich einen Kaffee aus der Teeküche zu holen.


    Kaum war er mit dem dampfenden Getränk und den Ausdrucken an seinen Schreibtisch zurückgekehrt, betrat Alex die PAST. „Morgen“, begrüßte er die Kollegen in der Zentrale, die an diesem Samstagmorgen Dienst hatten und betrat dann das Büro. „Guten Morgen, was macht dein Fuß?“ -„Tut weh, dick und blau, aber ich kann damit laufen. Wenn du auch einen Kaffee möchtest, musst du neuen aufsetzen. Susanne kommt gleich, um uns etwas zu erzählen, sie hat wohl schon etwas herausgefunden. Fotos habe ich schon ausgedruckt, von KTU und Gerichtsmedizin liegt noch nichts vor“, klärte Semir seinen Partner kurz auf, der sich jetzt in die Teeküche begab und die Kaffeemaschine erneut in Gang brachte.


    Als Alex mit seinem Kaffee wieder das gemeinsame Büro betrat, klingelte das Telefon auf Semirs Schreibtisch, der nach dem ersten Signal abhob. „Gerkan, Kripo Autobahn…Ja, Heino, Was habt ihr?“ Semir lauschte dem anrufenden Gerichtsmediziner eine Zeitlang ohne Unterbrechung und machte sich einige Notizen auf den Ausdrucken der Fotos der Leichen. Anschließend fasste er das Gehörte für Alex und auch für sich selbst nochmal zusammen. „Also, wir haben drei männliche Leichen, wir nennen sie Leiche 1,2 und 3. Leiche 1 und 2 sind je etwa 30-40 Jahre alt, Leiche 3 deutlich älter, alle drei sind wohl zum gleichen Zeitpunkt getötet worden. Alle trugen Anzüge mittlerer Qualität, die Hände waren auf dem Rücken gefesselt, die Füße ebenfalls zusammengebunden. Alle drei starben durch aufgesetzte Genickschüsse, wurden also geradezu hingerichtet.“ – „Also können wir Selbstmord oder eine natürliche Todesursache ausschließen“, bemerkte Alex trocken und erntete dafür einen strafenden Blick eines älteren Kollegen. „Es wird davon ausgegangen, dass die Leichen gleich nach ihrer Tötung in die Säcke gepackt und in diesem Raum entsorgt wurden, darauf deutet die Blutmenge in den Beuteln hin. Vielleicht mussten sie sogar noch lebend selbst reinsteigen, wurden dann erschossen und die Säcke daraufhin zugebunden? Die Plastiksäcke waren alle unversehrt, lediglich einer war eingerissen, sie dürften aber nicht geschliffen worden sein, sondern vorsichtig getragen. Vielleicht war der Fundort auch der Tatort?“, mutmaßte Semir, „eine Identifizierung war noch nicht möglich. Die gefundenen Gegenstände sind noch in der KTU, wir fahren am besten selber gleich mal rüber.“ Semir stand aus seinem Schreibtischstuhl auf und hängte die ausgedruckten Fotos an die Magnettafel und betrachtete sie eingehend.


    Als er damit fertig war, betrat Susanne die PAST. Sie legte ihre Tasche auf ihren Tisch im Großraumbüro und ging gleich in das Büro der Kripo-Beamten, als sie sah, dass diese schon anwesend waren. „Jungs, ich habe gestern noch etwas rausgefunden“, sie hatte die volle Aufmerksamkeit von Semir und Alex, „ich habe mich gefragt, was das für Räume mitten im Wald sind, die ihr da entdeckt habt, also habe ich ein wenig recherchiert. Es handelt sich um den Keller eines alten Forsthauses. Der Wald in Frechen ist damals durch die Autobahn zerschnitten worden, ein kleiner Rest des Waldes ist nördlich und südlich der A4 noch erhalten geblieben. Im südlichen Teil, nahe des heutigen Rasthof Frechen, Fahrtrichtung Köln, stand das Forsthaus, seit dem Autobahnbau verlassen im dem kleinen Wald-Reststück. Das Haus ist in den 70er Jahren abgerissen worden. Den Keller hatte man damals im Erdboden gelassen und nur mit Holzbrettern abgedeckt. Dann geriet der Ort in Vergessenheit, und die Bretter sind wohl morsch geworden. Das zur Geschichte. Und nun zur Gegenwart und Zukunft. Vor drei Monaten wurde entschieden, den Keller als Fundament für einen Funkmast zu nutzen, dafür sollte der gesamte Raum mit Beton ausgegossen werden.“ – „Damit wären die Leichen im Keller gut entsorgt“, meinte Alex, „wer wusste von den Plänen für die Funkmasten?“ – „Der Provider ist Mobil-TEL, eine Münchner Mobilfunk-Firma, die ausführende Baufirma ist Wilckens Bau, vielleicht sind noch Architekten, Gutachter usw. beteiligt, das herauszufinden ist euer Job.“


    Semir grübelte. Wilckens Bau, Wilckens Bau, da war doch was? Er zog die Stirn kraus. Woran erinnerte ihn der Name? „Wilckens Bau?“, fragte er jetzt laut, „der Name kommt mir bekannt vor.“ – „Wilckens Bau ist an beinahe jeder Autobahnbaustelle beteiligt und überall hängen Werbeschilder herum“, versuchte Susanne zu helfen. „Nein, das meinte ich nicht. Moment..“, er rollte an seinen Schreibtisch und gab „Wilckens“ in die Suchmaske seines Computers ein. „Hier! Der Sprinter vor drei Wochen, den wir auf der Landstraße angehalten haben, dessen Fahrer ohnmächtig war und später verstarb, das war ein Wagen der Firma Wilckens Bau. Und der Fahrer war bei der Firma angestellt. Vielleicht nur ein Zufall?“


    „Schauen wir uns in der Firma mal um?“, fragte nun Alex, „Aber erst geht es zur KTU.“

  • Baufirma Wilckens


    Horst Wilckens führte seine Hoch- und Tiefbaufirma nun bereits in der dritten Generation und hatte sich ein mittleres Imperium aufgebaut. Etwa 3000 Mitarbeiter bearbeiteten Aufträge in ganz Deutschland und dem europäischen Ausland. Kaum eine Ausschreibung wurde von Wilckens Bau nicht mit einem Angebot beantwortet, und sehr oft erhielten sie den Zuschlag, weil sie nahezu alle Gewerke, die mit dem Bau verbunden sind, selbst ausführen konnten und nicht auf Subunternehmer angewiesen waren. Im Rheinland waren sie nahezu konkurrenzlos. Wilckens Bau war zeitlich vollkommen flexibel. Wollte ein Kunde noch heute eine Tiefgarage bauen, Wilckens Bau hätte kein Problem damit, noch heute einen Bautrupp zu schicken. 24-Stunden-Betrieb auf Baustellen war kein Problem und auch keine Seltenheit.


    Nun saß Horst Wilckens an seinem großen gläsernen Schreibtisch in seinem Großstadtbüro, welches eine halbe Etage in einem der oberen Stockwerke eines der Kranhäuser für sich in Anspruch nahm. Durch die bodentiefen getönten Fenster hatte er einen großartigen Ausblick auf den träge dahin fließenden Rhein und darauf treibenden Binnenschiffen und Ausflugsdampfern. Er war angespannt. Vor wenigen Wochen hatte er auf eine Ausschreibung für den Bau eines großen Einkaufzentrums mit Arzt- und Anwaltspraxen, die in einen Bürokomplex für die Arbeitsagentur integriert werden und welches in der Nähe von Köln errichtet werden sollte, ein Angebot abgegeben und wartete jetzt ungeduldig auf die Entscheidung des Bauherrn. Die entscheidende Ausschusssitzung sollte zehn Tage später stattfinden, aber dank seiner Informationsquellen in der Behörde hoffte er auf eine vorzeitige Bekanntgabe des Ergebnisses.


    Er schrak aus seinen Gedanken auf, als das Telefon klingelte. „Wilckens“, meldete er sich und hörte andächtig einige Minuten zu. „Was? Entdeckt? Wie konnte das passieren? Ihr habt doch nichts dagelassen, was zu einer schnellen Identifizierung führen könnte oder sie mit meiner Firma in Verbindung bringt? …. Das will ich auch hoffen, ich habe mich auf euch verlassen. …. Ja, dafür müssen wir sorgen, setz ihn unter Druck, lass dir etwas einfallen, die Ausschreibung ist wichtig für uns, da hängen Millionen dran und auch eure Arbeitsplätze. …. Sag Bescheid, wenn ihr einen Plan habt.“


    Alex und Semir in der KTU


    „Hartmut!“, rief Semir in die augenscheinlich leeren Räume der KTU. „Ich bin hier hinten, Semir“, kam eine Stimme aus einem angrenzenden Lagerraum, aus dem jetzt die zu ihr gehörende Gestalt trat. „Konntest du etwas rausfinden, Hartmut?“, fragte Alex. „Ja, ich habe die Namen, hätte ich euch auch gleich per Mail geschickt, aber wo ihr gerade da seid…“ Hartmut ging zum Tresen, auf dem drei Plastiktüten lagen, die Semir als die wiedererkannte, die die Spurensicherung am Fundort der Leichen verwendet hatten, um die Habseligkeiten der Opfer zusammenzutragen.


