Kellerkinder

  • Kellerkinder


    Die A4 – ein Wintermärchen?


    Aus dem anfänglichen Schneeregen war ein kräftiges Schneetreiben geworden, das es vermochte, die Gegend innerhalb weniger Stunden in eine wunderschöne Winterlandschaft zu verwandeln. Der Schnee lag auf den Wiesen, Büschen und Zweigen der Bäume, sparte aber leider die Straßen und Autobahnen nicht aus. Eine weiße Decke, sehr zur Freude der Naturliebhaber und Spaziergänger auf der einen, allerdings zum Ärgernis der Autofahrer auf der anderen Seite, die vor einer einzelnen Schneeflocke ebenso ängstlich auf die Bremse sprangen, wie beim Anblick einer Maus eine Frau im Cartoon auf einen Stuhl.


    Auf der A4 kroch der Verkehr auf der rechten Spur. Die linke war kaum benutzt und wies bereits eine durchgehende Schneedecke auf, während sich rechts noch zwei graue Fahrspuren vom übrigen weißen Belag abhoben. Der seit Tagen tief gefrorene Boden reagierte auf den anfänglichen Schneeregen mit gefährlichem Glatteis. Vorausschauendes, vorsichtiges Fahren war erforderlich, um unfallfrei und ohne größere Rutschpartie sein Ziel zu erreichen. Die Autoschlange bahnte sich mit großen Abständen ihren Weg. Mittendrin: Ben Jäger.


    Ben löste an diesem Tag sein Nikolausversprechen ein und war mit Ayda und Lilly zum Weihnachtsmärchen der Kinderbühne Aachen gefahren. Nach einem kurzweiligen Theaterbesuch befanden sich die drei jetzt, am frühen Abend, auf der Heimfahrt nach Köln. Dass das Wetter in diese Richtung umschlagen würde, hatte mittags noch niemand ahnen können. Ben, der sich zu Beginn der Fahrt noch angeregt mit den 8- und 3-jährigen Mädchen über das Theaterstück unterhalten hatte, dann aber merkte, dass die Kinder immer schläfriger wurden und ihnen schließlich die Augen zufielen, fuhr langsam und konzentriert dahin. Er schaltete das Autoradio ein und drehte die Lautstärke auf eine angenehme Lautstärke runter. Das Fahren bei diesen Witterungsbedingungen stellte für ihn keine besondere Schwierigkeit dar, solange der Wagen rollte, konnte ihnen nichts passieren, nur Bremse und Gas mussten sparsam dosiert werden, um ein unkontrollierbares Rutschen zu vermeiden. Gefahr ging eigentlich nur von den anderen Verkehrsteilnehmern aus. Solange sich aber jeder an die gleichen Winterfahrregeln hielt, konnten alle sicher ihr Ziel erreichen. Es war mittlerweile stockdunkel und der Schneefall ließ die Scheibenwischer nicht zur Ruhe kommen. Die Sicht reichte, soweit die Scheinwerfer reichten oder eben bis zu den Rücklichtern des Vorausfahrenden.


    Es war nur ein Schatten, den Ben wahrnahm. Er kam von rechts über die Böschung auf die Standspur und bewegte sich auf die Fahrspur zu. War es ein Mensch? Ein großes Tier? Ben nahm den Fuß vom Gas, sein Audi verringerte auch brav die Geschwindigkeit. Schemenhaft schlich der Schatten voran, stoppte nicht und zwang Ben so doch zu einer bei diesen Straßenverhältnissen eigentlich zu vermeiden gewesenen Vollbremsung und Lenkbewegung nach links. Sein Wagen reagierte mit einer Schlitterpartie von der rechten auf die linke Fahrspur, ein Lenken war nicht mehr möglich. Dann prallte er gegen die Mittelleitplanke und wurde auf die Fahrbahn zurückgeschleudert, wo er - jetzt fast zum Stehen gekommen – den Schatten touchierte und schließlich zum Stehen kam. Das Ganze begann bei einer Geschwindigkeit von etwa 45 km/h, welche sich durch das Bremsmanöver weiter verringert hatte, so dass sich die Schäden am Auto und – natürlich viel wichtiger – ihrer Insassen in Grenzen hielt.


    Ben blickte sich um. Ayda schaute ihn mit großen Augen an: „Was war das, Ben?“ Lilly hingegen schien den Vorfall gänzlich verschlafen zu haben. Der Wagen, der seit geraumer Zeit hinter Ben fuhr, konnte auf die Standspur ausweichen, der ihm Folgende wollte noch auf der Fahrspur bremsen und fuhr mit Schrittgeschwindigkeit in Bens quer zur Fahrspur stehendes Auto und versetzte dieses um etwa einen Meter. Jetzt war auch Lilly wach und schaute sich verwirrt um. Dann war es ganz still. Weiter hinter ihnen kam es noch zu mehreren Auffahrunfällen, die aufgrund der geringen Geschwindigkeit alle glimpflich verliefen und lediglich zu Blechschäden führten. „Seid ihr in Ordnung?“, wollte Ben von Ayda und Lilly wissen, diese nickten als Antwort. „Ihr bleibt im Wagen! Ich schaue nach, was das war.“ Ben löste seinen Gurt, öffnete die Fahrertür und setzte einen Fuß auf den Asphalt. Er wäre fast ausgerutscht und konnte einen Sturz nur durch das Festklammern an der Fahrertür vermeiden. Dann beugte er sich noch einmal ins Wageninnere: „Bleibt auf jeden Fall hier drinnen sitzen, hier draußen ist es schweineglatt!“


    Eine Hand immer am Wagen, tastete er sich vorne um die Motorhaube des Audis herum und blickte zu Boden. Er fuhr zusammen. Kein Schatten! Kein Tier! Vor ihm lag – eine Frau!

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • In der PAST

    „Ger-kan!“, drang die laute Stimme der Chefin durch die Dienststelle der Autobahnpolizei, „kommen Sie mal in mein Büro?“ Hauptkommissar Semir Gerkan sah über seinen Monitor zu seinem Partner Alex Brandt, mit dem er sein Büro teilte. Dieser meinte nur trocken, ohne von seiner Arbeit aufzublicken: „Oh Ooh, sie singt dein Lied. Wahrscheinlich hat sie den Bericht über die letzte Fahrt deines BMW entdeckt.“ – „Kann ja nicht jeder so ein verdammtes Glück haben, wie du. Wie lange fährst du jetzt unfallfrei bei uns?“ – „4 Monate ohne Kratzer, im Gegensatz zu dir kenne ich sogar unsere Waschanlage.“ Semir rollte seine Augen nach oben und mit seinem Schreibtischstuhl nach hinten und stand langsam auf, um den Ruf seiner Chefin zu folgen. „Ich kann alles erklären, Frau Krüger. Es war alles ganz anders, als sie denken.“


    Er kam nicht dazu, ihr die näheren Umstände zu erläutern, die vor fast zwei Wochen die Neuanschaffung eines neuen Dienstwagens erforderlich machten, denn sein Handy klingelte und zeigte den Anruf von Ben an. Da Semir wusste, dass sein Freund mit seinen Töchtern unterwegs war, hielt er für wichtig, das Gespräch anzunehmen. „Entschuldigen Sie, Frau Krüger, ich muss da eben mal rangehen. Einen Moment.“ Semir nahm das Telefonat entgegen. „Ja, Semir“, meldete er sich. “Semir, ich hatte einen Unfall“, hörte er Ben leise sprechen. „Was ist mit Ayda und Lilly? Seid ihr in Ordnung? Wo seid ihr?“ Semir stellte drei Fragen in einem einzigen Atemzug und blickte aus dem Fenster der PAST auf die tanzenden Schneeflocken. “Es geht ihnen gut, Semir.“ Nach einer längeren Pause, in der keiner der beiden etwas sagte, kam dann „Ich habe eine Frau angefahren.“ Ben musste unter Schock stehen, er klang so abwesend, Semir musste sofort hin zu ihm und seinen Kindern. „Wo, Ben? Wo?“, wiederholte er deshalb seine Frage von vorhin und war schon halb zurück in seinem Büro, um seine Jacke zu holen und Alex Bescheid zu sagen. “Ben, hörst du mich? Wo bist du?“ – „Was, wenn sie stirbt, Semir?“, fragte Ben statt auf Semirs Frage zu antworten. „Ben, sag mir jetzt endlich, wo du bist!“, forderte Semir jetzt in einem schärferen Ton. „Auf der A4, kurz vor Kerpen.“ – „Der Glatteisunfall?“ Semir hatte mitbekommen, dass seine uniformierten Kollegen zu mehreren Auffahrunfällen ausgerückt waren. „Wir sind unterwegs. Warte auf mich, und lass die Heizung laufen“, gab er ihm noch den Tipp. Semir steckte sein Handy ein. „Alex, komm, es gibt Arbeit.“


    Im Rausgehen warf er noch einen Blick in das Büro seiner Chefin, die das Gespräch mit halber Aufmerksamkeit verfolgt hatte. „Hauen Sie schon ab, wir reden morgen“, gab sie ihr okay zu dem Aufbruch ihrer Kripo-Beamten.


    Langsam, aber doch deutlich schneller als der übrige Verkehr fuhren Semir und Alex zur Unfallstelle. Ihre Kollegen Dieter Bonrath und Jenny Dorn waren schon länger vor Ort und nahmen die Schäden und Zeugenaussagen auf. Auf der freien Standspur rollte Semir an den Auffahrunfällen - wie es schien, gab es hier nur Blechschäden - vorbei. Verstörte Leute und Hilfskräfte von Feuerwehr und Polizei waren damit beschäftigt, das Chaos zu mindern, heißen Tee und Decken zu verteilen, denn die Abschleppwagen hatten gerade erst mit ihrer Arbeit begonnen. Ganz vorn erkannte er Bens Audi. Vorne und an der Seite lädiert, stand er quer zur Fahrbahn. Semir kam neben ihm zum Halten und stieg aus.


    Mittlerweile hatte sich hier eine mehrere cm dicke Schneeschicht angesammelt, durch die er zur Beifahrertür des Audis stapfte. Alex sah sich um und entschied, seinen uniformierten Kollegen zu helfen. Erleichtert, seine Töchter und auch Ben wohlauf zu sehen, beeilte sich Semir einzusteigen. „Was ist passiert, Ben?“ – Ben hatte nicht registriert, dass Semir eingestiegen war und starrte durch die Windschutzscheibe auf einen imaginären Punkt in der Ferne. „Und euch“, er drehte sich zu seinen Kindern um, „geht es euch gut?“ – „Ja“, sagte Ayda und Lilly nickte müde, „ein Krankenwagen kam und hat die Frau mitgenommen“, fügte sie hinzu. „Das ist gut, dann wird ihr bestimmt geholfen.“ - „Ich habe sie zu spät gesehen, sie ist mir ins Auto gelaufen. Ich wollte ausweichen und bremsen, dabei bin ich in die Leitplanke und habe sie gestreift, dann ist mir der Golf noch reingefahren.“ Ben sprach ohne Betonung und ohne Blickkontakt mit Semir aufzunehmen. Semir sah ein, dass es keinen Zweck hatte, seinem Freund weitere Fragen zu stellen. Ben war in diesem Moment zu keiner vernünftigen Antwort fähig. „Los, ich fahr euch nach Hause. Hilfst du mir mit den Kindern, Ben? – Ben?“ Die letzte Frage stellte er etwas lauter, so dass Ben den Kopf drehte und nickte. „Ja.“ Sie stiegen beide aus und halfen den Kindern beim Umsteigen in den BMW. Als diese wieder in ihrem Kindersitz bzw. auf der Sitzschale angeschnallt saßen, suchte Semir nach Alex, klärte ihn kurz darüber auf, dass er nun Ben und die Kinder nach Hause fahren und dann auch Feierabend machen würde. Alex sollte doch bitte später mit Bonrath zurück in die PAST fahren. Sie sähen sich dann morgen.


    Nachdem auch Ben auf dem Beifahrersitz und Semir hinter dem Lenkrad Platz genommen hatten, verließen sie langsam die Unfallstelle.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

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    Ihr seid spät

    „Ihr kommt spät“, empfing Andrea Ben und ihre Kinder und erblickte dann Semir, „Semir, du? Ist was passiert?“ Auf Andreas Instinkt war schon immer Verlass, ein gemeinsames Eintreffen ihres Mannes mit den Ausflüglern wäre ein zu großer Zufall gewesen. „Ben hatte einen Unfall. Und Papa hat uns abgeholt“, klärte Ayda ihre Mutter auf, „es hat ganz laut gescheppert und eine Frau ist im Krankenwagen weggefahren worden.“ – „Aber euch ist nichts passiert?“, fragte Andrea mit besorgtem Blick auf Ben, während sie Lilly half, ihre Jacke auszuziehen und diese an die Garderobe zu hängen, was Ayda mit ihrer bereits erledigt hatte. „Nein“, übernahm Semir das Antworten, „nur der Wagen musste abgeschleppt werden, weil die Scheinwerfer vorne kaputt waren und das Blech des hinteren Kotflügels den einen Reifen blockierte. Ich habe sie an der Unfallstelle abgeholt.“ – „Nun kommt erst einmal rein, ich habe Abendbrot vorbereitet. Und dann wird es auch langsam Zeit für die Kinder. Morgen ist wieder Schule und Kindergarten.“


    Nach dem Abendessen, bei dem der Unfall als Thema bewusst ausgespart wurde und stattdessen Ayda und Lilly begeistert von der Theateraufführung berichteten, brachte Andrea die Kinder zu Bett und setzte sich anschließend zu Semir und Ben, die noch am Esstisch saßen. „Ich habe die Frau angefahren, Andrea“, sagte Ben plötzlich und Andrea schaute ihn entsetzt an. „Was? Haben die Kinder…“ – „Ich glaube nicht, sie haben geschlafen. Sie sind erst durch den Unfall wieder aufgewacht. Sie haben sie nicht gesehen.“ – „Weißt du ob sie schwer verletzt war, Ben?“ – „Keine Ahnung, sie war zeitweise ansprechbar, ich habe sie auf eine Decke auf die Seite gelegt und den Krankenwagen gerufen. Aber wie kam sie auf die Autobahn? Und warum?“ – „Ich werde morgen versuchen, etwas zu erfahren, Ben“, versuchte Semir seinen Freund zu beruhigen. – „War sie alt, jung?“, wollte jetzt Andrea wissen. „Jung“, antwortete Ben, „etwa Mitte Zwanzig, schätze ich, blond, sie trug einen langen schwarzen Mantel. Deshalb habe ich auch nur einen Schatten im Schnee gesehen.“ Bens Schock ließ jetzt langsam nach, das Reden tat ihm gut.


