Auferstanden

  • Industrieruine – 20:45 Uhr

    Ben hielt den Dienstwagen in einiger Entfernung zum Eingang. Es war stockfinster in dieser Gegend, mehrere alte verlassene Industrieruinen reihten sich hier aneinander. Sie stammten von einem Bauboom eines Großaktionärs, der sich allerdings verspekuliert hatte. Kevin fragte sich noch während der Fahrt, wieso dieses Foto an der Wand hing…
    Ben hatte nur eine Taschenlampe im Auto und nahm diese in die Hand, während die beiden Männer an den Zaun gelangten, der das Gelände rundherum absperrte. „Sollten wir nicht besser Verstärkung holen?“, flüsterte Ben, als die beiden Männer am Zaun angelangt waren und der Kommissar mit der Taschenlampe nach einem Zugang zum Gelände suchte. „Wenn wir die rufen und das ganze nachher eine Ente ist?“, fragte Kevin rein rhetorisch zurück, der keine Veranlassung für Verstärkung sah. Doch Ben ließ erst mal nicht locker. „Und wenn da drin 15 Mann auf uns warten? Was dann?“ Kevin seufzte auf und drehte sich zu seinem Kollegen um. „Je länger wir warten, desto länger ist Semir irgendwo gefangen.“, meinte er ungeduldig, und fand eine Stelle, an der der Zaun nur ca 2m hoch war… niedrig genug um darüber zu klettern. Gerade wollte der schlanke Kevin sich am Zaun hochziehen, als er wieder die Stimme von Ben hörte: „Und die Engelhardt ist immer noch nicht eingeweiht…“ Kevin blieb in der Stellung stehen, Arme nach oben und die Hände auf die Ziehkante gelegt. „Können wir jetzt vielleicht gehen?“, fragte er genervt und sah direkt in den Schein der Taschenlampe. Ben gab auf… ja, auch er wollte Semir so schnell wie möglich befreien, doch ganz geheuer war ihm die Sache nicht. Sein Bauchgefühl vermutete eine Falle…

    Wie ein Wiesel zog Kevin sich an der Kante zum Zaun nach oben und schwang ein Bein darüber. Mit einem leichten Kraftakt schwang er seinen Körper darüber und kam wohlbehalten auf der anderen Seite an. Ben reichte ihm durch den Zaun die Taschenlampe, und Kevin leuchtete für seinen Kollegen den Weg. Ebenso elegant wie Kevin warf sich auch Ben über den Schutzzaun und nahm die Taschenlampe wieder entgegen.
    Leicht geduckt liefen die beiden Polizisten nun an das Gebäude, ein asphaltierter Weg, offenbar ein Weg für LKW-Lieferungen zeigte ihnen den Weg direkt zu einem großen, halboffen stehenden Tor. Dort angekommen zogen die beiden Männer ihre Waffen, Kevin nickte Ben zu, dass der mit der Taschenlampe vornweg gehen sollte. Die Waffe mit der rechten Hand nach vorne gerichtet, die Taschenlampe mit der linken Hand überkreuz, so leuchtete Ben sich langsam durch die große Halle. Kevin war dicht hinter Ben, hatte die Waffe in beiden Händen nach oben gerichtet. Es war finster, seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Umgebung und immer, wenn der Lichtschein der Taschenlampe die Dunkelheit zerschnitt war es schwierig, etwas zu erkennen. Sie achteten darauf, so wenig Geräusche durch ihre Schuhe wie möglich zu machen, doch immer wieder knackte und knirschte es. Sand, Steinchen und Glasscherben säumten ihnen den Weg. In der Halle war nichts, was verdächtig schien, zwei Türen zweigten sich zu Büros ab. Hier leuchtete Ben auf den Türgriff, Kevin stieß die Tür auf um dann auf die Knie zu gehen, damit Ben über ihn in den Raum leuchten konnte. Alles war verwahrlost und verlassen, voller Staub bedeckt. „Hier war seit Jahren nichts lebendiges drin.“, meinte Kevin flüsternd.
    Plötzlich blieben beide Polizisten stocksteif stehen. Sie hörten Schritte, das Klacken von Schuhen auf einer Metalltreppe. Ben konnte im Lichtschein der Taschenlampe Kevins beinahe konzentriertes Gesicht sehen und würde wohl im Leben nicht zugeben, dass sein Herz gerade heftig gegen den Brustkorb stieß. Auch Kevin, den normalerweise nichts aus der Ruhe bringen konnte, vermittelte diese Ruhe nur nach außen. Auch er war im Inneren erschrocken und die Ungewissheit dieser Ruine machte das Atmen schwer. Das Klacken bewegte sich langsam von ihnen weg, und es bewegte sich… nach unten. Ja, es war als würde sich das Geräusch von den beiden weg und nach unten bewegen, als würde jemand sich im Dunkeln Schritt für Schritt eine Kellertreppe heruntertasten. Ben und Kevin verließen das Büro zurück in die Halle und leuchteten herum. Irgendwo musste sich ein Zugang zum Keller des Gebäudes befinden. „Da hinten.“, flüsterte Kevin als er zwei Geländer sah, die nach unten im Boden verschwanden. Als sie sich auf den Punkt zu bewegten wurde das Klackern wieder etwas lauter, bis es abrupt aufhörte.