    „Wir haben drei Leichen, alle drei hingerichtet, keine Papiere, keine Brieftaschen, nur ein paar Kleinigkeiten, wie ihr hier seht.“ Hartmut griff sich die erste Tüte, die ein paar Münzen und Taschentücher enthielt. „Nummer 1, Glück gehabt, seine Fingerabdrücke sind registriert. Jörg Wiglad, 53 Jahre, vor 12 Jahren wegen einer kleineren Betrugsgeschichte zu eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt.“ Semir nickte und nahm die Tüte entgegen, in die auch ein Foto des dazugehörigen Mannes gelegt worden war. „Nummer 2“, setzte Hartmut fort und griff nach der zweiten Plastiktüte, „ihm haben die Mörder seinen mp3-Player gelassen. Ich habe die Dateien durchsucht, Musik, Hörbücher und – und jetzt kommt’s – ein Ordner mit Dateien, die allesamt den Briefkopf der Baufirma „Wilckens“ tragen und von einem Matthias Bauer unterzeichnet sind. Jetzt half mir das Internet. Matthias Bauer hat ein Profil beim sozialen Netzwerk Socialclub24 und ist auf den Fotos eindeutig zu erkennen. Er ist 32 Jahre alt.“ Semir nickte anerkennend. „Und Nummer 3?“, fragte er den rothaarigen Techniker, der die Antwort parat hatte. „Andreas Halland, er ist vorgestern von seiner Familie vermisst gemeldet worden, 36 Jahre alt. Ich habe euch die Daten hier zusammengefasst.“ Hartmut reichte Alex einen Zettel mit den Namen der toten Männer.


    „Wir haben also Jörg Wiglad, Matthias Bauer und Andreas Halland“, überlegte Semir, „und was haben die drei gemeinsam, das sie zu gemeinsamen Opfern einer Hinrichtung macht?“ – „Alle drei waren Buchhalter bei der Baufirma Wilckens.“ Semir ließ diese Information sacken. „Danke, Einstein. Schickst du uns den genauen Bericht zu?“ – „Wie immer, Jungs!“


    Semir fasste die Ergebnisse zusammen, während sie zurück zum Dienstwagen gingen: „Drei Buchhalter der Firma Wilckens werden ermordet in einem Keller aufgefunden, welcher demnächst von der Firma Wilckens mit Beton aufgefüllt werden soll, um als Fundament für einen Funkmast zu dienen, den die Firma Wilckens errichten soll.“ – „Ein wenig oft Firma Wilckens, um als Zufall durchzugehen, wenn du mich fragst. Und der Sprinter und der Fahrer waren auch von der Firma“, stimmte ihm Alex zu, „ich würde doch gerne die genaue Todesursache des Fahrers kennen.“


    Susanne konnte ihnen später nur mitteilen, dass die Todesursache des Sprinterfahrers, Walter Schmaller, mit Herzversagen angegeben war. Der Tote ist bereits eingeäschert und auf See bestattet worden.

  • Horst Wilckens denkt nach


    Horst Wilckens knallte den Telefonhörer auf die Station. Musste er denn alles selber machen? Wie lange würde es wohl dauern, bis die Polizei ihm und seiner Firma einen Besuch abstattete? Wenn seine Verbindungsperson von den toten Buchhaltern erführe, könnte er kalte Füße bekommen. Er musste den Druck auf ihn irgendwie erhöhen. Hatte er nicht eine kleine Familie? Eine Lebensgefährtin und zwei Kinder? Ja, da müsste sich doch etwas machen lassen.


    Er griff wieder zu seinem Telefon, wählte eine Kurzwahl und lauschte dem Klingeln auf Seiten seines Gesprächspartners, der auch bald an den Apparat ging. Der Firmenchef fasste sich kurz: „Wilckens hier. Ich brauche Sie …. Ja, sagen Sie ihnen einfach, Sie müssten jetzt für ein paar Stunden ins Büro und wären abends wieder zurück … doch, es muss!“ Er würde Folge leisten, davon war Horst Wilckens überzeugt. Und so war es auch. Etwa eine dreiviertel Stunde später betrat ein großgewachsener blonder Mann das Chefbüro und setzte sich nach Aufforderung zaghaft auf einen der Besucherstühle, wobei er unbewusst nur das vordere Drittel der Sitzfläche besetzte und versuchte, seine feuchten Handflächen an seiner dunklen Hose trocken zu reiben.


    Zunächst erzählte ihm Wilckens ungerührt und gefühlskalt von der Entdeckung der Polizei und wie wichtig es von nun an für ihn wäre, akkurat und brav mitzuarbeiten. Der Besucher nickte nur. „Und Sie sehen doch ein, dass wir uns da etwas mehr absichern müssen als bisher, oder? Bei ihren Ermittlungen wird die Polizei früher oder später auch über Ihren Namen stolpern, und Sie und ich drohen aufzufliegen. Das wollen wir doch beide nicht, nicht wahr? Also erwarte ich von Ihnen, dass Sie still halten, es sind nur noch 10 Tage, oder 11?“ – „Mittwoch, übernächste Woche“ – „Genau, bis dahin darf nichts nach Außen dringen. Und damit Sie bis dahin gut mitarbeiten, werden wir etwas an uns bringen, was Ihnen sehr wichtig ist.“ – „Was genau meinen Sie?“ – „Ihre kleine Familie. Rufen Sie sie an, sie sollen sich für einen kleinen Ausflug fertig machen, sie würden gleich abgeholt. Denken Sie sich was aus, ein Treffen zum Eis essen vielleicht.“ Der Besucher wurde bleich. „Das können Sie nicht machen.“ – „Ich kann noch viel mehr machen, denken Sie nur an die Buchhalter.“ Sein Ton duldete keinen Widerspruch, so fügte er sich.


    Während der blonde Mann mit zittrigen Händen sein Handy herausholte, um seine Lebensgefährtin anzurufen, griff auch Wilckens erneut zum Telefon und rief seinen Sohn an, um ihm die Instruktionen für die nächsten Stunden zu geben. „Und vermassele es dieses mal nicht wieder, Frank!“, gab er ihm noch mit auf den Weg.


    „Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee?“, fragte Wilckens, und sein Gast war sprachlos ob dieser Kälte, die Wilckens mit einem Male ausstrahlte und welche ihm schleichen seine Beine hinaufzukriechen begann. Er schüttelte langsam mit dem Kopf.


    ***


    Zurück in der PAST gab Alex Susanne den Zettel mit den Namen der Toten und der Bitte, für sie doch bitte die Adressen der Angehörigen ausfindig zu machen. Sie kamen überein, dass sie am Wochenende in den Büros der Baufirma Wilckens niemanden würden antreffen können, so verschoben sie den Besuch dort auf Montag und würden zunächst den Hinterbliebenen die traurige Nachricht überbringen.


    Susanne kam eine halbe Stunde später mit den Namen und Adressen in das Büro der Hauptkommissare, die sich gleich darauf auf den Weg machten.

  • Todesnachrichten


    Andreas Halland hinterließ eine Frau und zwei Söhne im Alter von 2 und 5 Jahren. Seine Frau hatte ihn zwei Tage zuvor als vermisst gemeldet, als sie am Vortag von einem Kurzbesuch bei ihren Eltern heimkam und ihn nicht antraf, und ihr Mann auch in der Nacht nicht nach Hause kam. Die Ehe war in Ordnung, der Bau eines Hauses geplant. Von seiner Arbeit erzählte der 36-Jährige nicht viel, er trennte Familie und Beruf rigoros, hatte aber vor nicht allzu langer Zeit eine eventuell im Raum stehende Leistungsprämie oder Gehaltserhöhung erwähnt. Andreas Halland war gut mit Jörg Wiglad und Matthias Bauer befreundet, die drei arbeiteten gerne zusammen und trafen sich einmal in der Woche zum Billard spielen. Frau Halland saß während des Gesprächs mit Alex und Semir regungslos auf der Couch. Der wahre Gehalt der Information war noch nicht zu ihr durchgedrungen. „Frau Halland, können wir jemanden anrufen, der sie unterstützt in der nächsten Zeit?“ – „Kann ich ihn noch mal sehen?“ – „Wir können Sie hinfahren, wenn Sie möchten“, schlug Alex vor. „Ich möchte damit warten, bis meine Eltern hier sind, ich kann die Jungs nicht alleine lassen.“ Bei diesem Satz blickte sie auf die in einer Ecke des Wohnzimmers mit Bauklötzen und Autos spielenden Kindern. „Ich gebe Ihnen meine Karte. Wenn Sie soweit sind, rufen Sie einfach an, ich werde Sie dann abholen oder einen Kollegen herschicken. Es tut mir leid, Frau Halland“, sprach Semir der blassen Frau sein Beileid aus und bat Sie anschließend noch, nicht bei den Familien von Andreas‘ Freunden anzurufen, die Mittteilung würden sie lieber persönlich überbringen. Semir fiel es schwer, Frau Halland in ihrer Situation alleine zu lassen, aber sie hatten noch zwei weitere Besuche dieser Art vor sich, und Frau Halland hatte ihnen versichert, ihre Eltern wären bereits auf dem Weg.