    Semirs Handy unterbrach die Konversation am Tisch. „Ja, Semir. - Alex! – Wohin? – Okay, ich sag es ihm. – Nichts? Keine Papiere? – Oh, das klingt gut. Das wird Ben beruhigen. - In einigen Tagen erst? – Wir sehen uns morgen – Danke, dass du angerufen hast“, Semir beendete das Gespräch und begann, Ben und Andrea in Kenntnis zu setzen. „Sie haben dein Auto zu Audi Meyerhoff gebracht, du hattest einen Aufkleber von der Firma in der Windschutzscheibe. Alex hat noch mit dem Krankenhaus telefoniert. Viel wollte man ihm nicht sagen, nur so viel: die Frau ist außer Lebensgefahr und auch nur leicht verletzt, ein Arm ist gebrochen, schwere Prellungen am Bein, sie ist aber noch nicht vernehmungsfähig und steht auch noch unter Schock. Der Arzt sagte, frühestens in 2-3 Tagen könnten wir zu ihr. Sie wissen noch nicht, wer sie ist. In ihrem Rucksack waren keine Papiere. Wir werden uns das morgen näher ansehen und auch schauen, ob jemand vermisst wird.“ Ben atmete hörbar auf. Die Frau würde leben und wieder gesund werden.


    Sie saßen noch einige Zeit schweigend am Feuer. „Soll ich dir das Gästezimmer fertig machen, Ben?“, bot Andrea ihm eine Übernachtungsmöglichkeit im Haus seiner Freunde an. „Nein, Andrea, vielen Dank, aber ich werde mir ein Taxi rufen.“ – „Ich kann dich auch fahren“, sagte Semir. „Lass gut sein, bei dem Wetter brauchst du hin und zurück bestimmt zwei Stunden.“ Sie blickten gemeinsam aus dem Fenster, wo im Licht der Außenlaternen die Schneeflocken tanzten. Semir nickte. „Da könntest du Recht haben.“ Er rief in der Taxizentrale an. Obwohl dort bei diesem Wetter Hochbetrieb herrschte, versprach man ihm, innerhalb von 30 Minuten vor Ort zu sein.


    Vor der Tür sahen sie auf den zugeschneiten Vorgarten und die Auffahrt. Auch Semirs BMW hatte mittlerweile eine weiße Haube erhalten. „Kannst du mir eines erklären, Ben?“, fragte Semir nachdenklich. „Was?“ – „Wie kommt wohl der Schneepflugfahrer morgen früh zur Arbeit?“ Ben lachte als Antwort und Semir war sich sicher, dass sein Freund den Schrecken über den Unfall gut verarbeiten wird.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Identitätssuche


    Als Semir sich am folgenden Tag auf den Weg ins Büro machte, hatte der Winterräumdienst schon ganze Arbeit geleistet. An den Straßenrändern türmten sich – sehr zum Leidwesen der wenigen Radfahrer oft mitten auf dem Fahrradweg – die Schneemassen. Die Straßen waren geräumt und gestreut. Semirs Arbeitsweg nahm deshalb nur unwesentlich mehr Zeit in Anspruch als sonst. Mitten in der Nacht hatte es aufgehört zu schneien, der Himmel strahlte in hellem Blau und die Sonne stand tief und blendete die Autofahrer.


    Alex Brandt saß schon im Büro, als Semir eintrat. „Morgen, Alex“, begrüßte er seinen Partner, „wo ist die Tasche vom Unfallopfer von gestern?“, kam er gleich zu Sache. „Hier“, Alex zeigte auf einen schwarzen Rucksack, der auf dem niedrigen Aktenschrank lag. Semir leerte den Inhalt auf seinem Schreibtisch. Zum Vorschein kam neben Taschentüchern, Handcreme, einem unbeschriebenen Notizblock nebst Kugelschreiber ein Exemplar der Frauenzeitschrift „Saskia“ vom März des Jahres, demnach also neun Monate alt, zwei Kinderzeichnungen, zwei Fotos und ein Taschenbuch. Auf der Rückseite einer der Zeichnungen stand in einer erwachsenen Schrift der Name Katja, auf der anderen Zeichnung war in krakeliger Kinderschrift der Name Miriam vermerkt. Semir dachte laut „Miriam, Katja?“ – „Vielleicht ihre Kinder?“, vermutete Alex. Semir sah sich die Bilder noch einmal genauer an. „Dann muss sie sehr jung Mutter geworden sein. Immerhin ist sie erst Mitte Zwanzig, in etwa. Vielleicht sie selbst oder ihre Schwester? Wir werden sie fragen, sobald sie mit uns reden kann.“


    Die Rückseiten der Fotos waren leer, kein Datum des Abzugs, kein handschriftlicher Vermerk. Das eine zeigte ein Kind, blond, etwa zehn Jahre alt, das andere eine junge Frau, vielleicht das Unfallopfer selbst? Semir hatte sie ja noch nicht gesehen, hatte nur die Angaben von Ben, der von einer blonden Frau sprach, etwa 25 Jahre alt.


    Keine Papiere, kein Nachname, keine Adresse, nur die Namen Miriam und Katja.


    Semir stand auf und ging zur großen Wandkarte. Mit einem roten Pin markierte er die Unfallstelle. In der Nähe waren mehrere Bauernhäuser, ein Gewerbe- und ein Neubaugebiet. Dort werden sie sich umhören müssen und die Fotos zeigen, vielleicht kam die Frau von dort oder ist auf ihrem Weg gesehen worden.


    „Susanne!“, fragte Semir beim Verlassen seines Büros und trat mit den Fotos, Zeichnungen und der Zeitschrift an den Schreibtisch der Sekretärin heran, „kannst du für mich diese Bilder einscannen und auf mein Handy schicken, Vor- und Rückseite bitte? Und schau dir doch mal diese Zeitschrift an. Was könnte eine junge Frau dazu bewegen, die Zeitschrift neun Monate aufzubewahren und sie mitzunehmen, wenn sie auf die Autobahn laufen will?“


    Zunächst mussten sie feststellen, ob die Frau auf dem Foto identisch mit dem Unfallopfer ist, und um das heraus zu bekommen, rief Semir im Krankenhaus in Kerpen an, in das die junge Frau nach dem Unfall eingeliefert worden war.


    „Dr. Krauth?“, fragte Semir, als er den behandelnden Arzt endlich am Apparat hatte, „Semir Gerkan hier von der Kripo Autobahn. Es geht um das Unfallopfer von gestern Abend.“ -„Ich hatte doch Ihrem Kollegen, einem Herrn Brandt, bereits erzählt, dass die Patientin etwas Ruhe braucht.“ – „Die soll sie auch haben, Herr Krauth. Wir sind dabei, Hinweise auf ihre Identität zu sammeln und haben bei ihren Sachen ein Foto gefunden. Dürfte ich Ihnen das Bild zusenden? Per Mail? Vielleicht können Sie uns schon sagen, ob es sich um Ihre Patientin handelt.“ – „Das ist möglich“, willigte Dr. Krauth ein, „ich gebe Ihnen meine Mail-Adresse, Dr.-A-Krauth @ klinik-kerpen.de“ – „Danke, das Bild ist unterwegs. Sagen Sie, hat die Frau eventuell die Namen Katja oder Miriam genannt?“ – „Nein, sie hat noch gar kein Wort gesprochen“ – „Hat sich bei Ihnen jemand gemeldet, der eine Person vermisst?“ – „Das auch nicht. Ah, da ist das Bild. Ja, Herr Gerkan, das ist meine Patientin, ihre Haare sind auf dem Foto länger, aber… doch, ich mir ganz sicher, das ist sie.“ – „Danke, Dr. Krauth, das hilft uns weiter. Melden Sie sich bei uns, wenn wir mit ihr reden können? Und auch, wenn sich jemand nach ihr erkundigt?“ – „Das mache ich, Herr Gerkan. Auf Wiederhören“ – „Danke, Ciao!“ Semir legte den Hörer auf und wandte sich zu seinem Partner: „Komm, wir schauen uns an der Unfallstelle noch mal um, vielleicht finden wir jetzt bei Tageslicht irgendetwas.“


    „Wartet ihr kurz einen Moment?“, hielt Susanne die beiden Beamten beim Verlassen des Büros auf, „ihr könnt den Rucksack mit den Sachen zurückhaben, die Bilder sind eingescannt und die Zeitschrift habe ich als Datei vom Verlag erhalten. Handschriftliche Anmerkungen waren nicht enthalten. Den Inhalt prüfe ich später.“ Semir bedankte sich bei Susanne, nahm den Rucksack entgegen und verließ mit Alex die PAST.

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  • Spuren im Schnee


    Semir und Alex machten sich auf den Weg zur Unfallstelle. Die Autobahn war jetzt im Gegensatz zum Vorabend sehr gut befahrbar, der Schnee zur Seite geräumt. Nichts erinnerte an die Auffahrunfälle und daran, dass hier eine junge Frau vor Bens Auto gelaufen war. Semir hielt den BMW mit eingeschalteten Warnblinklichtern auf der Standspur ab. Alex und er stiegen aus und sahen sich um.


    Durch die Schneeräumaktion war die Stelle, an der Frau die Autobahn betreten hatte, nicht mehr deutlich zu erkennen. Die Böschung war von dem geräumten Schnee bedeckt und so waren keine Fußspuren mehr zu sehen.


    Semir schob den Reißverschluss seiner Winterjacke ganz nach oben und stapfte durch den Schnee auf die Böschung, um deren Rückseite zu inspizieren. Und hier waren Spuren im tiefen Schnee zu erkennen. Sie führten über ein verschneites Feld in gerader Linie von der Autobahn zu der kleinen Landstraße. „Alex“, rief er seinem Kollegen zu, „wie heißt das Dorf dort hinten? Da müssen wir hin! Ich brauche die Kamera!“ Alex, der noch in der Nähe des Dienstwagens stand, nahm die Straßenkarte und die kleine Digitalkamera aus dem Handschuhfach und machte sich auf den Weg zu Semir. Sie breiteten die Karte aus. „Das müsste Neu-Günzheim sein“, stellte Semir fest. „Dann lass uns dort hinfahren, oder willst du über das Feld?“ Alex betrachte, während er Semir antwortete, das von einem Stacheldraht eingezäunte verschneite Feld, auf dem die tiefe Spur deutlich zu sehen war, die die Frau auf ihrem Weg zur Autobahn verursacht haben muss, obwohl sie durch den Neuschnee schon wieder gut aufgefüllt war. „Nein. Ich werde nur ein paar Fotos machen.“ Semir nahm von Alex die Kamera entgegen und machte sich auf den Weg, die Böschung runter zur Fußspur.


    „Wir werden das Foto der Frau allen Streifenwagen zusenden, die sich hier in der Nähe einmal umhören sollten. Irgendjemandem ist die Frau vielleicht aufgefallen, eventuell stammt sie sogar aus diesem Dorf – wie heißt es noch gleich?“ – „Neu-Günzheim“ – „Neu-Günzheim, so viele Einwohner kann es hier ja nicht geben.“ Alex und Semir rollten langsam die Dorfstraße von Neu-Günzheim entlang, es war auch die einzige Straße im Ort. Als sie das letzte Haus hinter sich gelassen hatten, stellten sie den BMW am rechten Straßenrand genau gegenüber einer Feldauffahrt ab, auf der die Fußspur in Richtung Autobahn seinen Anfang nahm. Leider war nicht zu erkennen, aus welcher Richtung sie kamen, nur, dass sie von dieser Feldauffahrt, über ein Eisengatter auf das Feld und dann schnurstracks auf die Autobahn führten, welche man von hier deutlich hören konnte. Die beiden Polizisten stellten sich nebeneinander an das Gatter und blickten in die Richtung, welche die Frau genommen haben muss. „Gestern Abend“, begann Semir, „war es dunkel. Stell dir vor, sie kam entweder durch dieses Dorf, oder auf dieses Dorf zu, was könnte sie bewegt haben, über dieses Feld auf die Autobahn zuzugehen?“ Alex schwieg, dann äußerte er seine Vermutung. „In diesem Ort ist doch um 18:00 Uhr kein Mensch auf der Straße, es war kalt und hat geschneit. Dann war sie hier an diesem Feld und hat die Lichter der Autobahn gesehen. 17:00 oder 18:00 Uhr, um diese Zeit ist die A4 dicht befahren. Nur, warum hat sie an keiner Tür geklingelt?“ – „Vielleicht traute sie sich nicht? Vielleicht hat sie ja sogar, und wurde abgewiesen? Wir müssen rausfinden, wer sie ist und woher sie kam, dann werden wir auch Antworten auf diese Fragen finden.“ – „Dann lass uns hier im Dorf anfangen.“


    Sie klapperten Haus um Haus, Hof um Hof ab und befragten die Bewohner Neu-Günzheims. Zur fraglichen Zeit waren viele Bewohner noch gar nicht zuhause, weil sie in den umliegenden Ortschaften oder in Köln zur Arbeit waren, die beiden Landwirte, die noch Landwirtschaft betrieben, waren im Stall, um die Kühe zu melken, andere Bewohner wegen des Wetters im Haus. Keiner hatte eine Frau durch das Dorf gehen sehen. Kein Auto war aufgefallen. Alle waren erschüttert über die Unfallnachricht, über das, was sich direkt hinter ihren Feldern auf der Autobahn zugetragen hatte. Drei Stunden nach Beginn der Befragung waren Alex und Semir wieder am Dienstwagen angekommen und traten die Rückfahrt zur PAST an. „Hier scheint sie nicht herzukommen. Niemand hat sie auf dem Bild erkannt“, fasste Semir ihre ergebnislose Befragung zusammen, „wir fahren beim Krankenhaus in Kerpen vorbei. Vielleicht hat sie sich schon zu ihrem Namen geäußert.“

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  • Im Krankenhaus


    Auf gut Glück fuhren Alex und Semir nach Kerpen ins Krankenhaus. Dr. Krauth hatte sich zwar noch nicht gemeldet, aber die Kripo-Beamten wollten sich vor Ort ein Bild von dem Unfallopfer machen. Nicht nur Semirs Bauchgefühl sagte ihm, dass ein Mensch nicht grundlos, ohne einen bestimmten Antrieb im Dunkeln auf die Autobahn läuft. Und was diese junge Frau auf die Autobahn getrieben hatte, das wollte er möglichst bald in Erfahrung bringen. Sie stellten den BMW auf dem Besucherparkplatz ab und betraten die Klinik. Semir hatte den schwarzen Rucksack mitgenommen. Zumindest ihre Sachen könnte die Unbekannte wieder bekommen. Am Empfang wurde ihnen von der Angestellten die Station genannt, es war die 32, dort sollten sie sich dann weiter durchfragen. Dr. Krauth wäre auch im Hause, sie wäre gerne bereit, ihm zu sagen, dass Besuch für die Unbekannte da sei. Dieses Angebot nahmen die beiden Polizisten gerne an und gingen in Richtung Treppenhaus.