    Die beiden Polizisten kamen am Geländer an, tatsächlich gingen hier Metallstufen nach unten in die pechschwarze Dunkelheit. Kevin trat mit den Schuhen auf die Stufe, es macht das gleiche Geräusch, das sie eben vernommen hatten. „Mach die Lampe aus…“, sagte Kevin leise und mit einem leisen Klicken erlosch die einzige Lichtquelle. Er wollte nicht, dass dieses Etwas, was in den Keller geschlichen war, durch den Lichtschein merkte, dass es verfolgt wurde. Doch während die beiden Männer vorsichtig die Truppe runterstiegen war ihnen klar, dass derjenige durch die Geräusche alarmiert wurde.
    Die Treppe war tief und führte unten den Boden der großen Halle. Als sie zu Ende war, drückten sich Ben und Kevin mit dem Rücken an die rechte Wand und tasteten sich vorsichtig vorwärts. Kevin ging vor, die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit nur langsam, mit der rechten Hand an die Wand gelegt konnte der junge Polizist spüren, wann es zu einer Biegung kam. Nach einigen Metern spürte er die Kante, dass ein Weg nach rechts abzweigte. Er hielt die Luft an und sah zu Ben… im Dunkeln konnte er die Konturen seines Gesichtes ausmachen, und eines konnte er ablesen… Ben hörte auch das, was Kevin gerade vernahm. Ein Atmen… ein leises, unterdrücktes Atmen hinter dieser Biegung. Dort stand jemand, der offenbar auf die Polizisten wartete. Es gab jetzt kein Zurück mehr, sie mussten wissen, wen sie verfolgten. Es konnte kein Zufall sein, dass sie dieses Gebäude in Kerlers Büro sahen, hierher fuhren und sofort auf jemanden trafen… das war mit Sicherheit kein Penner oder Stadtstreicher. Kevin tippte sachte auf die Taschenlampe, ein Signal an Ben diese anzuschalten, wenn sie sich zum Gang drehten. Die beiden Polizisten dachten, dass ihnen das Herz zum Halse rausspringen wollte… „Jetzt“, flüsterte Kevin nur und drehte sich in die Öffnung während er auf die Knie ging und die Waffe in die Dunkelheit richtete… jedoch nur für eine Sekunde, den die Dunkelheit wurde sofort von Ben erhellt, der schräg hinter Kevin stand, Waffe und Taschenlampe ebenfalls in die Öffnung und auf die Person gerichtet, die seinen Revolver auf die beiden Polizisten richtete und in den Schein der Taschenlampe blinzelte. „André…“, raunte Kevin leise als er sah, wer da auf sie wartete. Der junge Polizist atmete hörbar aus, die ganze Anspannung fiel von den Schultern als er den ehemaligen Partner von Semir erblickte. Erleichtert ließ er die Waffe sinken und stand wieder auf. Auch André ließ den Revolver sinken und legte eine Hand über die Augen. „Was macht ihr denn hier?“, fragte er zischend. „Das gleiche könnten wir dich fragen…“, gab Kevin, immer noch in gedämpfter Stimme zur Antwort und bemerkte dann, dass Ben die Waffe immer noch auf André richtete. Beschwichtigend legte Kevin seine linke Hand auf dessen Waffe und drückte die Mündung in Richtung Boden. „Hey… alles klar?“ „Nix ist klar.“, blaffte Ben und ließ die Waffe sinken. Man merkte ihm die Anspannung deutlich an. „Er hat was mit den Entführern zu tun. Er steckt mit ihnen unter einer Decke.“, knallte der Polizist seinem Gegenüber hin und erntete dafür ein resignierendes Wegblicken von André. „Mein Gott, ich hab mit denen nichts zu tun, verdammt.“, sagte er und seine Stimme schallte durch den Gang. „Warum sollte ich Semir sonst hier suchen, hä?“