    Matthias Bauer war 32 Jahre als, als der tödliche Kopfschuss ihn traf. Er lebte alleine und hatte kaum Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern, die in Leverkusen lebten. Lediglich zu Weihnachten und den Geburtstagen kam die Familie zusammen. Seine Eltern wohnten in einem gepflegten Reihenhaus am Stadtrand. Semir und Alex standen in dem kleinen Wohnzimmer, ließen ihre Blicke über eine Bildergalerie wandern und wandten sich dann wieder dem älteren Ehepaar zu, welches auf der Couch Platz genommen hatte. „Es tut mir leid, ich kann Ihnen nicht mehr sagen, versichere Ihnen aber, dass Ihr Sohn nicht leiden musste“, erklärte Alex einfühlsam, „die genauen Umstände konnten wir noch nicht ermitteln.“ – „Umgebracht?“, fragte Frau Bauer leise. „Es sieht zurzeit so aus. Ja, Frau Bauer, Ihr Sohn wurde getötet.“ Die Eltern von Matthias Bauer hatten keine genaue Ahnung, womit sich ihr Sohn genau beruflich beschäftigte, nur dass er im Büro einer großen Baufirma tätig war. Sie kannten auch nicht die Freunde ihres Sohnes, dazu war der Kontakt zu gering. Sie versprachen, sich um alles zu kümmern und gab den Polizisten auch einen Zweitschlüssel der Wohnung von Matthias, damit diese sich dort näher umschauen konnten. Dann ließen Alex und Semir auch diese Hinterbliebenen alleine.


    Wieder im Auto, fuhr Semir nicht gleich los. „Schaffen wir die dritte Adresse noch?“, fragte er mit einem Blick auf die Uhr. „Du willst es am Sonntag auch nicht machen, oder? Los, wir schaffen das noch, und dann brauche ich ein Bier.“ Semir startete den BMW und fuhr in gemäßigter Geschwindigkeit los. Wie immer in diesen Fällen machte er sich Gedanken, wie er selbst oder Andrea wohl auf eine solche Todesnachricht reagieren würde. Wenn mit einem Schlag die ganze Welt, alle Pläne für die Zukunft sich in Luft auflösten. Gut, jetzt wohnte Andrea nicht mehr bei ihm, aber sie und die Mädchen würden für immer seine Familie bleiben. „Semir“, riss ihn sein Partner aus den Gedanken, „hier musst du links abbiegen.“ – „Stimmt, danke, ich wäre jetzt weiter geradeaus gefahren.“ – „Du bist in Gedanken“, stellte Alex fest. „Du nicht?“


    Jörg Wiglad, der dritte Tote, war 53 Jahre alt und aufgrund einer vor zwölf Jahren verbüßten Bewährungsstrafe identifiziert worden. Er war noch nicht als vermisst gemeldet worden, lebte aber mit einer Freundin zusammen. Das Paar hatte sich vor 14 Tagen zerstritten und jeden Kontakt abgebrochen. Jeder der beiden war zu stolz, wieder auf den anderen zuzugehen. Gewohnt hatte Jörg seitdem in einem kleinen Zimmer, welches der Gastwirt vermietete, bei dem er mit seinen beiden Freunden und Kollegen regelmäßig Billard spielte. Jörg Wiglads Freundin nahm die Todesnachricht stumm entgegen. Sie begann zu zittern und wurde von Alex zu einem Sessel gebracht, während Semir ein Glas Wasser aus der Küche holte. Als sie sich auch nach zwanzig Minuten nicht beruhigt hatte, rief Alex ihren Hausarzt an, der versprach, gleich vorbeizukommen. Nachdem er in der Wohnung eingetroffen war und alles Weitere regeln würde, verabschiedeten sich Alex und Semir und traten wieder ins Freie.


    „Lass uns zu dem Gastwirt fahren“, schlug Semir vor, „mich würde mal interessieren, was er zum Verschwinden seines Gastes zu sagen hat. Und dort bekommen wir bestimmt auch ein Bier.“ Alex war einverstanden und steuerte das Billard-Café an, dass ihnen von Jörgs Freundin genannt worden war. Vier Billard-Tische beherrschten den großen Raum, an den Seiten standen mehrere Tische mit vier oder sechs Stühlen. Einige von ihnen waren besetzt, an einem Billard-Tisch wurde gerade eine Partie gespielt. Alex und Semir setzten sich an den Tresen und bestellten zwei Bier. „Sind Sie der Gastwirt hier?“ – „Ja, mir gehört der Schuppen“, antwortete der Angesprochene, ohne seine Tätigkeit – er polierte gerade eine Reihe Gläser – zu unterbrechen. „Sie haben gerade ein Zimmer an einen Jörg Wiglad vermietet, stimmt das?“ – „Ja, was ist mit Jörg? Ich habe ihn seit einer guten Woche nicht mehr gesehen.“- „Wundert Sie das nicht?“ – „Warum wollen Sie das überhaupt wissen? Wer sind Sie eigentlich?“ – „Entschuldigung. Gerkan, Kripo Autobahn“, Semir zog seinen Ausweis hervor, „Das ist mein Kollege Brandt. Können Sie die Frage nun beantworten?“ – „Ich habe mich schon gewundert, aber er ist hier, weil er sich mit seiner Freundin gestritten hatte. Ich dachte halt, das hätte sich wieder eingerenkt. Aber warum Polizei? Hat Jörg was angestellt?“ – „Nein, Jörg Wiglad ist tot aufgefunden worden.“ Jetzt legte der Gastwirt seinen Lappen weg. „Tot?“, sein Entsetzen war nicht aufgesetzt, das erkannte Semir sofort. „Wie?“ Ohne auf die Frage zu antworten, stellte Alex ihm die Gegenfrage. „Können wir sein Zimmer mal sehen?“


    Das war kein Problem, und Semir und Alex wurden zu einer kleinen, aber sauberen Dachkammer geführt. Ein kleiner Koffer mit Kleidungsstücken war unter das Bett geschoben, im Bad lagen die üblichen Utensilien herum. Semirs Aufmerksamkeit erregte ein Aktenkoffer, der neben dem kleinen Tischchen stand. In ihm waren Papiere und Akten, die augenscheinlich beruflicher Natur waren, denn sie trugen zum Teil den Briefkopf der Firma Wilckens. „Wir nehmen den Koffer mit“, bestimmte Semir und die Polizisten bedankten sich beim Gastwirt und fuhren zurück in die PAST, um Feierabend zu machen, und beschlossen, sich am Montag zur Baufirma aufzumachen. Den Koffer nahm Semir mit nach Hause und würde sich den Inhalt am Sonntag genauer anschauen.

  • Der Koffer


    Am Abend fiel Semir recht früh todmüde ins Bett und schlief am Sonntag bis zum späten Vormittag. Die Schwellung seines Knöchels war weiter zurückgegangen. Er würde seinen Fuß heute noch schonen, dann würde er bald wieder ganz einsatzbereit sein. Nach einem kleinen Frühstück machte er es sich mit einer Kanne Kaffee auf seinem Sofa bequem und zog den aus Jörg Wiglads Zimmer mitgenommenen Koffer zu sich heran.


    Nach einem groben Durchblättern der Papiere und Fotokopien entschied er sich dafür, sie zunächst nach dem Datum zu sortieren. Es waren Rechnungen und Auszüge aus der Buchhaltung der Firma Wilckens. Er konnte zunächst nichts Auffälliges feststellen, entdeckte dann aber kleine Ausrufungszeichen neben zwei Buchungen, die dort handschriftlich angebracht waren. Semir suchte nach den entsprechenden Rechnungen und fand sie in dem Stapel. Firma Wilckens hatte demnach zwei Autos im Wert von jeweils etwa 35.000 € gekauft. Firmenwagen? Schon möglich, die Firma hatte schließlich viele Angestellte, die zu den einzelnen Baustellen fahren mussten. Dann packte ihn aber doch die Neugier. Aus welchem Grund hatte jemand – vielleicht Jörg Wiglad oder einer seine beiden Kollegen - diese Buchungen markiert? Semir stand auf und holte seinen Laptop zu sich auf die Couch, und gab, nachdem er Verbindung zum Internet hatte, die auf der Rechnung abgedruckte Adresse ein. Die Web-Adresse existierte nicht! Tippfehler? Semir versuchte es erneut „Autohaus-Müller-Steinke.de“. Kein Erfolg. Die Rechnung war noch nicht alt, August 2013. Da mussten Spuren der Firma im Internet zu finden sein. Aber auch die Suche im Online-Telefonbuch und die Eingabe in eine der Suchmaschinen blieben ohne Ergebnis. Das Autohaus Müller-Steinke in Stuttgart existierte einfach nicht.