    Die Station 32 lag im dritten Stock. Ein langer Gang, den sie vom Treppenhaus aus betraten, führte an einer Reihe von Patientenzimmern vorbei. Den Zimmern gegenüber befand sich der Empfangstresen, dahinter Aufenthaltsraum und Teeküche. Als Semir an den Tresen trat, schritt ein glatzköpfiger Mittfünfziger aus dieser Teeküche und stellte sich ihnen als Dr. Krauth vor. Nachdem sich auch Semir und Alex ausgewiesen hatten, meinte der Arzt: „Ich hatte Ihnen doch gesagt, ich würde mich melden, wenn ich ein Gespräch mit der Patientin befürworte, Herr Gerkan.“ – „Ja, aber mein Kollege und ich waren gerade in der Nähe, und da dachten wir, wir fragen einfach mal nach.“ – „Dann kommen Sie, aber nur einer bitte.“ Alex hob abwehrend beide Hände, das würde er doch gerne seinem älteren Kollegen überlassen, und wandte sich einem Stuhl zu, der an der Wand hinter dem Empfang stand.


    Semir betrat das Patientenzimmer gemeinsam mit dem Arzt, der sich allerdings lediglich vergewisserte, dass die Patientin wach war. „Ich habe Ihnen Besuch mitgebracht“, sagte er zu ihr, als sie den Kopf zu den eingetretenen Männern drehte. „Herr Gerkan ist von der Polizei und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Sind Sie dazu bereit?“ – „Ich weiß nicht“, kam es leise aus dem Bett. „Ich warte dann draußen. Und machen Sie es kurz, bitte.“ Den letzten Satz sprach er nicht mehr zu seiner Patientin, sondern zu Semir. Dieser nickte und der Arzt verließ das Zimmer.


    „Guten Abend, mein Name ist Semir Gerkan, ich komme von der Kripo Autobahn.“ Sie nickte. Offenbar verstand sie genau, was er sagte. Das war schon mal ein gutes Zeichen. „Sagen Sie mir, wie Sie heißen?“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein.“ – „Nein? Können Sie mir den Namen nicht sagen, oder wollen Sie nicht?“ Semir zog sich einen Stuhl von unterhalb des Tisches hervor und setzte sich. Den Rucksack legte er auf den Tisch. Das könnte vielleicht doch länger dauern. Auf seine Frage erhielt er keine Antwort. „Sie wissen aber schon, wer Sie sind?“, fragte er jetzt, und erhielt ein leichtes Nicken zur Antwort. „Können Sie sich daran erinnern, was passiert ist?“ – „Ich kann mich an Schnee erinnern, ich bin durch Schnee gelaufen, habe Lichter gesehen und bin dann hier aufgewacht.“ - „Sie sind auf die Autobahn gelaufen und wurden von einem Wagen angefahren. Sie haben viel Glück gehabt, sind weich gefallen und das Auto ist gekrochen. Sie hätten sehr viel schwerer verletzt werden können.“ – „Es war so dunkel, ich wollte zum Licht“, versuchte die Frau, ihr Vorhaben zu erklären.


    „Woher sind Sie gekommen? Wurden Sie verfolgt, gejagt? Sind Sie geflohen? Warum haben Sie das Schneefeld überquert?“ – „Da möchte ich nicht drüber reden! Ist das in Ordnung?“ Semir musste tief Luft holen, um in einem ruhigen Ton sagen zu können: „Für heute ja. Aber ich werde so oft wiederkommen, bis Sie es mir gesagt haben. Wird Sie jemand vermissen? Sollen wir jemanden anrufen?“ – „Nein!“, kam es bestimmt von der Patientin.


    „Ich lege Ihnen meine Karte auf Ihren Nachttisch, falls Sie mit mir reden wollen oder -“, Semir schoss ein Gedanke durch den Kopf, „ - oder möchten Sie lieber mit einer Kollegin sprechen? Das verstehe ich, ich kann einer Kollegin Bescheid geben.“ – „Nein!“ Ihre Antwort unterstrich sie mit einem leichten Kopfschütteln. – „Schweigen hilft Ihnen bestimmt nicht. Wir haben uns Ihren Rucksack angesehen, weil wir hofften, so Ihre Identität ermitteln zu können, leider ohne Erfolg. Nur die Namen Miriam und Katja sind aufgetaucht. Heißen Sie so? Katja? Oder Miriam? Oder sind es Verwandte von Ihnen?“ – „Ich möchte dazu nichts sagen, bitte.“


    Semir gab für den Tag auf. „Das ist Ihre Entscheidung. Aber rufen Sie mich bitte an, falls Sie es sich anders überlegen“, bat er noch. „Ich überlege es mir.“ – „Gut, dann werde ich Sie für heute allein lassen. Aber wir können Ihnen helfen, egal was es ist, das sollten Sie wissen.“ Damit verließ Semir das Krankenzimmer.


    ‚Wenn der wüsste, wie dicht er schon an der Wahrheit gekratzt hatte. Irgendwann würde sie es erzählen, aber noch nicht heute‘, waren ihre letzten Gedanken, bevor sie einschlief.


    Draußen auf dem Flur nickte er Alex zu: „Komm, lass uns fahren, die schweigt sich aus. Aber sie weiß genau Bescheid, was geschehen ist, wir werden es auch ohne sie herausfinden, wenn wir erst wissen, woher sie gekommen ist.“ Sie verließen die Station und Semir blickte auf sein Handy. Während er bei dem Unfallopfer im Zimmer war, hatte er es lautlos gestellt. Jetzt sah er, dass Ben angerufen hatte und rief seinen Freund umgehend zurück. „Hallo Ben …..ja, ich war gerade bei ihr….nein, wir wissen noch nicht, wer sie ist, sie möchte nicht darüber reden…können könnte sie schon, nur wollen wollte sie nicht… und ich kann es schließlich nicht aus ihr herausprügeln…Wie? - Nein Ben, das mache ich auch sonst nicht, falls du dich entsinnst…geht so, bis auf den Armbruch, den Prellungen am Bein und der leichten Gehirnerschütterung hat sie Glück gehabt, sie ist weich gefallen….Willst du wirklich? Vielleicht hilft es ...tu das … solltest du aber etwas erfahren, rufst du mich an, ja? Okay Ben, bis dann.“ Semir steckte sein Handy wieder ein. Mittlerweile waren sie am Auto angekommen. „Ben will sie morgen besuchen.“


    ***


    In der PAST angekommen, mittlerweile war es später Nachmittag, veranlasste Semir noch, dass die Streifenwagenbesatzungen das Bild der Unbekannten erhielten und sich in einem Radius von 10km um Neu-Günzheim herum umhörten. Dann machten er und Alex Feierabend und fuhren nach Hause.

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  • Lena macht sich Sorgen


    Lena hatte früh Schulschluss, da ihre Sportlehrerin erkrankt und keine Vertretung möglich war. So fiel ihre letzte Doppelstunde aus und sie trat schon um 12:20 den Weg nach Hause an. Die 14-jährige wohnte mit ihren Eltern in einem kleinen Einfamilienhaus am Stadtrand von Kerpen und nahm den Linienbus bis zur Haltestelle „Waldweg“, von wo aus sie noch etwa eine viertel Stunde zu Fuß benötigte, um zu ihrem Elternhaus zu gelangen.


    Der Weg führte an einer Pferdekoppel vorbei, wo Eva Lange, eine Frau aus der Nachbarschaft ihre vier Pferde laufen ließ. Die Tiere waren ganzjährig auf der Weide, ein Offenstall bot ihnen Schutz vor dem Wetter. Frau Lange schaute üblicherweise mehrmals am Tag nach ihren Tieren, sie war nicht berufstätig und hatte deshalb viel Zeit. Jeden Morgen mistete sie den Stall aus, legte neues Stroh hinein, füllte die Raufen und Netze mit frischem Heu. Sie sorgte auch dafür, dass stets genug Wasser zum Saufen zur Verfügung stand, gerade im Winter war die Gefahr des Einfrierens der Tränke gegeben.


    Lena hatte insbesondere ein kleines schwarzes Pony in ihr Herz geschlossen, welches meist neugierig zum Zaun lief, wenn sie davor stehen blieb. Auch heute war es nicht anders. Während sie das Pony streichelte, schaute sie sich den Unterstand am Offenstall an und ihr fielen die leeren Heunetze und –raufen ins Auge. „Nanu“, sprach sie verwundert zu dem Vierbeiner, „hat Eva euch heute nichts zum Fressen gebracht?“ Sie schlüpfte zwischen den Zaunlatten hindurch und sah sich den Stall genauer an. Auch drinnen schien heute noch niemand gewesen zu sein, kein frisches Stroh, kein Heu. Sie betätigte noch die Tränke. „Na, wenigstens läuft das Wasser noch.“


    Lena verließ die Pferdeweide und nahm sich vor, gleich nach dem Mittagessen bei Eva Lange vorbeizuschauen. Vielleicht war sie krank geworden? Zweihundert Meter hinter der Koppel war das schmucke Häuschen, in dem Lena wohnte. Sie betrat den Flur: „Mama! Ich bin jetzt schon da. Sport ist ausgefallen!“ – Da ihre Mutter noch nicht mit dem Eintreffen ihrer Tochter gerechnet und dementsprechend kein Mittagessen vorbereitet hatte, hatte sie nichts dagegen, dass Lena sich erst auf den Weg zu Eva Lange machte.


    Das Haus der Langes war ein alter Bauernhof, der am Ende einer langen Auffahrt lag, die auf einem Innenhof mündete, welcher von drei Seiten zugebaut war. Rechts lag eine große Scheune, die als Garage und Heulager Verwendung fand. Die Doppeltür war geschlossen, davor stand in der Hausecke ein zugeschneites Quad mit einem Anhänger, mit dem Eva Lange immer das Heu und anderes Futter zur Pferdekoppel brachte. Mittig – mit Blick zur Auffahrt – befand sich das zweistöckige Wohnhaus mit den schmucken Gardinen im Fenster, links und rechts von der hölzernen Eingangstür Kletterrosen, deren letzte vertrocknete Blüten jetzt kleine Schneehütchen trugen. Die linke Seite des Hofs beherrschte eine weitere Scheune oder einen Stall, Lena wusste nicht genau, welchen Zweck dieser Gebäudeteil hatte, die Fenster waren mit der Zeit blind geworden. Als sie vor längerer Zeit einen Blick hineinwarf, sah sie nur altes Gerümpel.


    „Nicht mal Schnee gefegt hat Eva heute“, wunderte sie sich und stapfte durch den knöcheltiefen Schnee zur Eingangstür. Sie klingelte lange, klopfte und benutzte schließlich die Klinke. Die Tür ließ sich leicht öffnen, sie war nicht abgeschlossen. „Eva!“, rief sie in das Haus, „Bist du zuhause?“ Sie trat sich den Schnee von ihren Stiefeln und machte zwei Schritte in den Flur, um ihre Rufe zu wiederholen. „Eva! Wo bist du?“


    Die erste Tür auf der linken Seite führte in die Küche. Lena steckte nur ihren Kopf, sie wollte nicht überall nasse Fußspuren hinterlassen, durch den Türspalt. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie schrie auf und rannte kreidebleich, ohne die Türen hinter sich zu schließen aus dem Haus, auf den Hof hinaus, die Auffahrt hinunter und den Feldweg zu ihrem Zuhause entlang, riss die Haustür auf und warf sich ihrer Mutter schluchzend in die Arme. „MAMA!“


    Nur stockend konnte Lena ihrer Mutter erzählen, was sie gesehen hatte. Diese rief sofort die Polizei.



    Da ich morgen kein Kapitel einstellen kann, weil ich keinen Rechnerzugang habe, hier noch ein kleiner Spot


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    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Miriam


    Der Streifenwagen der Polizei Kerpen parkte auf dem Innenhof des Bauernhofes von Eva Lange. Dort erwartete sie Lenas Mutter. Lena selbst war nicht in der Lage gewesen, den Hof ein weiteres Mal zu betreten. Sie blieb in Obhut ihrer großen Schwester, die nach ihrer Frühschicht in einer Kölner Fabrik zuhause eingetroffen war, in ihrem Kinderzimmer, wo sie sich in ihrem Bett verkrochen hatte. Den Hausarzt hatte ihre Mutter schon benachrichtigt, er hatte versprochen, gleich vorbei zu schauen.


    Die uniformierten Beamten stiegen aus, gingen auf Lenas Mutter zu und fragten sie: „Wo?“ – „Gleich links in der Küche“, antwortete diese. Sie selbst hatte das Haus nicht betreten. Was ihre Tochter ihr erzählt hatte, langte ihr. Nach einiger Zeit, in der sie neben der Küche auch einen Gang durch das ganze Wohnhaus unternommen hatten, traten die beiden Polizisten wieder auf den Hof.


    Der eine von ihnen zog sein Handy hervor, blätterte einige Zeit darin, nickte dann und wählte die Nummer der Autobahnpolizei aus dem Rufnummernspeicher.
    Der andere hing sich an sein Funkgerät und machte eine Meldung an die Zentrale, forderte die Spurensicherung und Kriminalpolizei an.


    ***


    „Jungs!“, Susanne steckte ihren Kopf durch die Bürotür von Semir und Alex, „ihr sollt zu einem Bauernhof bei Kerpen kommen, ihr werdet dort erwartet. Hier ist die Adresse.“ – „Und warum?“, fragte Alex, während er aufstand und seine Jacke überstreifte. Semir, der es ihm gleich tat, meinte noch „Hat es etwas mit dem Unfall zu tun?“ Susanne reichte ihm immer noch den Zettel mit der Anschrift. „Der Beamte vor Ort will euch etwas zeigen.“ – „Na toll, das ist ja mal eine klare Auskunft“, ärgerte sich Semir, griff den Zettel und machte sich mit Alex auf den Weg.


    ***


    Ben klopfte vorsichtig und öffnete leise die Tür zum Krankenzimmer des unbekannten Unfallopfers. Als er sah, dass die Patientin wach war und in einer Zeitschrift blätterte, die ihr die Krankenschwester vorbei gebracht hatte, trat er ein. „Guten Tag. Darf ich kurz hereinkommen?“ – „Wer sind Sie? Auch von der Polizei?“, kam es vorsichtig vom Krankenbett. „Nein“, entgegnete Ben und schloss die Tür hinter sich, „ich bin der Fahrer des Autos, das sie gestern erfasst hat.“ – „Sie waren das?“ – „Ja, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mir die Sache leid tut, ich habe noch versucht auszuweichen, aber der Wagen war nicht mehr zu lenken. Übrigens, mein Name ist Ben Jäger“, er streckte ihr die Hand zum Gruß entgegen. Die blonde Frau ergriff die angebotene Hand und erwiderte den Gruß. „Und wie soll ich Sie nennen?“, versuchte Ben ihr einen Namen zu entlocken. In ihrem Kopf arbeitete es. Vielleicht sollte sie? Wem soll sie sich sonst anvertrauen, sie kennt doch sonst niemanden? Sie fasste einen Entschluss, sie würde diesem Mann ihre Geschichte anvertrauen.


    „Nennen Sie mich Miriam, ich heiße Miriam Schröter.“ – „Sie haben uns gestern einen gehörigen Schrecken eingejagt, als Sie einfach auf die Autobahn liefen, was haben Sie sich dabei gedacht? Wo kamen Sie her?“, wollte Ben wissen. „Ich habe es endlich geschafft und bin weg gekommen.“ – „Wo weg?“


    Sie begann, Ben zu erzählen, was geschehen war.


