Cold Turkey

  • Semir fuhr wie ein Wahnsinniger die kurze Strecke zu seinem Haus. Als er davor anhielt, sah er sich nach einem anderen Fahrzeug um, aber es war nichts zu entdecken. Er griff wieder zu seiner Waffe und sprang heraus. Die Haustür war geschlossen und so lief Semir erst einmal rund ums Gebäude. Als er sich der Terrasse näherte, sah er schon, dass die Tür aufstand und Glasscherben am Boden glitzerten. Verdammt noch mal, er war zu spät! Voller Bangen lief er wieder zur Haustür-was war mit Sarah und Ben? War der Verbrecher vielleicht noch im Haus und sollte er vielleicht lieber Verstärkung rufen? Dann aber steckte er kurz entschlossen den Schlüssel ins Schloss, denn er hatte gerade etwas gehört. Ein Weinen drang an seine Ohren, das eindeutig von Sarah kam. „Ben wach auf!“ hörte er sie rufen, als er in Windeseile seinen Hausflur betrat. Er hatte die Waffe gezückt und sicherte erst den Eingangsbereich, bevor er ganz eintrat, aber dann machte er einfach das Licht an und schaute von oben schreckensbleich auf das Szenario am Fuße der Kellertreppe.
    Sarah hatte sich da auf die Knie erhoben und tätschelte Ben´s Gesicht. Ihr einer Schlafanzugärmel war blutig und sie hielt die Hand ganz unnatürlich-die war sicher gebrochen. Ben lag auf dem Rücken und war sehr bleich, aber er konnte nicht erkennen, ob der noch lebte. Semir steckte seine Waffe weg und eilte die Treppe hinunter, während er schon sein Handy zückte. „Wir brauchen hier Notarzt und Rettungsdienst!“ orderte er über die Notrufnummer und gab seinen Standort durch. „Zwei Verletzte, eine davon hoch schwanger!“ meldete er und der Mann in der Leitststelle der Feuerwehr versprach sofort alles in die Wege zu leiten. Nun war er unten angelangt: „Sarah, was ist mit dir?“ fragte er besorgt, denn sie zitterte am ganzen Leib. Gerade versuchte sie an Ben´s Halsschlagader den Puls zu fühlen, aber vor lauter Zittern konnte sie überhaupt nichts tasten. Nun fühlte Semir nach dem Puls, der zwar schnell, aber deutlich tastbar und regelmäßig schlug. „Sarah, er lebt!“ versuchte er sie zu beruhigen und dann sprang er auf, um schnell eine Decke aus dem Kellerraum für sie zu holen-sie war völlig im Schock. Sarah hatte nun vor Erleichterung einen lauten Seufzer ausgestoßen. Jegliche Professionalität hatte sie im Augenblick verlassen, sie war nur beinahe verrückt vor Sorge um den geliebten Mann.Semir kam zurück und legte ihr die Decke um die Schultern, dann tastete er Ben kurz von oben bis unten ab, drehte ihn auch um, aber er konnte keinerlei Verletzung erkennen. Nur in der Wand hinter Ben fehlte ein Stück Putz, das sah aus, als würde da eine Kugel stecken. Nun rollte er ihn zurück und begann das Gesicht seines Freundes erst zu tätscheln, ihm dann ein paar kräftigere Backpfeifen zu verpassen und plötzlich schlug der die Augen auf. „Ben-Gott sei Dank!“ schrie Sarah regelrecht und bekam dann einen Heulkrampf. Während Ben sich verwundert umsah und sich anscheinend erst einmal orientieren musste, brach Sarah regelrecht über ihm zusammen, legte ihren Kopf auf seine Brust und weinte vor Schock, aber auch Erleichterung, wie sie in ihrem Leben noch nicht geweint hatte. Ben legte beide Arme um sie und zog sie an sich und so fand sie der Notarzt, der nur Minuten später eintraf.


    Redka war inzwischen am Hafen angelangt. Er stellte sein Auto direkt vor der Garage ab, sperrte sie auf und lud die beiden Koffer mit dem Rauschgift in seinen Wagen um. Dann wechselte er noch die Kleidung und zog wieder seinen feinen Maßanzug mit Hemd und Krawatte an. Den zerfetzten Rollkragenpullover und die schmutzige schwarze Jeans ließ er neben dem Porsche zurück und dann machte er sich über die nächtlichen Straßen auf an den Bodensee. Dort war er fürs Erste sicher-wer würde schon auf die Idee kommen, dort nach ihm zu suchen?

  • Der Notarzt stieg die Treppe hinunter und fragte; „Was ist passiert?“ Er war so schnell vor Ort, weil es in dem Haus zwei Querstraßen weiter, wo er gerade zu einem Einsatz gerufen worden war, keine Verletzten zu beklagen gab, außer einem Hund, aber der wurde gerade von seinem Herrchen zur nächsten Tierklinik gebracht. Es hatte dort zwar ein Einbruch stattgefunden, aber der einzige Schuss hatte dem Schäferhund gegolten. Er hatte das kleine Mädchen kurz durch untersucht, aber das hatte nur geweint, weil man es aus dem Schlaf gerissen hatte. Allerdings war der Einbrecher durchs offene Fenster im Kinderzimmer gekommen und der Notarzt konnte nur den Kopf schütteln, wegen so viel Unvorsichtigkeit. Man konnte doch nicht einfach das Fenster sperrangelweit offenstehen lassen-immerhin waren sie in Köln, wo es genügend Gesindel gab.


    Aber nun richtete er seine Aufmerksamkeit auf die beiden verletzten Personen am Fuße der Treppe, neben denen er jetzt in die Knie ging. Die junge Frau, die um die Schultern eine Decke hatte und fast ein wenig hysterisch vor sich hin schluchzte, war hoch schwanger. Er nahm sie vorsichtig an den Schultern und zog sie fast von dem Mann herunter, der zwar sehr blass war, aber auf den ersten Blick keine Verletzungen aufwies. Als er die Decke wegnahm konnte er sehen, dass die Frau an ihrem rechten Oberarm eine Wunde hatte und das Handgelenk gebrochen war. „Ist das eine Schussverletzung?“ fragte er alarmiert. Zuletzt war der Einbrecher auf seinem Raubzug zuerst hier gewesen. Dann war der Mann aber hochgradig gefährlich und man musste sofort die Polizei hierher beordern und außerdem die Gegend abriegeln, bevor da noch mehr passierte.
    Sarah hatte sich inzwischen wieder ein wenig gefangen und als nun der Schock ein bisschen nachließ kamen die Schmerzen. Nun wurde auch sie blass und blasser und der Notarzt beeilte sich, sie neben Ben flach auf den Boden zu legen, bevor sie ihm noch kollabierte. Der Rettungssanitäter hatte derweil eine Infusion vorbereitet und kam mit dem Notfallkoffer ebenfalls die Treppe herunter. Langsam wurde es eng hier unten und Semir zog sich nun ein paar Schritte zurück und beobachtete aus der Entfernung, was der Arzt mit seinen Freunden machte. Gut-nun nahm das Schicksal seinen Lauf und er würde sich vermutlich in Kürze einen neuen Job suchen müssen, denn nun sagte der Notarzt zum dritten Mann auf dem Einsatzfahrzeug, der inzwischen mit der Trage oben an der Treppe erschienen war: „Verständige bitte die Polizei, wir haben hier eine Schussverletzung!“ befahl er , während er nun Sarah von oben bis unten durch untersuchte, nicht dass man etwas Wichtiges übersah.
    Dann sah er kurz auf Ben, der immer wieder versuchte, sich aufzurichten, aber dann sofort von einem wahnsinnigen Schwindel heimgesucht wurde. „Jetzt bleiben sie doch endlich liegen!“ sagte er ein wenig genervt. „Ich versorge jetzt erst mal die Frau und dann kümmere ich mich um sie!“ erklärte er, während er nun Sarah einen Zugang in den Unterarm legte. Dann überlegte er. Wenn er ihr jetzt ein Opiat gab, was man normalerweise zur Erstversorgung von Frakturen machte, dann war es aber schlecht, falls sie Wehen kriegte. Das Kind wäre dann eventuell ateminsuffizient, wenn es zur Welt kam und das Risiko wollte er eigentlich nicht eingehen. „Bitte-ich möchte keine Medikamente!“ sagte Sarah da schon selber und der Arzt sah sie überrascht an. Waren ihm seine Gedanken auf die Stirn geschrieben? Aber Sarah´s nächste Worte erklärten alles. „Ich bin nämlich Intensivschwester!“ sagte sie. „Gut ein wenig Paracetamol können wir riskieren, das schadet dem Baby nicht!“ sagte der Arzt und Sarah stimmte zu. Während die Kurzinfusion in sie tropfte, schiente der Arzt vorsichtig den Bruch, was Sarah zwar einen Schmerzenslaut ausstoßen ließ, aber als die Fraktur fest fixiert war, waren die Schmerzen gleich viel besser. Der Rettungsassistent hatte inzwischen ihren Schlafanzugärmel aufgeschnitten und die Schusswunde desinfiziert. Semir atmete auf-es war nur ein Streifschuss-also musste auch diese Kugel irgendwo in der Wand stecken.
    Diese Verletzung wurde nur steril verbunden und dann verzog Sarah das Gesicht. Sie hatte gerade fürchterliche Kreuzschmerzen. Als der Arzt, der sie die ganze Zeit aufmerksam beobachtete nun seine Hand auf den Bauch legte, sagte er: „Ich denke, sie haben Wehen-welche Schwangerschaftswoche haben wir?“ wollte er nun wissen. „Die fünfunddreißigste!“ gab Sarah gepresst zur Antwort und der Arzt nickte mit dem Kopf. Gut es war zwar noch ein wenig früh, aber normalerweise waren die Kinder zu diesem Zeitpunkt schon so reif, dass sie eigentlich fast immer überlebten, obwohl es natürlich schon eine Frühgeburt wäre. Aber vielleicht konnte man die aufgewühlte Gebärmutter auch noch ein paar Tage oder Wochen zur Ruhe bringen-wichtig war jetzt, dass sie in die Klinik kamen.


    Während die beiden Sanitäter Sarah vorsichtig auf die Trage legten, erklärte sie-die Rückenschmerzen waren gerade wie weggeblasen: „Mein Verlobter hatte eine fürchterliche Magen-Darm-Geschichte. Er ist gerade mit dem Kreislauf völlig am Boden-ich muss gestehen, er wollte nicht ins Krankenhaus und darum habe ich ihn zuhause infundiert. Leider habe ich ihm bei der Gelegenheit einen Spritzenabszeß verpasst, der ihm nun zu schaffen macht. Er wird mit Ciprofloxazin behandelt, aber ich denke, das ist mit der Grund, warum sein Kreislauf so schwächelt!“ erklärte sie und Semir musste sie bewundernd ansehen. Dieses Teufelsweib hatte für alles eine Erklärung und langsam begann er wieder Hoffnung zu schöpfen, dass man die Sache doch irgendwie so hindrehen konnte, dass sie ihren Job behielten. „Und danke Semir, dass du uns für die Zeit, in der der Kammerjäger bei uns in der Wohnung diese blöden Holzkäfer bekämpft, Asyl geboten hast-es konnte ja keiner ahnen, dass wir in deinem Haus gleich mit einem Einbrecher zusammentreffen!“ fügte Sarah noch hinzu, während die schwankende Trage sich nun Richtung Rettungswagen bewegte.


    Semir blieb innerlich sozusagen der Mund offen stehen-das wäre eine logische Erklärung und er beschloss, seinen Kollegen gegenüber, die inzwischen auch eingetroffen waren, bei dieser Story zu bleiben. Ben wollte sich gerade schon wieder aufrichten: „Ich muss zu Sarah-ich möchte doch dabei sein, wenn das Baby kommt!“ sagte er unglücklich, aber ihm wurde sofort wieder schwindlig, wenn er den Kopf nur leicht anhob. Der Notarzt hatte inzwischen seinen Blutdruck und den Puls gemessen. Die Werte waren völlig im Keller, das war kein Wunder, wenn dieser junge Mann, der wirklich ziemlich krank aussah, kollabierte, wenn er sich aufrichten wollte. Kurz entschlossen sagte er: „Ich lege ihnen jetzt eine Infusion und dann werden wir ein zweites Fahrzeug anfordern, das sie liegend ins selbe Krankenhaus wie ihre Verlobte transportiert. Ich fahre aber mit ihr mit, falls unterwegs mit dem Baby was ist-sind sie damit einverstanden?“ fragte er und Ben nickte erst. Dann allerdings sagte er: „Mir wird gerade furchtbar schlecht-ich glaube ich muss kotzen!“ würgte er und schaute sich hektisch nach etwas um, wohinein er sich übergeben konnte. Bis der Sanitäter mit einem Behälter gerannt kam, war es aber schon passiert. Ben erbrach im Schwall hellrotes Blut und Semir fielen vor Entsetzen beinahe die Augen aus dem Kopf!

  • Redka hatte die viereinhalb Stunden Fahrt beinahe hinter sich, aber seit einiger Zeit knurrte sein Magen. Erst hatte er noch überlegt, auf ein Frühstück zu verzichten, aber dann beschloss er, den Bedürfnissen seines Körpers nachzukommen. Immerhin hatte er eine anstrengende Nacht hinter sich und nur mit Mineralwasser würde er den kommenden Tag nicht so einfach überstehen. Er hatte vor der letzten OP schon solchen Hunger gehabt, sich da aber brav an die Vorgaben des Narkosearztes gehalten, der ihm empfohlen hatte, ab Mitternacht nichts mehr zu essen und zu trinken. Danach hatte er sich mit einem Mitpatienten unterhalten, der deswegen in lautes Gelächter ausgebrochen war. „Also bitte-das ist doch im Verhältnis ein kleiner Eingriff, was da gemacht wird und keine Magen- oder Darm-OP. Da muss man nicht stundenlang nüchtern bleiben. Ich hatte erst letztes Jahr sogar einen Eingriff am Dickdarm, da habe ich bis zum Vorabend normal gegessen und morgens sogar noch Glukoselösung zu trinken bekommen. Die sollen sich hier nicht so anstellen, ich habe noch nie wegen einer Operation auf meinen Frühstückskaffee verzichtet!“ hatte er erklärt. „Außerdem ist der Magen ja nach vier Stunden wieder völlig leer, da gilt man wieder wie nüchtern!“ hatte er ihm mitgeteilt und tatsächlich-auch im Internet wurde das bestätigt. Deshalb fuhr Redka kurz vor seinem Ziel beim nächsten Schnellimbiss raus und gönnte sich ein fürstliches Frühstück. Jetzt fühlte er sich wieder wie ein Mensch. Dann sah er auf die Uhr. Es war inzwischen sieben Uhr geworden. In einem kleinen Wäldchen kurz vor der Klinik, in dem er schon mehrmals spazieren gelaufen war, versteckte er die Koffer mit dem Rauschgift in einer Baumhöhle, die er da zufällig entdeckt hatte. Nun betrat er frohen Mutes und doch mit einem mulmigen Gefühl-immerhin hatte er heute eine OP vor sich- die Klinik und wurde an der Rezeption freundlich vom Servicepersonal begrüßt. „Ah Herr Redka, schön dass sie da sind-wir haben auch gleich eine erfreuliche Mitteilung für sie. Das OP-Programm musste ein wenig umgestellt werden und so sind sie gleich der Erste. Gehen sie doch bitte auf ihr Zimmer, duschen noch kurz und ziehen dann das bereitgelegte Hemd, die Thrombosestrümpfe und die Haube an-sie werden dann in Kürze abgeholt.“ sagte die bildhübsche, reizende Frau an der Anmeldung.
    Redka nickte-eigentlich war das ganz gut, der Erste zu sein-dann musste man nicht so viel nachdenken! Die Aufklärung und die Unterschrift waren in der Vorwoche schon erfolgt und als er kurz vor acht in den OP gebracht wurde, verzichtete man deshalb auf alle Formalien. Der Operateur lächelte ihn unter Haube und Mundschutz an und kurz darauf legte ihm der Anästhesist einen Zugang, spritzte das Narkosemittel und dann wusste er nichts mehr.


    Ben erbrach eine ganze Menge Blut und nun war dem Narkosearzt auch klar, dass der niedrige Blutdruck und der hohe Puls durchaus einen Hintergrund hatten. Ben war allerdings immer noch ansprechbar und seine Schutzreflexe funktionierten, so dass man zwar auf das zweite Einsatzfahrzeug wartete und die Infusion schneller stellte, aber sonst nichts weiter unternahm. Ben hatte völlig entsetzt an sich heruntergesehen und auch Semir musste schlucken, als er das Blutbad sah, dann fasste er sich allerdings ein Herz, kniete sich neben seinen Freund und griff nach dessen Hand, die Gott sei Dank nicht blutig war. „Semir ich habe Angst!“ flüsterte Ben und im Augenblick wusste Semir keine beruhigende Antwort darauf-ihm ging es nämlich genauso.
    Der Notarzt war inzwischen, ohne zu Sarah etwas zu sagen, wieder in das Fahrzeug geklettert und hatte nach der gesehen, aber sie lag völlig ruhig auf der Trage und der eine der Sanitäter unterhielt sich mit ihr. Man würde einen Teufel tun und sie beunruhigen, deshalb fragte der Notarzt nur kurz: „Geht´s ihnen gut?“ und Sarah bestätigte das. „Ich möchte nur warten, bis das zweite Fahrzeug da ist und den Sanitätern Übergabe machen und dann geht´s los!“ sagte er deshalb harmlos und Sarah nickte. Langsam wurde ihr wieder warm und der Schock ließ nach. Sie beide würden jetzt im Krankenhaus behandelt werden und in wenigen Tagen in ihre Wohnung zurückkehren. Das Baby würde sich schon noch ein wenig gedulden-sie hoffte es wenigstens. Als wenige Minuten später allerdings die starken Kreuzschmerzen wieder wie eine Welle über ihr zusammenschlugen, klammerte sie sich an der Hand des Sanitäters fest und war sich deswegen nun plötzlich gar nicht mehr so sicher-verdammt und Ben war zwar nur ein paar Meter und doch irgendwie meilenweit entfernt von ihr-dabei hatten sie das doch gemeinsam erleben wollen.

  • Wenig später kam das zweite Einsatzfahrzeug. Ben hatte sich wenigstens ein wenig beruhigt, denn weiter war nichts mehr gekommen und ihm war auch nicht mehr übel-nur aufrichten konnte er sich einfach nicht, weil sein Kreislauf nicht mitspielte! Die bereits vorher eingetroffenen Polizisten hatten Ben inzwischen befragt, was denn eigentlich geschehen war. „Meine Freundin und ich haben fest geschlafen. Anscheinend hat Sarah, schon bevor ich es bemerkt habe, gehört, dass jemand ins Haus eingedrungen ist!“ erklärte Ben seinen uniformierten Kollegen. „Bevor ich sie davon abhalten konnte, ist sie aufgestanden, um nach dem Rechten zu sehen!“ erzählte er weiter. „Wegen meiner Magen-Darm-Problematik, deswegen wollten wir auch nicht ins Hotel, habe ich einige Zeit gebraucht, um hoch zu kommen und als ich hier im Treppenabgang angekommen bin, hörte ich nur das Geräusch einer Pistole mit Schalldämpfer, die gerade abgefeuert wird. Im selben Moment sah ich Sarah die Treppe herunter purzeln und ab da weiss ich nichts mehr, bis eben gerade vorhin, als ich aufgewacht bin und sich Sarah in meine Arme geflüchtet hat!“ erzählte er und konnte sich in der selben Sekunde nicht mehr beherrschen und schluchzte einen Moment hemmungslos drauflos. Zu viel war in den letzten Stunden auf ihn eingeprasselt-klar, schon sein Vater hatte ihm immer versucht einzubläuen, dass Jungs nicht weinten, aber gerade waren die ganzen Ermahnungen vergessen.