    Die Rechnungen mussten also getürkt sein. Ob die Buchhalter dahinter gekommen waren und deshalb sterben mussten? Wegen 70.000 €? Oder war das gar nur die Spitze des Eisbergs? An wen ist das Geld gegangen? Denn die Kontonummern auf den Rechnungen und den Kontoauszügen waren identisch. Mehr konnte Semir von seinem Sofa aus nicht herausfinden. Die Überprüfung der Kontoverbindung würde Susanne dann am Montag übernehmen und dann auch gleich herausfinden, ob das Geld dort wirklich eingegangen war. Er nahm sich vor, sich am Montag mit Alex bei der Firma Wilckens von der Existenz der beiden Autos zu überzeugen.


    Um den Kopf frei zu bekommen, ging Semir noch durch die Stadt an den Rhein und spazierte etwa zwei Stunden an dessen Ufer entlang. Er suchte sich eine Bank und beobachtete einige Binnenschiffer, die gegen die starke Strömung des Flusses ankämpften, während einige Paddler in ihren Kajaks stromabwärts wesentlich schneller an ihm vorbei zogen. Ihm gefiel, was er sah. Der Umzug in die Innenstadt vor einigen Wochen hat ihm tatsächlich gut getan, da hatte Ben schon Recht gehabt.


    Abends versuchte er, Ayda und Lilly telefonisch zu erreichen. Obwohl er so oft es ging mit seinen Töchtern Kontakt hatte und eh‘ gedanklich ständig bei ihnen war, hatte sich der Sonntagabend als fester verlässlicher Termin für ein Vater-Töchter-Telefonat angeboten, ein Termin, den er bisher noch nie hatte ausfallen lassen, ob zuhause, in der PAST oder im Einsatz auf der Straße. Aus dem Grund verwunderte es ihn doch, jetzt niemanden zu erreichen. Dann beruhigte er sich aber, das Wetter war an diesem Wochenende sehr schön und für einen Ausflug geradezu einladend. Sie waren bestimmt noch irgendwo unterwegs und hatten Spaß. Er hinterließ eine Nachricht auf der Mailbox, bestellte sich eine Pizza und stellte seinen Fernseher an. Er nahm sich vor, Ayda zu ihrem Geburtstag ein einfaches Prepaid-Handy zu schenken.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

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  • Alex


    Alex steckte der Samstag tief in den Knochen. Dreimal mussten sie jemandem mitteilen, dass ein naher Angehöriger oder Freund aus ihrer Mitte gerissen worden war, durch die Hand eines kaltblütigen Killers, wie es den Anschein hatte.


    Zu genau erinnerte sich Alex noch an das letzte Weihnachtsfest, an dem plötzlich uniformierte Polizisten in seinem ehemaligen Kinderzimmer standen und ihm und seiner Familie vom Tod seiner Cousine unterrichteten. Sandra hatte sich damals, es kam ihm vor, als wäre es erst gestern gewesen, seinen Wagen ausgeliehen und war durch eine Autobombe in die Luft gesprengt worden, die eigentlich für ihn bestimmt gewesen war. Semir war zur selben Zeit nur knapp einem Mordanschlag entgangen, als derselbe Attentäter mit seinem Jagdgewehr auf ihn schoss.


    Der Gang zu der Ehefrau von Andreas Halland, den Eltern von Matthias Bauer und der Freundin von Jörg Wiglad hatte eine Tür in Alex Erinnerung aufgerissen, welche sich in den letzten Monaten langsam begonnen hatte zu schließen. Wie bei ihm selbst würde auch bei den jetzigen Hinterbliebenen die eigentliche Gewissheit des Verlustes erst später eintreten. Sie taten ihm leid, denn er wusste, was nun auf sie zukommen würde. Zunächst hielten Verpflichtungen sie davon ab, die Trauer vollständig zuzulassen, aber sind jene einmal abgeschlossen, ergreift sie rasch die Gelegenheit, sich ihren Opfern zu ermächtigen. Und dann galt es für die Hinterbliebenen, ihr zwar einen gewissen Platz in ihrem Leben einzuräumen, gleichzeitig aber nicht zuzulassen, dass sie vollständig Besitz von einem ergreift. Einen Fehler, den Alex Tante, Sandras Mutter beging, die noch lange Zeit in Behandlung sein würde, um ihren Alltag auch nach dem schweren Verlust ihrer Tochter, wieder zu meistern. Wie sie hatten auch die Familien, die Semir und er heute vom plötzlichen und gewaltsamen Tod ihrer Angehörigen unterrichtet hatten, keine Möglichkeit gehabt, sich auf den Verlust vorzubereiten, ein Umstand, der es noch schwerer machte, sich diesem Schicksal zu stellen.


    Um sich auf andere Gedanken zu bringen, verbrachte Alex mehrere Stunden des Sonntags beim Training im Fitness-Studio, unterhielt sich hinterher noch zwei Stunden mit seinen Trainingskumpels über belanglose Alltagsdinge, räumte seine Wohnung etwas auf und verbrachte den Rest des Tages beim Surfen im Internet.


    Am Abend telefonierte er noch kurz mit Semir, der ihm von den Ergebnissen der Koffer-Durchsicht berichtete. Nachdem sie sich für 8:00 Uhr in der PAST verabredet hatten, legten sie auf.


    Dann erinnerte er sich an Semirs Worte vom Freitag, gab sich einen Ruck und wählte die Handynummer von Lena, die er am Mittwoch vergeblich hatte warten lassen. Er wollte um Verzeihung bitten, diese Funkstille hielt er nicht aus. „Lena Klose“, meldete sie sich nach mehrfachem Klingeln. „Lena, hier ist Alex“ – „Alex? Was willst du?“ Oh Mann, das hörte sich nicht an, als hätte sie sehnsüchtig auf seinen Anruf gewartet. „Mit dir reden, es tut mir Leid wegen Mittwoch, ich hätte mich gleich melden sollen. Kannst du mir noch mal verzeihen?“ – „Weißt du, wie das ist, in einem Lokal zu sitzen, den Kellner mehrmals wegzuschicken, weil mein Tischpartner nicht anrückt?“ – „Ja, ich habe es verbaselt, wir hatten viel zu tun, und ... nein Lena, dafür gibt es keine Entschuldigung, aber ich würde dich gerne wiedersehen.“ –„Ich weiß nicht. Und, in den nächsten zwei Wochen wird das eh nichts, ich sitze im Zug nach Berlin.“- „Berlin?“ – „Ja, mein Vater ist ins Krankenhaus gekommen, und ich will meine Mutter unterstützen, sie kann nicht gut allein sein.“ – „Rufst du mich bitte an, wenn du zurück bist?“ – „Ich überlege es mir, Alex.“ – „Danke, Lena. Mehr will ich gar nicht. Ich hoffe, deinem Vater geht es bald besser.“ – „Das hoffe ich auch.“ Unangenehmes Schweigen trat ein. “Lena?“, fragte Alex leise. „Ja, ich bin noch da.“ – „Du kannst dich auch gerne schon vor deiner Rückkehr melden.“ – „Hm, wir werden sehen. Tschüß, Alex.“ – „Tschüß.“


    Alex atmete auf und er blickte noch einige Zeit auf sein Handy. Das Telefonat hatte ihm bevorgestanden, aber nun lag es hinter ihm. Und er hoffte, Lena würde sich wieder bei ihm melden.

  • Gekleckse?


    Semir und Alex waren beide pünktlich und ausgeschlafen am Montagmorgen in der PAST, wo Semir als erstes die Belege Susanne gab und die Sekretärin bat, sich die Kontobewegungen genauer anzuschauen. Dann machte er sich mit Alex auf den Weg zum Firmensitz der Baufirma Wilckens, die direkt am Rhein residierte. Als Semir den BMW auf dem Parkplatz abstellte, klingelte sein Handy und Susanne teilte ihnen mit, dass die Kontonummer bei der angegebenen Bank nicht existierte. Semir hatte das schon erwartet. An die Konten der Firma Wilckens käme sie aber auch nur mit einem richterlichen Beschluss, sie wollte Kim Krüger bitten, diesen bei der Staatsanwaltschaft zu erwirken.