    Die drei Männer standen sich gegenüber… im Keller einer verlassenen Industrieruine, in der ausser ihnen wohl nur Ratten zugegen waren. Nur das Atmen der drei war zu hören… Kevin immer noch davon, dass die Anspannung abgefallen ist, Ben und André vor Erregung. Ben wandte sich ab, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und wusste nicht mehr wo ihm, vor lauter Sorge um Semir, der Kopf stand. „Wenn du Semir wirklich suchst, dann müssen wir zusammenarbeiten.“, sagte Kevin ruhig in Andrés Richtung. „Wir waren bei Kerler, und der sagte dass sie mit Semir das haben, was sie wollten. Die sind nicht hinter dir her. Du aber wüsstest, warum sie hinter Semir her sind.“ André schaute zu Boden, er ging einige Schritte hin und her weil er nachdachte. Es ging ihm vieles durch den Kopf, viele Fragen und Antworten die er bereits rausgefunden hatte. Doch es kam keine Antwort dabei raus, während Ben ungeduldig neben Kevin stand. „Semir hatte Berger damals doch erschossen.“, sagte Ben mit erregter Stimme. „Kann es sein, dass Berger noch lebt und sich an Semir rächen will?“ André stoppte plötzlich und sah in den Schein der Taschenlampe ohne zu blinzeln. Er hatte Berger in den 14 Jahren nicht ein einziges Mal mehr gesehen. „Nein… Berger ist tot.“, sagte er mit eisiger Miene, und Ben und Kevin waren enttäuscht… es wäre die Lösung des Rätsels gewesen. „Aber…“, sagte André danach und ließ die beiden Polizisten wieder aufhorchen. „Horn will sich für Bergers Tod an Semir rächen…“

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Versteck – 21:00 Uhr

    Semir wagte nicht mal zu atmen. Die Schritte, die er eben noch deutlich hörte, waren verstummt. Leere und stumme Dunkelheit hielt ihn weiter umhüllt, während der Kommissar stocksteif auf seinem gefesselten Stuhl sass und die Luft anhielt, die Ohren spitzte. War da noch was? Redete da jemand. Seine Augen bewegten sich hin und her, als wolle er versuchen die Worte zu sehen, die sich schwach in seinen Gehörgang krochen. Ja, da redete doch jemand… Semir konnte immer mal wieder einen Ton, ein halbes Wort und ein kurzes Husten hören. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Wenn das jemand war, der ihn suchte, musste er irgendwie auf sich aufmerksam machen… rufen, schreien, Krach machen. Sollten es aber die Kerle sein, die ihn hierher verfrachtet hatten, Kerler oder sonst wer, dann würde das Rufen sicher unangenehm für ihn enden. Mit aller Macht konzentrierte er sich weiter darauf, die Stimme zu identifizieren, Wörter zu verstehen, doch es hatte keinen Sinn. Die Stimmen waren zu weit weg, die Wände waren zu dick. Irgendwann wurde es auch wieder still, und wieder machten sich Schritte neben ihm und über ihm auf. Semir war sich sicher, dass es mehrere Leute waren, denn das „Tick-Tack“ der Schritte war unregelmäßig. Enttäuscht und doch erleichtert stellte er fest, als es wieder ruhig wurde… 1 Minute, 2 Minuten, 5 Minuten. Nein, er hörte nichts mehr. Egal, wer auch immer hier gewesen war, er war weg.
    Die Hoffnung schwandt langsam, es kam Semir vor, als würde er schon tagelang hier sitzen. Nein, das konnte nicht sein. Er spürte kein Hunger- oder Durstgefühl, also konnte er noch nicht so lange hier sitzen. Und Ben würde sicher niemals aufgeben seinen Freund zu suchen… ein Aufgeben kam nicht in Frage.