    ***


    Als Semir und Alex den Hof der Langes erreichten, den BMW neben den Streifenwagen parkten und ausstiegen, liefen dort schon mehrere Beamte der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen herum und packten ihre Koffer in die Einsatzwagen und entledigten sich ihrer Einmalkleidung. Ein Fotograf trat gerade aus dem Haus und gab den Weg frei für zwei Männer, die mit einem Zinksarg draußen vor der Haustür warteten.Semir konnte sie gerade noch aufhalten, wies sich als Kripo-Beamten aus und stellte Alex als seinen Kollegen vor. „Moment! Gerkan, Kripo Autobahn, das ist mein Kollege, der Herr Brandt. Warten Sie bitte noch einen Augenblick?“ Mit großen Schritten gingen Semir und Alex ins Haus. Sie machten sich nicht erst die Mühe, sich den Schnee von ihren Schuhen zu klopfen, denn das hatten auch schon zig Leute vor ihnen versäumt. Auf den Fliesen im Flur war eine breite Matschspur hinein in den ersten Raum auf der linken Seite, getauter Schnee gemischt mit – Blut.


    Ein uniformierter Polizist kam ihnen im Flur entgegen. „Sind Sie von der Kripo Autobahn?“ – „Ja“, antwortete Alex. „Ich habe Sie gerufen. Wir haben etwas entdeckt, was Sie interessieren dürfte.“ – „Vor allem interessiert uns zunächst einmal eines: Was ist hier passiert?“


    ***


    Ben hörte Miriam aufmerksam zu, saß dabei auf der Tischkante. „Ich habe jemanden getötet“, gab Miriam zu. Damit hatte Ben nun nicht gerechnet. Er zog sich einen der Stühle unter dem Tisch hervor, setzte sich und fragte: „Bitte? Getötet? Wen?“ – „Die Frau, die seit Jahren behauptet, meine Mutter zu sein.“


    Noch eine kleine Entschädigung für den gestrigen kapitellosen Mittwoch

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    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Eva Lange


    Sie lag in der Küche. Es handelte sich um eine geräumige Landhausküche im alten Stil aber mit neuen, modernen Geräten, tipp-topp gepflegt und sauber. Sie lag auf dem Rücken. Unter ihrem Kopf hatte sich eine große Blutlache gebildet, die bereits auf den Fliesen angetrocknet war, vorher aber in Richtung Tür geronnen war. Mehrere Füße waren bereits durch die Blutspur gelaufen. Die eine Kopfhälfte war aufgeplatzt, die hellbraunen Haare der toten Frau im mittleren Alter mit Blut verklebt. Auf der Ablage lag, bereits von der Spurensicherung in einem Plastikbeutel verpackt, eine gusseiserne Bratpfanne, augenscheinlich die Mordwaffe.


    „Eva Lange, 56 Jahre alt, hat hier gelebt mit ihrem Ehemann Maximilian Lange, der gerade für ein paar Tage zum Jagen gefahren ist, wie mir die Nachbarin mitteilte“, teilte der Uniformierte Semir und Alex mit, „gefunden wurde sie von der Tochter dieser Nachbarin, heute Mittag.“ – „Und warum haben Sie uns hierher gerufen? Das ist doch kein Fall für die Autobahnpolizei“, wunderte sich Semir. „Kommen Sie mit.“ Sie folgten ihrem Kollegen den Flur entlang zu einer kleinen Treppe, die in den Keller führte.


    Die Kellertür stand offen, unten brannte eine kleine Deckenleuchte. Hier unten waren zwei gleichgroße Räume und ein Badezimmer.


    Das erste Zimmer war das eines Jungen oder eines jungen Mannes. Ein dunkelblauer Teppich bedeckte den Fußboden, die Wände waren weiß gestrichen. An der einen Wand stand ein Bett, das Bettzeug war sauber glattgestrichen. Am Fußende des Bettes eine Kommode aus hellem Kiefernholz und mit drei Schubladen. Das Kellerfenster knapp unterhalb der Decke war mit einem hellblauen Rollo zugezogen. An der Wand gegenüber dem Bett stand ein Schreibtisch, Schreibzeug war darauf verteilt. In der Ecke standen auf einem kleinen Regal mit Spielen und Büchern ein kleiner Fernseher und ein DVD-Player. Semir drehte sich einmal um sich selbst und wollte das Zimmer wieder verlassen, als sein Blick auf eine Bildergalerie links und rechts der Zimmertür fiel. Augenscheinlich hatte Eva ihren Sohn jedes Jahr – vielleicht zum Geburtstag? – fotografiert und die Bilder hier an die Wand gehängt. Angefangen mit einem Babyfoto, über Aufnahmen eines Lockenkopfes im Grundschulalter bis hin zum Abbild eines jungen Erwachsenen, blass und blond. Semir verließ den Raum und trat ins zweite Zimmer.


    Das zweite Zimmer war das eines Mädchens oder einer jungen Frau, der Teppich war weinrot, die Wände ebenfalls weiß. Es war ähnlich eingerichtet wie der erste Raum, etwas verspielter vielleicht. Fernseher, Musikanlage, in einer Ecke ein kleiner Schminktisch mit den entsprechenden Utensilien. Alex stand schon vor der Bildergalerie einer jungen Frau, ebenfalls – wie bei dem Jungen – im Jahresabstand aufgenommen. Semir erkannte das unbekannte Unfallopfer. Er zog sein Handy hervor, rief das von Susanne eingescannte Bild auf und hielt es an die Wand. Sie hatten das Zimmer der Unbekannten im Haus von Eva Lange gefunden.


    „Jetzt sehen Sie, warum ich Sie hergerufen hatte“, holte der Uniformierte Semir aus seinen Gedanken, „Wir haben das Foto von Ihrer Dienststelle gestern Abend bekommen, als ich diese Galerie sah, ist es mir gleich wieder eingefallen.“ – „Danke, das wird uns weiterhelfen.“


    „Alex, wir sollten mit der Nachbarin sprechen, ich möchte mehr über diese Frau erfahren.“ – Semirs Partner reagierte nicht. „Alex?“ – „Semir, ich verstehe etwas nicht. Das Wohnhaus hat zwei Etagen, warum sind die Jugendzimmer ausgerechnet im Keller?“ - „Sind oben auch noch Zimmer?“, fragte Semir seinen Streifenkollegen. „Ja, ein Elternschlafzimmer, Badezimmer, ein Büro, ein Wäsche- oder Bügelzimmer.“ – „Dann wundert mich das allerdings auch. Kinder sperrt man doch nicht in den fast dunklen Keller, wenn oben helle Räume zur Verfügung stehen.“ – „Was auch noch merkwürdig ist“, mischte sich nun der Streifenpolizist in die Unterhaltung ein, „hier sind gar keine Kinder gemeldet.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Lenas Mutter


    „Doch doch, zwei Kinder“, bekräftigte Lenas Mutter, die Semir und Alex anschließend aufsuchten, „Katja und Tommy. Katja müsste jetzt so Mitte 20 sein, Tommy einige Jahre jünger, fährt aber schon Auto. Allerdings viel sieht man von ihnen nicht. Ich glaube, Tommy ist ein richtiger Stubenhocker, und Katja soll in Düsseldorf wohnen und arbeiten. Aber ganz genau weiß ich es nicht. Ich habe nicht viel Kontakt zu den Langes, weil ich Maximilian nicht ausstehen kann.“ – „Evas Mann?“, hakte Semir nach. „Genau. Ich kann Ihnen gar nicht genau sagen warum, aber er war mir von Anfang an unsympathisch. Gut, es liegt genug Abstand zwischen unserem Haus und dem Hof, und den halten wir auch ein. Wir wohnen jetzt seit fünf Jahren hier, und ich habe keine zehn Mal mit ihm gesprochen.“ – „Warum ist Ihre Tochter, Lena war ihr Name?“ – „Ja, Lena“ – „Warum ist Lena heute drüben bei Eva Lange gewesen?“ – „Lena wollte nachsehen, ob Eva da ist, weil ihr aufgefallen war, dass die Pferde heute nicht versorgt worden waren. Sie ist ganz vernarrt in die Tiere.“ Semir nickte. „Kann sie sich die nächsten Tage um die Pferde kümmern, bis wir wissen, wer die Pflege übernimmt?“ – „Das tut sie bestimmt gerne. Ich werde Lena nachher darum bitten, wenn sie wieder aufgestanden ist. Der Arzt hat ihr eine Beruhigungsspritze gegeben, und sie schläft jetzt.“ – „Wer kennt denn die Langes näher? Gibt es andere Nachbarn?“, fragte Alex. „Vielleicht fahren Sie beim Ehepaar Kaiser vorbei, die wohnen auf der anderen Seite vom Hof Lange, ein paar Hundert Meter die Straße runter. Die leben schon seit Generationen hier und dürften mehr wissen.“ – „Das werden wir gleich machen. Sollte Ihnen oder Ihrer Tochter noch etwas einfallen, können Sie sich gerne bei uns melden. Hier ist meine Karte.“


    Alex und Semir verabschiedeten sich von Lenas Mutter und gingen zurück zum BMW. Semir rief bei Susanne im Büro an und bat sie, alles über Eva und Maximilian Lange herauszufinden. „Also“, begann Alex, „Eva und Maximilian Lange wohnen hier kinderlos, haben aber zwei Kinder. Wie passt das zusammen?“ – „Ich habe keine Ahnung, aber wir fahren noch mal zum Hof.“ Semir startete den BMW und fuhr zurück zum Wohnhaus der Langes. Die Polizisten vor Ort waren bereits im Aufbruch begriffen, als sie den Hof erreichten. „Moment“, rief Semir ihnen zu, als er sah, dass sie gerade das Polizeisiegel an der Tür befestigen wollten, „wir müssen noch mal kurz rein.“ Zehn Minuten später traten Alex und Semir wieder ins Freie, in ihren Händen vier Tüten mit Zahn- und Haarbürsten, sowie der Bildergalerie aus den Jugendzimmern.


    Jetzt konnte der Hof versiegelt werden, die Polizei befestigte einen Hinweis an der Tür, Maximilian Lange möge sich bitte mit der Polizei in Verbindung setzen, wenn er wieder daheim wäre. Jeder Versuch, ihn zu erreichen war erfolglos geblieben. Sein Handy lag im Haus, eine Adresse, wohin er zum Jagen gefahren war, konnte nicht gefunden werden.


    Die Hauptkommissare fuhren einen Hof weiter, der dem Ehepaar Kaiser gehörte, trafen dort aber niemanden an. Sie nahmen sich vor, es am nächsten Tag noch mal zu versuchen und traten ihre Rückfahrt in die PAST an. Auf dem Weg dahin fuhren sie noch bei Hartmut in der KTU vorbei, um von ihm die sichergestellten Gegenstände auf DNA untersuchen zu lassen.

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  • Susanne klärt auf


    Zurück im Büro legte Semir die Bilder der Reihe nach auf das Sideboard, schenkte ihnen aber momentan keine größere Aufmerksamkeit, sondern widmete sich zunächst seinen Notizen, machte eine grobe Zeichnung des Hofes und der Nachbargebäuden, markierte die Lage auch auf der großen Karte, wo schon der rote Pin die Unfallstelle anzeigte und trank einen Becher Kaffee.


    Susanne trat mit ihrem Block in das Büro der beiden Kripo-Beamten. „Kurz Zeit für Ergebnisse?“, fragte sie „Immer“, kam gleichzeitig von Alex und Semir, „was hast du rausgefunden?“, setzte Semir nach.


    „Also Eva Lange ist als Eva Schmidt 1957 in Düsseldorf geboren, hat Einzelhandelskauffrau gelernt und auch einige Jahre in einem großen Kaufhaus gearbeitet. Maximilian ist zwei Jahre älter und Landwirtssohn aus der Nähe von Aachen. Die beiden heirateten 1984 in Aachen und übernahmen kurz darauf den Hof von Maximilians Eltern, die sich zur Ruhe gesetzt hatten. Sie bekamen zwei Kinder, Katja wurde im Januar 1988 geboren und Thomas im März 1994.


    Eine ganz normale Bauernfamilie, wie es scheint, mit Hofladen für Fleisch und Gemüse, viel Betrieb, nie wirklich aufgefallen. Ich hatte die damalige Bürgermeisterin des Ortes am Telefon. Sie konnte sich gut an den Hofladen und die Langes erinnern. Bis zu dem Schicksalsschlag 1997 war alles bestens und in Ordnung, Dann ging es bergab.“ – „Was für ein Schicksalsschlag?“, fragte Alex nach. „Beide Kinder ertranken im eiskalten Graben des Hofes im März 1997 im Alter von 9 und 3 Jahren.“ Sie legte eine Pause ein, ließ die Information bei den Männern ankommen und erst einmal sacken. „Sind sie das?“, fragte Susanne mit Blick auf die Bildergalerie und griff sich zielsicher zwei Bilder aus der Reihe, „das“, sie legte ein Mädchenbild auf den Schreibtisch vor Semir, „ist Katja mit 9 Jahren. Alex stand aus seinem Schreibtischstuhl auf und ging um beide Tische herum, stand jetzt zwischen Semir und Susanne. „Und das“, Susanne legt ein Jungenbild neben das Foto von Katja, „ist Thomas mit 3 Jahren. Im Jahre ihres Todes.“ – „Aber ..“, begann Semir zweifelnd, wurde aber von Susanne unterbrochen, die zwei weitere Bilder nahm, „warte Semir, ich bin noch nicht fertig. Im selben Jahr, nur einige Wochen später gaben Langes die Landwirtschaft auf. Maximilian eröffnete ein Geschäft für den An- und Verkauf von Versicherungsschäden in Kerpen, Eva war Angestellte in seiner Firma. Sie kauften den Hof, auf dem sie bis heute wohnen.“


    Susanne legte die beiden Bilder neben die Fotos, die schon auf dem Tisch lagen. „Und, was seht ihr jetzt?“ Als weder Semir noch Alex ihr antworteten, ergriff wieder Susanne das Wort: „Wir sehen hier Fotos von vier unterschiedlichen Kindern! Das werte Ehepaar Lange hat ihre toten Kinder durch ähnliche Kinder ersetzt.“ Etwa eine halbe Minute herrschte erdrückendes Schweigen im Büro. Dann überwand sich Semir zu einem Lob. „Gute Arbeit, Susanne.“


    Die wissenschaftliche Bestätigung der Ergebnisse der Sekretärin kam von Hartmut, der anrief. Er hatte die DNA-Proben untersucht und ist zum Ergebnis gekommen, dass zwischen den Bewohnern des Hofs Lange keinerlei Verwandtschaftsverhältnis bestehen kann. Eva und Maximilian Lange waren definitiv nicht die Eltern der Kinder und diese waren auch keine Geschwister.

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  • Miriams Geschichte


    „Und warum haben Sie sie getötet?“, wollte Ben wissen. „Das ist eine längere Geschichte.“ – „Ich habe Zeit. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte!“ „Ich werde Ihnen etwas zeigen. Können Sie mir mal meinen Rucksack geben?“ Ben überreichte Miriam den Rucksack, der immer noch auf dem Tisch lag, wo Semir ihn am Vortag abgelegt hatte, und Miriam entnahm diesem die Zeitschrift, holte aber zunächst etwas aus.