    Eine adrette Empfangsdame führte die Polizisten in den Flur, in dem der Chef der Baufirma sein Büro hatte. An den Wänden des Flurs hingen Bilder moderner Künstler, alle offensichtlich Originale, wie Semir den dezent angebrachten Preisschildern entnehmen konnte. „Würdest du für so ein Gekleckse 8000€ bezahlen?“, fragte er Alex leise, doch laut genug, um von der Empfangsdame einen strafenden Blick zugeworfen zu bekommen. „Das hat der Neffe von Herrn Wilckens gemalt!“, stieß sie entrüstet aus, „und der hat schon Ausstellungen in der Kunsthalle gehabt!“ – „Was ihn natürlich durchaus zu einem Meister der Kleckse macht“, bemerkte Alex und konnte ein Lachen nur mühsam unterdrücken. Semir griff in die Innentasche und zog ein zusammengefaltetes Papier heraus, das er der Dame zeigte. „Hier, das hat meine Tochter gemalt. Sie hat auch schon mehrere Ausstellungen in unserer Küche gehabt. 3000€ und es gehört Ihnen – wobei, wenn ich es mir recht überlege…“, er schaute nachdenklich auf das bunte Bild, auf dem ihr Haus zu sehen war, mit dem Schwimmteich und dem Garten und vier angedeuteten Personen, „dieses Werk ist unverkäuflich.“ Semir faltete das Bild und steckte es wieder ein.


    Sie kamen an drei offenen Türen vorbei, die den Blick auf einen großen Besprechungsraum freigaben, in dem lederne Besucherstühle auf Sitzungsteilnehmer warteten. Auf den Tischen standen in regelmäßigen Abständen Ständer mit unterschiedlichen Erfrischungsgetränken, von der Decke hing ein Beamer, Flipcharts standen in den Ecken des Saals. Auch dieser Raum war geschmückt mit modernen Kunstwerken. Nachdem sie noch eine Tür per Zahlencode durchquert hatten, ging die Dame vor Semir und Alex in das Büro des Firmenchefs und kündigte den Besuch an. „Die Herren Gerkan und Brandt sind dann jetzt hier.“ – „Sollen reinkommen, danke Sandra.“ Horst Wilckens erhob sich und trat in die Mitte seines geräumigen Büros. Die Empfangsdame ging wieder. Er streckte den Beamten die Hand entgegen. „Womit kann ich der Polizei dienen? Ist irgendetwas auf einer unser etwa zweihundert Baustellen vorgefallen?“ – „Auf einer ihrer zukünftigen, ja“, antwortete Alex, „Sie haben vor, an der Raststätte Frechen einen Funkmast zu errichten.“ – „Das kann schon sein, ich habe nicht jedes Projekt im Kopf. Warum sind Sie so interessiert daran? Aber setzen Sie sich doch“, er wies mit einer einladenden Handbewegung auf seine Besucherecke, wo vier Besucherstühle um einen runden Tisch herumstanden. Sie nahmen Platz. Semir führte aus: „Am Rastplatz Frechen befindet sich ein Keller unter der Erdoberfläche, welcher das Fundament eines Funkmastes aufnehmen soll. Dort wurden am Freitagabend drei Leichen gefunden.“ – „Bitte?“ – „Sie lagen versteckt unter der Treppe. Alles deutet darauf hin, dass sie in dem Betonfundament hätten verschwinden sollen.“ Horst Wilckens zog die Augenbrauen in die Höhe. „Und wieso kommen Sie damit zu uns?“ – „Die Toten waren in Ihrer Firma beschäftigt. Sie vermissen nicht zufällig drei Buchhalter?“ – „Buchhalter? Nein, mir ist nichts bekannt. Können Sie mit die Namen nennen?“ Horst Wilckens ging zurück an seinen Schreibtisch und tippte etwas in seinen PC. „Wiglad, Halland und Bauer“, zählte Alex die Namen auf. „Wiglad, Halland und Bauer“, wiederholte Wilckens, „Harald oder Matthias Bauer?“ – „Matthias“ – „Matthias Bauer hat seit 14 Tagen Urlaub und auch noch diese Woche, Wiglad und Halland sind b a w krank gemeldet“ – „b a w?“ – „bis auf Weiteres“ – „Wer hat sie krank gemeldet?“ – „Das geht aus dieser Liste nicht hervor, hier steht nur ein „k“. Demnach konnten wir die Herren gar nicht vermissen.“ – „Aber Sie kennen sie?“ – „Nein, ich kann nicht jeden meiner Mitarbeiter kennen. Da sollten Sie direkt in die Buchhaltungsabteilung gehen, die befindet sich drei Stockwerke unter diesem. Wenden Sie sich an Herrn Krämer, der ist der Abteilungsleiter.“ Wilckens schaute auf seine Uhr. „Interessiert es Sie gar nicht, warum drei Ihrer Buchhalter tot in einem Ihrer Fundamente liegen?“, fragte Semir, dem der Firmenchef völlig ungerührt schien. Dessen Antwort lautete dann auch lediglich: „Erklären Sie es mir?“

  • Drei Buchhalter und zwei Firmenwagen


    „Ihre drei Mitarbeiter sind mit Kopfschüssen hingerichtet worden. Alles deutet darauf hin, dass sie am Fundort, ihrem Fundament, getötet wurden.“ – „Ich habe dafür keine Erklärung, Herr Gerkan“, tat Horst Wilckens unschuldig. „Wir haben bei einem der toten Buchhalter Unterlagen Ihrer Firma gefunden, die wir uns natürlich näher angeschaut haben, und uns ist dabei etwas aufgefallen“, übernahm Alex jetzt das Reden. „Ich bin ganz Ohr?“ – „Ihre Firma hat im letzten Jahr zwei Firmenwagen für zusammen 70.000€ gekauft.“ – „Zwei? Ich denke, es waren sicher ein paar mehr, wir tauschen unseren Fuhrpark, von Baufahrzeugen einmal abgesehen, alle zwei Jahre.“ – „Uns interessieren nur die beiden Wagen, die Sie bei einem Autohaus Müller-Steinke in Stuttgart erstanden haben. Können Sie uns näheres darüber sagen?“ – „Nein.“ – „Nein?“ – „Nein. Über meinen Schreibtisch gehen nur Rechnungen mit einem Gesamtpreis ab 100.000€, für Autos ist unsere Fuhrparkverwaltung zuständig. Die finden Sie in Köln-Deutz in der Industriestraße 3-7, dort steht auch ein großer Teil unserer Kölner Fahrzeuge. Warum bringen Sie die Ermordung meiner Mitarbeiter überhaupt mit meiner Firma in Verbindung? Und was hat der Kauf der zwei Autos damit zu tun?“


    Semir holte tief Luft und bemühte sich, in einem ruhigen Ton, dem Firmenchef, der zumindest so tat, als ob er den Zusammenhang nicht erkannte, eben diesen zu erläutern. „Herr Wilckens, drei Buchhalter der Firma Wilckens werden ermordet in einem Keller gefunden, den die Firma Wilckens als Fundament nutzen möchte, um dort Funkmasten aufzustellen. Das zur Verbindung mit Ihrer Firma. Oder können Sie sich jemanden vorstellen, der diese Verbindung absichtlich zu konstruieren versucht hat? Und in den Unterlagen, die wir bei Herrn Wiglad gefunden haben, sind zwei Buchungen markiert gewesen, hinter denen sich der Kauf der zwei Firmenwagen verbirgt. Grund genug, sie uns einmal näher anzuschauen. Und siehe da! Das Autohaus, bei dem die Wagen gekauft worden sein sollen, existiert überhaupt nicht. Auch gibt es keine Bankverbindung, die der auf der Rechnung angegebenen entspricht. Das ist die zweite Verbindung zu Ihrer Firma. Sie werden verstehen, dass wir uns Ihre Buchhaltung etwas näher ansehen möchten.“


    „Durchaus, Herr Gerkan, wenn Sie mir den entsprechenden Durchsuchungsbeschluss der Staatsanwaltschaft vorlegen können, werde ich Ihnen nicht im Wege stehen.“ Herr Wilckens lächelte. Innerlich verfluchte er seinen Sohn. Wie konnte das passieren? Scheinrechnungen schön und gut aber doch nur über existente Unternehmen. Wäre der Vorgang über seinen Tisch gelaufen, hätte er es noch gerade rücken können. Nun konnte er nur hoffen, dass es die einzigen Vorgänge dieser Art waren. Aber Herr Wiglad war ein gewissenhafter Buchhalter, ansonsten wäre er nicht seit acht Jahre in seiner Firma beschäftigt und kürzlich sogar in den Genuss einer Leistungsprämie gekommen. Gäbe es mehr dieser Buchungen, Herr Wiglad hätte sie gefunden. „Der Beschluss ist auf dem Weg. Bis er uns vorliegt, möchte ich Sie bitten, keinen Finger mehr zu rühren, keine Anrufe zu tätigen und ihren Computer nicht anzufassen. Wir bleiben hier sitzen und warten auf die Kollegen.“ Semir nahm das Telefon zur Hand und gab zur Zentrale durch, dass auch der Sitz der Fuhrparkverwaltung in Köln-Deutz von Kollegen der Polizei durchsucht werden sollte. Susanne versprach, dieses zu veranlassen, der Beschluss läge auch vor und würde sich auf sämtliche Niederlassungen der Firma Wilckens beziehen.