    Die uniformierten Kollegen kannten Semir und Ben nicht und so glaubten sie ohne Nachfrage die Story mit dem Kammerjäger und dem vorübergehenden Asyl in dem Keller des Hauses, das gerade renoviert wurde. Sie warfen einen kurzen Blick in die Kellerräume und dann barg die dazu gerufene Spurensicherung die beiden Kugeln. Das eine Projektil steckte tief in der Wand und das andere war bereits deformiert und hatte Gewebereste an sich, was darauf schließen ließ, dass das die Frau getroffen hatte. Semir erklärte den Kollegen noch genau, wie Sarah und Ben dagelegen hatten, als er gekommen war und dass vermutlich er das Ziel des Verbrechers gewesen war-immerhin war das sein Haus und es war sicher kein Zufall, dass danach bei seiner zweiten Wohnadresse eingebrochen worden war. Er hoffte nur, dass sich die ermittelnden Kollegen jetzt nicht fragten, woher der Attentäter denn so plötzlich die aktuelle Anschrift hatte. Auch auf die zerbrochene Terrassentür, die er aber nicht benutzt hatte, um keine Spuren zu verwischen, wies er hin. Dann allerdings fiel ihm noch was ein: „Wenn der Verbrecher jetzt weiss, wo meine Familie zu finden ist, würde ich die Kollegen für diese Nacht wenigstens um Personenschutz für sie bitten, nicht dass der nochmal zurückkommt. Ich selber fahre mit meinen Freunden ins Krankenhaus und morgen werden wir eine andere Lösung, vielleicht eine Schutzwohnung, finden, wenn die Fahndung die nach der Beschreibung meines Vermieters wohl bereits eingeleitet ist-was die uniformierten Beamten bestätigten- erfolglos verlaufen sollte!“ vermeldete er, denn er wollte Ben jetzt in diesem völlig aufgelösten Zustand nicht alleine lassen und hätte zuhause keine ruhige Minute. Der hatte sich inzwischen wieder ein wenig beruhigt und sagte leise: „Danke!“


    Nun wurde er auf die Trage gepackt und in den zweiten RTW gebracht. Semir stieg mit ein und wenig später fuhr der Konvoi aus den beiden Krankenwagen los. Der Notarzt begleitet wie angekündigt das Fahrzeug in dem Sarah lag, aber wenn es irgendwelche Probleme im zweiten Wagen gäbe, die die Anwesenheit des Arztes erforderlich machten, dann würde man anhalten und er konnte umsteigen-das war eine Methode, die man häufiger anwandte. Mit Blaulicht durch das nächtliche Köln erreichten sie wenig später die Uniklinik. In der zentralen Notaufnahme wurden nun Sarah und Ben in zwei unterschiedliche Bereiche gebracht. Sarah kam in die Chirurgie und man forderte sofort einen Gynäkologen zu und Ben wurde in die Innere verbracht, denn Magenblutungen waren eindeutig deren Ressort. Ben wurde in der Zwischenzeit wieder schlecht und er erbrach erneut hellrotes Blut. Man legte einen zweiten Zugang entnahm daraus mehrere Blutröhrchen fürs Routinelabor und ließ für alle Fälle einmal vier Konserven kreuzen. Beim Erstellen der Anamnese gab Ben an, dass er schon seit einigen Wochen starke Magenprobleme habe und deshalb auch krankgeschrieben wäre. „Er hat schon seit Tagen nichts mehr gegessen!“ erklärte auch Semir, der keinen Millimeter von Ben´s Seite wich. „Gut, sobald die Blutwerte da sind, werden sie in die Endoskopie-Abteilung gebracht, dort werden wir eine notfallmäßige Magenspiegelung vornehmen, um die Blutungsquelle zu finden!“ erklärte der aufnehmende Internist und Ben nickte. Ihm war so elend-es war ihm völlig egal, was sie mit ihm anstellten, Hauptsache Semir blieb bei ihm. „Wie geht´s Sarah?“ flüsterte er, während er ausgezogen und mit einem Krankenhaushemd bekleidet wurde, aber im Augenblick konnte ihm niemand Auskunft geben. Man inspizierte auch den eröffneten Spritzenabszeß-gut, den würde man später vielleicht noch ein wenig nachresezieren, aber jetzt war die Blutstillung erst mal wichtiger. Während sich das Bett, in das man Ben inzwischen gelegt hatte, in Bewegung setzte, ließ der Semir´s Hand vor Angst und Verzweiflung einfach nicht los. „Semir geh nicht weg!“ bat er und der Pfleger zuckte mit den Schultern-das sollten die in der Endoskopie-Abteilung klären, ihm war das egal!

  • Sarah war inzwischen in der chirurgischen Notaufnahme versorgt worden. Man hatte sie zum Röntgen gebracht, weshalb sie erst zurückgeschreckt war. „Man darf doch in der Schwangerschaft überhaupt nicht röntgen!“ hatte sie angstvoll gefragt, aber sowohl der Röntgenologe, wie auch der inzwischen eingetroffene Gynäkologe hatten das Gegenteil beteuert. „Sarah, die Strahlenbelastung beim Röntgen der Hand entspricht etwa der beim Aufenthalt in den Bergen oder einer Flugreise. Wir decken dich großflächig mit einer Bleischürze ab, da musst du keine Angst um dein Kind haben!“ beruhigten sie die beiden. Ein Wehenschreiber und ein Ultraschallgerät standen auch schon bereit und nachdem die Röntgenuntersuchung vorbei war, was Sarah ziemliche Schmerzen bereitet hatte, weil man die Hand dazu aus der Schiene hatte nehmen müssen, widmete sich der Gynäkologe sich seiner Patientin.
    Erst untersuchte er sie vaginal und sagte dann: „Der Muttermund ist zwar etwas verstrichen, aber noch nicht geöffnet, wenn wir Glück haben, können wir die Geburt noch ein Weilchen aufschieben!“ erklärte er, während Sarah wieder von einer heftigen Kreuzschmerzattacke überrollt wurde. Die Sensoren des Wehenschreibers, die man mit einer Art Netz über ihren prallen Bauch gespannt hatte, schlugen aus und der Arzt betrachtete die Kurve interessiert. „Wenn es uns allerdings nicht gelingt, den Uterus zur Ruhe zu bringen, dann wird das Kind in wenigen Stunden zur Welt kommen, aber es hält die Wehen gut aus-die Herztöne verändern sich währenddessen nicht und das ist ein gutes Zeichen!“ teilte er ihr dann mit und Sarah hätte ihn schlagen können. Das war ihr schließlich auch klar geworden, dass eine Frühgeburt drohte, als sie erfahren hatte, dass diese wiederkehrenden Kreuzschmerzen echte Wehen waren. Es war noch nicht so schlimm, dass es nicht auszuhalten gewesen wäre, aber angenehm war etwas anderes. Außerdem hatte sie sich immer vorgestellt, dass sie die Eröffnungswehen zuhause mit Ben´s Unterstützung, vielleicht teilweise in der warmen Badewanne, erleben könnte und sie erst ins Krankenhaus fahren würden, wenn die Geburt schon ziemlich weit fortgeschritten war. Jetzt lag Ben irgendwo getrennt von ihr in diesem riesigen Krankenhaus, sie war verletzt und musste Angst um ihr Kind und um ihn haben und alles war plötzlich ganz anders. Was sie allerdings beruhigte war, dass Ben zwar Kreislaufprobleme hatte, aber nicht angeschossen war. Er war sicher von den Elektrolyten her völlig entgleist und deshalb schwächelte sein Kreislauf, aber wenn man die nach der Blutabnahme zielgerichtet substituierte, dann würde es ihm schnell wieder besser gehen. Außerdem würde normalerweise niemand auf die Idee kommen ein Drogenscreening zu machen und Heroin wäre nach dieser Zeit im Urin und Blut schon nicht mehr nachweisbar, nur in einer Haarprobe oder anderen speziellen und auch teuren Untersuchungen.


    Der Frauenarzt machte noch eine Ultraschalluntersuchung des Uterus, aber dem Baby gings gut und es trat wieder zornig nach dem Schallkopf und versuchte davon zu schwimmen, wie auch immer in der Praxis ihres Gynäkologen. „Na der kleine Treibauf hält wohl nichts von mir!“ sagte der Arzt schmunzelnd und wischte seinen Schallkopf mit einem Desinfektionstuch ab. „Das Kind ist wohlauf und wenn es jetzt zur Welt käme, wäre es zwar ein Frühchen, aber es hätte vom Zeitpunkt her vermutlich keine Probleme mit der Atmung. Es wäre zwar noch ein wenig klein, könnte vielleicht die Temperatur noch nicht so gut halten, aber sonst wäre es nicht in akuter Gefahr. Wir werden jetzt erst mal eine Magnesiuminfusion anhängen und wenn das nicht zum Erfolg führt, schießen wir mit Wehenhemmern nach.“ erklärte er. Er hatte auch die Narbe an Sarah´s Bauch gemustert, wo sie vor wenigen Monaten einer Messerattacke zum Opfer gefallen war. „Zum damaligen Zeitpunkt war die Gefahr für dein Kind viel höher, Sarah, aber jetzt kannst du das Ganze ziemlich gelassen sehen, ich tu´s auch!“ sagte er in aller Gemütsruhe und alleine diese Aussage beruhigte Sarah schon und sie beobachtete, wie er die Magnesiuminfusion hochdosiert über einen Infusomaten anhängte.


    Als nun der Unfallchirurg wieder ins Zimmer kam und sich am PC die Röntgenbilder der Handgelenksfraktur betrachtete, sagte er: „Das muss zeitnah operativ versorgt werden-wie siehts denn aus-macht ihr einen Kaiserschnitt und hinterher dürfen wir uns an der Hand austoben, oder wie ist der Stand der Dinge?“ fragte er den Gynäkologen. Sarah sah ihn ganz entsetzt an. Sie wollte keinen Kaiserschnitt, wenn es nicht medizinisch unbedingt notwendig war und gerade hatte ihr doch der Frauenarzt noch erklärt, dass man die Geburt sehr wahrscheinlich noch aufhalten könne. Aber eine Sectio, das war sowas Endgültiges und noch dazu in Vollnarkose. Sie hatte sich so darauf eingestellt die Geburt aktiv mitzumachen, das durfte doch nicht wahr sein. Nun verließen die beiden Ärzte kurz das Zimmer und Sarah hörte draußen ein Wortgefecht. Sie brach derweil in Tränen aus und prompt kam die nächste Wehe. Sie fühlte sich alleine und verlassen und als in diesem Moment eine ihrer Kolleginnen , die Nachtschicht hatte und durch die Klinikbuschtrommel erfahren hatte, dass Sarah eingeliefert war und mal nachsehen wollte, was überhaupt los war, zur Tür hereinkam, musste sie erst einmal jemanden trösten. Als sie von Sarah in der Kurzfassung erfahren hatte, weshalb die beiden Ärzte sich da draußen nicht einigen konnten, sagte sie kurz entschlossen: „Ich muss jetzt wieder hoch, aber ich schicke dir den anästhesiologischen Oberarzt, der hat nämlich OP-Dienst, runter-dann kann der auch noch seinen Senf dazugeben und pass auf, der findet eine Lösung, mit der alle zufrieden sind!“ prophezeite sie und so war es auch. Kurz darauf gesellte sich draußen eine dritte Stimme dazu, zu Sarah war schon eine Schwester der Notaufnahme zur seelischen Unterstützung, gesandt von ihrer Kollegin, geeilt und wenig später traten drei zufriedene Ärzte ins Zimmer.
    „So-jetzt haben wir eine Lösung, die hoffentlich alle zufrieden stellt. Sarah-wir werden dir eine Plexusanästhesie machen-das war eine Leitungsbetäubung des Armes-und dann kann deine Hand und die Schusswunde versorgt werden. Dem Kind macht das nichts aus und danach kommst du zur Beobachtung auf die geburtshilfliche Station. Der Gynäkologe kommt mit in den OP, falls es da Komplikationen geben sollte und der Operateur hat versprochen, sofort aufzuhören zu operieren, wenn du eine Wehe hast. So werden wir das Kind schon schaukeln-im wahrsten Sinne des Wortes!“ sagte der Anästhesist und nun war Sarah zufrieden. Während die OP-Vorbereitungen anliefen, fragte sie nach Ben, aber niemand konnte oder wollte ihr sagen, auf welcher Station der lag und wie´s ihm ging. Aber sie beruhigte sich-er war hier im Haus ja in besten Händen und sie konnte gerade sowieso nichts für ihn tun.

  • Ben und Semir waren inzwischen in der Endoskopie angelangt. Der Pfleger, der das Bett schob, öffnete die äußere Tür. „Der Wartebereich ist dort vorne!“ versuchte er es und Semir sah ihn unsicher an und hätte sich auch von Ben gelöst, aber der ließ ihn einfach nicht los. „Semir bleib bei mir!“ bat er und nun kam schon die Endoskopieschwester heraus, die durch die offenstehende Innentür gehört hatte, dass der angekündigte Patient jetzt wohl da war. Mit einem Blick erfasste sie die Situation: „Da hat wohl jemand große Angst!“ sagte sie freundlich und trat zum Bett, um dem Pfleger beim Rangieren zu helfen. „Bitte-kann mein Freund nicht bei mir bleiben?“ fragte Ben und die Schwester lächelte. „Wenn der behandelnde Arzt nichts dagegen hat-meinetwegen-ich frag´ ihn mal!“ antwortete sie und trat in den Nebenraum, in dem der Gastroenterologe gerade Überschuhe und eine bodenlange Plastikschürze anzog. Nach ein paar Worten kam sie wieder heraus und half, das Bett neben den Untersuchungstisch zu rangieren. „Er hat nichts dagegen-sie können dableiben!“ gab sie Semir Bescheid. Diese Situation kam gar nicht so selten vor und wenn die Patienten ruhiger waren, wenn eine vertraute Person bei ihnen war, dann sollte es ihnen Recht sein. Anders als im OP stellte das auch kein Hygieneproblem dar-eine gastroenterologische Abteilung war kein Sterilbereich.


    Man brachte das Bett auf die gleiche Höhe und zog Ben mithilfe eines Rollbretts mitsamt der Patientenunterlage auf den Tisch. Dort lagerte man ihn auf die rechte Seite. Ben war einfach nur erleichtert, dass Semir bei ihm bleiben durfte. Allerdings wurde ihm nun schon wieder furchtbar schlecht und auch schwindlig. Er packte die mitgebrachte Nierenschale aus Pappe fester und erbrach erneut hellrotes Blut. „Oh-das ist ja eine ganze Menge!“ sagte der Arzt, der inzwischen zu dem Grüppchen getreten war, überrascht. „Haben wir schon einen Hb?“ wollte er wissen und der Pfleger, der jetzt aber dringend zurück in die Notaufnahme musste, sagte: „Blut haben wir vorhin abgenommen und ins Labor geschickt. Die Werte müssten eigentlich schon im PC sein!“ und während die Schwester Ben eine neue Nierenschale gab und ihm den Mund mit einem feuchten Einmaltuch abwischte, verschwand der Pfleger, nicht ohne zuvor die Mappe mit den Unterlagen in der Ecke des Raumes, wo auch der Computer stand, abzulegen. „Alles Gute Herr Jäger!“ wünschte er ihm noch und verschwand dann eilig um die Ecke und stellte das Bett dabei noch vor der Tür ab, damit es ihm Raum nicht engte.


    Der Arzt gab nun sein Passwort ein, holte sich Ben´s aktuelle Patientendaten auf den Bildschirm und musterte die mit gerunzelter Stirn. „Das geht auch nicht erst seit gestern!“ sagte er, denn Ben´s ganzer Elektrolythaushalt war völlig entgleist. Der rote Blutfarbstoff war bei neun, was deutlich unter dem Normwert, aber noch nicht lebensbedrohlich war. Allerdings fehlten eine Menge Elektrolyte und trotz Sarah´s Infusionstherapie war das Blut auch ziemlich eingedickt, weil Ben zu wenig Flüssigkeit in sich hatte. „Seit wann geht das und hatten sie auch Durchfälle?“ wollte er von Ben wissen. Der hatte sich wieder ein wenig beruhigt und im Augenblick war ihm auch nicht mehr schlecht, nur der metallische Geschmack von Blut in seinem Mund war mehr als unangenehm. „Ich habe schon seit fast drei Wochen Magenbeschwerden und kaum Appetit!“ sagte er wahrheitsgemäß. Er hoffte, dass der Arzt den Grund dafür weder erfragte, noch von selber draufkam. „Hatten sie beruflich oder privat viel Stress?“ wollte der Arzt nun wissen und Ben nickte. „Durchfall hatte ich erst seit ungefähr zwei Tagen!“ sagte er ehrlich-„da aber heftig!“ fügte er hinzu und der Arzt nickte. Das-zusammen mit dem Entzündungsherd- erklärte die Werte und während die Schwester nun einen Fingerclip über Ben´s Zeigefinger schob, der die Sauerstoffsättigung und die erhöhte Pulsfrequenz mit Infrarot maß und mit einem leichten Piepen anzeigte und ihm noch ein automatisch alle fünf Minuten aufpumpendes Blutdruckmessgerät um den Oberarm schlang, erklärte er, was er nun machen würde.


    „Hatten sie schon mal eine Magenspiegelung?“ fragte er, aber Ben schüttelte den Kopf. „Dann erkläre ich ihnen kurz den Ablauf: Ich werde ihnen jetzt einen flexiblen Schlauch mit einem innenliegenden Kaltlichtkabel über den Rachen in den Magen vorschieben. Sie helfen mir dabei am besten, wenn sie einfach auf Kommando schlucken. Dabei kann ich mir die Speiseröhre, den Magen und den Zwölffingerdarm ansehen und hoffentlich die Blutungsquelle erkennen. Falls es möglich ist, werde ich die Blutung entweder unterspritzen oder einen Clip daraufsetzen. Wenn das nicht geht, müssen die Chirurgen ran-aber das hoffen wir jetzt mal nicht!“ sagte er und setzte dann eine Schutzbrille auf und zog Handschuhe an. Semir wurde gebeten, hinter Ben zu treten. Er hielt dessen eine Hand ganz fest und hatte auch beruhigend die andere Hand auf dessen Schulter abgelegt. Man schob Ben einen Beißschutz in den Mund und machte ihn am Hinterkopf fest, damit er das wertvolle Gerät nicht beschädigen konnte, indem er drauf biss. Das große Licht wurde gelöscht, die Schwester steckte das Kaltlichtkabel des schwarzen Instruments am Lichtspender ein und startete den Videobildschirm. Durch die kleine Kamera wurden die Bilder von der Endoskopspitze auf einen großen Videobildschirm übertragen und während man noch ein wenig Gleitgel auf die Gerätespitze gab, führte der Arzt das Instrument schon in Ben´s Mundhöhle ein.
    Voller Mitleid sah Semir, der gebannt auf den Bildschirm blickte, dass Ben´s Rachen von der ganzen Spuckerei und der vielen Säure knallrot und wund war. „Jetzt bitte schlucken!“ sagte der Arzt ruhig und Ben bemühte sich, der Aufforderung nachzukommen. Allerdings musste er schrecklich würgen, aber trotzdem konnte man zwei Öffnungen erkennen, die eine, die in die Luftröhre und die andere, die in die Speiseröhre führte. Mit traumwandlerischer Sicherheit navigierte der Gastroenterologe das Gerät um die Kurve und während Ben laut würgte, ihm die Tränen in die Augen schossen und der Schleim aus der Nase lief, war der Arzt mit dem Instrument nun in der Speiseröhre angelangt. Zentimeter um Zentimeter inspizierte er die, während Ben beinahe Semir´s Hand zerquetschte. Der Arzt hätte Ben ja gerne ein Beruhigungsmittel gegeben, aber obwohl die Infusion zügig in ihn tropfte, war sein Kreislauf nicht sonderlich gut und jedes sedierende Medikament senkte zusätzlich noch den Blutdruck und Ben war sowieso an der Grenze zum Schock.
    Auch die ganze Speiseröhre war wund, aber zu seiner Erleichterung bestätigte sich die Befürchtung des Arztes nicht. Manchmal kamen starke Blutungen aus dem oberen Gastrointestinaltrakt nämlich von Krampfadern in der Speiseröhre, den sogenannten Ösophagusvarizen. Allerdings waren die ein Zeichen eines erhöhten Pfortaderdrucks und der kam meistens von einer Leberzirrhose bei chronischem Alkoholkonsum, was eine schlechte Prognose bedeutete. Das war aber bei Ben nicht gegeben und während Semir seinem Freund beruhigend über Schulter und Rücken strich, wischte die Schwester dessen laufende Nase mit Zellstoff ab und kühlte seine Stirn erneut mit einem feuchten Tuch. Endlich war das Instrument im Magen angelangt und der war schon wieder zur Hälfte mit frischem, hellrotem Blut gefüllt, was Semir entsetzt und gebannt registrierte. Der Sauger wurde angesteckt und schlürfend saugte der Arzt das Blut und den Magensaft durch den Spülgang des Geräts, damit er überhaupt etwas sehen konnte. Ben war schon wieder furchtbar übel gewesen, aber die Erleichterung setzte bald ein, als sein Magen sich entleerte. Als man das Blut abgesaugt hatte, konnten die Anwesenden die Ursache der Magenblutung erkennen. Ben´s ganzer Magen war flächig entzündet im Sinne einer Gastritis. Man sah aber mehrere große Krater-das waren Magengeschwüre, wie der Internist den Anwesenden erklärte. Mehrere davon hatten anscheinend größere Blutgefäße angefressen und so zu diesen starken Blutungen geführt. Nach allen Regeln der Kunst stillte der Arzt nun soweit möglich eine Blutungsquelle nach der anderen. Wenn er einen Gefäßstumpf mit der Zange greifen konnte, setzte er durch den Arbeitsgang einen Clip darauf, oder andere Gefäße wieder unterspritzte er mit Suprarenin, einem stark gefäßverengenden Medikament. Die Schwester hatte jetzt heftig zu tun-sie reichte die Instrumente an, die alle an langen Schnüren oder Kabeln saßen oder zog Medikamente auf. Ben merkte, wie in seinem Bauch herumgefuhrwerkt wurde und manchmal tat das sogar ziemlich weh, aber Semir war sein Fels in der Brandung. Dessen beruhigendes Streicheln und die warme tröstende Hand war alles, worauf Ben sich noch konzentrierte. Er hatte die Augen geschlossen und hoffte nur, dass es bald vorbei wäre. Immer wieder musste er würgen, aber nach unendlich scheinender Zeit streckte der Arzt, der inzwischen selber ganz verschwitzt war, seinen schmerzenden Rücken, spülte den Magen ein letztes Mal mit Eiswasser und sagt dann befriedigt: „Also-vorerst steht die Blutung!“ Er schob das Instrument noch ein Stück in den Zwölffingerdarm aber damit war die Reichweite des Geräts erreicht. Auch dort waren einige Geschwüre zu finden, aber die bluteten nicht. Vorsichtig zog der Untersucher das Instrument zurück, das Deckenlicht ging an und man löste die Verschnallung von Ben´s Beißschutz und nahm den aus seinem Mund. „Vorerst haben sie´s geschafft, Herr Jäger. Sie kommen jetzt über Nacht auf die Aufnahmestation, wo wir engmaschig ihren Blutdruck und die Blutwerte kontrollieren werden. Morgen machen wir eine Kontroll-ÖGD und hoffen, dass die Blutung weiterhin steht. Außerdem kriegen sie von uns ein ausgefeiltes Infusionsprogramm und Medikamente intravenös, die die Magensäurebildung hemmen. So hoffen wir, dass das Ganze abheilen kann und sie dann ihre Ruhe haben. Alles Weitere besprechen wir, wenn sie sich ein wenig erholt haben!“ erklärte der Arzt und Ben nickte. Zu mehr war er auch nicht mehr fähig-er war nur noch fix und fertig. Die Schwester holte das Bett herein und gemeinsam zogen sie Ben hinüber und deckten ihn zu. Der Fahrdienst wurde angerufen und brachte Ben wie angekündigt auf die Aufnahmestation. Semir lief mit und Ben flüsterte nur: „Semir-schau bitte, ob du herausfinden kannst, wie´s Sarah geht!“ und der nickte und machte sich auf den Weg.