    „Ich war neun Jahre alt. Wir hatten damals in einem kleinen Ort bei Aachen gewohnt. Es war Sommer, und ich war bei meiner Freundin zum Spielen und Malen.“ Miriam holte die Kinderzeichnungen aus der Zeitschrift, wo sie sie zum Schutz reingelegt hatte und zeigte eine davon Ben. „Hier“, sagte sie, „ich habe es nie zuende gemalt. Auf der Rückseite hatte ich schon meinen Namen geschrieben: Miriam. Gerade so, als ob ich damals schon geahnt hätte, dass ich diesen Namen fast vergessen sollte oder ihn zumindest verdrängen würde. Meine Freundin wohnte am anderen Ende des Dorfs, ich ging den Weg oft zu Fuß, mein Fahrrad war ständig kaputt, zunächst auf der Dorfstraße und dann das letzte Stück auf dem Feldweg zu unserem Hof. An diesem Sommertag fuhr ein schwarzer Lieferwagen denselben Weg langsam hinter mir her. Auf dem Feldweg überholte er mich, ein Mann stieg aus, ergriff mich und zerrte mich in den Wagen. Ich wusste nicht, wie mir geschah, ich konnte nicht schreien, er presste mir eine Hand vor den Mund. Am Steuer saß eine Frau. Sie haben mich angesehen und etwas gesagt wie ‚die passt‘ oder so ähnlich, ganz genau kann ich mich nicht entsinnen. Das war meine erste Begegnung mit Eva und Maximilian Lange.“


    „Sie sind entführt worden?“ – „Der Begriff ‘geklaut‘ beschreibt es eher. Es ging ihnen nicht um Lösegeld oder so, sie waren auch keine Kinderschänder. Ich habe erst später erfahren, dass Eva und Maximilian zwei eigene Kinder hatten, die zusammen bei einem Unglücksfall ums Leben kamen, ich sollte ihre Tochter ersetzen. Ich habe natürlich tage- und wochenlang geheult, gefleht, sie mögen mich doch gehen lassen. Aber irgendwann hatte ich keine Tränen mehr. Zumal dann ja auch Tommy dazu kam. Er war erst knapp drei Jahre alt, sprach kein Wort, sagte mir nicht seinen Namen. Ich war seine große Schwester, vom ersten Tag an. Jetzt hatten Eva und Maximilian wieder zwei Kinder. Tommy gewöhnte sich recht schnell ein, sah sie bald als seine Eltern an, aber ich war neun, ich konnte die Kindheitsjahre bei meinen Eltern nicht ganz aus meiner Erinnerung streichen. Aber irgendwann resignierte ich und fügte mich. Ich gewöhnte mich daran, nachts im Zimmer eingeschlossen zu sein und tagsüber bewacht zu werden. Ich gewöhnte mich sogar an den Namen Katja. Das ganze Grundstück war ein Gefängnis. Wir waren nie alleine draußen, meistens aber im Haus. Tommy ging nie in einen Kindergarten, wir beide besuchten nie eine Schule. Langsam verdrängte ich meine Vergangenheit, hörte auf den Namen Katja, obwohl ich ihn nie selbst benutzte oder schrieb. Hier-“, Miriam zeigte Ben das zweite Bild, „das habe ich gemalt, da muss ich etwa 12 Jahre alt gewesen sein, Eva hat den Namen auf die Rückseite geschrieben.“


    „Keine Schule, Keine Freunde?“ – „Genau. Aber es war nicht alles schlecht. Sie waren gut zu uns, haben uns nie misshandelt oder geschlagen. Tommy vergaß völlig, dass er ein Leben vor seinem Einzug bei den Langes hatte, er hat eine besondere Beziehung zu Maximilian aufgebaut, ‚Vati‘ nennt er ihn. Und ich lebte so vor mich hin, las viel, zog mich viel in mein Zimmer zurück. Bis zu diesem Sommer.“ Miriam machte eine Pause und nahm ihr Wasserglas vom Nachttisch. Sie trank einen Schluck. Dann beeilte sie sich, weiter zu erzählen, dankbar, in Ben einen geduldigen Zuhörer gefunden zu haben. Es war das erste Mal, dass sie ihre Geschichte jemandem erzählte, oft hat sie sich es vorgestellt, wie es sein würde. Sie fuhr fort.


    „Bis zu diesem Sommer. Ich fand im Altpapierstapel eine alte Frauenzeitschrift, diese hier. Sie blätterte bis zu einem bestimmten Artikel. Auf einer Doppelseite waren etwa 40 Kinderfotos abgedruckt, die Überschrift lautete „Wo seid ihr?“ Es ging um vermisste Kinder, deren Verschwinden nie aufgeklärt werden konnte, es war unklar, ob sie noch lebten, ob sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen waren. Sie zeigte Ben ein Foto mitten auf dieser Seite. „Das bin ich. Miriam Schröter. Seitdem habe ich meine Flucht geplant. Eva muss den Artikel übersehen haben, sonst hätten sie dafür gesorgt, dass ich ihn nie in die Hände bekommen würde. Da steht, meine Eltern würden bis heute jeden Tag auf meine Rückkehr warten.“ Hier musste Miriam kurz unterbrechen, blickte in Richtung Fenster, wischte sich einige Tränen aus dem Gesicht. Dann fasste sie sich wieder, blickte zurück zu Ben und sprach weiter. „Gestern Mittag kam dann meine Chance. Maximilian war mit Tommy unterwegs zum Jagen, das machen sie jedes Jahr ein, zwei Mal, Eva und ich waren alleine. Ich half ihr in der Küche. Ich sah die Bratpfanne und wusste plötzlich, was ich tun müsste - “ Jetzt kam sie ins Stocken, zu klar waren die Erinnerungen an diese letzten Momente. „Ich habe auf sie eingeschlagen, mehrfach. Dann bin ich losgelaufen, ziellos, bis es dunkel wurde. Hinter einem Feld sah ich die Lichter und bin darauf zu gegangen.“ – „Direkt vor mein Auto“, schloss Ben. „Ja, das tut mir leid, ich wollte nur ein Auto anhalten.“ – „Schon gut, machen sie sich darüber jetzt keine Gedanken. Jetzt sind andere Sachen wichtiger. Zum Beispiel Ihre Eltern. Sie müssen Bescheid bekommen.“ – „Können Sie mir helfen? Und holen Sie auch Tommy da raus? Seine Eltern müssen ihn doch auch vermissen, vielleicht kann man das rauskriegen?“ Ben nickte. „Ich werde tun, was ich kann. Der Polizist, der gestern hier war, ist übrigens ein sehr guter Freund von mir. Darf ich ihm Ihre Geschichte erzählen? Er wird wissen, was zu tun ist. Ich glaube kaum, dass Sie etwas zu befürchten haben werden.“ – „Ohne Polizei geht es nicht?“ – „Ich fürchte nein.“

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  • Gute Nachrichten


    „Die Geschichte von der Familie Lange kennen wir jetzt, jetzt brauchen wir die Geschichte unseres Unfallopfers, und heute redet sie mit mir, dafür werde ich sorgen“, sagte Semir beim Verlassen des Büros und traf in der Tür auf Ben. „Ben? Du hier?“ – „Ich war heute im Krankenhaus. Das Unfallopfer heißt Miriam Schröter, und ihr glaubt nicht, was sie mir erzählt hat.“ – „Glaub‘ mir, heute glaube ich dir alles, erzähl!“


    Und Ben erzählte Semir, Alex und Susanne Miriams Geschichte von ihrer Entführung vor 16 Jahren angefangen bis hin zu ihrer Flucht vor zwei Tagen, die auf der Autobahn vor Bens Auto endete.


    Susanne druckte schnell die Seiten aus der Zeitschrift aus, in der die Entführung von damals beschrieben war. „Kannst du uns die Adresse von Miriams Eltern heraussuchen, Susanne?“, fragte Semir die Sekretärin der PAST. Er schaute auf die Uhr. Mittlerweile war es 18:00 Uhr geworden, sollten sie aber die Adresse ihrer Angehörigen schnell ermitteln können, würde er ihnen noch heute die Nachricht überbringen. Susanne kam wenige Minuten später zurück in das Büro der Hauptkommissare. „Sie wohnen noch immer im selben Haus in Breinig bei Aachen.“ Sie überreichte Semir einen Notizzettel mit der Anschrift. „Willst du heute noch hin?“, fragte Alex seinen älteren Partner. „Alex, sie Eltern warten seit 16 Jahren auf die Rückkehr ihrer Tochter, ich finde, sie sollten keinen Tag länger warten. Ich fahre hin.“ – „Du hast recht, ich komme mit.“ – „Und Susanne“, mischte sich Ben ein, „kannst du noch versuchen herauszubekommen, wo vor 16 Jahren ein kleiner Junge vermisst gemeldet wurde. Wir müssen diesen Tommy, oder wie auch immer er in Wirklichkeit heißt, auch seiner wahren Familie zurück bringen. Ich habe es Miriam versprochen.“ Susanne machte sich gleich an die Arbeit, wühlte sich durch die Datenbank vermisster Kinder aus dem Jahr 1997, zunächst in Nordrhein-Westfalen, dann bundesweit. Ohne Erfolg. Schließlich schickte sie eine Anfrage mit dem Foto des Jungen an Interpol. Es war nicht auszuschließen, dass er kein deutscher Staatsbürger ist, sondern aus dem europäischen Ausland stammt. Da mit einer Antwort auf ihre Anfrage nicht vor dem nächsten Tag zu rechnen war, machte sie anschließend Feierabend.


    Während auch Ben die PAST mit Ziel seiner Wohnung verließ, gingen Alex und Semir zum Mercedes, um sich auf den Weg nach Aachen zu begeben. Sie schwiegen eine Weile. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. „Meinst du, wir hätten besser anrufen sollen?“, fragte Alex. „Nein, eine solche Nachricht überbringt man nicht am Telefon. Ich hoffe nur, sie sind zu Haus, damit die Tour jetzt nicht umsonst ist und wir noch einmal hinfahren müssen“. Semir ließ seinen Blick über die verschneite Landschaft schweifen. „Wie sie wohl reagieren werden?“, überlegte er laut.


    Alex antwortete nicht darauf. Vor 16 Jahren war Semir gerade kurze Zeit bei der Autobahnpolizei und er selbst stand noch vor seiner Ausbildung zum Kommissar, hatte gerade die Schule beendet. So viel war in dieser Zeitspanne geschehen. Ausbildung, mehrere Dienststellen, Beziehung, Wechsel zur Kripo Münster, Ende der Beziehung, Wechsel zur Autobahnpolizei, Partnerschaft mit Semir, ein halbes Leben. Und die ganze Zeit über ging diese Familie durch die Hölle. Miriam war in einer neuen Familie gefangen, ihre Eltern warteten jeden Tag auf ihre Rückkehr oder auf die schreckliche, aber auch alles Warten beendende Nachricht. Alex steuerte den Mercedes automatisch, und als er die Hofeinfahrt von Miriams Elternhaus hochfuhr, konnte er sich an die zurückgelegte Strecke nicht mehr erinnern.


    Semir ging es ähnlich, auch er hing in seinen Gedanken den vergangenen 16 Jahren nach. Wo war er zu dem Zeitpunkt, an dem die kleine Welt der Schröters zusammenbrach, als ihre Tochter vom Spielen nicht nach Hause kam? Was war seit dem alles geschehen? Er hatte Andrea kennen und lieben gelernt, mit ihr eine Familie gegründet, ein Zuhause geschaffen. Semir schrak aus seinen Gedanken auf, als Alex plötzlich vor dem Haus der Schröters hielt und den Motor seines Dienstwagens ausschaltete.


    Beide Männer atmeten noch einmal tief durch, stiegen aus und gingen auf die Haustür zu. Es war kurz nach 19:00 Uhr, das Haus war hell erleuchtet. ‚Zumindest ist jemand zuhause‘, dachte Alex und klingelte. Eine junge, blonde Frau öffnete ihnen. „Ja? Wer sind Sie?“, fragte sie Semir und Alex. „Guten Abend, entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Name ist Gerkan von der Kripo Autobahn, das ist mein Kollege Brandt. Wir möchten gerne mit Frau Renate Schröter oder ihrem Mann Horst Schröter sprechen, ist das möglich?“ – „Können Sie sich ausweisen?“ – „Aber ja“, Semir kramte den Ausweis aus seiner Jeans hervor und Alex tat dasselbe. Die junge Frau nickte. „Danke. Mein Name ist Anja Schröter, ich sage meinen Eltern Bescheid.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Miriams Eltern


    Semir und Alex traten in den Hausflur ein. An der rechten Seite des Flurs führte eine Treppe ins Obergeschoss. Auf der linken Seite waren zwei Türen, beide verschlossen. Hinter der Treppe stand eine Tür auf der rechten Wand offen und gab den Blick in das Wohnzimmer frei. An den Flurwänden hingen Bilder, Kinderbilder zumeist, auch Miriam glaubte Semir auf den Fotos zu erkennen, aber auch Bilder der jungen, erwachsenen Frau, die ihnen die Tür geöffnet hatte. Sie gingen hinter Anja Schröter her geradeaus in eine Wohnküche. Der Esstisch war gedeckt, offensichtlich hatten Semir und Alex die Familie beim Essen unterbrochen. „Mama, hier sind zwei Herren von der Polizei.“ -„Ja? Was wollen Sie?“, kam mit etwas erschreckter Stimme von der etwa 50jährigen, dann fügte sie zögerlich hinzu: „Haben Sie sie gefunden?“