    In diesem Moment fuhren vor dem Firmensitz mehrere Wagen der Polizei vor, darunter zwei Transporter. Die Kollegen waren den ganzen Tag beschäftigt, nahmen Datensicherungen vor, kopierten Festplatten und nahmen schriftliche Unterlagen mit. Semir und Alex stöhnten innerlich auf. Der Papierberg würde auch auf sie zukommen. In ihm erhofften sie Hinweise auf Motive zu finden, um den Dreifachmord an der Raststätte Frechen aufzuklären.


    Die Tage bis Donnerstag waren geprägt mit dieser trockenen Tätigkeit, unterbrochen lediglich von gelegentlichen Streifenfahrten. In den Papieren und auch den Dateien der letzten zwei Jahr waren keinerlei weitere Unregelmäßigkeiten zu finden. Die Rechnungen, die sie bei Jörg Wiglad gefunden hatte, blieben die einzigen. Das Geld, die 70.000€, sind auf das Konto eines Angestellten der Stadt Lübeck geflossen. Autos sind dafür nicht in den Besitz der Firma Wilckens übergegangen. Leider war dieser Angestellte bei einem Badeunfall auf Bali tödlich verunglückt. Tod durch Ertrinken, stand in seinem Totenschein. ‚Wer’s glaubt‘, dachten sich Semir und Alex, als sie das lasen.

  • Nächtlicher Besuch (Nacht auf Freitag)


    Semir schlug die Augen auf. Er hatte etwas gehört. Da war es wieder. Ding-Dong! Die Hausklingel war es, die ihn aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. Er schwang seine Beine über die Bettkante und blickte auf seinen Wecker: 02:30 Uhr. Halb drei! Er zog sich schnell eine Trainingshose und ein Sweat-Shirt über und schlich schlaftrunken zu seiner Wohnungstür. Auf dem Weg dorthin wiederholte sich das Klingeln. Obwohl es sich bei einer Türklingel um ein elektronisches Gerät ohne Gefühle, so sollte man meinen, handelt, meinte er deutlich eine gewisse Ungeduld aus dem Ton herauszuhören, von der die Person ergriffen sein musste, zu der der Finger auf dem Klingelknopf gehörte. Er betätigte den Türöffner und hörte, wie die Haustür unten aufgedrückt wurde. Bis der nächtliche Besucher seine Wohnung im dritten Stock erreicht haben würde, war noch Zeit, sich Socken anzuziehen, denn er bekam schon jetzt kalte Füße. Die Nächte waren auch jetzt im Sommer noch frisch, das Treppenhaus nicht geheizt und sein Flur gefliest. Dann stellte er sich in die offene Tür und wartete.


    Er lehnte sich an seinen Türrahmen und sah einen älteren Mann die Treppe raufsteigen. Ein großer, kräftiger Mann mit vollem grauen Haar, das ihm leicht auf die Schultern fiel, welche, wie der Rest seines Oberkörpers von einer schwarzen Lederjacke bedeckt war, näherte sich ihm, ein helles Jeanshemd, blaue Hose und Turnschuhe rundeten das Bild ab. Semir war er gänzlich unbekannt. Er hatte diesen Mann noch nie gesehen und langsam wuchs in ihm ein gewisser Zorn, was diesem Menschen einfiele, ihn aus dem Tiefschlaf zu holen. Auf den letzten Stufen wurde der Mann, den Semir nicht kannte, von einem jungen Mädchen überholt, welches ihm dafür umso vertrauter war. Die Haare zerzaust, nur noch zum Teil von einem Haarband hinten im Nacken gehalten, das Gesicht tränenverschmiert und schmutzig, ebenso wie die rote Jacke und die helle Hose. Die Müdigkeit war mit einem Schlag vergessen, die Standpauke, die er sich schon im Geiste zurecht gelegt hatte, um dem Mann sein Missfallen über die nächtliche Störung deutlich zu machen, aus seinem Kopf getilgt. Semir war plötzlich hellwach.


    „Ayda!“ – „Papa!“, kam schluchzend von dem Mädchen, das sich in Semirs Arme warf. Dieser drückte seine Tochter tröstend fest an sich, sah über ihre Schultern zu dem älteren Mann. „Und wer sind Sie?“, wollte er von ihm wissen, „was haben Sie mit meiner Tochter zu schaffen?“ – „Sie sind offensichtlich der Vater von dem Mädchen. Ich bin Taxifahrer und habe Ihre Tochter an einer Bushaltestelle aufgesammelt.“ – „Kommen Sie rein, das möchte ich dann doch genau wissen.“ Was hatte Ayda mitten in der Nacht alleine an einer Bushaltestelle verloren? Semirs Neugier war geweckt, aber auch seine Angst, wusste Andrea etwas von dem nächtlichen Ausflug ihrer Tochter? Machte sie sich eventuell auch Sorgen? War Ayda fortgelaufen? Semir ließ den Taxifahrer an sich vorbei in die Wohnung eintreten. „Nach rechts, dort ist die Küche“, meinte er zu ihm, dann wandte er sich behutsam an Ayda, die sich gar nicht aus seinem Arm lösen wollte „Komm, Schatz, ich mach dir eine heiße Schokolade.“ Er schloss die Wohnungstür und führte auch seine Tochter in die Küche, in die er zuvor den Taxifahrer dirigiert hatte.


    „An welcher Bushaltestelle?“, fragte er, während er einen Topf auf den Herd stellte, Milch aus dem Kühlschrank holte und in den Topf füllte. Er bereitete gleich drei Becher Kakao zu, denn auch ihm war danach, und der Taxifahrer sah auch aus, als könnte er eine Stärkung gebrauchen. Während er Kakaopulver und Zucker in die Milch rührte, lauschte er der Geschichte des Taxifahrers.

  • Der Taxifahrer


    „Ich hatte eine Tour nach Rösrath, und auf dem Rückweg nach Köln kam ich am Königsforst vorbei. In der Bushaltestelle „Forsthaus“ saß ein Kind, ich bin erst vorbei gefahren, dann machte es bei mir Klick! Ein Kind? Alleine? Um diese Zeit? An einer Bushaltestelle, an der schätzungsweise um 7:00 Uhr der erste Bus abfährt? Nein, da ist etwa faul, dachte ich so bei mir. Ich drehte, fuhr zurück und hielt vor dem Wartehäuschen. Ihre Tochter hatte Glück, dass sie nicht auf der Bank im Wartehäuschen saß, da hätte ich sie nicht gesehen, sondern auf den Sitzen an der Außenwand.“


    Semir unterbrach den Taxifahrer in seiner Schilderung nicht, sondern stellte drei Becher dampfenden Kakao auf den Küchentisch und setzte sich auf den freien Küchenstuhl. Er zog Ayda auf seinen Schoß und gab ihr einen der Becher, schob einen weiteren dem Fahrer zu, der sich mit einem Kopfnicken bedankte, ohne in seiner Erzählung zu stocken, und nahm schließlich selber einen Schluck des heißen, süßen Getränks.


    „Es kostete mich einiges an Überredungskunst, sie in mein Auto zu locken, dabei ist es ganz klar als Taxi zu erkennen. Ich fragte sie: „Soll ich dich nach Hause fahren?“ und sie schaute ganz entsetzt und antwortete bestimmt „Nein, nicht nach Hause, sondern zu Papa.“ Als er diesen Satz seines nächtlichen Fahrgastes wiederholte, sah er Ayda mit einem Lächeln an, welches sie schüchtern erwiderte, und nahm einen Schluck seiner Schokolade. „Sie zog dann ein Foto aus ihrer Jacke, auf dessen Rückseite diese Adresse stand.“


    Semir musste an den Moment zurückdenken, in dem er Ayda seine neue Anschrift auf die Rückseite eines Familienfotos geschrieben hatte. Ayda nippte an ihrem Kakao. „Ayda, wie bist du dahin gekommen? Wo sind Lilly und Mama? Sind sie zuhause?“, fragte Semir leise, bekam aber nur ein Kopfschütteln als Antwort. „Wo denn? Ayda, ist ihnen etwas passiert?“ Semir begann zu grübeln und merkte plötzlich, dass sich der Taxifahrer erhoben hatte. „Ich muss los. Ich bin froh, dass Ayda hier ist.“ – „Ja“, Semir setzte Ayda auf dem Fußboden ab und stand auf, „vielen Dank, dass Sie sie hergebracht haben, dass Sie so aufmerksam waren und angehalten haben. Ich möchte Ihnen gerne die Fahrt bezahlen, einen Moment. Ayda, bleibst du kurz hier in der Küche?“ Die Angesprochene nickte und hielt sich am warmen Becher fest, während ihr Vater mit dem Taxifahrer in den Flur trat.