    Industrieruine – zur gleichen Zeit

    Kevin und Ben blickten in das hell erleuchtete Gesicht von André. Beide waren überrascht, und konnten sich diesen Zusammenhang nicht erklären. „Warum sollte sich Horn für Bergers Tod rächen?“, fragte Kevin, immer noch leise sprechend, in Andrés Richtung. „Berger und Horn waren sehr eng befreundet… enger, als wir es damals annahmen. Erst später, als ich für Horn gearbeitet habe, hab ich erfahren, wie eng ihre Beziehung war.“ „Scheisse…“, murmelte Ben und sah auf den Boden. Hintergrundinformationen, die ihnen einfach fehlten, die ihnen aber nützlich sein konnten… sie mussten mit André zusammenarbeiten. Aber vor allem musste jetzt die Chefin informiert werden. „Warst du hier überall?“, fragte der Polizist dann, mit halbwegs gutmütiger Stimme in Richtung André. Der nickte. „Ich wusste, dass Horn diese Ruine gehört. Ich laufe schon seit 2 Stunden hier drin rum. Hier ist nichts und niemand.“ Ben schaute fragend in Kevins Richtung… es war eine stumme Frage an seinen Kollegen, eine Frage wie „Vertraust du ihm?“. Kevin antwortete mit einem Nicken und zustimmenden Blick. Erstaunlich, wie sich die beiden nach so kurzer Zeit verstanden, dachte Ben. „Okay. Wir sollten zur Dienststelle fahren. Die Chefin weiß noch gar nichts von Semirs Verschwinden. Und dann müssen wir genau überlegen, wie wir weitermachen.“ André nickte zustimmend, und die drei Männer verließen das Gelände.