  • Sarah war inzwischen wie abgesprochen in den OP gebracht worden. Man desinfizierte gründlich unter der Achsel des verletzten Armes und dann stach der Anästhesist in der Einleitung mit einer langen dünnen Nadel genau dorthin. Ehrlich gesagt hatte Sarah sich das schlimmer vorgestellt und als eine kleine Menge Betäubungsmittel eingespritzt worden war, war der ganze Arm nach und nach taub geworden. Man stimulierte mit Klebeelektroden die Nervenbahnen zur Kontrolle noch elektrisch, spritzte ein paarmal nach, aber nach etwa 15 Minuten saß die Plexusanästhesie und sie wurde in den Saal gefahren. Beim Saubermachen der Schusswunde hatte sie noch eine Wehe, aber nachdem die vorbei war, lag sie ganz still auf dem Rücken und ließ den Unfallchirurgen und seine Assistenten machen. Man wickelte, nachdem die Schusswunde schmerzfrei versorgt war, den Arm von unten nach oben straff mit einer Gummibinde, brachte dann eine Art Blutdruckmanschette an, die auf 250mm/Hg aufgepumpt wurde, wickelte dann die Gummibinde wieder ab und hatte so ein nahezu blutleeres Operationsfeld. Nach Desinfektion und Abdecken wurden die Tücher so angebracht, dass sie nichts sehen konnte und während die Operateure ihre Arbeit machten, bekam sie Kopfhörer mit ihren Lieblingssongs ins Ohr gesteckt und ab und an unterhielten sich der Anästhesist und der Gynäkologe freundlich mit ihr. Es wurde gehämmert und geschraubt wie im Heimwerkerkeller, aber nach etwa 30 Minuten war die Fraktur mit ein paar Platten versorgt und sie hatte während der ganzen Zeit keine einzige Wehe gehabt. „Anscheinend wirkt unser gutes Magnesium!“ sagte der Gynäkologe mit einem breiten Lächeln und nun wurde auch Sarah ein wenig lockerer. Man deckte sie nochmals mit einer Bleischürze ab, machte mit dem Bildwandler, einem mobilen Röntgengerät, ein Kontrollbild in jeder Ebene und nachdem das gut aussah, wurde die Blutleere aufgemacht, eine Drainage eingelegt und der Wundverschluss durchgeführt. Man klebte sterile Kleber darüber. Eine stabilisierende Schiene kam über die elastische Binde und nun war in weniger als einer Stunde die OP fertig.
    Sarah´s Arm war immer noch taub und fühlte sich an, als würde er ihr nicht gehören und das würde auch noch mehrere Stunden so bleiben. Der Vorteil war aber auch, dass sie darin keine Schmerzen hatte und so nahm sie das gerne in Kauf. Für eine halbe Stunde kam sie noch in den Aufwachraum und als man sie dann aus dem auf die Frauenstation fuhr, löste sich aus dem Schatten vor dem Aufwachraum Semir, der dort auf sie gewartet hatte.


    Sarah hatte schon gefragt, ob ihr jemand sagen konnte, was mit Ben war, aber man hatte sie vertröstet, dass man das später herausfinden würde, wenn sie wieder auf Normalstation war. Sarah hoffte nun, dass es ihm gut ging und man nicht herausgefunden hatte, warum sein Wasser- und Elektrolythaushalt dermaßen entgleist waren. Als nun Semir auf sie zu trat und besorgt fragte: „Sarah wie fühlst du dich? Ich warte schon eine ganze Weile auf dich, denn Ben will unbedingt wissen, wie´s dir geht!“ fiel ihr fast ein Stein vom Herzen. Wenn Ben sprechen konnte und sich Sorgen um sie machte, war er anscheinend nicht so schlimm krank. „Die haben meinen Handgelenksbruch in einer Leitungsanästhesie versorgt, so habe ich keine Narkose gebraucht. Die Wehen werden seltener und jetzt hoffe ich, dass das Baby doch noch ein wenig drinbleibt!“ sagte Sarah zufrieden. Semir überlegte, ob er ihr von Ben´s Magenblutung erzählen sollte, aber da beschloss er, dass Aufregung für Mutter und Kind wohl nicht so toll wären. Außerdem konnte er selber die Augen kaum mehr offen halten-immerhin hatte er höchstens drei Stunden geschlafen und die Nacht zuvor auch kaum mehr. Kurz entschlossen sagte er: „Sarah-Ben liegt auf der Aufnahmestation. Ich gehe jetzt noch kurz zu ihm und sage ihm, dass du die Operation gut überstanden hast und dann gehe ich nach Hause und lege mich noch für ein paar Stunden hin!“ und Sarah nickte. „Richte Ben aus, dass ich ihn liebe und jetzt schlafen wir alle erst mal ein Ründchen, ich glaube, das haben wir bitter nötig!“ sagte sie und nun war der Pfleger vom Fahrdienst mit ihr an der Station angekommen. Semir hatte mit geholfen, das Bett zu schieben, aber jetzt verabschiedete er sich mit einem festen Händedruck von Sarah und ging noch kurz zu Ben.


    Der lag monitorüberwacht, aber sonst ganz friedlich in seinem Bett und hatte sich vor Sorge um Sarah bisher nicht zu schlafen getraut. „Semir-wie geht´s ihr-und bin ich schon Papa?“ sprudelte er hervor, aber Semir schüttelte lächelnd den Kopf. „Ben ich soll dir schöne Grüße ausrichten, Sarah wurde an der Hand bereits operiert, das ging irgendwie ohne Narkose und die Wehen haben sich beruhigt. Sie ist trotzdem auf der Entbindungsstation, aber es geht ihr gut. Jetzt schlaf erst mal ne Runde-ich fahre jetzt auch nach Hause und gönne mir noch ne Mütze voll Schlaf, denn ich befürchte, die Krüger wird in ein paar Stunden unangenehme Fragen an mich haben. Ich glaube aber, das wird alles ein gutes Ende nehmen, das habe ich im Gefühl!“ sagte er mit einem breiten Grinsen und drückte Ben zum Abschied die Hand. Der nickte müde und als Semir auf leisen Sohlen das Zimmer verließ, war er auch schon eingeschlafen.Als Semir vors Krankenhaus trat, ging bereits vor Kölns prächtiger Silhouette die Sonne auf und die Luft war rein und frisch. Aufseufzend ging er zum Taxistand und nannte seine Heimatadresse, wo er wenig später ankam.

  • In der Schönheitsklinik am Bodensee wurde gespart. Obwohl es eigentlich deutschlandweit üblich war, dass im OP der Anästhesist eine Narkosefachkraft zur Seite hatte, die sich zusammen mit dem Arzt um alle Dinge rund um die Narkose kümmerte, war das in dieser Privatklinik-wie übrigens in vielen Privatkliniken-anders. Der Anästhesist stellte ja für die Narkose eine eigene Rechnung und wenn er da eine Helferin haben wollte, dann musste er sie aus diesem Säckel selbst bezahlen-anders als in normalen Kliniken, wo die Anästhesieschwestern/pfleger vom Haus angestellt waren und meist eine Fachweiterbildung hatten. So hatte, wie so viele andere, zwecks Gewinnoptimierung auch dieser Narkosefacharzt beschlossen, dass er so eine Hilfe nicht brauchte. Er checkte seine Geräte selber, zog sich alleine die Medikamente auf und richtete zum Intubieren her. Nur bei der Intubation selbst half kurz der Springer, dessen Aufgabe das aber eigentlich nicht war. Der wurde dafür aber extra entlohnt.


    Als Redka nun vom Propofol einschlief, hatte sein Anästhesist alles gut vorbereitet und sah dieser Routineaufgabe auch völlig relaxed entgegen-immerhin hatte er diesen Patienten erst in der vergangenen Woche problemlos intubiert. Redka bekam noch das Fentanyl gespritzt und nun überstreckte der Anästhesist den Kopf und begann das Laryngoskop einzuführen. Kaum berührte er das Gaumensegel begann Redka zu würgen und plötzlich waren da Unmengen von angedauten Speiseresten. Redkas Spontanatmung war teilweise noch erhalten und bevor der Narkosearzt zum Sauger greifen konnte, hatte Herbert eine Riesenladung Erbrochenes eingeatmet. Verzweifelt versuchte der Narkosearzt zu saugen, aber die Brocken waren zu groß, als das man sie so hätte herausholen können. Die Luftröhre war wie zubetoniert und innerhalb kürzester Zeit wurde der Patient kitzeblau, weil überhaupt keine Luft mehr in ihn ging. Der plastische Chirurg hatte einen engen Zeitplan und hatte vor Beginn der Operation noch ein Patientengespräch geführt. Es war also üblich, dass der erst in den OP kam, wenn der Patient schon auflag und die Desinfektionsmaßnahmen beendet waren-erst dann rief man ihn an. So war der Narkosearzt nun also der einzige Arzt im OP. Die instrumentierende Schwester und der Springer hatten zwar vor vielen Jahren mal eine konventionelle Ausbildung in der Krankenpflege gemacht, arbeiteten nun aber schon viele Jahre außerhalb der Notfallmedizin. In so einer Privatklinik hatte man angenehme Arbeitszeiten, keine Wochenend-und Nachtdienste, da konnte man alt werden im Job.


    „Schnell, ich brauche nen größeren Sauger!“ befahl der Narkosearzt, aber weil er die Sachen ja immer selber vorbereitete, wusste der Springer erst nicht, wo er suchen sollte und so dauerte und dauerte das. Der Narkosearzt hatte derweil den Intubationsversuch abgebrochen, schmiss das Laryngoskop zur Seite, griff zur Maske und versuchte nun mit Maske und Ambubeutel mechanisch Luft und Sauerstoff in seinen Patienten zu pumpen, aber weil die Luftröhre total verlegt war, funktionierte das einfach nicht. Inzwischen war Redka nicht mehr blau, sondern fast schwarz im Gesicht und begann bradykard zu werden. Nun erst begann auch die instrumentierende, steril gewaschene Schwester zu begreifen, dass hier ein echter Notfall vorlag. Bisher hatte sie immer noch peinlich darauf geachtet, sich ja nicht unsteril zu machen. Endlich reagierte auch sie und griff zum Telefon: „Herr Professor-schnell, wir brauchen im OP ihre Hilfe, der Patient erstickt!“ schrie sie in den Hörer und der plastische Chirurg meinte seinen Ohren nicht zu trauen-sowas durfte in seiner Klinik doch einfach nicht vorkommen! Zusammen mit seinem Assistenten, der ebenfalls plastischer Chirurg werden wollte und nun zum Lernen beim Professor war, hetzte er in den OP-Bereich. Ohne sich umzukleiden stürzten die beiden Ärzte in den Saal und fanden dort drei völlig verzweifelte Personen vor, die irgendwie versuchten, Luft in den tiefblauen Patienten zu pumpen, der inzwischen nur noch eine Herzfrequenz von 20 hatte und eine nicht mehr messbare Sauerstoffsättigung.
    „Was ist passiert?“ wollte der Professor wissen. „Der Patient war nicht nüchtern und hat aspiriert, ich kriege ihn nicht intubiert!“ schrie der Narkosearzt hektisch. Während der eine Arzt nun begann Redka´s Herz zu massieren, weil der inzwischen am EKG eine Nulllinie hatte, gelang es nun dem Professor und dem Narkosearzt gemeinsam mit einer Magillzange-einer Spezialzange mit der man Fremdkörper aus dem Rachenraum holen konnte- den oberen Atemweg soweit frei zu bekommen, dass man unter Sicht den Tubus einführen konnte. Nun beatmete man Redka mit reinem Sauerstoff und als der Chirurg aufhörte zu reanimieren, sah man, dass er wieder einen Herzschlag hatte. Sehr sehr langsam begann sich der Pulsschlag wieder zu normalisieren, aber als der Narkosearzt mit zitternden Fingern den Tubus verklebte, sagte er verzweifelt: „Das hat viel zu lange gedauert!“
    Er holte aus seiner Schublade eine Taschenlampe und leuchtete in Redka´s Augen. Die Pupillen waren weit und lichtstarr. Der Professor schluckte, als er es sah-eines war klar-dieser Patient war auf jeden Fall aus Sauerstoffmangel schwer hirngeschädigt. Gut, was noch kommen würde, das konnte man nicht vorhersagen, das hing auch mit von der weiteren Versorgung ab, aber auf jeden Fall würde er das nicht folgenlos überstehen. Fassungslos musterten die Anwesenden auch den Schmodder, den man abgesaugt und rausgeholt hatte. Deutlich konnte man die Reste von Hamburgern oder Ähnlichem erkennen. „Mein Gott-der muss sich vor weniger als zwei Stunden noch den Bauch mit Fast Food vollgeschlagen haben, dabei habe ich in meinem Narkoseaufklärungsgespräch eindeutig darauf hingewiesen, dass er zuletzt am Vorabend etwas Leichtes essen solle, trinken durfte er ja bis vier Stunden vor der OP!“ sagte der Narkosearzt kopfschüttelnd.


    Schweren Herzens rief man nun die Leitstelle an. „Wir brauchen in der Bodenseeklinik einen Hubschrauber. Wir hatten einen Narkosezwischenfall und der Patient ist reanimiert worden, momentan hat er einen Kreislauf, aber er muss so schnell wie möglich in ein Zentrum!“ erklärte der Narkosearzt dem Koordinator in der Leitstelle und der versprach, sofort einen Flieger loszuschicken. Wenig später übernahm der Hubschraubernotarzt den Patienten. Auch er sah kopfschüttelnd auf die Speisereste, die man extra noch hatte liegen lassen, dass der auch die Ursache für die Asphyxie erkennen konnte. „Mein Gott wie unvernünftig manche Leute sind!“ stellte auch er fest. „Nun wird er das vielleicht mit dem Leben bezahlen!“ und dann machten sie den Patienten soweit transportfähig. Der Notarzt legte noch einen arteriellen Zugang, damit er Redka während des Flugs überwachen konnte. Auch ein RTW war zugefordert worden, der ein wenig später kam, aber man musste den intubierten Patienten ja erst mal irgendwie zum Hubbi befördern und so nahm die Notfallroutine ihren Lauf. Eine halbe Stunde später war Redka im nächsten Großklinikum auf der Intensivstation, aber er hatte unterwegs bereits begonnen Krämpfe zu bekommen-ein schlechtes Zeichen. Der Professor versuchte nun, während sich das OP-Team auf den nächsten Eingriff vorbereitete und die Räumlichkeiten sorgsam desinfiziert wurden, Angehörige zu verständigen. Redka hatte aber nur eine Handynummer hinterlassen und einen zugehörigen Namen: Rudolf Heimer. Als niemand hinging, auch keine Mailbox, zuckte der Arzt mit den Schultern-er würde es später noch einmal versuchen und vielleicht konnte seine Bürokraft über den Namen noch eine andere Nummer herausfinden.


    In der KTU läutete derweil in dem Päckchen, in dem Heimer´s Sachen für die Spurensicherung bereit lagen, das Handy, aber keiner ging ran. In Hartmuts Abwesenheit waren seine Kollegen schwer überfordert und versuchten nur irgendwie den Betrieb aufrecht zu erhalten-denn der hatte sonst alle Fäden in der Hand und koordinierte die Arbeitsaufteilung, aber stattdessen war der gerade gemeinsam mit Jenni in einem Taxi auf dem Heimweg vom Krankenhaus. „Jenni-ich finde das so toll von dir, dass du mich zuhause unterstützt!“ sagte er liebevoll und die junge Frau, in deren Bauch es ordentlich kribbelte, nickte mit strahlenden Augen und musste sich eingestehen-sie war verliebt!

  • Semir war völlig erschöpft ins Bett gefallen. Er hatte noch kurz überlegt, aber dann in der PASt angerufen, dass er heute später kommen würde. Er würde und konnte sich jetzt einfach keinen Wecker stellen! Vor dem Haus hatten zwei uniformierte Kollegen Wache geschoben. „Hallo Semir!“ begrüßte ihn der eine, der schon gelegentlich mit ihm zu tun gehabt hatte. „Es gab keine besonderen Vorkommnisse. Niemand hat sich dem Gebäude genähert, seitdem du weg warst!“ berichtete er und Semir dankte ihm herzlich. „Ich bin jetzt daheim und nachher gehen meine Frau und die Kinder sowieso aus dem Haus. Ich denke, ihr könnt den Einsatz abbrechen, denn wenn wir den Verbrecher nicht schnappen, müssen die eh in eine Schutzwohnung!“ teilte er seinen Kollegen mit, die sich herzlich verabschiedeten und dann in ihr Revier fuhren. Semir schlüpfte neben Andrea ins Bett, die sich schlaftrunken umdrehte. „Wie geht es Sarah und Ben?“ wollte sie im Flüsterton wissen, denn Semir hatte sie aus dem Krankenhaus schnell angerufen und über die Neuigkeiten informiert-auch dass sie bewacht wurden- und Semir sagte: „Soweit gut-bringst du die Kinder dann nachher weg und gehst zur Arbeit? Bis mittags stehe ich auf und dann überlegen wir gemeinsam mit der Krüger, wie hoch die Gefahr für euch einzuschätzen ist und was wir weiter unternehmen!“ Andrea nickte und stand wenig später auf, denn wenn sie nun nochmals einschlief, würde sie in einer Stunde nicht mehr aus dem Bett kommen.


    Als sie ein bisschen später ein ankommendes Auto und Geräusche aus der Garage hörte, sah sie hinunter und bemerkte, dass ihr Vermieter sehr blass, aber ohne Hund die Haustür aufsperrte. Sie eilte die Innentreppe hinunter. „Wie geht es Fido?“ fragte sie und war schon auf das Schlimmste gefasst, aber ihr Vermieter lächelte sie an: „Ihm geht es Gott sei Dank gut! Er wurde in der Klinik sofort operiert, die haben die Kugel entfernt und meinen, er wird wieder völlig gesund werden!“ sagte er erleichtert. „Ich habe so lange gewartet, bis die Operation zu Ende und er wieder richtig wach war. Morgen können wir ihn vermutlich schon nach Hause holen, allerdings muss er sicher noch einige Wochen einen Verband tragen und geschont werden-ich bin nur glücklich, dass uns dieser wundervolle Hund erhalten bleibt!“ sagte der Mann. Andrea war ebenfalls erleichtert und konnte fast die Tränen nicht zurückhalten. „Alles Gute!“ sagte sie herzlich und ging dann wieder nach oben um die Kinder zu wecken.


    Als die Krüger ins Büro kam, sah sie erst einmal interessiert die Polizeieinsätze der vergangenen Nacht in Köln durch, die sie durch eine Art Ticker aus der Zentrale gemeldet kriegte. Dann stutzte sie. Das war doch Gerkhans Adresse! Sie scrollte zurück und klickte die Info an. Schießerei mit mehreren Verletzten war da zu lesen. Gleich bei der Meldung zuvor war ein Einbruch mit Schusswaffengebrauch, aber ohne verletzte Personen vermeldet. Ach du liebe Güte-und das war Gerkhans aktuelle Adresse! Was war da los und warum hatte ihr niemand Bescheid gesagt, wenn einer ihrer Männer in ein Verbrechen verwickelt war! Sie versuchte Semir zu erreichen, aber der hatte sein Handy auf lautlos und das Festnetztelefon auf dem sie als Nächstes anrief, war zwar im Flur vor dem Schlafzimmer, aber Semir hörte es vor Erschöpfung einfach nicht. Andrea hatte den Rolladen geschlossen und so schlief er einfach und lud seine Batterien wieder auf.
    Gerade wollte die Krüger aufspringen und zu ihrem Hauptkommissar nach Hause fahren und nach dem Rechten sehen, da bog Susanne um die Ecke, die ebenfalls vor 10 Minuten ihren Dienst angetreten und die Nachrichten von der Nachtschicht übergeben bekommen hatte. „Semir hat vor zwei Stunden angerufen-er kommt heute später-Gründe hat er keine genannt!“ richtete sie die Info der Nachtdienstkollegin aus. Die Krüger atmete auf-immerhin war er wohl am Leben, aber das würde sie herausfinden, was da heute Nacht losgewesen war! Nach kurzer Überlegung rief sie in der zuständigen Polizeidienststelle an und fragte, was denn in der Nacht vorgefallen war. Einer der Beamten, der beim Einsatz dabei gewesen war, war zufällig noch anwesend und der berichtete ihr kurz von den nächtlichen Vorfällen. „Wir wurden über die Leitstelle kurz nach Mitternacht zu einem Einbruch beordert. Als wir ankamen, war dort ein verletzter Hund, aber der Einbrecher der ihn angeschossen hatte, war schon über alle Berge. Es gab aber keine Personenschäden und entwendet wurde auch nichts. Frau Gerkhan, die Frau unseres Kollegen war auch anwesend und hat uns berichtet, dass ihr Mann versucht, den Einbrecher zu verfolgen. Wenig später kam dann über die Leitstelle ein zweiter Einsatzbefehl ganz in der Nähe, ein Notarzt hatte eine Schussverletzung gemeldet und als die Kollegen dort eintrafen, war da Semir Gerkhan und die Verletzte war die Lebensgefährtin vom Kollegen Jäger. Er und seine Freundin wurden ins Krankenhaus gebracht, die Schussverletzung hatte die Frau, aber Jäger hat vor Ort Blut erbrochen und wurde deshalb auch mitgenommen!“ erzählte der Polizist und verabschiedete sich nun in den wohlverdienten Feierabend. „Ach nur schnell-in welches Krankenhaus wurden die Verletzten gebracht?“ wollte Frau Krüger wissen und als der Kollege antwortete: „In die Uniklinik!“ nickte sie und beschloss, dort erst einmal selber nach dem Rechten zu sehen.„Bonrath-sie halten die Stellung! Nachdem unsere Personaldecke nun ziemlich ausgedünnt ist, darf einfach nichts mehr passieren. Ich fahre zur Uniklinik und schaue, wie es Jäger und seiner Freundin geht!“ informierte sie ihn und Dieter nickte. Zusammen mit Susanne hielt er die Stellung und disponierte die freien Kollegen.