    Aus der dort stehenden Kommode nahm er sein Portemonnaie und reichte dem Fahrer einen 50€-Schein. „Ich denke, das sollte Ihren Aufwand decken.“ – „Das ist viel zu viel!“, empörte sich dieser, steckte den Geldschein aber trotzdem ein und fügte leise hinzu „meinen Sie, es ist ihnen etwas zugestoßen? Der Mama und dieser Lilly? Vielleicht sollten Sie die Polizei verständigen?“ – „Das werde ich. Lilly ist meine andere Tochter, Aydas Schwester. Ihre Mutter und ich, wir leben getrennt. Können mir Ihren Namen und Telefonnummer aufschreiben?“ Der Taxifahrer nickte und reichte Semir eine Karte eines Taxiunternehmens. „Ich bin über die Firma zu erreichen, mein Name ist Martin Reese.“ Sie gaben sich zum Abschied die Hände, und Semir bedankte sich noch einmal: "Vielen Dank, dass sie noch mal zurückgefahren sind und meine Tochter hergebracht haben." Dann drehte Martin sich um und verschwand im Treppenhaus.


    Semir schloss leise die Wohnungstür und lehnte sich kurz an die geschlossene Tür. Er strich sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Was war hier geschehen? Was war mit Andrea und Lilly? Dann holte er tief Luft und ging zurück zu Ayda in die Küche.

  • Aydas Geschichte


    Ayda saß unbewegt am Küchentisch, hielt ihren Kakaobecher immer noch in den Händen und starrte auf die Tischplatte. Semir setzte sich neben seine Tochter. „Ayda, Schatz, erzählst du mir jetzt, was passiert ist? Wo sind Lilly und Mama?“ – „Wir waren in einem Haus eingesperrt. Mama und Lilly sind noch dort. Es sind Männer gekommen und sie haben uns mitgenommen und dort eingesperrt.“ – „Moment, Moment, von Anfang an. Wann war das?“ – „Samstag. Mama, Lilly und ich waren alleine zuhause, dann klingelte das Telefon. Das war Robert. Er war in der Stadt und rief uns an, dass wir abgeholt werden und ihn dann treffen sollten. Dann kamen zwei Männer und haben uns abgeholt. Sie haben uns aber nicht zu Robert gebracht, sondern in dieses Haus.“ – „Kanntet ihr die Männer? Waren es Freunde? Von Robert vielleicht?“ – „Nein“, Ayda schüttelte ihren Kopf, „ich hatte sie noch nie gesehen.“ – „Und diese Männer haben euch mitgenommen?“ – „Ja, sie haben mit Mama geredet. Dann sind wir in ihr Auto gestiegen und losgefahren. Sie haben uns in ein kleines Haus gesperrt und kamen nur, um uns Essen und Trinken vorbei zu bringen, ansonsten waren wir immer alleine.“


    „Und Mama und Lilly sind immer noch da? Wie bist du da raus gekommen?“ – „Da war ein Spalt zwischen der Wand und dem Dach, Mama hätte dort nicht durchgepasst, und auch für mich war es sehr eng. Aber dann kam ich raus und bin gelaufen, bis ich nicht mehr konnte. Das war an dieser Bushaltestelle.“ – „Meinst du, du könntest das Haus wieder finden, Ayda?“ – „Ich weiß nicht? Es war so dunkel.“


    Semir versuchte, die Geschichte seiner Tochter in seinem Kopf zu sortieren. Andrea muss schon sehr verzweifelt gewesen sein, dass sie Ayda alleine in der Nacht durch den Wald schickt, um ihn zu alarmieren. Warum war sie überhaupt freiwillig mitgegangen? Gut, sie hatte wohl keinen Verdacht geschöpft, da Robert ihr ja die Abholung angekündigt hatte. Wusste Robert von der Gefangenschaft, denn so konnte man einen mehrtägigen Einschluss in einer Hütte ja wohl durchaus nennen? Oder war er gar selbst mit Drahtzieher? Nur warum? Oder war er selber auch ein Opfer?


    Ayda unterbrach ihn in seinen Gedanken. „Mama sagte, ich solle zu dir fahren, du würdest uns helfen und sie aus diesem Haus befreien.“ Semir strich ihr über den Kopf, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und nahm sie in den Arm. „Das werde ich, das verspreche ich dir, Schatz.“ Für das Mädchen unhörbar fügte er für sich hinzu: ‚wenn ich nur wüsste, wie.“ Er stand auf, verließ die Küche und kam kurze Zeit später mit seinem Laptop und Handy zurück in die Küche. Eines stand für ihn fest, für eine mögliche Befreiungsaktion brauchte er Unterstützung. Er wählte die Nummer seines Partners aus dem Kurzwahlspeicher und startete gleichzeitig den Laptop. „Alex? Pass auf, die Nacht ist vorbei. Andrea und Lilly werden irgendwo festgehalten, wir müssen was unternehmen … ja, bei mir … okay, ich warte auf dich. Bis gleich!“


    „So Ayda, schau mal“, Semir drehte den Monitor so, dass Ayda die Karte darauf sehen konnte, „hier ist die Bushaltestelle, wo dich der Taxifahrer aufgesammelt hatte. Weißt du noch, von wo du gekommen bist?“ – „Ich bin an der Straße lang gelaufen bis zur Bushaltestelle.“ – „Von hier oder von hier?“, er deutete die Richtungen auf der angezeigten Karte an. „Ich weiß nicht genau“ – „Kannst du dich an irgendwas erinnern? Besondere Bäume, ein besonderes Haus, einen Parkplatz?“ Ayda schüttelte ihren Kopf, dann fiel ihr etwas ein.


    „Da war ein Leuchtturm, so rund, nur nicht so hoch. An dem kam ich vorbei, als ich aus dem Wald auf die Straße kam.“ – „Ein Leuchtturm?“ – „Natürlich kein echter, Papa, aber ein Turm.“ Ayda hatte Leuchttürme kennen gelernt, als Semir mit seiner Familie im letzten Jahr an der Nordsee Urlaub gemacht hatte. Jetzt starrte er auf die Karte und scannte die Umgebung nach irgendeinem runden Gebäude ab. „Wie lange bist du etwa auf der Straße gegangen? Stunde? Halbe Stunde?“ – „Länger als eine halbe Stunde bestimmt.“ Nun zoomte Semir das Bild etwas kleiner, eine halbe Stunde? Etwa 2 km? Er verfolgte die Straße mit seinem Finger erst in die eine, dann in die andere Richtung. Da! Da war ein Haus eingezeichnet, welches über einen Anbau verfügte, welchen man durchaus vom Grundriss her als rund bezeichnen konnte. Das waren etwa 3 km.


    Und im Internet war sogar ein Foto implementiert, welches Semir jetzt öffnete. „Schau, Ayda, hier ist ein Haus mit einem Turm, kannst du dich erinnern? Ist es das?“ Ayda blickte mit immer kleiner werdenden Augen auf den Monitor. So langsam entspannte sie sich, und die Müdigkeit griff nach ihr. „Ja!“, sie hatte das Haus erkannt, „und da bin ich aus dem Wald gekommen, und da unten ist das Haus“. Auf dem Foto war neben dem runden Turm eine Schranke aus einem liegenden Baumstamm zu erkennen, welche Unbefugten die Zufahrt zum Wald versperrte, dahinter ging der Weg bergab und verschwand im Wald. Mehr auf dem Bild nicht zu erkennen. Auf der Karte konnte man den Waldweg ebenfalls erkennen, er schlängelte sich eine ganze Weile durch den Wald und endete an einem aus mehreren Gebäuden bestehenden Anwesen. „Bist du dir ganz sicher?“ – „Ja, Papa, da sind Mama und Lilly, ganz sicher.“


    „Okay, Ayda, Alex und ich, wir werden Lilly und Mama da rausholen, und dich bringen wir in die PAST und sagen Susanne Bescheid, ja?“ – „Nein, Papa, ich will hierbleiben, bei dir!“, jammerte Ayda. Semir redete sanft auf seine Tochter ein. „Aber du willst doch auch, dass ich Mama und Lilly befreie, oder?“ - „Ja, schon“ – „Oder fällt dir jemand ein, bei dem du bleiben würdest?“ Jetzt sah er Ayda in die tränengefüllten und dadurch glänzenden Augen. Sie nickte leicht. Semir konnte die Antwort in ihrem Gesicht ablesen, dann nickte auch er, und Vater und Tochter begannen sich anzulächeln. „Na“, sagte Semir mit einem Blick auf die Uhr, „der wird sich bestimmt über einen Anruf um halb fünf freuen.“

  • Drei Freunde, Zwei Partner, Ein Team


    Es klingelte und Semir ließ seinen Partner Alex in seine Wohnung, während er die Rufnummer von Ben in seinem Telefon auswählte. Dass Ayda gleich an Ben gedacht hatte, war ihm sofort klar gewesen. Genau wie ihr Vater war sie Robert, dem Freund ihrer Mutter, gegenüber immer noch skeptisch. Und Semir hätte Robert mit Sicherheit nicht in seine Wohnung gelassen, gibt er ihm doch keine geringe Mitschuld am Zerbrechen seiner Ehe. Darüber hinaus hatte er auch so ein Bauchgefühl, dass Robert an der Entführung von Andrea und seinen Kindern nicht ganz unbeteiligt sein könnte. „Worum geht es?“, fragte Alex sogleich, aber Semir winkte ab, weil er dem Klingelton lauschte, bis sein Freund endlich abhob.