    Semir entschied sich, es kurz zu machen. „Ihre Tochter Miriam ist vorgestern wieder aufgetaucht. Sie war in einen Unfall verwickelt und liegt leicht verletzt im Krankenhaus. Wir konnten erst heute ihre Identität zweifelsfrei klären.“ – „Oh mein Gott, Horst, hast du gehört? Miriam lebt! Ist das wirklich wahr? Ohne Zweifel?“ – „Können wir zu ihr?“, fragte jetzt ihr Mann, ein etwas untersetzter, dicklicher Mann mit Halbglatze, der sich jetzt die Brille abnahm, in der Tasche seiner Strickjacke nach einem Taschentuch suchte und sich die Nase putzte. Dann reichte er die Packung auch seiner Frau, der bereits die Tränen der Freude die Wangen hinunterliefen. „Wollen Sie sich nicht setzen?“, fragte jetzt Anja, „meine Eltern müssen die Nachricht erst einmal verarbeiten.“ Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und brachte einen weiteren, der an der Wand stand und bot die Sitzgelegenheit den Kommissaren an. „Miriam ist meine Schwester, sie ist 4 Jahre älter als ich, müssen Sie wissen.“ Semir und Alex setzten sich. Allmählich fand Herr Schröter seine Fassung wieder und wiederholte seine Frage von eben „Können wir zu ihr? Können Sie uns sagen, was passiert ist?“ Semir begann zu erzählen. „Natürlich können Sie zu ihr. Wenn Sie wollen, noch heute. Es wird in dieser Sache bestimmt eine Ausnahme der Besucherregelungen gemacht. Ich werde ihnen kurz erzählen, was passiert ist. Vor 16 Jahren…“ - „Es war der 12. August 1997“, fiel Frau Schröter ihm ins Wort, „es ist, als wäre es gestern gewesen.“ – „Also am 12. August 1997 ist Ihre Tochter Miriam von einem Ehepaar entführt worden, welches einige Monate vorher ihre eigenen Kinder durch einen tragischen Unfall verloren hatte. Sie lebte bei diesen Menschen wie deren eigene Tochter, allerdings als Gefangene. Im Laufe der Jahre richtete sie sich dort ein und verdrängte ihre Vergangenheit, bis zu diesem Jahr, als in der Zeitschrift, wie hieß sie noch, Alex?“ – „Saskia“ – „in der Zeitschrift Saskia der Artikel über die verschwundenen Kinder erschien.“ – „Der Artikel! Und ich wollte erst nicht, dass auch Miriam darin erwähnt wird“, erinnerte sich Renate Schröter. „Miriam erkannte sich auf einem der Bilder wieder und plante seitdem ihre Flucht, die ihr dann vorgestern, am Montag, auch gelungen ist. Dabei ist sie von einem Auto angefahren und leicht verletzt worden.“


    Dass die Flucht nur gelang, indem sie ihre „Stiefmutter“ mit einer Bratpfanne niederschlug und dabei tödlich verletzte, verschwieg Semir. „Was waren das für Leute, bei denen Miri leben musste?“, wollte jetzt Anja Schröter wissen. „Ganz genau wissen wir es noch nicht. Die Frau ist verstorben und mit dem Mann konnten wir noch nicht sprechen“, übernahm Alex die Antwort. Was waren das für Leute? Eine Frage, die auch er sich immer wieder stellte, seit er heute Miriams Geschichte gehört hatte. Sicher war das Ehepaar Lange Kindesentführer und damit eines der schwersten Verbrechen überhaupt anzuklagen, auf der anderen Seite aber handelte es sich um ein zutiefst verzweifeltes Paar, das den Verlust der eigenen Kinder nicht überwinden konnte und sich in ihrem Schmerz Ersatz suchte, nicht daran denkend, dass aus Kindern Erwachsene würden. Eva Lange werden sie nicht mehr fragen können, die war tot. Ihre ganze Hoffnung auf Antworten mussten sie auf Maximilian Lange setzen. Aber das Wichtigste war jetzt, dass Miriam wieder mit ihrer Familie zusammen geführt würde.


    „Ich habe 16 Jahre lang, jeden Tag gewartet und mir immer wieder vorgestellt, wie es sein wird, wenn sie zurückkommt. Ich wusste die ganze Zeit, dass sie noch lebt. Viele hatten schon resigniert und wollten mich davon überzeugen, dass Miriam nicht mehr wieder kommt, aber ich wollte davon nichts hören“, sinnierte Frau Schröter, „ich bin dankbar, dass ich recht behalten habe. Wollen Sie ihr Zimmer sehen?“ Sie erhob sich, verließ die Küche und nahm damit den beiden Polizisten die Entscheidung ab. Semir und Alex blickten sich ratlos an und folgten ihr dann ins Obergeschoss, wo sie vor einer verschlossenen Tür stehenblieb und die Klinke drückte. „Es ist alles wie an dem Morgen, an dem sie zu ihrer Freundin ging und nicht wieder nach Hause kam. Horst und Anja fanden schon vor Jahren wir müssten es leer räumen, aber ich habe mich geweigert. Jetzt kann sie zurückkommen.“Sie stieß die Tür auf und knipste das Licht an. Dann bedeutete sie ihren Gästen einzutreten in Miriams Kinderzimmer. Es wirkte, als habe ihre Bewohnerin nur kurz den Raum verlassen und würde gleich hinter ihnen stehen und sich über den unerlaubten Zugang in ihr Reich beschweren. „Ich habe nur ab und an Staub gewischt und irgendwann das Bettzeug abgezogen“, klärte Renate Schröter die Kommissare auf. Eine Wolldecke mit Pferdemotiv war über die Matratze gezogen, einige Kissen lagen darauf. Die Wand zierten Poster von Popstars, der Kleiderschrank hatte von dem Mädchen eine Bordüre aus Stickerbildern erhalten. Auf dem Schreibtisch lagen Schulsachen, Stifte, Papier durcheinander, das Regal war gut gefüllt mit Kinderbüchern und Spielen. Die Schultasche stand unter dem Schreibtisch. „Danke, Frau Schröter“, sagte Alex, nachdem er und Semir sich kurz im Zimmer umgeschaut hatten.


    „Renate, kommst du?“, hörten sie die Stimme von Host Schröter aus dem Erdgeschoss, „wir wollen zu Miriam fahren.“ – „Ich komme, Horst“, antwortete diese, „wir fahren jetzt ins Krankenhaus. Welches ist es?“ – „In Kerpen, und fahren Sie vorsichtig, es hatte eben schon wieder angefangen zu schneien“, gab Semir ihnen noch als guten Rat mit auf den Weg, dann stiegen sie die Treppe hinab, verließen mit den Schröters das Haus und verabschiedeten sich vor der Tür.


    Gute zeit für einen Spot?

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    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

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  • Semir


    Alex fuhr mit Semir wieder Richtung Köln. Es war schon spät, der eingesetzte Schneefall beeinträchtigte die Fahrt über die A4 deutlich. Als sie die Unfallstelle vom Montag passierten, begannen sie nach längerem Schweigen gleichzeitig an zu sprechen, „Es …“ – „Ich ..“, dann meinte Alex: „Du zuerst“ – „Es war doch richtig, heute noch hinzufahren, oder?“ – „Unbedingt, auch wenn es spät geworden ist. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, jemand vermissten nach 16 Jahren wieder zu sehen? Jemanden, von dem du nicht einmal wusstest, dass er noch lebt? Haben die Schröters so reagiert, wie ich reagieren würde oder du reagieren würdest?“, stellte Alex die Fragen, die ihn momentan bewegten. „Ich glaube, sie haben es noch gar nicht ganz begriffen, das wird dauern. 16 Jahre sind eine lange Zeit, gerade in dem Alter. Zwischen 9 und 25 passiert einfach sehr viel. Sie haben ein Kind in Erinnerung und lernen jetzt ihre Tochter als erwachsene Frau völlig neu kennen.“ Alex nickte nur und bog bereits in Semirs Wohnstraße ein. „Ich hole dich dann morgen hier ab“, verabschiedete er sich mit Blick auf Semirs Haus, im dem nur noch unten ein kleines Licht brannte. „Okay. Aber komm nicht zu früh, war ein langer Tag, dann fahren wir direkt zu den Nachbarn der Langes, es wird Zeit, dass wir mehr über den Ehemann der Toten erfahren.“


    Semir betrat leise den Hausflur, legte den Hausschlüssel auf die Ablage und zog sich Jacke und Stiefel aus. Er sah Andrea auf dem Sofa liegen, mal wieder vor dem Fernseher eingeschlafen, das Glas Wein auf dem Tisch nur zur Hälfte ausgetrunken. Im Fernsehen lief eine politische Talkrunde. Semir nahm die Fernbedienung, die auf dem Boden lag, wahrscheinlich war sie Andrea aus der Hand gerutscht, in die eine und das Weinglas in die andere, trank einen großen Schluck und schaltete den Kasten aus. Dann ließ er sich leise in den Sessel fallen. Durch die plötzliche Stille aufgeweckt, ja auch Ruhe kann ein guter Wecker sein, öffnete Andrea verschlafen die Augen und dreht ihren Kopf zu Semir. Sie streckte ihre Hand aus, die er ergriff. „Wie spät ist es?“, gähnte sie mehr, als sie sprach. „Nach zehn“, kam gedankenverloren zurück. Etwas an dem Tonfall veranlasste Andrea, sich aufzurichten. „Was ist los?“, fragte sie bestimmt. „Haben wir noch mehr Wein?“ – „In der Küche.“


    Semir erhob sich, ging mit Andreas Glas, welches er mittlerweile ausgetrunken hatte, in die Küche, füllte es neu aus der Flasche, die auf der Arbeitsplatte stand, nahm ein weiteres Glas aus dem Schrank, füllte auch dieses und kam mit beiden Gläsern zurück in das Wohnzimmer. Er reichte Andrea ihr Glas. „Nun erzähl! Dich bedrückt doch was“, forderte sie ihren Mann auf.


    „Wir haben heute herausgefunden, wer die Frau ist, die Ben am Montag vors Auto gelaufen ist.“ – „Ja, und? Wer ist sie?“ – „Du kannst es dir nicht vorstellen, Andrea“, sprach er ins Leere, ohne seine Frau dabei anzublicken, „da ist ein 9-jähriges Mädchen an einem schönen Sommertag. Das reife Getreide wiegt sich im Wind, das Feld ist umrandet von bunten Kornblumen, Schmetterlinge flattern umher. Sie trägt ein buntes Sommerkleid, das lange blonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden und läuft vom Spielen nach Hause. Wahrscheinlich genauso, wie Ayda immer läuft, hüpfend von rechts nach links, nicht besonders zielstrebig, dafür interessiert an den Schmetterlingen und den Blumen. Vielleicht pflückt sie sogar welche für ihre Mama? Dann hält plötzlich ein großer schwarzer Wagen neben ihr, wirft einen Schatten auf sie und den Feldrand und schließlich auf ihr gesamtes Leben, schwarz und bedrohlich öffnet sich die Seitentür und das Mädchen wird in das Innere des Wagens gezogen. Die Welt, die sie kannte, verschwindet von einem Moment auf den Nächsten und bleibt außerhalb von diesem Wagen zurück. Sie wird ewig, fast doppelt so lang als ihr bisheriges Leben, 16 lange Jahre, festgehalten bei fremden Leuten. Dann wird sie plötzlich wieder daran erinnert, wer sie ist und plant ihre Flucht. Am Montag ist sie ihr gelungen und endete vor Bens Auto. Vorher hat sie noch die Frau erschlagen, bei der sie leben musste.“ – „Oh mein Gott!“ Andrea konnte ihre Reaktion nicht länger zurück halten. Sie tranken schweigend einen Schluck. „Wir waren heute Abend bei ihren Eltern“, erzählte Semir weiter, „Auch für sie endete ein Leben vor 16 Jahren. Sie sahen die Freundinnen ihrer Tochter und ihre Schwester aufwachsen und dachten dabei immer an ihre verschwundene Tochter. Alle anderen gingen zur Schule, zum Tanzen, beendeten die Schule, verließen das Dorf, um zu studieren oder eine Ausbildung zu machen, und die ganze Zeit begleitete sie die Frage, was wohl Miriam zur gleichen Zeit tat.“ – „Miriam heißt sie?“ – „Ja. Als Alex und ich heute in dieses Haus kamen, lag eine ganz besondere Stimmung über dem Ort, gerade so als ob die Eltern und die jüngere Tochter die ganzen 16 Jahre lang an diesem gedeckten Tisch gesessen hätten und nur darauf warteten, dass zwei Polizisten mit einer Nachricht vor der Tür stehen. So als ob du einen Telefonanruf erwartest und dann doch vor dem Klingeln erschrickst.“ Sie tranken wieder einen Schluck Wein. „Was waren das für Leute, die Miriam verschleppt hatten?“, wollte Andrea dann wissen. „Es war ein Ehepaar, das im selben Jahr ihre beiden Kinder verloren hatten, sie sind in einem Graben ertrunken, und das nun diese Kinder versuchte, durch andere Kinder zu ersetzen.“ – „Oh Mann, das ist ja furchtbar. Kinder?“, unterbrach Andrea mit Betonung auf dem Plural. „Ja, da ist noch ein Junge, heute 19 Jahre alt, damals drei.“ – „Aber wie ging das? Das wäre doch aufgefallen, wenn das Paar auf einmal wieder zwei Kinder hätte.“ – „Normalerweise schon, aber sie sind umgezogen, hatten die Kinder meistens im Haus, sie gingen in keine Schule, waren nicht angemeldet, fielen also kaum auf, die neuen Nachbarn kannten die Geschichte ja nicht.“ – „Und jetzt ist Miriam wieder bei ihren Eltern?“ – „Sie sind noch heute ins Krankenhaus gefahren. Für sie hat das Warten ein Ende.“ Nach einigen weiteren schweigenden Schlucken Wein, fragte Andrea: „Und der Junge? Bringt ihr den auch wieder nach Hause?“ - „Da kannst du dich drauf verlassen, Andrea. Sobald wir ihn und seine Eltern gefunden haben.“ Andreas fragender Blick genügte, und Semir erzählte ihr, dass Maximilian Lange mit Tommy unterwegs war und noch nicht ausfindig gemacht werden konnte und auch die Suche nach seinen Eltern bislang nicht von Erfolg gekrönt war.


    Semir leerte sein Weinglas und stand auf. „Ich gehe noch duschen. Es war ein langer Tag“, und nach einer Pause fügte er hinzu: „Danke.“ – „Wofür?“ – „Dafür dass du mir zugehört hast.“ Er gab ihr einen Kuss und verschwand nach oben.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Das Wiedersehen


    Kaum hatten die Polizisten ihr Haus verlassen, begann Renate Schröter vom Strudel ihrer Gefühle in ungeahnte Tiefen hinab gerissen zu werden. Weinend, dann wieder lächelnd, mit bebenden Schultern blickte sie dem silbernen Mercedes hinterher. Ihr Mann legte ihr seinen Arm um beide Schultern. „Du hattest die ganzen Jahre Recht, Renate. Miriam lebt und wir werden sie heimholen.“ Er versuchte ruhig zu bleiben, doch das Zittern seiner Hände verriet ihn. Auch Horst Schröter war die Nachricht nahe gegangen, mit langsamen Schritten führte er seine Frau zum Auto, ließ sie behutsam auf dem Beifahrersitz nieder.


    Renate konnte sich sehr gut an den Tag im August 1997 erinnern, als sie Miriam an der Haustür verabschiedete, nichtsahnend, dass dieser der letzte Moment sein sollte, an dem sie ihrer Tochter hinterherblicken würde, ein Anblick, der sich 16 Jahre unauslöschlich in ihrem Kopf eingebrannt hatte. Wie das blonde Mädchen die Auffahrt des Hofs heruntertanzte, sich seines Lebens erfreute und einem schönen Spieltag mit seiner Freundin entgegen lief, das Bild würde sie nie vergessen. Hundert, wenn nicht tausend Mal hatte sie dieses Bild vor Augen und sich gewünscht, ihr Mädchen wäre im letzten Moment umgekehrt und wieder ins Haus zurückgekehrt.