    Kim Krüger kam in der Klinik an und fragte, wo Ben lag. Man schickte sie auf die gastroenterologische Station. Mann-da hatten Jägers Magenbeschwerden ja wohl einen ernsteren Hintergrund gehabt. Sie hatte erst gedacht, er würde das simulieren und in Wirklichkeit gäbe es einen völlig anderen Grund für seinen Krankheitsausfall, wobei sie sich ehrlich gesagt auch nicht hatte vorstellen können welchen, aber Fakt war, dass Jäger schon seit einigen Tagen-nein sogar Wochen-schlecht aussah und auch abgenommen hatte. Als sie an der Zimmertüre klopfte, ertönte ein schwaches: „Herein“.
    Ben lag alleine in dem Zweibettzimmer. Er war sehr blass und über ihm hingen zwei Infusionsflaschen. „Wie geht’s ihnen denn?“ fragte Kim Krüger mitleidig und trat an sein Bett. Erst eine halbe Stunde vorher war Ben von der Aufnahmestation, wohin die Patienten nachts kamen und die auch ein begrenztes Monitoring hatte, auf ein normales Zimmer verlegt worden. Sein Kreislauf war halbwegs stabil, man hatte vor der Verlegung nochmals Blut abgenommen und der Hb-Wert war nicht weiter gefallen-ein Zeichen, dass die Blutung stand. Nun würde man seinen Wasser-und Elektrolythaushalt auffüllen, er blieb streng nüchtern, durfte also wirklich nur den Mund ausspülen und am nächsten Tag würde man eine Kontroll-ÖGD machen. Das alles hatte man ihm vor der Verlegung mitgeteilt und er war so müde und fertig, dass er dazu nur mit dem Kopf genickt hatte. Nun antwortete er auf die Frage der Chefin. „Na ehrlich gesagt geht´s mir nicht so gut-aber am meisten mache ich mir Sorgen um meine Lebensgefährtin. Die wurde gestern angeschossen, hat sich das Handgelenk gebrochen und Wehen hatte sie auch. Ich kann aber noch nicht aufstehen, ich habe es schon mehrfach versucht, aber es geht einfach nicht, dabei will ich doch nur zu ihr!“ sagte er völlig mutlos. „Und warum sind sie hier?“ wollte die Chefin nun wissen. „Ich habe Magengeschwüre und hatte auch Brechdurchfall seit ich nicht mehr im Dienst bin. Jetzt hatte ich heute Nacht eine Magenblutung und die wurde bei einer Spiegelung gestillt, ich fühle mich aber immer noch sehr schwach!“ berichtete er verzweifelt. „Wo liegt denn ihre Freundin?“ fragte Kim Krüger mitleidig. „Angeblich auf der Entbindungsstation, aber ich habe sie nicht mehr gesehen, seitdem ich hier im Krankenhaus bin-nur Semir hat mir das ausgerichtet!“ erklärte er mutlos und die Krüger nickte. „Ich werde mal sehen was ich rausfinden kann!“ sagte sie freundlich und fragte sich dann zur Entbindungsstation durch.


    Sarah, die die Chefin ja auch kannte, lag mit einer Mutter, die ihr Baby schon bekommen hatte in einem Zweibettzimmer. „Sarah, wie geht´s ihnen denn?“ fragte die Chefin herzlich und konstatierte erleichtert, dass sie noch einen dicken Bauch hatte. Also war das Kind noch nicht geboren-es war doch noch eine Weile vor dem Termin, das wusste sie, denn da hatte Jäger flexiblen Urlaub beantragt. Auch bei Sarah hing eine Infusion, der eine Arm war dick verbunden und ruhte in einer Schiene. Als Sarah sah, wer sie da besuchte, versuchte sie zu lächeln. Oh nein-hoffentlich flogen sie jetzt nicht auf-bis jetzt hatten sie Ben´s Entzug doch so gut geheim halten können. „Ich war schon bei ihrem Partner-er macht sich große Sorgen um sie, kann aber noch nicht aufstehen!“ sagte sie. Sarah nickte. „Ja er hatte ziemlichen Brechdurchfall und war recht mies beieinander, darum sind wir ja auch beide hier gelandet!“ sagte sie harmlos. Die Chefin fragte nun: „Sie wurden ja angeblich in Semir´s Haus angeschossen-was zum Teufel haben sie denn da gemacht?“ fragte sie und Sarah antwortete verzagt. „In unserer Wohnung waren Holzkäfer und deshalb musste der Kammerjäger kommen. Bis das gelüftet ist, mussten wir ausziehen und mit Brechdurchfall wollte Ben auch nicht in ein Hotel. Deshalb hat uns Semir die kleine Einliegerwohnung im Keller seines Hauses angeboten-die ist bewohnbar und war für ein paar Tage die beste Lösung. Vergangene Nacht kam allerdings ein Einbrecher und hat auf uns geschossen!“ erzählte sie und hoffte innerlich, dass ihr die geschönte Geschichte abgekauft wurde. „Haben sie den Mann erkannt?“ fragte die Chefin, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn noch nie zuvor in meinem Leben gesehen!“ versicherte sie wahrheitsgemäß. Die Chefin zeigte ihr auf ihrem Smartphone ein Foto von Redka, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Eine Ähnlichkeit besteht, aber mehr auch nicht!“ erklärte sie.
    Nun kam die Schwester herein und stöpselte Sarah´s Infusion ab. „Sie haben gelockerte Bettruhe, dürfen also schon kurz aufstehen, sollen sich aber noch viel ausruhen. Das letzte CTG war nicht auffällig und wir hoffen jetzt, dass das auch so bleibt. Sollte der Bauch hart werden oder sie Kreuzschmerzen kriegen, dann melden sie sich bitte!“ sagte sie und nun hatte Sarah gleich eine Bitte: „Ich möchte unbedingt zu meinem Verlobten!“ sagte sie und die Krüger sah sie überrascht an-von einer Verlobung hatte sie ja noch gar nichts gehört! „Zum Laufen ist das zu weit, aber wenn ihr Besuch sie im Rollstuhl fährt, können wir das durchaus verantworten!“ erlaubte die Schwester das mit einem breiten Lächeln und so kam es, dass beim nächsten Türöffnen Ben plötzlich seine Sarah vor sich hatte, sie daraufhin fest in die Arme schloss und ihr Liebesschwüre ins Ohr flüsterte. Frau Krüger ging sogar kurz aus dem Zimmer, um das Paar nicht zu stören. Zehn Minuten später allerdings fuhr sie die zufriedene Sarah, die immer noch nichts von der Magenblutung wusste, dann aber zurück in ihr Zimmer und machte sich auf den Rückweg zur PASt-einer musste hier wenigstens arbeiten.

  • Hartmut und Jenni hatten sich gerade bei ihm zu Hause eingerichtet und lagen nun ganz zufrieden nebeneinander auf dem Sofa und unterhielten sich, da läutete schon zum ersten Mal das Telefon. Einer von Hartmut´s Kollegen suchte verzweifelt etwas, konnte es aber nicht finden. Detailliert beschrieb Hartmut, wo das Ding zu finden war und tatsächlich später kam die Rückmeldung: Gefunden! Innerhalb der nächsten drei Stunden kam ein Anruf nach dem anderen-man suchte Vorgänge auf dem Computer, Werkzeuge, es war ein Wunder, dass das Personal nicht verloren ging. „Hartmut, wie machst du das nur?“ fragte Jenni sprachlos. „Die verlieren oder verlegen ja noch ihren eigenen Kopf, wenn da keiner aufpasst!“ Hartmut sah betreten zu Boden. „Na weisst du-irgendwie sind wir schon eine Truppe von Freaks. Jeder hat seine Spezialität und da sind die alle auch wirklich gut, nur so mit dem organisieren und ordnen-das haut manchmal einfach nicht hin und so klappt das halt am besten, wenn einer die Fäden in der Hand hält-und das bin eben ich. Wenn ich normalerweise in Urlaub gehe, dann bereite ich das langfristig vor, dann weiss auch jeder was er in meiner Abwesenheit zu tun hat und dann kommen diese Anrufe auch eher selten, aber ich bin ja nun schon zwei Tage ohne Vorbereitung weg-da kollabieren die fast.
    Übrigens-wie geht´s dir? Mir geht´s echt gut, die Schmerztabletten wirken und langsam habe ich mich auch ans Krückenlaufen gewöhnt!“ teilte er ihr mit. Jenni zuckte mit den Schultern-dann allerdings verzog sie ein wenig das Gesicht-das war definitiv die verkehrte Bewegung, aber dann beteuerte sie: „Bei mir ist es auch nicht mehr schlimm, ich kann halt mit dem Arm nichts machen, aber sonst geht es!“ erklärte sie und so sagte Hartmut nach einem Blick auf die Uhr. „Es ist jetzt eigentlich Mittagessenszeit und ich hätte auch Hunger. Was wäre, wenn ich mal Semir anrufe-vielleicht könnte der uns, wenn er nicht gerade weit weg nen Einsatz hat, abholen und in die KTU fahren? Dann könnte ich da nach dem Rechten sehen, wir nehmen uns unterwegs irgendwo was zu futtern mit und ich bereite die Sachen dort so vor, dass meine Mitarbeiter auch mal ein paar Tage ohne mich zurechtkommen!“ schlug er vor und Jenni stimmte nach kurzer Überlegung zu.


    So kam es, dass kurz nach eins-Semir war gerade mit einer Tasse Kaffee in der Hand vom Mittagessenstisch aufgestanden-sein Telefon klingelte. „Hartmut-geht in Ordnung, ich nehme euch auf dem Weg mit-ich fahre auch jetzt erst zur Arbeit, warum erzähle ich euch unterwegs!“ sagte er und wandte sich dann wieder Andrea zu: „Also dann ist das abgemacht: Du fährst jetzt dann mit den Kindern zu deiner Freundin und bleibst dort so lange, bis ich Feierabend habe. Dann kann ich abends wieder auf euch aufpassen. Ich hatte ganz vergessen, dass ja ab morgen Ferien sind, das heißt, zumindest vorrübergehend könntest du mit den Kindern dann auch zu deinen Eltern, bis ich herausgefunden habe, wer da eingebrochen ist und warum, denn dass das eindeutig mir gegolten hat, ist ja klar-ich weiss nur nicht, wer gerade so eine Wut auf mich hat, dass er mich erledigen möchte-na ja sagen wir mal so-eine Ahnung habe ich schon, aber das müssen wir erst ermitteln und den Kerl festsetzen!“ erklärte er ihr und Andrea sah traurig zum Fenster hinaus. Hörte das denn nie auf? Ständig gerieten Semir, aber auch die Kinder und sie wegen seines Berufs in Gefahr. War es das wirklich wert?
    Aber dann schob sie die trüben Gedanken zur Seite und berichtete Semir, dass Fido wohl überleben würde und morgen schon nach Hause käme. „Der kriegt eine Riesenwurst von mir und ich denke, an den Tierarztkosten sollten wir uns auch beteiligen-immerhin hat der Einbruch ja vermutlich mir gegolten, das weiss unser Vermieter nur nicht!“ überlegte Semir laut. Andrea nickte-ob der allerdings so begeistert wäre, wenn er das erführe, wagte sie zu bezweifeln!


    So kam es, dass wenig später Semir, dem vor dem Gespräch mit der Chefin schon Angst und Bange war, mit Hartmut und Jenni im Schlepptau, die inzwischen auch auf dem Laufenden waren, erst zur KTU fuhr, wo er sie mit ihren Pizzakartons raus ließ und dann weiter in die PASt tigerte. Immer langsamer wurden seine Schritte, je näher er dem Büro der Chefin kam, die gerade telefonierte. Er setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl und wollte gerade ansetzen zu sprechen, da stand die auf und griff nach ihrer Jacke: „Gerkhan auf zum Hafen-Heimer´s Porsche wurde gefunden-und dabei einige aufschlussreiche andere Dinge!“ erklärte sie ihm. „Und außerdem weiss ich Bescheid was heute Nacht los war und habe Jäger und seine Verlobte schon im Krankenhaus besucht, wobei sie das Wort „Verlobte“ besonders betonte. „Geht es den beiden gut?“ fragte Semir und erwartete fast seine Suspendierung, aber die Chefin lächelte. „Na ja gut ist was anderes, aber ich denke, die werden beide wieder auf die Füße kommen!“ erklärte sie und Semir atmete innerlich auf, auch als er erfuhr, dass Ben auf Normalstation lag und Sarah ihn schon besucht hatte, das klang doch gut und vielleicht würde die Geschichte doch noch ein gutes Ende nehmen.


    Am Hafen angekommen wurden sie schon von einem Hundeführer mit Drogenspürhund und einigen Männern von der Spusi erwartet. Das Garagentor war fachgerecht aufgemacht und der Hundeführer erklärte, wie es zu diesem Zufallsfund kommen konnte. „Nach dem mein Hund schwere Arbeit in den Lagerhäusern geleistet hatte, wollte ich ihm ein wenig Erholung gönnen und bin mit ihm an diesen Garagen vorbei in Richtung zu dem kleinen Wiesenstück da vorne gegangen, wo ich ihn laufen und wälzen lassen wollte, um ihm die Arbeitsfreude zu erhalten und ihm eine Pause zu gönnen. Als wir hier vorbeigelaufen sind, wurde er plötzlich ganz aufgeregt, hat den Boden beschnuppert und einen Drogenfund am Garagentor angezeigt. Ich habe meine Kollegen gerufen, die haben versucht den Besitzer rauszufinden, der aber nicht gesagt hat, an wen er die Garage vermietet hat und in Absprache mit der Staatsanwaltschaft durften wir sie öffnen. Dort drinnen steht ein schwarzer Porsche und da ist uns gleich die Fahndung eingefallen und wir haben sie verständigt. Neben dem Fahrzeug liegen schwarze Klamotten auf dem Boden und der Hund will auch ins Fahrzeug, was bedeutet, dass dort ebenfalls Drogenspuren sind!“ erklärte er. Semir besah sich die am Boden liegende Kleidung. Genauso hatte Sarah ihm die Kleidung des Attentäters beschrieben-sollten sie hier die Verbindung entdeckt haben? „Wir müssen versuchen an der Kleidung DNA-Spuren zu finden, vielleicht können wir die zuordnen!“ sagte Semir.


    Die Chefin, die seine Gedanken erraten hatte, sagte: „Ich habe Sarah schon ein Bild von Redka gezeigt, aber sie konnte nur eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Einbrecher feststellen-vielleicht gehören doch noch mehr Leute zu dieser Bande!“ vermutete sie und Semir nickte mutlos. Wenn das so war, würde es sehr schwer sein, ihr Lügenmärchen aufrecht zu erhalten, je mehr Leute von Ben´s Drogensucht wussten, desto erpressbarer waren sie. Er sah sich schon in einer Privatdetektei untreue Ehemänner beschatten und beinahe verzweifelt wurde ihm bewusst, wie sehr er seinen Beruf doch liebte.
    In diesem Augenblick allerdings läutete sein Telefon und Hartmut war dran: „Semir, du glaubst nicht, was ich rausgefunden habe! Kannst du gleich in die KTU kommen!“ sagte er aufgeregt und Semir sagte nach kurzer Rücksprache mit der Chefin zu. Der Porsche würde ebenfalls dorthin zur Untersuchung gebracht werden und nun war Semir, der aufs Gas drückte, gespannt, was Hartmut für sie für eine Überraschung hatte.

  • Kaum kamen sie an der KTU an und gingen zu Hartmut´s Computerarbeitsplatz, da sahen sie ihn schon dasitzen. Das verletzte Bein hatte er auf einen zweiten Stuhl gelegt und mit Jagdfieber im Gesicht wies er auf ein Handy und andere Dinge, die vor ihm lagen. „Als ich die Sachen Heimer´s in der Tüte angeschaut habe, die der bei seinem Tod dabei hatte, habe ich plötzlich gesehen, dass das Handy noch an war und obwohl der Akku schon schwach ist, stellte ich fest, dass heute schon mehrmals immer dieselbe Festnetznummer versucht hat, ihn zu erreichen. Jetzt habe ich mal recherchiert, wer da ständig anruft-das ist ne Schönheitsklinik am Bodensee. Nun fuhr ein Ruck durch Semir. Moment mal, Schönheitsklinik, da war doch was? Genau-nun fiel ihm wieder ein, dass er bei der Durchsicht von Redka´s Sachen von der einen Prospekt gesehen hatte, neben noch einigen anderen deutschlandweit. Ein unglaublicher Gedanke bemächtigte sich seiner: Was wäre, wenn Redka dort sein Aussehen soweit verändert hatte, dass man ihn nicht mehr auf Anhieb erkennen konnte? Hatte Sarah nicht gesagt, dass eine Ähnlichkeit zwischen dem Foto des blonden Redka und dem dunkelhaarigen Einbrecher bestanden habe? Vielleicht hatte der sich tatsächlich so umoperieren lassen, dass er nicht mehr zu erkennen war? Allerdings war der doch dann in Köln-oder etwa schon nicht mehr? Wenn er nun allerdings noch in der Nacht dorthin zurück geflüchtet wäre, warum zum Teufel rief dann ständig jemand auf Heimer´s Handy an? Redka wusste doch dann, dass Heimer tot war?


    Gerade als Semir blitzschnell hin-und her-überlegte, läutete das Handy. Alle Anwesenden, die gespannt auf das kleine Teil geblickt hatten, zuckten zusammen, die Chefin reagierte aber schnell und sagte zu Semir: „Gehen sie ran!“ Der nickte und drückte auf „Gespräch annehmen“ aber in diesem Augenblick verabschiedete sich der Handyakku völlig und so war ein Gesprächsaufbau nicht möglich. Hartmut hatte ja die Nummer notiert, so konnte man jederzeit zurück rufen, allerdings hatte Semir es sich nun anders überlegt. Er teilte seine Überlegungen der Chefin, Hartmut und Jenni mit. „Wenn Redka nun doch nicht der Attentäter von heute Nacht war, dann ist naheliegend, dass er Patient in der Klinik ist und vielleicht überhaupt noch nichts von Heimer´s Tod weiss. Dann müssten wir ihn dort überraschen und festnehmen. Wenn er aber der Einbrecher war und danach sofort in die Klinik zurückgefahren ist, dann könnte er das Rauschgift aus dem Porsche mitgenommen haben. Auch dann müssen wir dorthin, um den Stoff zu bergen und ihn festzunehmen. Ich glaube, da führt kein Weg daran vorbei-ich muss an den Bodensee!“ erklärte er.


    Langsam nickte die Chefin. Semir´s Erklärungen waren einleuchtend. Wenn sie nun selber dort anriefen, würde Redka misstrauisch werden und sicher zu fliehen versuchen. Auch die örtliche Polizei war vielleicht schwer zu überzeugen, in der Klinik zu ermitteln, solange man noch nichts Näheres wusste-der Professor war sicher ein einflussreicher Mann dort und hätte es nicht so gern, wenn seine Kunden beunruhigt würden, da musste jemand in Zivil rein. „Gut Gerkhan-sie haben mich überzeugt, fahren sie in die Klinik-nur-ich kann nicht mitfahren, sonst läuft hier in Köln überhaupt nichts mehr, bei unserer dünnen Personaldecke. Seien sie vorsichtig und fordern sie rechtzeitig die örtliche Polizei zu!“ gab sie sich geschlagen. „Ich fahre zuvor nur schnell bei Sarah und Ben im Krankenhaus vorbei-und ach ja Chefin, solange wir nichts Näheres wissen und Redka wirklich festgenommen ist, bräuchte ich trotzdem über Nacht Polizeischutz für meine Familie, ab morgen, dem letzten Schultag, fährt meine Frau dann mit den Kindern zu ihren Eltern, aber ich dachte ja eigentlich, dass ich abends daheim bin und selber auf meine Familie aufpassen kann.“ erklärte der kleine Polizist. „Ich rede mit dem örtlichen Revier-ich hoffe, die machen das noch für eine Nacht!“ sagte die Chefin und bis sie sich versahen, war Semir schon in Aufbruchsstimmung und ließ sich von Hartmut die Adresse geben, damit er sie ins Navi eingeben konnte. Wechselwäsche für eine Nacht und Waschzeug hatten er und Ben immer in einer kleinen Tasche im Wagen liegen-wie oft hatten sie schon schnell weggemusst, also musste er vorher auch nicht zuhause vorbei. Andrea würde er von unterwegs aus anrufen und so konnte er gleich starten.


    Er nahm die Chefin noch bis zur PASt mit, fuhr dann zur Uniklinik und fragte an der Rezeption nach Ben´s Zimmernummer. Wenige Minuten später stand er vor ihm. Ben war zwar immer noch blass, aber er wirkte auf ihn ein wenig besser als heute Nacht. „Wie geht´s dir?“ fragte er und Ben nickte. „Geht schon-ich bin fast die ganze Zeit am Pennen. Die Chefin war auch schon da, aber sie war total nett und hat Sarah im Rollstuhl zu mir gefahren!“ erzählte er und Semir sagte: „Ich weiss-sie hat es mir schon erzählt. Sie ist bisher auch noch nicht misstrauisch und ich fahre jetzt an den Bodensee und versuche Redka festzunehmen“ sagte er und erzählte Ben noch in kurzen Worten von den Vorkommnissen. „Wenn der dann allerdings auspackt, dann müssen wir doch eine Zukunft als Privatdetektive ins Auge fassen!“ erklärte er seinem Freund und der nickte. „Wenn´s dann eben so ist, dann können wir´s auch nicht ändern!“ sagte er schwach. „Mir ist das gerade eh ziemlich egal. Viel wichtiger ist, dass Sarah wieder gesund wird und unser Baby fit zur Welt kommt!“ und da konnte Semir ihm nur zustimmen. Er sah gehetzt auf die Uhr-Mann er hatte eigentlich überhaupt keine Zeit mehr, nun auch noch nach Sarah zu schauen, da klopfte es an der Tür und Sarah wurde von einer Kollegin von der Intensiv, die gerade Feierabend nach der Frühschicht hatte und kurz bei ihrer Freundin vorbeigeschaut hatte, mit dem Rollstuhl hereingefahren. Semir wechselte noch drei Worte mit ihr und machte sich dann mit einem kurzen Gruß auf den Weg zu seinem Wagen. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt-jetzt musste Redka sich warm anziehen, der Terrier war in Aktion!