    Ben Jäger hatte den vergangenen Abend mit seinen Kumpels verbracht und war erst gegen 2:00 Uhr früh ins Bett gekommen. Der Klingelton seines Telefons etwa zweieinhalb Stunden später brauchte entsprechend lange, um in sein Bewusstsein zu dringen. Noch mit geschlossenen Augen tastete Ben auf seinem Nachttisch nach seinem Wecker und gab diesem einen Schlag mit der flachen Hand, das Klingeln aber blieb. Dann erreichte seine Hand das Telefon und er drückte auf die Hörertaste. Mit einem gequält gegrummelten „Ja“ meldeteer sich. „Ben, ich bin‘s, ich brauche deine Hilfe“ – „Semir? Jetzt? Hast du mal auf die Uhr geschaut?“ – „Ben, ich würde nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre.“ Ben schwang seine Beine über die Bettkante und wischte sich mit einer Hand den Schlaf aus den Augen und anschließend durch seine Haare. „Wichtig? Gib mir eine Stunde“, murmelte er. „Es geht um Andrea.“ – „Fünfzig Minuten“ – „Und um die Kinder.“ Jetzt wurde Ben wach. „Dreißig!“ – „Ben! Sie sind in Gefahr!“ Jetzt sprang Ben hellwach auf und war in drei Schritten im Bad. „Zehn Minuten! Ich bin unterwegs. Ich stehe quasi schon vor deiner Tür.“ Semir atmete auf und drehte sich zu Alex um.


    „Andrea, Lilly und Ayda sind am Samstag von fremden Leuten mitgenommen und seitdem gefangen gehalten worden“, ging Semir nun auf die Frage seines Partners ein, „heute Nacht gelang es Ayda zu entkommen und mit Hilfeeines Taxifahrers hierher zu fahren.“ – „Und jetzt willst du Andrea und Lilly auch befreien?“, mutmaßte Alex. „So sieht es aus. Wir haben den Ort bereits auf der Karte gefunden.“ Semir und Alex waren in der Küche angekommen, wo dieser Semirs Tochter mit einem Lächeln begrüßte, welches Ayda erwiderte. Sie kannte den Kollegen ihres Vaters bereits länger, wenn sich auch noch keine große Freundschaft zwischen ihnen hat entwickeln können. Und seit ihrem Auszug aus dem gemeinsamen Haus hatten sie sich auch nicht mehr gesehen. „Hallo Alex“, sagte sie leise, „kommt Ben?“, richtete sie ihre Frage an ihren Vater – „Ja, Schatz, Ben ist auf dem Weg.“


    „Sollen wir gleich Verstärkung oder das SEK mitnehmen?“, wollte Alex wissen. „Hmm…Nein, wir schauen uns erst einmal allein vor Ort um.“ Semir zeigte Alex am Laptop, wo sie hinfahren würden, und welches Gelände sie dort erwartete. Noch während sie die Details ihres Plans erörterten, stand Ben vor der Tür. „Was ist passiert? Wo ist Ayda?“, fragte er sogleich. „In der Küche, komm, ich erzähle es dir. Wir planen gerade, wie wir vorgehen könnten.“


    Ben schloss zunächst Ayda kurz in seine Arme und lauschte dann den Plänen der Polizisten. Er gab hier und da noch einige Tipps, er war schließlich selber eine lange Zeit Polizist gewesen. „Okay, also Ben, wir melden uns, wenn wir Andrea und Lilly haben“, schloss Semir die Sitzung ab. „Alles klar, wenn ich um halb zehn noch nichts von euch gehört habe, schicke ich die Kavallerie, in Ordnung?“ – „In Ordnung“, nickte Semir und drückte Ayda zum Abschied noch, „und danke, dass du hergekommen bist.“


    Ben stieß sich von der Arbeitszeile der Küche, an die er sich gelehnt hatte, ab und wandte sich dann zum Kühlschrank, öffnete und schloss ihn gleich wieder. „Sag mal, Semir“, rief er seinem Freund hinterher, „hast du noch etwas anderes im Kühlschrank außer Licht?“ – „Im Kühlschrank? Nein“, bekam er von Semir zu hören, bevor dieser gemeinsam mit Alex die Wohnung verließ. Ben stellte sich resigniert zurück an den vorherigen Platz und sah Ayda mit gespielt enttäuschten Gesichtsausdruck an, die aber nur mitleidig mit den Schultern zuckte.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

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  • Babysitter Ben


    Semir und Alex machten sich auf den Weg. Ben wäre gerne mitgekommen und sah ihnen länger nach, obwohl die Tür längst geschlossen war. Dann schüttelteer den Gedanken ab, er führte doch längst das Leben, das er führen wollte, die Jagd auf Verbrecher war für ihn vorbei. Aber auch Ben machte sich Sorgen um Andrea und Lilly und würde sich gerne an deren Befreiung beteiligen. Aber diesmal war er Aydas „Held“ und war für sie da. „Na, Ayda? Komm, wir gehen ins Wohnzimmer und legen uns noch ein paar Stunden hin, und wenn wir wieder aufwachen, ist Semir bestimmt mit deiner Mama und Lilly hier.“ Ben legte Ayda beim Gang durch den Flur tröstend den Arm um die Schultern und ging mit ihr ins Wohnzimmer, wo Ayda sich auf die Couch legte und die Wolldecke über ihre Beine zog. Ben nahm im Sessel Platz.


    „Und wenn sie es nicht schaffen?“ – „Ey, das wird nicht passieren. Dein Papa und Alex schaffen das. Du hast ihnen doch genau erzählt, worauf sie zu achten haben.“ – „Ja, wenn ich jetzt aber etwas vergessen habe? Ich habeAngst, Ben.“ Was sollte Ben darauf erwidern? Er machte sich ja selbst Sorgen um seinen Freund und um Alex. Obwohl er auf deren Talent vertraute und wusste, sie würden vorsichtig sein, sie wussten nicht genau, was sie am Ort des Verstecks erwartete. Wie vielen Männern würden sie gegenüber stehen? Schaffen sie es rechtzeitig, die Verstärkung und das SEK zu alarmieren, falls es eng würde? Trotz seiner Bedenken musste er jetzt versuchen, dem kleinen Mädchen die Angst um ihren Vater, ihrer Mutter und um ihre Schwester zu nehmen. Dann entschied er sich für die Wahrheit. „Ich habe auch Angst, Ayda. Aber wir müssen jetzt darauf vertrauen, dass alles gut werden wird, okay? Das schaffen wir, ja? Nun mach die Augen zu, und ich erzähle dir, was meine Band und ich bei dem verkorksten Konzert letzten Woche in Mainz erlebt haben.“


    Ayda zog sich die Decke bis zum Hals, hielt ihren Blick aber immer noch auf Bens Gesicht gerichtet und lauschte. „Was denn?“, fragte sie ihn. „Erst die Augen zu machen, dann erzähle ich.“ Ayda tat, was Ben verlangte, und schloss die Augen. „Das war so …“, begann Ben betont langsam, „letzte Woche hatten wir ein Konzert in Mainz, das ist eine Stadt etwa 200km von hier, auch am Rhein gelegen. Das Konzert sollte in diesem Veranstaltungshaus in der Innenstadt stattfinden, und als wir dort ankamen …“, fuhr er fort, aber da merkte er schon an den gleichmäßigen Atemzügen, dass Ayda eingeschlafen war und hielt erleichtert inne, denn eigentlich hatte er gar nichts zu erzählen. Er lehnte sich im Sessel zurück und schloss ebenfalls die Augen.

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