    Dienstelle - 21:30 Uhr

    Noch von unterwegs hatte Ben Anna Engelhardt angerufen und sie gebeten, dringend ins Büro zu kommen. Die Chefin stellte keinerlei fragen, sondern versprach, sich sofort auf den Weg zu machen. Sie hatte einen kurzen Weg aus der Stadt und saß bereits im Büro, als die drei Männer auf der Dienststelle ankamen. Ben bemerkte, dass Kevin wieder so erschöpft aussah wie gestern Abend, doch er sagte nichts. Unter Adrenalin war Kevin fit, doch immer wenn es zu solchen Ruhepausen kam, wurde es anstrengend für ihn. „Ich rede alleine mit der Chefin.“, meinte Ben und ging geradeaus ins Büro. Kevin nickte dankbar, und ließ sich auf den Drehstuhl fallen, auf dem Semir sonst saß. André trat ins Büro, und es kamen erneut alte Erinnerungen hoch. Das Poster des BMWs, das früher auf seiner Seite hing musste teuren Flatscreens weichen. Er sah zu Kevin, der kurz den Kopf in seine, auf dem Tisch, aufgestützten Hände legte. „Ich hätte nicht gedacht, dass du den Weg eines Polizisten einschlägst.“, meinte André mit seiner ruhigen kratzigen Stimme. Kevin blickte auf und sah seinen ehemaligen Trainer an. „Menschen ändern sich.“ „Das meine ich nicht. Ich wusste, dass du vom Charakter her ein guter Kerl bist.“, entgegnete André auf Kevins kurze Antwort. „Aber ich wusste auch, was du schon auf dem Kerbholz hattest. Aber es ging mich damals nichts an, weil es nicht mein Bereich war.“ Kevins Blick wich gen Boden, und er fuhr sich mit einer Hand durch die abstehenden Haare. André hatte er damals vieles anvertraut, denn er wusste nicht, dass er Polizist war. „Es ist nie was herausgekommen?“, fragte André, der sich wie immer nicht an einem Platz halten konnte und ein wenig durch den Raum tigerte. Kevin schüttelte stumm den Kopf. Wenn das, was er damals getan hatte, irgendwo in einer Akte stehen würde, wäre er nie Polizist geworden. Kevin dealte mit Drogen, er schlug zwei Gang-Mitglieder krankenhausreif, brach mit der Gang in mindestens 6 Häuser ein. Erst vor einigen Tagen bekam er mit, dass er alles einem Polizisten erzählt hatte, und nicht einem vertrauenswürdigen Karate-Trainer. Doch André hörte nicht als Polizist, sondern als Karate-Trainer zu. Er konnte Kevin gut leiden, er hatte Respekt davor, wie schnell Kevin von den Drogen wegkam, obwohl er auf dem Sprung zum tödlichen Heroin war, und wie er sich von der brutalen Straßengang lossagte. Er hatte einmal gesagt: „Ich hoffe, dass ich es nicht bin, der dich mal abführen muss… es würde mir wirklich leid tun.“ Diese Worte hallten gerade in Kevins Kopf nach. „Weiß Semir davon?“, fragte André dann, und ließ Kevins Blick schnell zu seinem Gegenüber hochschnellen. „Nein… nein. Das soll niemand wissen.“, sagte er schnell. „Ich darf dir nichts über Vertrauen zu Partnern erzählen.“, sagte der großgewachsene Karate-Kämpfer in die Richtung des jungen Polizisten, mit dem Hintergedanken daran, dass er sich so sehr in Semir getäuscht hatte, was dessen Gefühle zu Andrés vermeintlichen Tod angingen, „aber ich kenne Semir. Er wird es niemandem erzählen.“ Kevin wich dem Blick aus, und schaute durch das Fenster in die schwarze Nacht. Er sah sein Gesicht, seine müden Augen und die leichten Ringe, dass er ein wenig erschrak. André wusste, wie Drogensüchtige auf Entzug, oder kurz davor aussahen… er kannte sie von damals, wenn sie ins Training kamen. „Trotzdem…“, sagte er und schaute zu André zurück, der ihn immer noch ansah. Der ehemalige Polizist erkannte, was Kevin vermutete, und sprach es geradeheraus an. „Und warum bist du rückfällig geworden? Du warst doch weg von dem Zeug…“

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Versteck – 21:30 Uhr

    Semir konnte nicht sagen, dass er Angst hatte… wovor auch? Bis auf die Tatsache, dass dieses dunkle Versteck unangenehm war, und seine Füße und Hände eingeschlafen waren und die Gelenke schmerzten, ging es ihm gut… da hatte er schon wesentlich schlimmere Gefangenschaften erlebt. Doch es war nun eben die Zeit, die nagte, die er alleine war. Alleine mit seinen Gedanken über ihren Fall, über André, und über den Sinn dieser Entführung. Er musste Fragen stellen, er musste Gewissheit haben. Lebte Carlos Berger noch, oder will sich Ralf Horn für dessen Tod an Semir rächen. Schließlich war er es, der Berger aus dem Helikopter heraus erschossen hatte. Der türkische Kommissar seufzte, nichts blieb ihm übrig ausser zu warten.