  • Semir startete auf der Autobahn durch. Erstaunlicherweise hatte er überhaupt keine Staus und Behinderungen und so war er nach guten vier Stunden schon kurz vor dem Ziel. Allerdings knurrte sein Magen nun ganz gewaltig. Gut-es ging zwar schon auf 19.00 Uhr zu, aber wenn er heute Abend nicht mehr hineingelassen wurde in die Klinik, würde er sich eben irgendwo in der Nähe ein Zimmer nehmen und dann gleich morgen früh anfangen zu ermitteln. Da sah er ein bekanntes Burgerrestaurant neben der Straße liegen-das kam ihm gerade Recht. Da musste er nicht anstehen, ging allerdings schon hinein, denn eine Toilettenpause war auch vonnöten. Nach einem kurzen sättigenden Imbiss erreichte er 30 Minuten später die Klinik und war erst einmal überrascht. Im Leben wäre er nicht darauf gekommen, vor einer medizinischen Einrichtung zu stehen. Stattdessen war das hier eine Art Hotel direkt am Ufer des Bodensees mit großem Parkplatz, einem Restaurant in dem gut gekleidete Menschen den schönen lauen Abend bei Kerzenschein auf der Terrasse oder drinnen genossen. Manche Kunden hatten ihre Angehörigen mit einquartiert oder es fanden Treffen mit Geschäftspartnern statt. Gut, wenn man genau hinsah, konnte man bei manchen Menschen Antithrombosestrümpfe statt feiner Seidenstrümpfe erkennen. Manches Auge war noch etwas verschwollen, in einigen Nasen steckten noch kleine Tamponaden, aber insgesamt herrschte ein sehr ruhiges, angenehmes Klima und es roch förmlich nach Geld. Auch der eine oder andere Scheich mit Begleitung war zu erkennen-das war ja klar, um die Finanzierung musste man sich bei so einer Klientel wohl keine Sorgen machen!


    Eine Servicekraft mit bodenlanger Schürze trat freundlich auf ihn zu und fragte: „Kann ich ihnen helfen-suchen sie jemanden, oder möchten sie erst einmal ein Gläschen Edelzwicker haben, den kann ich heute wärmstens empfehlen, dazu eventuell einen Elsässer Zwiebelkuchen und vielleicht ist es mir möglich, die Person, nach der sie Ausschau halten, herzubitten!“ erbot sich der junge Mann dienstbeflissen. Semir überlegte kurz. War sein Umschau nach Redka halten so offensichtlich gewesen? Er hatte aber weder ihn, noch jemanden, der ihm nur im Entferntesten ähnlich sah, erblicken können und so setzte er sich tatsächlich an einen Tisch in einer Ecke, von wo aus er die ganze Terrasse überblicken konnte, ließ sich das Vorgeschlagenen bringen und dachte nach, wie er das jetzt wohl am besten anpacken sollte. Vielleicht sollte er wirklich nach dem Motto: „Frechheit siegt!“ einfach Redka an seinen Tisch bitten lassen. Wenn der ihn aus der Nähe sah, würde er ihn zweifelsohne erkennen, aber er war schließlich bewaffnet und gut in Form-auch wenn der dann zu fliehen versuchte, er würde ihm nachstellen und ihn fast mit Sicherheit einholen können. Außerdem hatte er auf dem Parkplatz draußen ein einziges Fahrzeug mit Kölner Kennzeichen gesehen und sofort eine Halterabfrage gemacht. Wie erwartet war das auf Herbert Redka zugelassen und so war fast anzunehmen, dass der hier auch unter seinem Klarnamen war-der hatte nicht mit der Kombinationsgabe der Polizei gerechnet! Semir hatte den Wagen ganz elegant eingeparkt-damit war eine Flucht unmöglich!


    So warf er nur einen Blick in Richtung des Kellners und wie in der gehobenen Gastronomie üblich, hatte der seine Kundschaft im Blick und war wie ein Schatten sofort bei ihm. Nachdem langsam die Sonne blutrot über dem See unterging, zündete der Mann eine Kerze auf dem Tisch an und als Semir nun nach Herbert Redka fragte, meinte er, dass einen Moment die Gesichtszüge des jungen Mannes entglitten. „Darf ich fragen, wen ich melden soll?“ fragte der Kellner noch, aber Semir sagte nur freundlich: „Das soll eine Überraschung sein!“ und dann verschwand der Mann eilig im Inneren des Restaurants. Semir blätterte beiläufig in der Karte und hatte das Arrangement von Weisswein und Zwiebelkuchen frisch aus dem Holzofen auch gleich gefunden-als er allerdings den Preis sah, blieb ihm beinahe der nächste Bissen im Hals stecken. Dafür konnte er mit der ganzen Familie essen gehen, inclusive Vor-Nachspeise und Getränken, aber das war jetzt momentan egal-einmalig war das schon mal machbar und vielleicht konnte er das auch unter Spesen abrechnen-er stellte sich schon das Gesicht der Krüger vor, wenn er die Rechnung präsentierte.


    Es dauerte nicht lang und dann kam der Kellner mit einem hervorragend gekleideten, groß gewachsenen Mann um die fünfzig heraus und zeigte unauffällig auf Semir. Eines war klar-das war nicht Redka und als der Mann nun langsam näher kam, aber an fast jedem Tisch kurz aufgehalten wurde, ein paar Worte wechselte und anscheinend fast jeden mit Namen kannte, war es Semir beinahe klar, wen er da vor sich hatte. Tatsächlich trat der Mann kurz darauf zu ihm, stellte sich als Professor und Klinikinhaber vor und nahm gegenüber von Semir Platz. Ohne dass er etwas sagen musste, hatte er schon ein kleines Fläschchen edles Mineralwasser und ein feines Glas vor sich und während er daran nippte, sagte er auch schon: „Ich habe gehört, sie möchten gerne zu Herrn Redka-darf ich fragen, wer sie sind? Oder sind sie vielleicht sogar Rudolf Heimer, den ich heute schon den ganzen Tag vergeblich zu erreichen versuche?“ wollte er wissen und nun beschloss Semir, diesen Trick einfach mal zu probieren. Anscheinend hatte der Professor keine Ahnung, wie Heimer aussah und nun wollte Semir doch erst mal hören, was er zu sagen hatte. Er nickte deshalb, ohne sich näher zu erkennen zu geben und nun hob der Professor, der sichtlich nervös war und sich immer wieder über die Lippen leckte, zu sprechen an: „Herr Heimer-ich muss ihnen leider eine schreckliche Mitteilung machen. Herr Redka sollte heute Morgen operiert werden, aber anscheinend hatte er nicht verstanden, was der Narkosearzt ihm gesagt hatte und auch hatte unterschreiben lassen-vor einer Narkose sollte man nüchtern sein. Natürlich gibt es auch Möglichkeiten nicht nüchterne Patienten zu intubieren, aber das muss man dann vorher wissen und wählt dann auch andere Medikamente und eine andere Technik. Langer Rede kurzer Sinn-Herr Redka hat bei der Narkoseeinleitung massiv erbrochen und dabei auch Erbrochenes in die Lunge aspiriert. Es waren solche Mengen an Speiseresten, dass wir-obwohl sich drei Ärzte und zwei Pflegekräfte sofort um ihn gekümmert haben-eine ganze Weile gebraucht haben, um die Atemwege wieder frei zu bekommen. Leider war er inzwischen schon reanimationspflichtig und sein Gehirn und seine Organe eine ganze Zeit ohne Sauerstoffversorgung. Wir haben ihn danach sofort mit dem Hubschrauber nach Ravensburg in ein Haus der Maximalversorgung verlegt, aber es bleibt zu befürchten, dass er nie wieder aufwacht, wenn er es überhaupt überlebt. Ich habe gerade vorhin noch mit dem behandelnden Arzt telefoniert, er hat Krämpfe und viele Anzeichen die auf eine schwere Hirnschädigung schließen lassen. Es tut mir sehr leid, dass das passiert ist-aber uns trifft keine Schuld-wer kommt schon auf die Idee, dass ein Patient kurz vor einer OP noch in einem Burgerrestaurant einfällt und sich den Bauch vollstopft? Sobald er aus der Narkose aufgewacht wäre und es medizinisch vertretbar gewesen wäre, hätte er sofort wieder etwas zu essen bekommen und bei seiner ersten OP hat das ja auch geklappt-es wird wohl immer ein Geheimnis bleiben, warum er das gemacht hat und er hat das auf jeden Fall mit seiner Gesundheit, wenn nicht mit seinem Leben bezahlt. Es ist jetzt auch gut, dass sie da sind, denn wir müssen natürlich das Zimmer räumen und vermutlich hat er auch noch ein Fahrzeug auf dem Parkplatz stehen. Wenn sie jetzt nicht gekommen wären, hätte ich die Polizei verständigen müssen, denn ich würde mich nie an Patienteneigentum vergreifen-nicht dass dann etwas fehlt und wir in irgendeiner Weise in Verdacht kommen. Das Zimmer ist momentan versperrt, aber wir können gerne sofort hineingehen und sie können zusammenpacken!“ sagte er regelrecht erleichtert, dass dieses Problem nun auch gelöst war.


    Nun hob allerdings Semir zu sprechen an: „Ich muss sie leider enttäuschen, aber ich bin nicht Rudolf Heimer, sondern mein Name ist Kriminalhauptkommissar Semir Gerkhan und ich ermittle gegen Herbert Redka wegen mehrere Verbrechen, unter anderem Rauschgifthandel, Einbruch versuchter Mord, Entführung und noch anderer Delikte. Rudolf Heimer wurde bei einem Mordversuch von der Polizei erschossen und ich werde mir natürlich gerne das Zimmer des Verdächtigen anschauen-wir vermissen da nämlich noch was!“ sagte er und nun erhoben sich die beiden. „Die Rechnung geht selbstverständlich aufs Haus!“ sagte der Professor, der nun seinerseits von der Mitteilung des kleinen Polizisten mehr als geschockt war. „Wenn ich nur den Hauch einer Ahnung gehabt hätte, hätte ich Herrn Redka natürlich nie behandelt!“ beteuerte der Professor wieder und wieder, denn er hatte nun gehörig Angst um seinen guten Ruf.
    Gemeinsam gingen sie nun zu Redkas Zimmer-allerdings hatte sich der Professor noch vorsichtshalber Semir´s Ausweis zeigen lassen. Die Tür wurde geöffnet und Semir durchsuchte in kurzer Zeit fachmännisch das luxuriöse Patientenzimmer. In einer Schublade fand er die Waffe, mit der vermutlich Sarah angeschossen worden war und der Arzt wurde blass. Der Professor hatte noch kurz aktuelle Bilder Redkas geholt und Sarah´s Beschreibung passte nun wie die Faust aufs Auge. Semir, der natürlich Handschuhe trug, tütete die Waffe für weitere Untersuchungen ein und packte dann sogar- wie gewünscht- Redkas Sachen in den Koffer. Am Zimmer würden sie keine Spuren mehr finden, das Rauschgift war auf jeden Fall nicht hier-das musste anderswo versteckt sein. Als Semir nebenbei den Zeitrahmen gemeinsam mit dem Professor durchging, stellte er überrascht fest, dass der wohl direkt von Köln hierhergefahren war. Das Burgerrestaurant öffnete erst um sechs und um acht war Redka bereits im OP gewesen, die Rezeption hatte ausgesagt, er wäre um sieben eingetroffen, also musste der Stoff irgendwo hier in der Nähe versteckt sein. „Herr Professor-ich werde morgen einen Einsatz mit Rauschgiftspürhunden durchführen, aber heute Abend ist das nicht mehr sinnvoll!“ sagte Semir und der Arzt raufte sich regelrecht die Haare. „Mein Gott, was werden nur meine Patienten denken!“ jammerte er, aber Semir blieb ungerührt.


    Wenig später war er an seinem Wagen, Redkas Sachen und die Waffe im Kofferraum. Kurz überlegte er, wo er schlafen sollte, denn es war inzwischen schon nach neun geworden, aber dann machte er sich zur nächsten Polizeidienststelle auf-die sollten ihm dabei helfen, ein Quartier zu finden. Er erklärte dem diensthabenden Beamten in der Kleinstadt sein Begehr und so kam es, dass er wenig später in einer kleinen Pension sein müdes Haupt zur Nacht bettete. Zuvor hatte er noch schnell Andrea angerufen und ihr gesagt, dass keine Gefahr für sie und die Kinder mehr bestand. Die war noch kurz hinausgelaufen, hatte den uniformierten Beamten vor dem Haus Bescheid gegeben und so hatten alle eine ruhige Nacht-außer Ben. Der bemerkte, wie er immer schlapper wurde und als er schließlich Schüttelfrost bekam, holte die Nachtschwester den diensthabenden Arzt, der ihn erst einmal begann von Kopf bis Fuß durch zu untersuchen!

  • Als der Arzt auf der inneren Station Ben´s Arm besah, fiel ihm gleich auf, dass der heiß, rot und viel dicker als normal war. War hier vielleicht die Ursache des Fiebers zu finden? Über der Ellenbeuge war ein fachmännischer Verband, den hatte man in der Nacht seiner Einlieferung in der Ambulanz noch angewickelt, bevor er zur Magenspiegelung gegangen war, aber seitdem hatte niemand mehr einen Blick darauf geworfen-schließlich band man z. B. auch Ersatzangios so ein, damit die geschützt waren. Ben hatte inzwischen begonnen wirres Zeug zu reden und konnte sich nur sehr unwillig von seiner Decke trennen, um untersucht zu werden-ihm war doch so kalt. Als der Arzt den Verband aufschnitt, atmete er tief ein-oh verdammt, da hatten sie echt was übersehen! Die Innenseite des Arms war von Eiter überkrustet, es hatte sich eine richtige Beule gebildet und der durchweichte Verband klebte so stark an Ben, dass es dem Arzt Mühe machte und Ben einen Schmerzenslaut entlockte, die Gaze zu lösen. Das musste auf jeden Fall sofort chirurgisch revidiert werden und antibiotisch abgedeckt musste sein Patient auch werden, sonst drohte eine Blutvergiftung! So zog der Arzt die Handschuhe aus, desinfizierte seine Hände und zog erst einmal die Kurve zu Rate.


    In der Nacht war er alleine für über 100 Patienten zuständig, sich um sowas zu kümmern war an und für sich tagsüber Sache des Stationsarztes, aber jetzt interessierte ihn doch, ob die Eiterung bereits beschrieben war, oder wie lang die schon bestand. Aus Ben, der sich gerade zähneklappernd in seine Decke hüllte, war nichts herauszukriegen und so las der Arzt den Aufnahmebericht-und tatsächlich, da stand es dick und fett beschrieben: „Eröffneter Spritzenabszeß linke Ellenbeuge, abgedeckt mit Ciprofloxacin oral“ und nun ärgerte sich der Arzt. Das hatte irgendwer zwischen Notaufnahme, Aufnahmestation und gastroenterologischer Station verbummelt. Klar hatte im Augenblick die akute lebensbedrohliche Magenblutung im Mittelpunkt gestanden, aber später musste man sich trotzdem den Patienten von Kopf bis Fuß anschauen und auch die Medikation überprüfen. Nun war eine Lücke von über einem Tag in der Antibiotikagabe entstanden und so hatten sich die Keime weiter vermehren können. Man würde nun trotzdem das Ciprofloxacin intravenös weitergeben, aber der Arm musste sofort vom Chirurgen angeschaut und saubergemacht werden, außerdem war ein Abstrich ratsam, falls man doch ein anderes Antibiotikum brauchte. So griff der Arzt zum Telefon und verständigte seinen Kollegen der Dienst in der chirurgischen Notaufnahme hatte. „Bringt ihn gleich runter!“ ordnete der an-wir haben gerade ein wenig Luft, ich seh ihn mir sofort an!“ sagte er und so war Ben kurz nach Mitternacht durch die langen Gänge des Krankenhauses im Bett unterwegs in die Notaufnahme.

    Die Nachtschwester hatte in der Zeit ihrer Abwesenheit ihre Station mit der Nachbarstation zusammengeschlossen, aber trotzdem fluchte sie verhalten-sie hatte eigentlich überhaupt keine Zeit für solche Exkursionen. Wenig später wurde Ben´s Bett auf dem Flur vor einem Behandlungsraum abgestellt, die Schwester legte die Unterlagen auf den Schreibtisch zu ihren Kollegen und dann stand Ben da fürs Erste-und stand und stand. Inzwischen war nämlich ein Verkehrsunfall mit mehreren unterschiedlich schwer Verletzten eingeliefert worden und die hatten natürlich erst mal Vorrang. Erst als eine gute Stunde später alle Unfallopfer entweder im OP waren, auf der Aufnahmestation oder ambulant versorgt, hatte wieder jemand Zeit für Ben, der inzwischen aufgehört hatte zu frieren, sondern jetzt die Decke weit von sich gestrampelt hatte. Nun war ihm auf einmal schrecklich heiß und unangenehm. Er bekam es kaum mit, wie er in den Behandlungsraum gefahren wurde, wo ihm die diensthabende Schwester erst einmal die Temperatur maß. „40,8°C-ja das wundert mich nicht, dass sie da nicht ganz bei sich sind!“ sagte sie und zog ihm erst mal das nass geschwitzte Krankenhaushemd aus. Der Arzt auf der Station hatte nur locker eine Kompresse auf dem Arm befestigt, aber auch die war schon wieder durchweicht. Der Chirurg zog die Lampe näher und nun schien auf Ben´s Arm das unbarmherzige, aber blendfreie helle Licht. Kurz überlegte der Arzt, aber nachdem man ja nicht wissen konnte wie viel Eiter sich da noch entleeren würde und ob Ben still hielt, beschloss er, ihn doch auf einen OP-Tisch umzulagern. Die waren in der Ambulanz fahrbar und so rangierte man das Bett daneben, zog Ben, der gar nicht so richtig wusste, wie ihm geschah, mithilfe eines Rollbretts hinüber und lagerte den Arm auf einen Armhalter aus und machte ihn am Handgelenk mit Klettbändern in dieser Position fest. Nachdem Ben genau da versuchte sich umzudrehen, weil er irgendwie gar keinen so richtigen Peil hatte, wo er war und die Gefahr bestand, dass er vom Tisch purzeln würde, legte man über seine Oberschenkel noch einen gepolsterten Gurt und machte ihn so fest. Die Schwester maß am anderen Arm in den die Infusion tropfte, den Blutdruck, aber der war gerade 80/40 mm/Hg und so beschloss der Chirurg, dass ausschließlich eine Lokalanästhesie möglich wäre-ein zusätzliches Opiat würde den Blutdruck weiter senken und man wollte ja keinen Intensivpatienten fabrizieren.


    „Herr Jäger, sie haben da eine üble Entzündung in ihrer Ellenbeuge-ich muss das jetzt sauber machen. Sie bekommen dazu eine örtliche Betäubung, ich kann ihnen aber nicht garantieren, dass die vollständig wirkt-das ist in entzündetem Gewebe manchmal nicht so ganz möglich!“ informierte er Ben, der aber irgendwie nicht so richtig kapierte, was der Arzt von ihm wollte. Darum wurde vorsichtshalber der Infusionsarm auch noch festgebunden und nun lag Ben auf dem Rücken straff fixiert, nur mit einem dünnen Tüchlein über seiner Körpermitte auf dem Tisch und hatte furchtbare Angst.
    Der Arzt desinfizierte seine Hände mehrfach, zog dann einen sterilen Kittel und Handschuhe an-Haube, Mundschutz und Schutzbrille hatte er zuvor schon angelegt, denn niemand hatte Lust von spritzendem Eiter getroffen zu werden. Zunächst ließ er sich von der Schwester ein Abstrichröhrchen anreichen und versenkte es tief in Ben´s Ellenbeuge, damit man vor Desinfektion und Lokaler die vorhandenen Keime unverfälscht nachweisen und dann ein Antibiogramm erstellen konnte. Ben schrie überrascht auf, das hatte ziemlich weh getan-und die Schwester nahm das Röhrchen entgegen und nun strich der Arzt mit einem chirurgischen Basisset erst einmal großflächig die Armmitte ab und deckte ein großes gefenstertes Lochtuch darüber. Dann ließ er sich die Lokalanästhesie anreichen und zog sie in einer Spritze aus dem Basisset auf. „Achtung-piekt!“ warnte er seinen Patienten, der aber das Einspritzen mit stoischer Ruhe über sich ergehen ließ. Danach nahm der Arzt allerdings ein Skalpell und eröffnete mit einem großen kühnen Schnitt, das Gewebe erneut-und zwar viel weiter, als Sarah das getan hatte. Nun schrie Ben wieder auf, denn die Lokale wirkte tatsächlich nicht sonderlich gut! Nun wischte und drückte der Arzt mit desinfektionsmittelgetränkten Kompressen die Ellenbeuge sauber, schnitt hier noch ein wenig und spreizte dort noch weit, während Ben laut vor sich hin jammerte und ihm der Schweiß in Strömen vom Körper lief. Zu guter Letzt legte der Arzt noch mehrere Lagen Jodoformtamponade ein, damit die Wunde auch offen blieb und der Eiter abfließen konnte. Ein dicker Verband und eine gepolsterte Schiene, um den Arm ruhig zu halten vervollständigte die Behandlung.
    Wenig später machte man Ben los, der inzwischen vor Überforderung leise vor sich hin schluchzte und zog ihn mit dem Rollbrett wieder in sein Bett. Die Schwester deckte ihn nur mit einem dünnen Laken zu und rief dann ihre Kollegin auf der Station zur Abholung an. Die hatte schon begonnen sich Sorgen zu machen, wo ihr Patient so lange blieb, aber sie hatte auch keine Zeit gehabt, da einmal nachzufragen. „Der Verband muss mindestens einmal täglich gewechselt werden, am besten mit einem Austausch der Tamponade. Wir machen fürs Erste mit Ciprofloxacin 400mg i.v. zweimal täglich, beginnend sofort, weiter, bis wir Befunde vom Abstrich haben. Ich werde meinen Kollegen von der Tagschicht Bescheid geben, damit die sich das nochmals anschauen und jetzt hoffen wir, dass wir durch die Lokalentlastung einer Sepsis noch mal aus dem Weg gegangen sind-kontrollieren sie aber bitte trotzdem stündlich Puls und Blutdruck, damit uns da nichts entgeht-und ach ja, ich würde gegen das hohe Fieber auch 1g Paracetamol anhängen, das hilft zusätzlich gegen die Schmerzen, senkt aber den Druck nicht!“ ordnete der Arzt noch an, der sich inzwischen wieder ausgezogen und seine Hände erneut desinfiziert hatte. Er fixierte seine Anordnungen noch schriftlich und wenig später war die Schwester mit einem völlig fertigen Ben auf dem Rückweg zu ihrer Station. Sie hängte im Zimmer angekommen sofort nacheinander das Antibiotikum und danach das fiebersenkende Schmerzmittel an und machte ihm nach kurzer Überlegung noch Wadenwickel. So lag Ben nun fiebernd und schwitzend in seinem Bett, während Sarah und Semir, genauso wie alle anderen friedlich schliefen.