    Hängenden Hauptes nahm auch Anja im Auto Platz. Renate drehte sich zu ihrer jüngeren Tochter um. „Anja, was hast du? Freust du dich nicht“, fragte sie, als sie merkte, dass das Mädchen regungslos auf die Rückenlehne starrte. „Ich kann mich nicht an Miriam erinnern, Mama. Ich versuche, sie mir vorzustellen, aber das einzige Bild, das mir in den Sinn kommt, hängt bei uns im Flur.“ - „Anja, du warst damals 5. Natürlich kannst du dich nicht erinnern, aber ab heute hast du wieder eine große Schwester. Du hast sie die ganze Zeit gehabt.“ - „Das ist wohl richtig, aber was erwartet uns heute, ich bin keine 5 mehr und Miri ist keine 9, sondern 25. Wir kennen sie doch gar nicht.“ - Renate drehte sich nach vorne und blickte durch die Wassertropfen, die von den Schneeflocken übrig blieben und die der Scheibenwischer in getakteter Regelmäßigkeit an den Scheibenrand beförderte. Anja hatte genau das ausgesprochen, was auch ihre Eltern bewegte. Würden sie ihre Tochter wieder erkennen? Würde die junge Frau, die sie jetzt in Begriff waren im Krankenhaus zu besuchen, sie als ihre Eltern wieder erkennen.


    Horst, Renate und Anja zögerten auf dem Krankenhausflur. War es nicht doch zu spät für einen Besuch? Sollten sie nicht doch bis zum nächsten Tag warten? Eine Krankenschwester kam auf sie zu und sprach sie an: „Für einen Besuch ist es reichlich spät. Zu wem wollen Sie denn?“ - „Wir sind die Eltern von Miriam Schröter und möchten gerne unsere Tochter besuchen. Wir haben sie seit sechzehn Jahren nicht gesehen und erst heute Abend erfahren, dass sie noch lebt.“ Renate Schröters Stimme bebte, als sie diese Worte aussprach. Die Anspannung lag schwer in der Luft, wie Gelee, durch das kein rationaler Gedanke zu dringen vermochte. Wie durch einen dicken Schleier drang die Stimme der Krankenschwester zu ihnen. „Dann kommen Sie bitte mit mir. Das Zimmer ihrer Tochter ist weiter hinten.“ Die Schwester ging leise voran in das abgedunkelte Krankenzimmer. „Frau Schröter?“, fragte sie leise, „Frau Schröter, sind Sie wach? Ich habe Besuch mitgebracht.“ Die Patientin im Bett regte sich und drehte sich zur Krankenschwester um. „Besuch? Für mich? Jetzt noch?“ Die Schwester wandte sich zu den Schröters, die noch in der Tür standen. „Kommen Sie rein. Ich bin draußen, falls Sie etwas brauchen.“


    Zögernd betraten Renate und Horst das Krankenzimmer ihrer Tochter und gingen langsam auf das Krankenbett zu. Anja hielt sich im Hintergrund, wollte ihren Eltern den Vortritt lassen. Nun standen sie ihrer Tochter gegenüber, aus der mittlerweile eine erwachsene Frau geworden war und die sie, sehr blass im Gesicht, aus dem weißen Krankenhausbett anblinzelte.


    Miriam blickte ihren Eltern lange ins Gesicht, die als neunjähriges Mädchen zum letzten Mal gesehen hatte. Sie konnte sich ebenfalls sehr gut an den Tag erinnern, an dem sie ihr Elternhaus zum verlassen hatte. Allerdings war es nicht so sehr der Abschied von ihrer Mutter, der sich in ihren Kopf eingebrannt hatte, sondern umso mehr der Nachmittag mit ihrer Freundin, das Spielen und Malen, und am meisten der schreckliche Moment, in dem der dunkle Transporter neben ihr hielt, und sie für immer aus ihrer Kindheit gerissen hatte.


    Miriams Blick wanderte zwischen ihren Eltern hin und her, blieb schließlich zuerst auf dem verweinten, aber glücklichen Antlitz ihrer so lange vermissten Mutter hängen. Aus dem anfänglichen Hauch des Wiedererkennens wurde Erinnerung. Sie streckte ihren gesunden Arm aus, um sie zu begrüßen. Dann kam ein leises, zögerliches „Mama“ über Miriams Lippen und die beiden Frauen fielen sich in die Arme, wollten sich gar nicht mehr loslassen, bis Horst herantrat und ebenfalls seine Tochter in die Arme schloss, und sich anschließend beide Schwestern in den Armen lag. Viele Worte waren an diesem Abend nicht nötig. Familie Schröter war wieder vereint.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Frau Kaiser


    Alex holte Semir am nächsten Morgen wie vereinbart zuhause ab. Der Schneefall des letzten Abends hatte über Nacht für eine frische Schneedecke auf den Häusern und Grundstücken gesorgt. In den Vorgärten türmten sich die Schneewälle von den Bürgersteigen, Grundstücksauffahrten und den Wegen zu den Haustüren. Hier und da zierten Schneemänner die Grundstücke und die bereits angebrachten Lichterketten in den kleinen Nadelbäumen warfen durch den auf den Zweigen und Lämpchen liegenden Schnee romantisches Licht auf die Umgebung.


    Sie machten sich auf den Weg zum Hof der Kaisers, die nach Aussage von Frau Schultz, der Mutter von Lena, die die tote Eva Lange am Vortag in deren Küche gefunden hatte, näheren Kontakt zu dieser und ihrem Ehemann Maximilian haben sollen. Nachdem sie in Kerpen die Autobahn verlassen hatten und in Neu-Günzheim auch von der Landstraße auf den kleinen Feldweg abgebogen waren, fuhren sie auf einer festen Schneedecke. Hier kam kein Winterräumdienst vorbei. Der Weg führte lediglich zu wenigen Häusern, darunter die Höfe der Langes, der Kaisers und das Einfamilienhaus von Lena Schultz und ihren Eltern.


    Diesmal hatten sie mehr Glück als am Vortag. Das Wohnhaus war beleuchtet und es standen zwei Autos vor der Tür, als sie den Mercedes gegen 11:00 Uhr auf dem Hofplatz abstellten. Eine grauhaarige, kleine Frau öffnete ihnen auf ihr Klingeln hin die Tür. „Ja? Sie wünschen?“ - „Guten Tag, Frau Kaiser, mein Name ist Brandt von der Kripo Autobahn“, übernahm Alex die Vorstellung und zeigte seinen Ausweis und mit den Worten „das ist mein Kollege Gerkan“, wies er auf Semir, der ebenfalls seinen Ausweis in der Hand hielt, „wir hätten ein paar Fragen, ihre Nachbarn betreffend.“ - „Ja, schlimme Sache mit der Frau Lange, erschlagen, habe ich gehört?“ - „Können wir die Unterhaltung bitte drinnen fortsetzen?“, fragte Semir. „Aber natürlich, entschuldigen Sie.“ Frau Kaiser trat einen Schritt zur Seite und ließ die Beamten in ihr Haus, wo sie in der Küche Platz nahmen.


    „Frau Kaiser“, begann Semir, „Frau Schultz von drüben sagte uns gestern, sie hätten näheren Kontakt zu den Langes, können Sie das bestätigen?“ - „Ja, so nette Leute. Als Paul starb, das war der Vorbesitzer des Hofs, dachten wir schon, seine Söhne würden den Hof abreißen und als Baugrundstücke verkaufen wollen. Aber dann haben sie doch noch einen Käufer gefunden. Maximilian ist ja auch Landwirt, sie haben mehrere Pferde. Sie entschuldigen-“, sie erhob sich und ging zum Herd, um die Inhalte der Töpfe zu prüfen. „Wann war das? Wann sind die Langes eingezogen?“, fragte Semir, um das Wissen der Frau zu überprüfen, denn die Antwort wusste er ja bereits. „Moment, das müsste etwa 15 Jahre her sein. Maximilian ist dieses Jahr zum 15. Mal Schützenkönig geworden, das wurde im Verein extra erwähnt. Seit er bei uns im Verein ist, hat kein anderer eine Chance. Der trifft einfach alles.“ - „Wissen Sie, wo sich Maximilian zurzeit aufhält?“ - „Er ist für ein paar Tage mit Thomas weggefahren, das machen sie öfters mal, zum Jagen oder Angeln.“ - „Wie gut kennen Sie Thomas und seine Schwester, Frau Kaiser?“ - „Ach die Kinder, das ist merkwürdig, die sind erst Wochen nach ihren Eltern angekommen, angeblich, weil Maximilian und Eva so viel mit der Renovierung zu tun hatten und die Kinder da besser bei der Oma blieben. Ich hätte das nicht gemacht. Mehrere Wochen? Viel gesehen habe ich von den Kindern nie, sie haben nicht oft draußen gespielt, ich habe sie wirklich selten zu Gesicht bekommen.“ - „Sie wissen nicht zufällig, wie wir Maximilian Lange erreichen können? Handy-Nummer oder so? Herr Lange weiß noch nichts von seiner Frau.“ - „Nein, das tut mir leid, ist er denn verdächtigt?“ Semir räusperte sich, doch Alex kam ihm zuvor: „In gewisser Weise schon. Die Tochter, der Sohn und der Vater sind seit der Tat verschwunden, wir brauchen die Aussagen aller drei.“ - „Tut mir leid, dass ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann.“ - „Dann bedanken wir uns erst einmal bei Ihnen, sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie uns bitte an.“ Alex überreichte ihr eine Karte.


    An der Haustür verabschiedeten sie sich. „Ach, sehen Sie, dort ist er ja!“, sie blickten in die Richtung ihres Blickes und sahen auf dem Hof der Langes einen weißen Landrover stehen, der sich jetzt gerade in Bewegung setzte und rückwärts in den Schuppen gefahren wurde. „Das ist Maximilian Lange?“, fragte Semir. „Das ist sein Auto, ja.“ - „Gut, dann werden wir ihn ja gleich zuhause antreffen.“


    Als die Polizisten im Auto saßen, griff Frau Kaiser sofort zum Telefon.


    ***


    Maximilian Lange steuerte seinen weißen Landrover auf den Hof und drehte sich zu seinem Beifahrer um. „Tommy, steig aus und mach die Schuppentür auf.“ Ein hochgewachsener, blonder, sehr schlanker Junge stieg aus und ging zum Schuppen, um dessen Tor aufzuschließen und aufzuschieben. Aufgrund des Schnees, der vor dem Tor lag, gestaltete sich dieses entsprechend schwierig. Aber schließlich konnte Maximilian den Landrover rückwärts in den Schuppen fahren. Schnell machte Tommy das Tor wieder zu und betrat mit Maximilian gemeinsam das Wohnhaus durch die direkte Verbindungstür vom Schuppen zur Waschküche. In der einen Hand trug er sein Jagdgewehr, in der Anderen eine Reisetasche. „Ob Mutti schon Mittagessen macht?“, fragte der Junge und steuerte direkt die Küche an, auf dessen Fußboden noch das getrocknete Blut Zeugnis von dem Geschehen des vergangenen Montags abgab. „VATI!“, schrie er durch das Haus. „Was ist denn? Hast du Katja gesehen?“, kam von Maximilian zurück. „Nein, hier ist niemand, und alles voller Blut!“ - „Was sagst du?“, kam von Maximilian, der neben Tommy getreten war und jetzt auch auf den Küchenboden starrte. An der Tür hing ein Schreiben der Polizei, in dem sie darauf hinwies, dass es sich hierbei um einen Tatort handelte und Maximilian sich doch bitte bei der Polizei melden sollte.


    Dann klingelte das Telefon und Maximilian hob an. Er hörte schweigend zu, dann legte er auf.


    „Wir müssen hier weg“, entschied Maximilian sofort, „wenn Katja auch weg ist, sind wir hier nicht sicher.“ - „Was meinst du damit, Vati?“ - „Jetzt frag nicht, geh zum Auto, ich komme gleich nach“, sagte Maximilian, riss wütend den Zettel von der Küchentür und ging mit dem Jagdgewehr ins Obergeschoss. Als er in seinem Arbeitszimmer war, sah er einen silbernen Mercedes mit Düsseldorfer Kennzeichen auf seinen Hof einbiegen. Sofort erkannte er, dass es sich um ein ziviles Polizeifahrzeug handelte. „Ihr kriegt uns nicht“, fluchte er, öffnete eine kleine Scheibe des Sprossenfensters, schob den Lauf seines Jagdgewehrs durch die Öffnung und legte auf den Wagen an.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Verhinderter Zutritt


    Die erste Kugel schlug Semir das Handy aus der Hand, noch bevor die Verbindung zu Susanne zustande kam, die er anrufen wollte, um die Rückkehr von Maximilian Lange durchzugeben, und streifte ihn am Kopf oberhalb vom rechten Ohr. „Aargh! Verdammt! Der schießt auf uns!“, schrie er und starrte auf das Blut auf seiner Hand. Im nächsten Moment kam der Schmerz und er presste seine Hand auf die Schusswunde. Die nächsten Kugeln trafen die Vorderreifen und legten den Wagen lahm. Alex öffnete seine Tür. „Wir müssen hier raus und in Deckung. Die Schüsse kommen aus dem Obergeschoss des Wohnhauses!“ Er stieg aus und rannte schnell um den Kofferraum herum zur Beifahrerseite des Mercedes. Er wollte Semir helfen, den Wagen zu verlassen, doch der hatte bereits seine Tür geöffnet und war im Aussteigen begriffen. Die Windschutzscheibe wurde erneut durchschlagen, und kaum war Semir in gebeugter Haltung neben dem Mercedes, zersplitterte das Fenster der Beifahrertür und die Scherben rieselten auf ihn hinab. „Los, um die Hausecke, schnell.“ Der Mercedes war kurz vor der Schuppenwand zum Stehen gekommen, so dass es nur drei, vier schnelle Schritte waren, bis die beiden in Deckung waren. Semir glitt an der Hauswand abwärts und ging im Schnee in die Hocke. Blut lief ihm über die rechte Kopfseite und in den Kragen seiner Jacke. Alex kramte in seiner Jackentasche nach seinem Handy. „Susanne? Hier Alex, wir brauchen dringend Verstärkung zum Hof von Lange …“


    „Verdammt, warum schießt er auf uns?“, fragte Semir und drückte jetzt ein Taschentuch an seinen Kopf, welches allerdings sofort durchblutet war. Alex zog mit seiner rechten Hand seine eigene und mit seiner linken Hand Semirs Waffe, entsicherte beide an seinen Beinen, reichte eine seinem Partner mit dem Knauf voran und mit den Worten: "Gehen wir rein und fragen ihn?“ Dann drückte er sich aus der Hocke nach oben und schlich zur Ecke der Schuppenwand. Als er seinen Arm mit der Waffe voran um die Ecke schob, schlug eine weitere Kugel in die Hausecke ein und Steinsplitter flogen in alle Richtungen. Alex zog sich schnell in die Deckung zurück. „Hast du ihn schon gefragt?“, fragte er Semir, der nur mit Kopf schüttelte. „Ich? Nein!“ – „Warum antwortet er denn schon?“


    Maximilian Lange wusste, dass die Polizisten hinter der Scheune in Deckung gegangen waren. Er musste mit Tommy verschwinden, soviel stand für ihn fest. Nachdem er den Gewehrlauf aus der Fensteröffnung ins Zimmer zurückgezogen hatte, stellte er die Jagdwaffe in den Waffenschrank und entnahm ihm einen Revolver und einen kleinen Karton Munition. Er musste weg! Es konnte nur noch eine Frage von Minuten sein, bis es auf seinem Hof von Polizisten nur so wimmeln würde. Aber zumindest diese beiden würden ihm nicht folgen können, denn den Mercedes hatte er tiefer gelegt. Bevor er das Zimmer verließ, überlegte er es sich doch wieder anders und nahm zusätzlich das Jagdgewehr und einige Munition an sich. ‚Sicher ist sicher‘, dachte Maximilian und ging schwerbewaffnet schnellen Schrittes ins Untergeschoss und durch die Waschküche in die Scheune, wo Tommy bereits im weißen Landrover auf ihn wartete.