  • Als Sarah am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich nach einer erholsamen Nacht viel besser. Das Baby der Zimmerkollegin hatte die Nacht auf deren Wunsch hin-sie hatte zuhause schon ein Kind-im Säuglingszimmer verbracht und war nur einmal zum Stillen gebracht worden, so hatten sich die beiden Frauen gut erholt, Sarah hatte sich schon gewaschen und befand, dass Ben und sie heute dringend normale Klamotten brauchten! Bisher war es ihr egal gewesen im Krankenhaushemdchen und weißem Bademantel herumzulaufen, aber jetzt war damit Schluss, sie brauchte ihre Zivilkleidung. Gut-Semir war zwar nicht da, aber vielleicht konnte sie eine Kollegin zu Andrea schicken, die ihre beiden Reisetaschen aus dem Haus herbrachte oder sowas. Fast ein wenig schuldbewusst dachte sie daran, dass vermutlich ihre Eltern, aber auch Konrad und Julia gerne von ihrem Krankenhausaufenthalt gewusst hätten, vielleicht würde sie die heute anrufen! Man schrieb noch ein CTG, aber es waren keine Wehen zu erkennen und die Herztöne des Kindes waren gleichmäßig und außerdem turnte das Baby schon wieder heftig herum, so wie Sarah das ja nicht anders kannte. Also wurde die Bettruhe aufgehoben und Sarah durfte sich ganz normal bewegen und auch längere Strecken laufen.


    Nach dem Frühstück machte sie sich guten Mutes auf zu Ben. Er war gestern zwar extrem erschöpft und müde gewesen, aber inzwischen hatte man sicher die Elektrolytstörungen ausgeglichen und vielleicht ging es ihm nach einer Nacht voll Schlaf endlich wieder so weit besser, dass er auch langsam aufstehen konnte. Das Laufen klappte bei Sarah schon wieder wunderbar, sie hatte kein Ziehen oder einen Druck nach unten, die Wundschmerzen in der Hand waren mit gelegentlichen Paracetamol-oder Ibuprofengaben, die dem Kind nicht schadeten, erträglich und wenn man heute die Wunddrainage gezogen hatte, wagte Sarah sogar schon ans Heimgehen zu denken! Hoffentlich schnappte Semir den flüchtigen Verbrecher und sie konnten bald wieder in ihre Wohnung zurück!
    Sie kam an Ben´s Zimmer an, klopfte kurz und freute sich schon auf das Gesicht ihres geliebten Partners, wenn sie alleine und ohne Begleitung vor ihm stand. Als kein „Herein“ ertönte schüttelte sie den Kopf-schlief der schon wieder tief und fest-na klar er war ja schließlich Morgenmuffel, es war gerade halb neun, eine Zeit, die er immer als unmenschlich zum Aufstehen bezeichnete und was sollte er im Krankenhaus auch tun, anstatt zu schlafen? Leise trat sie ins Zimmer und nun erschrak sie erst einmal fürchterlich. Ben lag blass und krank aussehend in einem völlig zerwühlten Bett. Er hatte nur einen Kopfkissenbezug auf seiner Scham liegen, an seinen Beinen sah man verrutschte Wadenwickel und er warf sich mit geschlossenen Augen unruhig von einer Seite zur anderen. „Ben-was ist los, was ist passiert?“ fragte sie erschrocken und musterte den dick verbundenen Arm auf der Schiene. Ben öffnete mühsam die Augen und ein gequältes Lächeln huschte über seine Züge-„Hallo, wie geht´s dir?“ stellte er die Gegenfrage, die aber von Sarah sofort abgeschmettert wurde. „Bei mir ist wie du siehst alles ok, aber was um Himmels Willen hast du heute Nacht getrieben?“ wollte sie wissen und fasste ihn mit ihrer gesunden Hand und prüfendem Krankenschwesternblick an. Er fühlte sich schon noch heiß an, aber nach ihrer Erfahrung war das Fieber wohl wenig über 38°C. Allerdings sprachen die Wadenwickel, die noch am Infusionsständer hängende, aber leere Paracetamolinfusionsflasche und der vor getrocknetem Schweiß klebrige Körper ihres Lebensgefährten eine eigene Sprache.


    „Was war denn los?“ fragte sie mitleidig und Ben antwortete: „Ich habe gestern Schüttelfrost gekriegt und dann haben sie mir in der Ambulanz den Spritzenabszess nochmal aufgeschnitten!“ erklärte er in kurzen Worten. „Und, war´s schlimm?“ fragte Sarah mitleidig, während sie sich schon einen Stuhl heranzog und sich an Ben´s Bett setzte. Der nickte nur-näher wollte er nicht darauf eingehen. Sie sah sich suchend nach einem Becher um-gerade bei Fieber war es wichtig, dass Ben genügend trank, aber missbilligend konstatierte sie, dass da überhaupt nichts Flüssiges auf dem Nachtkästchen stand. „Ich gehe schnell raus und hole dir nen Schnabelbecher oder ne Mineralwasserflasche, damit du wenigstens was trinken kannst!“ kündigte sie an, aber Ben schüttelte den Kopf. „Warum-hast du keinen Durst?“ wollte Sarah mit gerunzelter Stirn wissen und erhob sich schon halb, denn Ben´s Lippen waren trocken und aufgesprungen-was war denn das für eine Versorgung hier auf der Normalstation, sowas würde es bei ihnen auf der Intensiv nicht geben!
    „Sarah ich darf noch nichts trinken-ich hatte schwere Magenblutungen und hatte in der Nacht als wir eingeliefert wurden noch ne Magenspiegelung, bei der sie die gestillt haben. Heute wollen sie das kontrollieren, aber sie haben mir gesagt ich muss streng nüchtern bleiben!“ sagte Ben einfach, dem nun klar war, dass man Sarah von dieser Sache wohl noch nichts erzählt hatte, aber es jetzt unmöglich war, das weiter zu verheimlichen. Sarah, die ja schon im Aufstehen begriffen war, sank wieder auf den Stuhl zurück. „Oh nein-armer Schatz!“ sagte sie mitleidig und fasste unbewusst mit der Hand auf ihren Bauch, in dem das Baby gerade wieder wie wild herumtobte. Ben drehte sich zu ihr und legte ebenfalls seine gesunde Hand auf ihren Bauch und nahm Kontakt zu seinem Kind auf, das daraufhin schnell ruhiger wurde. „Geht´s euch beiden auch gut?“ fragte Ben besorgt und Sarah nickte, war aber wie immer fasziniert, wie schnell der Papa seinen Sprössling beruhigen konnte. „Bei uns ist alles in Ordnung, mach dir da nur keine Sorgen!“ sagte sie schnell und Ben schloss erschöpft seine Augen und schreckte erst wieder auf, als sich die Tür öffnete und der Stationsarzt hereinkam.


    Semir hatte nach dem anstrengenden Tag sehr gut geschlafen. Er bekam ein üppiges Frühstück serviert und machte sich nun-wie mit der lokalen Polizeidienststelle abgemacht- auf den Weg zum Revier. Die eingetütete Waffe Redka´s hatte man dort im Waffenschrank eingeschlossen und als er ankam, wartete schon der Revierleiter auf ihn. „Wie ich gehört habe, war wohl ein richtig schwerer Junge zu Gast an unserem schönen Bodensee, aber das Schicksal hat ihn wohl selber gestraft!“ sagte er und schüttelte Semir herzlich die Hand. „Mein Kollege, der Nachtdienst hatte, hat mir schon berichtet, dass wir noch nach Rauschgift suchen müssen, ich habe den Hundeführer mit dem Spürhund schon informiert, der kommt innerhalb der nächsten Stunde aus Ravensburg hierher!“ informierte er seinen Kölner Kollegen und bot Semir einen Kaffee an, der das Angebot dankend annahm. Tatsächlich traf wenig später der Hundeführer mit einem belgischen Schäferhund ein und gemeinsam mit mehreren Einsatzkräften machten sie sich auf den Weg zum Parkplatz der Klinik. Semir hatte die Zeiten überschlagen-nachdem das Burgerrestaurant erst um sechs öffnete, Redka dort ja fürstlich gefrühstückt hatte, was ebenfalls eine gewisse Zeit gedauert haben musste und der Verbrecher dann pünktlich um sieben in der Klinik eingetroffen war, wie ihm gestern der Professor erzählt hatte, hatte der gar keine so großen Umwege machen können. Das Versteck des Rauschgifts war entweder im Wagen oder ganz in der Nähe der Klinik-vermutete Semir wenigstens. So brachen sie wenig später alle zusammen auf-eine weitere Streife unterstützte sie- und der Professor raufte sich die Haare, als er beim Blick aus dem Fenster zwei Polizeifahrzeuge und den silbernen BMW auf dem Parkplatz vorfahren sah.


    Semir öffnete mit Handschuhen Redka´s Wagen und der Spürhund zeigte an, dass der Kofferraum auf jeden Fall nach Rauschgift roch. Allerdings fanden sie bei der groben Durchsuchung keine Behälter, auch nicht in den gängigen Verstecken in der Karosserie. Nun machten sich die fünf Polizisten und der Hund vom Parkplatz weg auf den Weg Richtung Hauptstraße. Der Hund lief frei und war sehr gehorsam, schnüffelte überall und so liefen sie den ersten Halbkreis entlang der Straße um die Klinik. Wenn sie jetzt keinen Zufallstreffer hatten, dann musste eben mit größerem Personalaufwand gesucht werden-gut es war auch nicht auszuschließen, dass Redka die Drogen vielleicht an einen Mittelsmann übergeben hatte, aber irgendwie hatte Semir das im Gefühl, dass das nicht so war.
    Sie kamen an einen kleinen Waldweg, der von der Klinikzufahrt abzweigte und da entdeckte Semir frische Reifenspuren. Gut er hatte jetzt keinen Profilabdruck dabei, aber vielleicht war das der entscheidende Hinweis. Sie folgten den Spuren und konnten in dem aufgeweichten Boden wenig später erkennen, dass dort der Wagen abgestellt worden war. Nun nahm der Hund plötzlich Witterung auf und lief konzentriert mit der Nase am Boden voraus in den Wald hinein, wo er wenig später den typischen Laut für einen Fund ausstieß. Aufgeregt schwanzwedelnd sprang er an einer alten knorrigen Eiche hoch, die viele Spechthöhlen und Ausbuchtungen aufwies und tatsächlich-als sie näher kamen, konnten sie eine große Baumhöhle entdecken. Der Hund musste Sitz machen und bekam überschwängliches Lob und ein Leckerli und Semir fasste mit behandschuhten Händen in die Höhle und holte daraus zwei schwarze Koffer hervor. Nach dem Öffnen überzog sein Gesicht ein Lächeln. Dicht an dicht lagen darin die Rauschgiftpäckchen und Semir wandte sich freudestrahlend um: „Kollegen, wir haben gefunden, was wir gesucht haben-die Zusammenarbeit zwischen der Polizei von Baden- Württemberg und Köln war mal wieder sehr erfolgreich!“ lobte er und nun mussten die Kollegen vom Bodensee fast ein wenig über die Euphorie des kleinen Türken lachen. Sie gingen zum Parkplatz zurück, einer der Polizisten fuhr Redkas Wagen in die nächste KTU und Semir verabschiedete sich, nachdem er noch einige Unterschriften geleistet hatte und machte sich, bevor er nach Hause zurückfuhr, noch auf den Weg nach Ravensburg, wo in der Oberschwabenklinik Redka immer noch auf der Intensivstation beatmet wurde.

  • Als Semir seinen Wagen in der Tiefgarage des Krankenhauses geparkt hatte, fragte er sich zur Intensivstation durch. Dort wurde er von einem Arzt in Empfang genommen. „Sind sie ein Angehöriger von Herrn Redka?“ fragte er mitfühlend, aber Semir schüttelte den Kopf und zeigte seinen Polizeiausweis vor. Mit kurzen Worten erklärte er, dass ein Haftbefehl gegen Redka wegen mehrerer Gewaltverbrechen vorlag und er sich vergewissern müsse, dass der nicht haftfähig sei. Der Intensivarzt führte Semir in eine Zweierbox. In einem der Betten lag Redka, der nicht gut aussah. Nicht nur die dunklen Haare und die operativen Veränderungen, sondern vor allem die massive Schwellung des ganzen Körpers entstellten ihn regelrecht. Er lag voll verkabelt und beatmet in dem Intensivbett und der Anästhesist erklärte Semir mit ernster Miene: „Unser Patient hat eine schwere Asphyxie erlitten, das bedeutet, dass alle Organe, vor allem aber das Gehirn durch den längerdauernden Sauerstoffmangel Schäden davongetragen haben. Um eine endgültige Prognose zu stellen ist es noch zu früh, aber wie die bisherigen Untersuchungen beweisen, wird er nie mehr ein selbstbestimmtes Leben führen können. Wenn er das Ganze überlebt, dann als Pflegefall, aber eines kann ich mit Sicherheit ausschließen, dass er jemals haftfähig wird!“ erklärte er und Semir nickte mit ernster Miene. Gut-so etwas hatte niemand verdient, aber in gewissem Maße war Redka an seinem Zustand einfach selber schuld-wer so blöd war, sich vor einer geplanten Narkose den Bauch voll zu schlagen, der war sehenden Auges ins Verderben gerannt.
    „Könnten sie bitte versuchen Angehörige zu ermitteln-ich würde gerne die weitere Vorgehensweise mit denen abstimmen, wir haben bisher noch keine einzige Telefonnummer, nur die Personendaten die uns die Schönheitsklinik mitgeschickt hat.“ bat der Doktor und Semir versprach, sich darum zu kümmern. Er hinterließ noch seine Visitenkarte, wenn sich an Redka´s Zustand noch etwas ändern sollte, bat darum, auch sofort verständigt zu werden, falls er verstarb und machte sich dann erleichtert auf den Weg nach Hause. Er brauchte wegen regem Verkehr zwar länger als zur Hinfahrt, aber er freute sich schon, seine Familie wieder zu sehen und Sarah und Ben mitteilen zu können, dass sie gefahrlos in ihre Wohnung zurückkehren konnten.


    Ben hatte seine Augen erschrocken auf den Stationsarzt gerichtet. Der trat an sein Bett, wo sich Sarah inzwischen von ihrem Stuhl erhoben hatte und fragte freundlich: „Herr Jäger, wie geht es ihnen denn?“ und begann ihn abzuhören und zu untersuchen. Er musste zugeben, dass er ein verdammt schlechtes Gewissen deswegen hatte, dass ihm die Sache mit dem Spritzenabszeß durch die Lappen gegangen war. Er hoffte jetzt einfach, dass das ab sofort problemlos verheilen würde und auch keine Folgeschäden deswegen eintraten. Auch er fand, dass Ben zwar erschöpft aussah, aber so wie er sich anfühlte war das Fieber durchaus gesunken und er beschloss, nachdem er fertig war, das Pflegepersonal herein zu beordern-die sollten seinen Patienten frisch machen und dafür sorgen, dass er sich wohl fühlte. Sarah schaute ihn nun herausfordernd an und fragte, warum sich der Zustand so verschlimmert habe und der Arzt sah verlegen zu Boden. „Ich muss gestehen, ich habe versäumt, das Antibiotikum weiter anzuordnen. Mein Fokus war völlig auf die gastrointestinale Blutung und deren Nachbehandlung gerichtet, die Information mit der Eiterung hatte ich überlesen und möchte mich auch in aller Form deshalb entschuldigen!“ erklärte er und Sarah und Ben nahmen das zur Kenntnis. „Ich habe jetzt eine Bitte an sie!“ sagte Sarah nun in forderndem Ton und der junge Arzt sah sie fragend an. „Ich liege momentan auf der Entbindungsstation, aber meine Wehen haben aufgehört. Ich würde jetzt gerne mein Bett hier in diesem Zimmer haben und wie sie vielleicht wissen, arbeite ich hier im Haus und kenne da auch sehr viele Leute!“ sagte sie mit einem leicht drohenden Unterton und Ben musste innerlich grinsen. So bestimmend kannte er seine Sarah eigentlich gar nicht-obwohl vor seinem Entzug war sie ja auch so konsequent gewesen und er war ehrlich gesagt froh deswegen. Jetzt hatte er das Schlimmste hinter sich und das körperliche Verlangen nach irgendwelchen Drogen war verschwunden. Klar, manchmal versuchte sein Kopf ihm noch vorzugaukeln, wie notwendig er dieses Teufelszeug bräuchte, aber wenn er wie gerade eben sein Kind dann berührte, durch Sarah´s Bauchdecke hindurch den kleinen Körper fühlen konnte, die Beinchen in seine Hand boxten und er dann merkte, wie das kleine Wesen zu ihm hinstrebte, dann wusste er, dass es das wert war!
    Der junge Arzt musste nun ebenfalls grinsen. „Ich werde mein Möglichstes tun!“ sagte er und griff im Hinausgehen auch gleich zum Telefon. So kam es, dass kurze Zeit später Sarah´s Bett neben dem ihres Freundes stand und der von einem jungen Pfleger fürsorglich gewaschen und das Bett frisch bezogen wurde. Nun warteten sie gemeinsam auf den Abruf zur Magenspiegelung und Sarah versicherte ihrem Geliebten: „Ben, ich gehe da mit, ich lass dich jetzt nicht mehr alleine!“ und er nickte dankbar.

  • Wenig später öffnete sich die Tür und der Pfleger von vorhin sagte: „So Herr Jäger, jetzt bringe ich sie in die Endoskopieabteilung, die haben sie abgerufen!“ und schon löste er die Bremsen des Betts. Sarah schlüpfte aus dem Ihren, zog ihren Bademantel an und folgte unbeirrt dem Bett ihres Freundes. In der Abteilung angekommen, wollte die dort arbeitende Endoskopieschwester sie abwimmeln und in den Wartebereich verweisen. Sarah hatte nach Ben´s Hand gegriffen und schüttelte unnachgiebig den Kopf. „Nein, ich lasse meinen Verlobten nicht alleine. Ich bin selber Krankenschwester und arbeite hier im Haus auf Intensiv-mir wird auch nicht schlecht das ist nicht die erste ÖGD, die ich sehe!“ sagte sie bestimmt und nach kurzer Rücksprache mit dem Untersucher durfte sie tatsächlich ebenfalls mit hinein. Während Ben auf den Untersuchungstisch hinüber rutschte, fragte er leise trotz aller Angst, was ihn nun hauptsächlich beschäftigte. „Du hast gerade gesagt „Verlobter“, soll das heißen, du hast meinen Antrag angenommen?“ flüsterte er, bevor er den Beißschutz in den Mund geschoben bekam und Sarah nickte.
    Bei aller Angst vor dem Kommenden hätte Ben gerade jubeln können vor Freude. Sarah würde ihn heiraten, sein sehnlichster Wunsch würde in Erfüllung gehen. Sie würden ganz altmodisch zuerst aufs Standesamt und dann in die Kirche gehen. Ihr Kind würde in der Geborgenheit einer ganz normalen bürgerlichen Familie mit allen, auch rechtlichen Sicherheiten aufwachsen. Wenn ihm das noch vor zwei Jahren jemand gesagt hätte, dass er freiwillig heiraten würde und sich noch dazu darauf freuen konnte, wie ein kleines Kind, dann hätte er ihn für verrückt erklärt, aber seitdem Sarah in sein Leben getreten war, auch mit all ihren Macken, wusste er was Verlässlichkeit und Treue hieß. Sie hatte ihn noch nie alleine gelassen, seitdem sie zusammen waren, aber dabei immer ihre Eigenständigkeit bewahrt. Wenn er mit den Jungs von der Band abhing und gelegentlich im Probenkeller versumpfte, machte ihr das nichts aus-an diesen vorher abgesprochenen Abenden unternahm sie meistens was mit ihren Freundinnen und so behielt jeder von ihnen ein Stück eigenes Leben. Es tat ihm nochmals extra leid, wie er sie in den letzten Wochen seiner Drogenkarriere hintergangen hatte, allerdings war er nun ganz sicher, dass er das hinter sich gelassen hatte!


    Bevor er nun allerdings weiter seinen Gedanken nachhängen konnte, war der Untersucher vor ihn getreten und hatte gesagt: „Sie kennen ja jetzt den Ablauf schon, bitte immer schlucken, wenn ich das sage!“ und während Sarah hinter ihm stehend ganz fest seine Hand hielt und sich gegen ihn lehnte, um ihm durch ihre körperliche Nähe Schutz und Geborgenheit zu geben, machte er genau das, was ihm der Untersucher befahl. Wieder schossen ihm die Tränen in die Augen, seine Nase lief, aber nachdem er jetzt wusste, was auf ihn zukam, war es diesmal nicht so schlimm wie in der Nacht seiner Einlieferung, da war er, auch aus Sorge um Sarah, völlig neben sich gestanden und weh hatte das außerdem getan.
    Sarah sah gebannt auf den Bildschirm und als das Instrument im Magen anlangte und sie die Kraterlandschaft sah, lief es ihr kalt den Rücken herunter. Wie leicht hätte sich Ben da verbluten können! Trotz des immer noch auffälligen Befunds war der Gastroenterologe zufrieden. Man sah keine neuen Erosionen mehr, alle Clips und Verschorfungen hatten gehalten und so war die Spiegelung schnell vorbei. „Herr Jäger, ich bin zufrieden!“ sagte er, während er das Instrument unter Ben´s Würgen herauszog, die Schwester ihm den Beißschutz entfernte und er ein Stück Zellstoff bekam, um sich die Nase zu putzen. „Die Geschwüre und die Gastritis sind im Abheilen begriffen, ich denke sie sollten zwar die nächsten sechs Wochen noch ein Mittel weiternehmen, um die Säurebildung zu hemmen-aktuell bekommen sie das noch gespritzt- aber sie dürfen ab sofort trinken und flüssige Kost zu sich nehmen, ab morgen Breikost. Wenn sie kein Blut mehr absetzen, müssen wir auch nicht mehr reinschauen, ich denke, sie haben das Schlimmste überstanden!“ sagte er und Ben strahlte beinahe, während er wieder in sein Bett rutschte, das man direkt neben den Untersuchungstisch rangiert hatte.Während der Fahrdienst ihn wieder zurück auf ihr Zimmer fuhr, ließ er Sarah´s Hand nicht los. Kaum waren sie alleine fragte er sie: „Und wann heiraten wir?“

  • Sarah lächelte ihn an. „Jetzt werden wir erst mal alle beide gesund und dann überlegen wir das in Ruhe. Ehrlich gesagt brauche ich auf den Hochzeitsfotos weder einen dicken Bauch, noch eine Schiene an der Hand-irgendwie habe ich mir diesen Tag nämlich seit meiner Kinderzeit sehr bedeutungsvoll und romantisch vorgestellt, so mit weißem Brautkleid, Schleier, weißer Kutsche usw.!“ erklärte sie ihm lächelnd. Ben sagte: „Gegen das Brautkleid und den Schleier habe ich nichts, meinetwegen kann die Kutsche auch weiß sein, aber die sollte ein paar Hundert PS haben-du glaubst doch nicht, dass ich das zulasse, dass wir uns mitten in Köln mit ner Pferdekutsche in Gefahr bringen?“ fragte er und nun lenkte Sarah ein, indem sie ihn zart küsste. „Das sollte unser kleinstes Problem sein-außerdem hast du Recht-wir wollen ja auch unser Baby nicht in Gefahr bringen, also doch einen Wagen-wenn ich allerdings deine und Semir´s Unfallstatistik so ansehe, wage ich zu bezweifeln, dass das so viel sicherer ist!“ bemerkte sie und nun musste Ben grinsen. Kurz darauf trank er ein paar Schluck Wasser und wenig später kam der Unfallchirurg der Sarah operiert hatte herein. „So, so, ich habe schon gehört, sie sind umgezogen!“ sagte er mit einem breiten Lächeln. Aber das ist kein Problem-die Drainage kann ich hier auch ziehen!“ kündigte er an und holte von draußen sein ganzes Zubehör. Wenig später war die Schiene abgewickelt und die Pflaster entfernt. Unter aseptischen Bedingungen entfernte der Chirurg die Redonsaugdrainage und ließ danach auch die Schiene weg, nachdem Sarah zwar unter Schmerzen, aber in alle Richtungen problemlos die Hand bewegt hatte. „Die Fraktur ist belastungsstabil versorgt, wir beginnen ab heute Nachmittag mit Physiotherapie, damit die Schwellung zurückgeht und sie bald wieder voll beweglich sind!“ kündigte er an, während er noch ein paar Pflasterverbände aufbrachte und eine elastische Binde darum wickelte. Auch die Schussverletzung inspizierte er, aber auch die war gut verschorft und würde außer einer Narbe wohl keine Folgeschäden nach sich ziehen. Aufatmend legte Sarah sich zurück und fragte: „Wie lang muss ich denn noch hierbleiben?“ und der Unfallchirurg überlegte kurz. „Von mir aus könnten sie morgen schon nach Hause, aber warten sie doch erst mal ab, wie lange ihr Partner noch hierbleiben muss-das drehen wir einfach so, dass sie beide gemeinsam entlassen werden!“ und nun lächelte Sarah glücklich. Anscheinend lief es jetzt bei ihnen wieder und nachdem der Arzt sich verabschiedet hatte, machten Ben und sie die Augen zu und schliefen erholsam bis zum Mittag.


    Nachdem Sarah ihr Essen bekommen hatte, Ben aber auf ihren fragenden Blick hin den Kopf geschüttelt und beteuert hatte, dass ihm wirklich noch nicht nach Essen war, fragte Sarah: „Meinst du, wir sollten unseren Eltern und Geschwistern Bescheid sagen?“ aber Ben schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht Sarah, die machen sich doch höchstens Sorgen und rennen uns hier die Bude ein-ich möchte ehrlich gesagt lieber meine Ruhe haben und mich gemeinsam mit dir erholen!“ sagte er und Sarah akzeptierte seinen Wunsch. Nachmittags kam erst der Physiotherapeut zu Sarah und plötzlich öffnete sich die Tür und ein lächelnder Semir stand mit zwei Reisetaschen bewaffnet vor ihnen. „Mensch-super, dass ihr zusammen in einem Zimmer liegt!“ erklärte er mit einem breiten Grinsen. Er war zügig nach Hause gefahren, hatte kurz mit der Chefin in der PASt gesprochen, in der KTU die Sachen Redka´s abgeladen und den restlichen Tag frei bekommen. Er hatte unterwegs etwas gegessen, aber als er dann nach Hause gekommen war, waren Andrea und die Kinder noch da gewesen. „Papa, ich habe Ferien!“ sagte Ayda und flog ihm freudestrahlend an den Hals „Und Mama hat gesagt, morgen fahren wir zu Oma und Opa-kommst du auch mit?“ wollte sie wissen, aber Semir schüttelte den Kopf. „Leider nein Ayda-ich muss noch arbeiten, aber in einer Woche habe ich Urlaub und da fahren wir ein paar Tage zusammen an den Bodensee-versprochen!“ sagte er und nun lächelte Andrea leise. „Ich war letzte Nacht in einer netten Familienpension-da habe ich gleich ein Familienzimmer mit Halbpension reserviert-natürlich nur, wenn du einverstanden bist!“ erklärte Semir seiner Frau und die sagte: „Wie schön, was sollte ich dagegen haben?“ und so war der gemeinsame Kurzurlaub beschlossene Sache.


    In diesem Augenblick ertönte vor dem Fenster ein tiefes Bellen und als Semir aus dem Fenster sah, lag Fido da schwanzwedelnd und mit einem dicken Verband um die Pfote im Garten. „Na Gott sei Dank-jetzt kehren langsam wieder normale Verhältnisse ein-nun müssen nur noch Sarah und Ben gesund werden, dann gehen wir wieder zur Normalität über!“ bemerkte Semir und beschloss gleich nachher eine große Wurst für Fido zu besorgen. Nachdem er mit Andrea noch ein Tässchen Kaffee getrunken hatte und ihr leise von seinen Erlebnissen berichtet hatte, fuhr er erst zu seinem Haus, holte da Ben´s und Sarah´s Sachen und machte sich dann auf den Weg zum Krankenhaus. Gerührt konstatierte er, dass die Terrassentür provisorisch mit einem Holzverschlag geschützt war-an sowas hätte er gar nicht mehr gedacht in der Aufregung-wer das wohl veranlasst hatte?


    Als er nun seinen Freunden gegenüber stand und die gar nicht so schlecht aussahen, fiel ihm ein riesiger Stein vom Herzen und er erzählte den beiden von seinen Erlebnissen am Bodensee. „Da hat Redka seine Strafe von einer höheren Macht bekommen“ sagte Sarah nachdenklich, aber alle miteinander waren nur froh, dass es vorbei war. Sarah verschwand als Erste in dem angrenzenden Waschraum und zog eine Jogginghose und ein T-Shirt an. Als sie zurückkam, schaute sie erfreut und erstaunt auf Ben. Der saß nämlich am Bettrand und hatte ebenfalls mit Semir´s Hilfe ein T-Shirt und eine kurze Hose angezogen. „Endlich wieder Normalität!“ freute er sich und probierte dann auch gleich aufzustehen. Er hatte zwar noch Wackelknie, aber mit der Unterstützung seines Freundes hielt er sich am fahrbaren Infusionsständer fest und schaffte es ebenfalls in den Waschraum. Dort setzte er sich aufseufzend auf die Toilette. Ab sofort war die Pinkelflaschenzeit vorbei-er würde jetzt schnellstmöglich zu Kräften kommen und dann dem Krankenhaus gemeinsam mit Sarah den Rücken kehren.

  • Am nächsten Morgen ging Ben zum ersten Mal alleine zur Toilette. Er hatte jetzt lange genug geübt, war schon mehrmals in Sarah´s Begleitung aufgestanden und fühlte sich sicher genug. Als er sich aufseufzend hinsetzte und sein großes Geschäft verrichtete, schrak Sarah, die sich nochmals umgedreht hatte, auf einmal von seinem entsetzten Schrei hoch. Mit beiden Beinen gleichzeitig sprang sie aus dem Bett und hetzte in den Waschraum. „Ben was ist los?“ fragte sie geschockt und der wies mit zitternden Fingern auf den Inhalt der Kloschüssel. „Das, das ist ganz schwarz!“ stammelte er und war blass im Gesicht. Sarah zog ungerührt ab und sagte: „Na was hast du erwartet?“ und Ben, der wegen ihrer Gelassenheit nun auch ein wenig ruhiger wurde, sah sie verständnislos an. „Was soll ich erwartet haben?“ wollte er wissen und nun erklärte ihm seine Verlobte: „Du hast doch sicher auch eine Menge Blut aus den Magengeschwüren verdaut und das ist halt das, was überbleibt. Man sagt da Teerstuhl dazu und solange da nichts Frisches Rotes dabei ist, ist das ganz normal nach einer Magenblutung. Wenn das jetzt hellrot gewesen wäre, oder wir nicht wüssten wo das herkommt, müssten wir uns Sorgen machen, aber so ist das recht harmlos. Außerdem kontrollieren die heute sicher nochmal deine Blutwerte und wenn der Hb nicht abgefallen ist, dann passt das schon!“ erklärte sie ihm und zum wiederholten Mal war Ben froh, in Kürze mit einer Krankenschwester verheiratet zu sein. „Und was wäre jetzt gewesen, wenn das frisches Blut gewesen wäre?“ wollte er nun noch kleinlaut wissen-Mann woher sollte er über solche Dinge auch Bescheid wissen, er kannte sich mit Autos, Motorrädern und Gesetzen aus, aber nicht mit medizinischen Dingen. „Dann hättest du noch eine Coloskopie, also eine Darmspiegelung gekriegt!“ sagte Sarah ungerührt und Ben beschloss, jetzt vorsichtshalber lieber nicht mehr zu fragen-sonst fiel denen noch irgendein Blödsinn ein!


    Ben hatte die flüssige Kost gut vertragen und bekam heute Breikost. Bei Süppchen, Pudding und Kartoffelbrei ließ es sich schon aushalten und so wurde er im Laufe des Tages immer kräftiger. Man setzte die Infusionen ab, gab ihm das Pantozol und das Antibiotikum als Tablette morgens und abends und am frühen Nachmittag kam der Stationsarzt ins Zimmer. „Wenn die Chirurgen wegen ihrem Arm auch einverstanden sind, könnten wir sie morgen entlassen!“ kündigte er an und als ein Anruf aus der chirurgischen Ambulanz kam, dass die seinen Arm nochmals anschauen wollten, schaffte Ben es mit Sarah´s Begleitung dorthin zu laufen. Sie saß neben ihm und hielt beruhigend seine Hand als die Tamponade, die man am Vortag schon einmal gewechselt hatte, endgültig gezogen wurde, was allerdings ganz schön weh tat. Aber die Entzündung hatte nachgelassen und so machte man nur noch einen dicken Verband und bat Sarah den täglich zu wechseln, was sie gerne machen wollte. So bestand auch von dieser Seite aus kein Vorbehalt mehr gegen das Nachhausegehen und nachdem auch für Sarah noch Nachschautermine vereinbart worden waren, plante man die Entlassung der beiden für den nächsten Vormittag.


    Semir kam abends nach dem Dienst ganz abgeschafft bei ihnen an. „Mann die Krüger hat vielleicht eine Laune! Die hat mich heute nur herum gehetzt!“ erzählte er. „Jetzt schau bloß, dass du bald wieder fit wirst Ben, denn lange halte ich das alleine nicht aus!“ stöhnte er und versprach, die beiden am nächsten Morgen aus dem Krankenhaus abzuholen. So geschah es und er kaufte sogar auf dem Heimweg von der Klinik noch mit Sarah im nächsten Supermarkt die nötigsten Dinge ein und trug die Taschen nach oben. „So jetzt kommt dann gleich der nächste Anschiss, wo ich denn so lang bleibe!“ stöhnte er dann und verdrehte seine Augen dermaßen, dass Sarah und Ben sehr lachen mussten. „Ich komme abends nochmals vorbei, ich bin ja Strohwitwer, dann können wir uns vielleicht ne Pizza kommen lassen!“ kündigte er dann noch an und verschwand eilig Richtung PASt.


    Als er nach einigen Streifenfahrten, heute mit Bonrath an der KTU vorbei sah, um dort etwas nachzuschauen, erwartete ihn eine freudige Überraschung. Hartmut saß voll konzentriert, sein Bein auf einem Hocker hochgelegt hinterm Schreibtisch und durchforstete gemeinsam mit Jenni, deren Arm auch schon wieder beweglicher wurde, Redka´s beschlagnahmte Sachen. „Was tut ihr denn da?“ fragten Semir und Dieter. „Es wurde langsam langweilig zu Hause und so haben wir beschlossen, etwas Nützliches zu tun und ein wenig Papierkram zu übernehmen-das bringt uns nicht um und euch ist damit geholfen!“ erklärte Hartmut und warf Jenni einen zärtlichen Blick zu, der die zum Erröten brachte. „Ich habe auch schon etwas Interessantes herausgefunden. Nach meinen Recherchen hat Redka im Gegensatz zu Heimer, der ja eine Tochter hat, die nun Alleinerbin von dem Vermögen, das nicht von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt wurde, ist, keine Angehörigen und hat eine Vorsorgevollmacht mit dem Namen der Sekretärin ausgefüllt. Ich denke nicht, dass die mit dem Rauschgifthandel irgendwas zu tun hatte-vielleicht wäre das Vormundschaftsgericht in Ravensburg froh, deren Daten zu kriegen!“ sagte er und Semir versprach, das zu übernehmen. So wurde die Sekretärin erst einmal von Redka´s Schicksal informiert und machte sich wenig später schweren Herzens auf den Weg, um ihren Schützling zu besuchen, auch wenn der das nie mehr mitbekommen würde, wie inzwischen fest stand. Sie organisierte dann auch einen Heimplatz in Köln und versuchte ihm sein Schicksal erträglich zu machen-sie hatte ihn schließlich immer nur von seiner guten Seite kennengelernt und konnte ihn sich nicht als skrupellosen Mörder vorstellen.
    Die Chefin war nun wieder besänftigt und als sie noch vom Rauschgiftdezernat eine Belobigung für ihr Team wegen der guten Zusammenarbeit bekam, besserte sich ihre Laune sprunghaft. Sie richtete Semir sogar liebe Grüße an Sarah und Ben aus und als der abends bei denen aufschlug, sich neben Ben aufs Sofa schmiss und gemütlich ein Bier trank, war die Welt wieder in Ordnung-nur Ben maulte, weil er laut Sarah keine scharfe Pizza kriegte, sondern sich mit Spaghetti Carbonara zufrieden geben musste!

  • Die Wochen gingen ins Land. Ben war nach wenigen Tagen wieder völlig genesen und manchmal kam ihm die Zeit, in der er Drogen konsumiert hatte vor, wie ein böser Traum. Ab und an erinnerte er sich zwar noch an das Hochgefühl als er sich die Spritzen gegeben hatte, aber eines stand fest: Er würde sich nie mehr hinreißen lassen-zu viel stand auf dem Spiel und wenn er sich an die Schrecken des kalten Entzugs zurückerinnerte, dann war er sofort ernüchtert. Außerdem rückte nun der Tag der Geburt näher und näher.


    Semir hatte noch einmal die Sekretärin besucht und war mit ihr sogar ins Pflegeheim gegangen, in dem Redka jetzt versorgt wurde. Er wollte sich auch hundertprozentig davon überzeugen, dass der nichts mehr ausplaudern konnte, aber genau das war völlig sicher. Redka musste zwar nicht mehr beatmet werden, aber er lag mit einer Windelhose und einem Schlafanzugoberteil bekleidet im Bett, in seinen Magen tropfte durch eine spezielle Ernährungssonde die Sondenkost und er starrte blicklos und ohne gezielte Reaktion an die Wand und reagierte auch nicht, als die Sekretärin ihn liebevoll ansprach und eine Haarsträhne aus seinem Gesicht strich. Er war wunderbar gepflegt, wurde alle zwei Stunden umgelagert, aber wo der Herbert Redka war, der er mal gewesen war? Man wusste es nicht. Zurückgeblieben war ein schwer hirngeschädigter Apalliker, der leider körperlich viel zu gut in Form war, um schnell sterben zu können. Semir hatte der Sekretärin seine Hochachtung ausgesprochen, dass sie sich so um ihren ehemaligen zweiten Chef kümmerte, wer außer einer Familie würde sowas tun? Allerdings verschwieg er ihr auch nicht, welche Verbrechen Redka begangen hatte und sie nickte betroffen. Auch bei Redka war ein Teil des Vermögens von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt worden, aber er hatte schon bevor der Rauschgifthandel begonnen hatte, aus legalen Quellen die schöne Eigentumswohnung erworben und aus deren Verkauf wurde nun der Heimaufenthalt finanziert. Das nicht unerhebliche Vermögen verwaltete, wie er es gewünscht hatte, die Sekretärin, die aber durchaus vom Vormundschaftsgericht kontrolliert wurde. Als Semir ihr allerdings von der Schussverletzung des Hundes erzählte, den Redka verletzt hatte, beschloss sie, dass es nur Recht und billig wäre, die Rechnung dafür zu übernehmen und so konnte Semir seinen Vermietern bald darauf mitteilen, dass die fast 1000€ für Fido´s Tierarztbehandlung aus dem Vermögensstock beglichen würden. Semir hatte dem treuen Hund schon einen großen Ring Lyonerwurst gekauft und wurde seitdem mit immer noch mehr freudigem Schwanzwedeln begrüßt als vorher schon.


    Ben hatte anstandslos akzeptiert, sich bei einem privaten Psychotherapeuten auf eigene Kosten einer Therapie zu unterziehen. Schon nach wenigen Sitzungen fühlte er sich besser und die ganzen Traumen der letzten Monate, wenn nicht Jahre würden nun unter dem Siegel der Verschwiegenheit aufgearbeitet werden-kein Mensch außer ihm und seinem Behandler würde davon erfahren und die Schlafstörungen, die ihm so zu schaffen gemacht hatten, waren bereits nach kurzer Zeit verschwunden.
    So kam schneller als erwartet der Tag an dem Ben von Semir zum Dienst abgeholt wurde und sie wieder über die Autobahn kurvten. Auch Jenni war wieder in der Arbeit und Hartmut erledigte weiterhin nur sitzende Tätigkeiten, die aber dafür voller Elan. Morgens kamen die beiden, wenn die Schicht es zuließ, immer gemeinsam an-Jenni ließ Hartmut an der KTU aussteigen und fuhr dann weiter zur PASt und ging dort mit Bonrath auf Streife. Semir machte Ben darauf aufmerksam und der war froh, dass seine Verkupplungsversuche doch endlich Erfolge gezeitigt hatten.


    „Mann Semir, langsam wird’s Zeit, dass endlich das Baby kommt! Sarah hat dicke Beine, klagt jeden Tag über Sodbrennen und wandert in der Nacht stundenlang durch die Wohnung, weil sie nicht mehr liegen kann. Sie beklagt sich, dass sie aussieht wie eine Tonne, dabei ist sie doch die schönste Frau, die mir je begegnet ist-und sie trägt immerhin mein Kind unter dem Herzen, aber wenn ich ihr das sage, glaubt sie mir einfach nicht!“ jammerte Ben und Semir dachte nach, ob das bei Andrea auch so gewesen war. Allerdings wusste er das schon gar nicht mehr so genau und beschloss, bei Gelegenheit Andrea deswegen zu fragen. Den weiteren Geburtsvorbereitungskurs hatte Ben anstandslos mit besucht und wusste jetzt genauestens über Atemtechniken und lindernden Rückenmassagen Bescheid. Nur den gezeigten Geburtsfilm hatte er nicht sehen wollen, nicht dass es ihm so ging wie Semir und er dann einfach umkippte, wenn es Ernst wurde.