    Plötzlich, sie hatten gerade einen weiteren Versuch gestartet und um die Scheunenecke geschaut, hörten Alex und Semir in der Scheune einen schweren Diesel-Motor starten, und wenig später durchbrach der weiße Landrover mit zwei Personen besetzt das Scheunentor und brauste die Auffahrt zum Hof hinab, bog links ab und verschwand. Nur seine hochgerissenen Arme konnten verhindern, dass das Scheunentor Alex am Kopf trag, so wurde es von der dicken Daunenjacke gedämpft. Semir drehte sich schnell in Richtung des flüchtenden Landrovers und gab mehrere Schüsse ab, die jedoch allesamt ihr Ziel verfehlten. Dann war der Dienstwagen im Schussfeld, und er gab es auf. Alex hatte indessen schon wieder Susanne am Apparat. „… und gib eine Fahndung raus nach einem weißen Landrover, etwa 20 Jahre alt, Kennzeichen BM – FL 241. Danke Susanne! Die Verstärkung kannst du abbestellen. Schick stattdessen Hartmut und sein Team zum Hof.“


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  • Durchsuchung


    „Es muss eine Tür von der Scheune zum Wohnhaus geben, sie sind nicht über den Hof gegangen, das hätten wir mitbekommen.“, sagte Semir und machte sich schon auf den Weg zum jetzt offen stehenden Scheunentor, wurde aber von Alex zurückgehalten. „Warte, Semir. Wir verarzten dich erst mal und überlassen das Haus Hartmut und seinem Team. Du blutest ja immer noch ganz ordentlich.“ Sie gingen zum Dienstwagen, um aus dem Verbandskasten alles Nötige für einen provisorischen Kopfverband zu holen. Nicht schön, aber funktional. „Das war ganz schön knapp, oder? Der Streifschuss ist auch richtig tief, du solltest doch bei einem Arzt vorbei schauen.“ Dann sah Alex in Semirs Gesicht und fügte hinzu: „Du musst es ja wissen.“


    Semir wusch sich noch die Hände im Schnee und entfernte mit Alex‘ Hilfe und dem des Außenspiegels auch das Blut aus seinem Gesicht. Als sie damit fertig waren, sahen sie schon auf dem Feldweg zwei Wagen der KTU sich dem Hof nähern.


    Hartmut begrüßte sie gewohnt freundlich: „Hallo Jungs! Was gibt es hier? Was ist denn mit dir passiert?“ – „Nur ein Kratzer“, antwortete Semir auf Hartmuts mit besorgter Stimme gestellte Frage, „Hartmut, Maximilian Lange und Tommy Lange, oder wie auch immer er in Wirklichkeit heißen mag, waren hier, haben uns lahmgelegt und sind abgehauen. Die Fahndung ist schon raus. Wir brauchen jeden Hinweis auf einen möglichen Aufenthaltsort der beiden. Jeden Namen, jede Adresse, Smartphone, Handy, PC, ach, du weißt schon, was zu tun ist. Und wir brauchen dein Auto.“ – „Was?“ – „Nur für einige Stunden, wir fahren zum Geschäft der Langes und schauen uns das Büro an, aber vorher fahren wir ins Krankenhaus“, erläuterte Semir seinen Kollegen das weitere Vorgehen. „Sollte Semir etwa vernünftig geworden sein?“, fragte Hartmut Alex und schaute dabei auf den provisorischen Kopfverband. „Ja“, antwortete Semir die nicht an ihn sondern an Alex gerichtete Frage, „vernünftig ist es nämlich durchaus, Miriam zu fragen, ob sie sich ein mögliches Ziel von Langes Flucht vorstellen und uns vielleicht nennen kann.“


    Hartmut reichte Alex seinen Autoschlüssel, lud noch seine Koffer aus und blickte den beiden Kollegen der Kripo Autobahn hinterher, als diese mit dem Wagen der KTU den Hofplatz verließen. Alex‘ Mercedes würde später von einem Abschleppwagen der KTU abgeholt und dort untersucht werden.


    ***


    Hartmut und sein Team durchsuchten das Wohnhaus der Langes und auch die Nebengebäude nach einem Hinweis auf einen möglichen Aufenthaltsort. Sie durchkämmten Akten, Papiere, ließen keine Schublade ungeöffnet, schauten in jedes Buch. Adressbücher, ein Telefonverzeichnis, Handys und Papiere stapelten sich auf dem Tisch zum Mitnehmen. Der PC, der im Keller stand, sowie ein Laptop, welches im Wohnzimmer eingeschlossen war, legten sie ebenfalls bereit zum Mitnehmen. Der Laptop war passwortgeschützt, den würde Hartmut sich in der KTU genauer vornehmen. Der PC ließ sich zwar problemlos hochfahren, enthielt aber Tausende Dateien, Musik, Fotos, und Textdateien, hier würde sicher ein Mitarbeiter stundenlang alle Verzeichnisse systematisch nach Hinweisen durchsuchen müssen.


    Die meiste Zeit verbrachte Hartmuts Team im der Scheune gegenüber liegenden Nebengebäude. Sie war bis zum Dach gefüllt mit Kartons, Gerümpel, alten Möbeln und Sperrmüll. Auch hier könnte der entscheidende Hinweis versteckt sein. Eine Ordnung, wie sie im Wohnhaus vorherrschte, war hier nicht zu finden.


    ‚Das wird noch ein langer Tag werden‘, dachte Hartmut, ‚Könnte nicht hier wie in gewissen Fernsehserien der Mietvertrag für ein einsames Haus im Wald offen auf dem Tisch liegen?‘

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  • Im Krankenhaus


    Eine gute halbe Stunde nach ihrem Aufbruch vom Hof betraten Semir und Alex die Eingangshalle des Krankenhauses in Kerpen. Semir wollte sich schon nach links dem Treppenhaus zuwenden, als Alex ihn aufhielt. „Wo wir schon mal hier sind, solltest du das Gebilde auf deinem Kopf gegen einen professionellen Verband tauschen. Guck mal, die Dame in der Anmeldung schaut auch schon her“, Alex winkte der Dame, die sich schon von ihrem Platz erhob, und lotste Semir in Richtung Anmeldung, „So wie du jetzt aussiehst, kannst du keine Station und schon gar kein Patientenzimmer betreten.“ – „Meinst du?“, fragte Semir. „Kommen Sie, ich bringe Sie in das Behandlungszimmer, dann schaut sich das gleich ein Arzt an“, mischte sich nun die Frau von der Anmeldung ein und brachte Semir, der sich wortlos geschlagen gab, in die Ambulanz. „Du findest mich in der Cafeteria, ich brauche einen Kaffee“, verabschiedete sich Alex.


    Als Alex die Cafeteria betrat, fand er diese reichlich besetzt vor. Er holte sich am Tresen einen Becher Kaffee und ein belegtes Brötchen und wandte sich dann den Tischen zu. Auf der Suche nach einem freien Platz blieb sein Blick an einem schwarzhaarigen Mann hängen, der am Ecktisch seinen Kaffee mit einem Stück Kuchen aß. ‚Ben? Na klar, das ist Ben.‘, dachte Alex und bahnte sich seinen Weg durch die Stuhlreihen zu dem betreffenden Tisch. „Ben?“ – „Hey! Hallo Alex“, kam die Antwort von Semirs Ex-Partner, der sich sofort suchend umsah, „Bist du alleine hier? Wo ist Semir? Sag jetzt nicht, dass …“, doch Alex nickte mit ernstem Gesichtsausdruck. „Er ist in der Ambulanz. Maximilian Lange hat auf uns geschossen, als wir seinen Hof betreten wollten.“ – „Und. Ist es schlimm?“ – „Wie man es nimmt“, Alex setzte sich an Bens Tisch, „für die einen ist es nur ein Kratzer, für andere der knappste Sprung von der Schippe, den man sich denken kann. Streifschuss am Kopf. Du kennst Semir, von sich aus wäre er gar nicht hergekommen. Aber wir wollten zu Miriam, und da war es eine gute Gelegenheit, ihn vorher in der Ambulanz abzuliefern. Er wird sicherlich gleich hier sein. Warst du bei ihr?“ – „Ja, jetzt sind ihre Eltern gekommen, da bin ich lieber gegangen.“ Ben schmunzelte. „Meinst du, Miriam kann uns etwas zu Maximilians Aufenthaltsort sagen?“, wollte Alex von Ben wissen, dieser aber hob nur seine Schultern, „Das weiß ich nicht, aber wohl eher nicht. Sie wurde auf dem Hof regelrecht gefangen gehalten und hatte sicher keinen Zugang zu irgendwelchen Papieren, die Aufschluss geben könnten. Die letzten zwei Jahre hat sie den Hof nicht verlassen und das Haus nur sehr selten. Die Tür war immer verschlossen, alle Fenster auch. Manche Tage ist sie nicht einmal aus ihrem Zimmer rausgekommen, höchstens zur Toilette oder zum Essen. Musik und Bücher waren, was ihr blieb. Aber ihr müsst sie selber fragen, vielleicht fällt ihr doch was ein. In den Unterlagen habt ihr nichts gefunden?“ – „Hartmut ist dran. Und ins Büro fahren wir gleich. Wir dachten nur, Miriam könnte uns vielleicht einiges an Arbeit ersparen. Zweitwohnung, Ferienhaus, was weiß ich?“ – „Vielleicht habt ihr Glück. Ach, da kommt Semir.“ Ben sah in Richtung Eingang und hob kurz die Hand, um seinen Freund auf sich und Alex aufmerksam zu machen. Der reagierte, steuerte den Ecktisch an und setzte sich. Ein neues weißes Pflaster zierte seinen Kopf. „Das war knapp, oder?“, fragte Ben mit prüfendem Blick, erhielt von Semir aber lediglich ein Nicken zur Antwort. „Wollen wir gleich hoch?“, fragte dieser Alex ohne sich zu setzen. „Ben, willst du uns nicht begleiten, dich kennt Miriam anscheinend schon besser?“ – Ben winkte ab. „Ich habe leider keine Zeit mehr. Wir haben gleich noch Probe.“


    Miriam weiß nichts


    Alex und Semir betraten nach Anklopfen Miriams Krankenzimmer. Die Patientin saß aufrecht in ihrem Bett. Ihre Eltern waren da und blickten jetzt in Richtung Tür auf die Neuankömmlinge. „Herr Gerkan, was ist denn mit Ihnen passiert?“, fragte Renate Schröter erschrocken, als sie dessen verbundenen Kopf erblickte. Jetzt schaute auch Miriam in Richtung der Polizisten. Sie schien sich zu schämen und fragte leise, ohne Semir dabei anzusehen: „Sie haben Maximilian getroffen?“ – „Eher er uns“, meinte Semir trocken, „Sie wussten er würde so reagieren?“ – „Es passt zumindest zu ihm. Wenn er in eine Lage kommt, aus der er sich nicht mit einfachen Worten befreien kann, kann er schon gewalttätig werden.“


    „Frau Schröter“, mischte sich jetzt Alex ein, „ist Maximilian schon vorher gewalttätig gewesen?“ – „Wenn Sie damit fragen wollen, ob er uns, Tommy und mir, je etwas angetan hat, körperlich meine ich, dann lautet meine Antwort: Nein. Wir haben ihm aber auch nie Gelegenheit dazu gegeben. Wenn eine bestimmte Stimmung in der Luft lag, haben wir uns nicht blicken gelassen. Ich sage Ihnen: Maximilians Worte konnten Ketten sein.“


    „Er ist uns heute entwischt. Können Sie sich vorstellen, wohin er geflohen sein könnte? Ist Ihnen ein mögliches Versteck bekannt? Eine Zweitwohnung, ein Ferienhaus, irgendetwas? Besitzt er noch weitere Grundstücke?“ – „Nein, das tut mir leid, Herr …“ – „Entschuldigen Sie, Brandt, ich heiße Alex Brandt.“ – „Herr Brandt, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Mir ist nichts derartiges bekannt. Ich kenne nur den Hof, dann gibt es die Firma und ein Büro in der Stadt, von dem er ab und an sprach.“ – „Gut, dann müssen wir wohl doch abwarten, was die Durchsuchung des Hauses ergeben wird und uns in den Büros umschauen.“


    „Ich habe noch eine ganz andere Frage“, übernahm Semir wieder das Gespräch, „nicht dass ich Sie verunsichern möchte, aber wie wird Maximilian wohl auf Ihre Flucht reagieren? Bis jetzt weiß er nichts von Ihrem Aufenthalt hier in der Klinik, aber ich werde für alle Fälle zwei Beamte zu Ihrer Sicherheit bereitstellen und die Unterbringung in einer sicheren Wohnung nach Ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus veranlassen, wenn wir Maximilian nicht vorher haben. Ich muss sie auch darauf vorbereiten, dass früher oder später Polizisten herkommen werden, um Sie festzunehmen, denn wir müssen Ihren Aufenthalt hier jetzt melden, wo Ihre Identität bekannt ist.“ – „Festnehmen? Aber warum das denn?“ Es war Horst Schröter, der jetzt erstaunt diese frage stellte. „Haben Sie es Ihren Eltern noch nicht erzählt?“ Semir schaute Miriam fragend an. Die schüttelte mit gesenktem Blick den Kopf. „Nein“, gab sie leise zu und drehte ihren Kopf zu Ihren Eltern, die sie herausfordernd ansahen. „Ich habe Eva Lange, erschlagen, um fliehen zu können.“ Jetzt war es raus. Miriam atmete erleichtert auf. „Oh mein Gott. Du hast einen Menschen getötet?“ – „Ja, ich wusste keinen anderen Weg. Ich wäre sonst immer noch dort.“ Miriams Mutter nahm ihre Tochter in die Arme. „Nein, du konntest nicht anders.“ – „Muss ich dafür ins Gefängnis?“, fragte sie mit Blick auf die Polizisten gerichtet.


    „Ich glaube kaum. Es wird eine Untersuchung geben und eine Verhandlung. Aber ich denke, das wird maximal auf eine Bewährungsstrafe hinauslaufen.“


    Kurze Zeit später verließen Alex und Semir das Krankenhaus, um zurück zum Hof der Langes und anschließend in die Büros zu fahren.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

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