    In drei Tagen war der errechnete Geburtstermin und Ben hatte mit der Chefin ausgemacht, dass er nur kurz anzurufen brauchte, wenn es losging und dann seinen Urlaub ab diesem Tag antreten würde. Als er abends nach Hause kam, begrüßte ihn Sarah mit geröteten Wangen. Überall standen noch Putzutensilien herum und die Fenster blinkten und blitzen nur so, dabei hatte Ben für die schweren körperlichen Arbeiten ja schon lange eine Putzhilfe engagiert, was ja schon einmal zu größeren Zwistigkeiten zwischen ihm und Sarah geführt hatte-eine Sache, die er auch gerade in der Psychotherapie aufarbeitete. „Sag bloß du hast alleine die großen Fenster geputzt!“ fragte Ben entsetzt und Sarah strahlte ihn an. „Ja ich hatte einfach Lust dazu und gut hat es mir auch getan!“ verteidigte sie sich und nun half Ben ihr kommentarlos die ganzen Sachen aufzuräumen und die Blumenstöcke wieder an ihren Platz zu stellen. Im Kinderzimmer stand die Wiege schon seit Wochen bereit. Mindestens zweimal hatte Sarah schon das Bettzeug gewaschen, der Koffer für die Klinik mit Sachen für Sarah und das Baby stand in der Ecke und zum wiederholten Male besah sich nun auch Ben die winzig kleinen Windeln, die auf dem Wickeltisch bereit lagen. „Ich kanns mir noch gar nicht so richtig vorstellen, wie es sein wird, wenn unser Kind da mal drin liegt!“ sagte Ben verträumt und strich liebevoll über die Zudecke in der Wiege, bevor er mit Sarah in den Wohn-Essbereich verschwand, wo sie eine leichte Mahlzeit zu sich nahmen. Nach dem Essen kuschelten sie noch auf dem Sofa und landeten irgendwann gemeinsam im Bett, alberten herum und letztendlich schliefen sie miteinander. Ben hatte zwar ein wenig Angst, das Kind irgendwie zu verletzen, aber Sarah lachte ihn deswegen aus und Ben war auch sehr froh, dass seine Potenzstörungen, die ihn während des Drogenkonsums gequält hatten, verschwunden waren.
    In der Nacht wurde Ben wach, weil Sarah sich gerade Badewasser einlaufen ließ. Er trat ins Badezimmer und als sie sich umdrehte, sagte sie mit einem leisen Lächeln im Gesicht: „Ben, ich glaube es geht los!“

  • Ben blieb wie vom Donner gerührt stehen. „Ach du liebe Güte-bin ich jetzt da dran schuld, weil ich…“ fragte er voller Schrecken, aber Sarah sah ihn nur liebevoll an und schüttelte den Kopf. „Ben-irgendwann muss unser Zwerg einfach raus-dem wird’s langsam zu eng und ich sage dir, mir reichts jetzt auch langsam! Klar sind im Sperma Prostaglandine enthalten, die wehenauslösend wirken können, aber es ist jetzt einfach an der Zeit!“ sagte sie und hörte in diesem Moment zu reden auf, hielt sich an der Badewanne fest und begann tief in den Bauch zu atmen, wie sie es im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte. Ben, der erst ein paar Sekunden brauchte um zu kapieren, was Sarah da machte, war dann aber mit zwei Schritten bei ihr und begann ihr den Rücken zu massieren. Sarah überließ sich seiner liebevollen, aber doch kräftigen Berührung und nach einiger Zeit war die Wehe vorbei und Sarah richtete sich wieder auf. „Das hat richtig gut getan, als du mich massiert hast-ach Ben, ich bin so froh, dass wir die Geburt unseres Kindes gemeinsam erleben können. Ich habe irgendwie auch gar keine Angst, denn ich weiss, dass wir beide das zusammen schaffen werden!“ sagte sie und zog sich dann aus, um in die inzwischen vollends eingelaufene Wanne zu steigen.
    „Mach mal ne CD an!“ bat Sarah und ohne zu widersprechen legte Ben in den CD-Player außerhalb des Bads ein, deren Lautsprecher in die Wand des Badezimmers eingelassen waren und auf Sarah´s Wunsch hin erfüllten Bach´s Brandenburgische Konzerte leise den Raum. Ben stand ja eher auf Rockmusik, aber jetzt sagte Sarah an, was sie hören wollte, sie war die Hauptperson! Ben putze sich jetzt erst mal vorsichtshalber die Zähne und fragte dann: „Sarah-meinst du, ich kann noch schnell duschen, oder müssen wir gleich losfahren?“ wollte er wissen, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Klar kannst du noch duschen-die Wehen kommen erst so alle zehn Minuten, lass dir nur Zeit!“ sagte sie und Ben sprang nun eilig unter die Dusche. Während er duschte, hatte Sarah in der Wanne die nächste Wehe, aber die war so viel angenehmer auszuhalten als draußen. Sie schwamm in der großen Badewanne, das warme Wasser wirkte krampflösend und entspannend und so war die Wehe fast schmerzfrei vorbei, bevor Ben fertig war. Sarah badete sowieso sehr gerne, während Ben die Wanne seit er diese Wohnung bewohnte, höchstens fünf Mal benutzt hatte-er duschte einfach lieber. Sarah hingegen liebte es nach einem stressigen Tag mit wohlriechenden Badezusätzen in der Wanne zu entspannen und so empfand sie es einfach richtig und gut jetzt zu baden.


    Bei der nächsten Wehe saß Ben auf dem Rand der Badewanne und fragte: „Was soll ich machen?" denn irgendwie war es faszinierend und auch ein wenig Furcht einflößend, mit welcher archaischen Gewalt die Natur ihr Werk machte. Ben konnte von außen sehen, wie sich der Uterus kontrahierte und das Kind nach unten drückte. Sarah´s Bauch war in den letzten Tagen schon immer tiefer gewandert und sie hatte öfter zur Toilette gemusst, weil im kleinen Becken nun weniger Platz war. Sarah hatte zwischen zusammengepressten Lippen gestöhnt: „Du brauchst nichts machen, es ist gut!“, aber nun war Ben eingefallen, das Verspannung immer schlecht war und so hatte er jetzt die Hand auf den brettharten Bauch gelegt und kommandiert: „Locker lassen, tief ausatmen!“ und tatsächlich, jetzt fiel es auch Sarah wieder ein, was sie gemeinsam gelernt hatten und sie lockerte ihre zusammengepressten Mundwinkel. Verspannung bedeutet Schmerz, aber das Kind sollte jetzt einfach raus und je lockerer sie ließ, desto schneller würde es gehen! Ben fühlte, wie die Kontraktion nachließ und Sarah wieder normal atmete. „Danke Ben!“ sagte sie nun und Ben sah jetzt unauffällig auf die Uhr.
    Die nächste Stunde verbrachten sie gemeinsam im Badezimmer. Sarah ließ immer wieder warmes Wasser nachlaufen und veratmete unter Ben´s Anweisungen die Wehen. Er selber hatte sich schnell nen Kaffee raus gelassen und auch für Sarah Tee gekocht, aber als sie auch nur einen kleinen Schluck genommen hatte, war es ihr während der nächsten Wehe schlecht geworden, als der Magen nach oben gedrückt worden war und sie bat ihn, die Tasse wieder mit zu nehmen. Ben sah nun immer häufiger zur Uhr. Inzwischen kamen die Wehen im Fünf-Minuten –Takt. „Sarah, möchtest du nicht langsam aus der Wanne kommen, ich glaube, dir wachsen allmählich Schwimmhäute!“ bat er, denn so langsam hatte er die Befürchtung, dass sie das Kind nun bald hier in ihrem Badezimmer zur Welt bringen würde und er hatte fürchterliche Angst, dass da irgendwas passieren könnte. Er war doch völlig ahnungslos, was er tun sollte und außerdem hatte er auch Sorge, dass sein Baby auf dem Weg zur Klinik im Auto geboren würde. Auch er hatte schon einmal einen Raser im Stadtverkehr gestellt, aber als der angehalten hatte, war er nach einem Blick ins Innere schnellstens zurück in seinen Wagen gesprungen und hatte mit Blaulicht den Weg zur Geburtsklinik frei gemacht. Die Frau hatte es gerade noch in den Kreißsaal geschafft und der Vater hatte sich hinterher mit einer Kiste Bier und einem Dankesschreiben erkenntlich gezeigt-natürlich hatte der keine Anzeige gekriegt.


    Als Sarah nun mit seiner Hilfe aus der Wanne gekrabbelt war und sich abgetrocknet hatte, stöhnte sie laut bei der nächsten Wehe, die nun schon sehr schnell kam. „Ben du hast Recht! Wir sollten jetzt los!“ sagte sie, denn nun drückte schon alles nach unten. Ben holte ihr schnell ein frisches weites T-Shirt und ne Jogginghose, sie schlüpfte in ihre Birkenstockschlappen, griff nach einem frischen Badehandtuch und Ben schnappte sich nur schnell den vorbereiteten Koffer aus dem Kinderzimmer und ging mit ihr dann langsam die Treppe hinunter. Einmal mussten sie auf dem Treppenabsatz stehen bleiben, denn schon kam die nächste Wehe und Sarah klammerte sich am Geländer fest und bemühte sich, nicht laut zu sein, damit ihre Nachbarn nicht aufwachten. Es war inzwischen drei Uhr geworden. Eigentlich stand in der Tiefgarage der nagelneue VW-Passat-Kombi, den Ben gekauft hatte, nachdem die erste Familienkutsche, ein BMW, von Kugeln durchsiebt worden war und nur schlimme Erinnerungen geweckt hatte. Ben hatte ihn dem Händler zurückgegeben, die Vollkaskoversicherung hatte zwar nicht den ganzen Verlust abgedeckt und Ben hatte schon draufgezahlt, aber das war ihm egal gewesen-in diesem Wagen sollte sein Kind nicht transportiert werden.


    Der silberne Dienstmercedes stand direkt vor dem Haus und Ben hatte nun das Gefühl, es pressierte und ehrlich gesagt, Sarah auch. Klar war es sehr unwahrscheinlich, dass jetzt mitten in der Nacht in Köln Stau war, aber Ben öffnete trotzdem kurz entschlossen die Beifahrertür des Mercedes, Sarah legte noch das Badehandtuch auf den Sitz, falls die Fruchtblase unterwegs platzte und Ben rannte um den Wagen herum, schmiss den Koffer auf den Rücksitz und war schon mit Vollgas und quietschenden Reifen unterwegs, bevor Sarah sich überhaupt angeschnallt hatte. „Ben fahr langsamer!“ stöhnte Sarah, die schon wieder von der nächsten Wehe überrollt wurde, was in dem Autositz sehr unangenehm war. „Wir drei wollen doch lebend ankommen!“ und nun verringerte Ben das Tempo ein bisschen. Als er an der ersten roten Ampel ankam, schaltete er kurz entschlossen das Blaulicht an-diese Einsatzfahrt würde er der Krüger schon zu erklären wissen-und wenig später waren sie in der Notaufnahme der Uniklinik angelangt. „Schnell, meine Frau bekommt ein Kind!“ brüllte er regelrecht in den Lautsprecher und schoss, kaum dass sich das Rolltor öffnete in den Ausladebereich der Notaufnahme. Eine Schwester machte die Beifahrertür auf und sagte schmunzelnd: „Immer langsam mit den jungen Pferden!“ und als sie erkannte, wer da auf dem Beifahrersitz war, sagte sie freundlich: „Hallo Sarah-na ist es so weit?“ und die nickte, während die Schwester nun schon einen Rollstuhl herholte und Sarah hineinhalf. In diesem Moment gab es ein leises Geräusch und schon breitete sich auf dem Boden und zwischen Sarah´s Beinen ein kleiner See aus. „Na das war ja jetzt ein passender Moment für den Blasensprung-da muss der Papa das Auto schon nicht sauber machen!“ lächelte die erfahrene Schwester und nun legten sie ein paar Moltontücher und Vorlagen unter und die Pflegekraft schob den Rollstuhl in die Notaufnahme.
    Ben wollte ihnen nachlaufen, aber die Schwester sagte in strengem Ton: „Sie fahren jetzt erst das Auto auf den Parkplatz-wir können hier nicht eine ganze Notaufnahmebucht blockieren. Ich bringe Sarah jetzt direkt auf die Entbindungsstation und sie kommen dann über den Haupteingang auch dorthin!“ befahl sie und als Sarah ihm zunickte, machte Ben zögernd das, was Sarah´s Kollegin ihm befohlen hatte. Er parkte den Wagen, packte den Koffer und rannte beinahe zum Haupteingang und von dort zur Entbindungsstation.


    Er wusste auch genau wo das war, denn er war mit Sarah dort zu einer Informationsveranstaltung gewesen und hatte da zum ersten Mal in seinem Leben einen Kreißsaal besichtigt. Eigentlich hatte er gedacht, das wäre ein Raum wie ein OP, aber das war eigentlich ein gemütliches ansprechendes großes Zimmer mit einem merkwürdigen runden Bett in der Mitte, das aber eigentlich sehr bequem aussah. Klar waren auch Anschlüsse für Sauerstoff vorhanden und OP-Leuchten waren für alle Fälle an der Decke angebracht-im Nebenraum war eine Notfalleinheit für die Versorgung kritischer Neugeborener untergebracht, aber da hoffte ja niemand, dass man die benötigte. Trotzdem waren Sarah und er sich von Anfang an einig gewesen, dass sie in die Uniklinik zum Entbinden gehen würde. Das war ihr Arbeitsplatz, da wusste sie sich und vor allem das Kind bestens versorgt und nach den ganzen Dingen, die ihr in der Schwangerschaft schon passiert waren, war Sicherheit einfach das Wichtigste für sie. Freunde und Bekannte hatten von den verschiedensten Geburtshäusern, von Hausgeburten und vielen anderen alternativen Methoden geschwärmt, aber das kam für Sarah nicht in Frage. Wenn in der Geburtshilfe ein Notfall eintrat, dann hatte man Eines nie-nämlich Zeit. Da lief die Uhr gegen das Leben des Kindes und manchmal auch der Mutter und wie viele behinderte Kinder waren so schon entstanden, weil einfach nicht schnell genug eingegriffen werden konnte, wenn es zu Komplikationen im Geburtsverlauf kam!


    Diese ganzen Gedanken schossen Ben durch den Kopf, während er zur Entbindungsstation eilte und draußen auf den Klingelknopf drückte. Eine Schwester holte ihn herein und bat ihn direkt in den Kreißsaal, wo Sarah schon auf dem Entbindungsbett lag und die Hebamme gerade dabei war, sie zu untersuchen, wie weit der Muttermund geöffnet war. „Na prima Sarah, du bist ja schon fast vollständig-ich würde sagen, in Kürze haben wir den Zwerg!“ sagte die Hebamme freundlich und nun stöhnte Sarah auf, denn mit Macht kam nun die nächste Wehe. Ben wurde von der Schwester zum Bett geschoben und bis er sich versah saß er hinter Sarah auf dem Geburtsbett im Schneidersitz und hielt sie von hinten in den Armen. Der war nun anzusehen, wie groß ihre Schmerzen waren und Ben wurde, als er ihren verkrampften Gesichtsausdruck sah, von einer Welle des Mitleids überrollt. „Für eine PDA ist es leider schon zu spät!“ sagte die Hebamme, aber als die Wehe nachließ, sagte Sarah: „Die will ich sowieso nicht!“ und die Hebamme nickte. Man legte um Sarah´s gewölbten Bauch eine Art Gürtel, mit der ein Aufzeichnungsgerät für die Herztöne des Kindes dort befestigt wurde. Die waren regelmäßig und lagen um die 140 Schläge pro Minute, was genau richtig war. Schon kam die nächste Wehe und Sarah hatte sich zuvor in den Vierfüßlerstand erhoben. Während Sarah beim Ausatmen laut stöhnte-es erleichterte ihr die Schmerzverarbeitung und anders als zuhause, wo man ja niemanden stören wollte, war hier ein geschützter, schallisolierter Bereich, in dem die anstrengende und schmerzvolle Geburtsarbeit etwas völlig Normales war, da dufte man sich als Frau gehen lassen und wurde sogar von der Hebamme ermuntert: „Ja Sarah, lass den Schmerz raus!“ sagte sie.
    Ben massierte nun Sarah´s unteren Rücken, ihr T-Shirt war nach oben gerutscht und weil sie plötzlich fürchterlich schwitzte, zog sie es nach der Wehe kurzerhand aus. Hier war Nacktheit etwas völlig Normales, man richtete sich nach den Bedürfnissen der Frau und als die Hebamme Ben ein wenig wohlriechendes Massageöl auf die Hand gab, verrieb er das in ihrer Lendenpartie und schon war die nächste Wehe da. Die Herztöne des Kindes wurden nur leicht schneller, während die Wehe andauerte und das war ein gutes Zeichen. „Eurem Kind geht es gut!“ sagte die Hebamme ermunternd, „es freut sich darauf, endlich Mama und Papa zu sehen!“ und nun bat sie Sarah, sich kurz wieder mit gespreizten Beinen auf den Rücken zu legen. Sie untersuchte und der Muttermund war vollständig und verstrichen. Das Köpfchen lag genau richtig, nun konnte die Austreibungsphase beginnen.


    Die Hebamme nickte der Schwester zu und sagte leise: „Rufst du dann den Kinderarzt und die Gynäkologin, wir sind gleich so weit!“ da überrollte Sarah schon die nächste starke Wehe. Diesmal schrie sie auf, sie hatte gerade das Gefühl, es nicht mehr aushalten zu können, sie war völlig erschöpft und ihr Körper machte etwas mit ihr, was sie nicht kontrollieren konnte-ein Scheißgefühl. Und Ben sah sie nur hilflos mit einem Dackelblick an, kaum hatte sie wieder Luft zum Atmen, da schrie sie ihn an: „Du Arschloch-und du bist schuld daran!“ aber bevor sie ihn weiter beschimpfen konnte, war schon die nächst Wehe da. Ben sah sie völlig geschockt an. Wie meinte Sarah das-aber sie hatten doch beide ein Kind gewollt-oh verdammt, was sollte er nur tun? Die Hebamme beruhigte ihn: „Sie meint das nicht so-es wird ihr gerade nur alles zu viel!“ sagte sie und schon standen der Kinderarzt und die Gynäkologin im Kreissaal. Für alle Fälle legte die Frauenärztin noch einen Zugang-aber das war reine Formsache, falls ein Notfall eintreten würde. „Sarah möchtest du ein wenig Buscopan haben?“ fragte die Hebamme freundlich, aber Sarah schüttelte vehement den Kopf, so dass ihre dunkelblond gelockten, im Augenblick vor Anstrengung feuchten Haare nur so flogen. „Nein!“ presste sie zornig hervor und nun hatte sie schon das Gefühl, sie müsste zur Toilette. Sie wollte aufstehen, um zur Toilette zu eilen, aber die Hebamme hielt sie zurück. „Ich muss aber aufs Klo!“ schluchzte Sarah, aber die Hebamme schüttelte den Kopf. Nein Sarah-das ist das Köpfchen, das drückt auch auf den Darm, wir müssen jetzt konzentriert zusammen arbeiten, dann hast du es bald geschafft!“ sagte sie und Sarah legte sich aufschluchzend wieder zurück. „Wie möchtest du dich hinlegen-so auf den Rücken oder lieber anders?“ fragte die Hebamme und Sarah versuchte es nun, sich hinzuhocken. Von der Decke des Kreissaals hing ein stabiles Tuch mit mehreren Knoten drin, daran hielt sie sich fest und nun überkam sie ein unbändiger Drang zu pressen. Die erfahrene Hebamme, die schon tausende Kinder zur Welt gebracht hatte, nickte ihr zu. „Ja Sarah-gut so-jetzt darfst du drücken-einfach wie beim Stuhlgang-nur das Atmen nicht vergessen!“ sagte sie und kommandierte: Einatmen-ausatmen und Sarah überließ sich deren Führung. Die Mutlosigkeit und Schwäche, die sie vorher überkommen hatte, war mit einem Schlag vorbei und einer unbändigen kreativen Kraft gewichen. Jetzt fühlte sie den Schmerz kaum noch, sie drückte nach der Anweisung der Hebamme auf Kommando, atmete und merkte selber, wie das Kind sich Millimeter um Millimeter nach außen bewegte.
    Ben sah Sarah fasziniert an. Eine wilde, unbändige Schönheit war zu spüren. Sarah´s volle Brüste mit den dunklen Warzen, die in der Schwangerschaft merklich größer geworden waren ragten über den vollen Bauch, der schon sehr weit unten war. Sie hockte da und tat die kreativste Arbeit die eine Frau vollbringen konnte, sie brachte ein Kind zur Welt-sein Kind-und natürlich auch das Ihre! Sarah hatte sich ein wenig gedreht und nun hatte die Hebamme mit einem Tuch gegen den Damm gedrückt, aber Ben konnte nun einen Schopf dunkler Haare zwischen ihren Beinen erscheinen sehen. Sarah legte sich zurück, ihre Oberschenkel hatten zu zittern begonnen und Ben wischte ihr mit einem feuchten Waschlappen, den ihm die Schwester in die Hand gegeben hatte, die schweißfeuchte Stirn ab. Sarah griff nach seinen beiden Händen und während die Hebamme sie nun bat, nicht zu drücken, damit das Köpfchen langsam durchtrat und der Damm nicht riss, versuchte sie ein wenig zu hecheln, wie sie es im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatte. Bei der nächsten Wehe durchfuhr sie ein starker Schmerz, der sie zum Aufschreien brachte, aber nun sagte die Hebamme: „Wir haben das Köpfchen!“ und sie hielt das kleine Gesichtchen, das nach unten blickte, schützend in ihren Händen. Bei der nächsten Wehe entwickelte sie mit geübter Drehbewegung die Schulter und mit einem kleinen Schwall Fruchtwasser flutschte der Rest des Kindes heraus. Die Hebamme warf nur einen kurzen Blick auf das Geschlecht des Baby´s und legte es dann feucht und blutig wie es war, bäuchlings auf Sarah´s Bauch. Sie deckte ein angewärmtes Handtuch darüber und während Ben und Sarah nun in diesem hoch emotionalen Moment die Tränen kamen, sagte sie: „Gratuliere-ihr habt einen Jungen!“ und Sarah und Ben legten nun beide die Hände auf ihren Sohn und Ben sagte nur voller Insbrunst: „Danke-willkommen im Leben, kleiner Schatz!“ bevor es ihm vor Rührung die Stimme verschlug.

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