    Dann spannten sich plötzlich wieder alle Muskeln an. Wieder dieses Geräusch, wieder diese Schritte. Diesmal waren sie jedoch nicht langsam und vorsichtig, sondern zielstrebig, und es waren mehrere. Die Treppe, sie gingen nach unten, dann den Flur entlang. Semir hielt den Atem an, als sich ein Schlüssel in seiner Tür drehte und die schwere Feuerschutztür aufschwang. Das Licht flackerte auf, und Semir kniff die Augen schmerzend zusammen. So lange saß er im Dunkeln, dass seine Augen von dem Licht geblendet wurden, und er eine normale Lampe als gleißend heller Schein wahrnahm. Kerler trat mit seinem feisten Bodyguard in den Raum, ihm folgte allerdings noch ein dritter Mann, den Semir nie zuvor gesehen hatte. Er war noch recht jung, vielleicht Anfang dreißig, trug schwarze Kleidung und auffällig schwarz gefärbte Haare, die ihm über ein Auge hingen. Er sah in irgendeiner Form bedrohlich aus, schien einen leeren Blick zu haben, als er hereintrat und sich an die hintere Wand lehnte, weit weg von Semir und den Kommissaren nur beobachtete. Der sah mittlerweile wieder klarer, sein mulmiges Magengefühl kehrte zurück, doch er war paranoiderweise über diese Abwechslung auch irgendwie dankbar. „Na, Herr Kommissar, haben sie sich gut eingelebt?“, fragte Kerler mit zuckersüßer Stimme, während er um Semirs Stuhl herumwanderte. Der versuchte den Typen nicht aus den Augen zu lassen und meinte sarkastisch „Die Aussicht könnte besser sein.“ Kerler lachte hinter ihm und lag ihm beide Hände auf die Schulter. Ein elektronischer Ton erklang, offenbar bekam Kerler gerade eine Nachricht auf sein Handy, die er schnell durchlas. „Keine Sorge, mein Chef ist schon auf dem Weg zu ihnen, Herr Gerkhan. Ausserdem…“, sagte er und blickte auf den schwarzgefärbten Typen an der Wand. „…werden sie bald Gesellschaft hier haben, zumindest für kurze Zeit.“ Der bewegungslos dreinblickende Kerl begann zu lächeln und stieß sich von der Wand ab. „Hol ihn dir.“, sagte sein Chef und steckte das Handy weg. „Nimm Frank und Niko mit.“, rief er ihm noch hinterher. In Semirs Kopf arbeitete es fieberhaft, und nun wurde es ihm richtig unbehaglich. Was lief hier. „Was ist hier los?“, fragte er erregt und mit einem leichten Drohen in der Stimme. „Ach, nur eine kleine persönliche Angelegenheit zwischen meinem Mitarbeiter und ihrem jungen Kollegen. Nichts, was uns in irgendeiner Form beeinflusst…“ Ein düsteres Lachen kam über Kerlers Lippen. „Außer, sie haben Probleme damit, Blut zu sehen.“, setzte er dahinter und ließ einen erschrockenen Semir zurück… das Licht ging wieder aus, und die Tür schloß sich hinter Kerler.


    Dienstestelle – 21:45 Uhr

    Kevin sah André mehrere Minuten an. Kein Laut drang über seine Lippen, während sein Gegenüber dem Blick standhielt. Leugnen war aussichtslos, André wusste wie Menschen auf Entzug aussahen, sich verhielten. Er wusste, dass Kevin immer noch Drogen nahm, wieder Drogen nahm obwohl er bereits clean war. „Das ist eine lange Geschichte…“, wich Kevin aus. Er wollte nicht erzählen, nicht schon wieder. Es hatte ihn heute morgen erst Überwindung gekostet, mit Ben darüber zu reden. Warum ließen sie ihn nicht einfach in Ruhe.
    André dachte nicht daran. Er bewegte sich auf Kevin zu, stützte sich seitlich neben ihm auf den Schreibtisch und zischte mit ruhiger, aber seiner eindringlichen Stimme: „Mann, Kevin! Du warst doch weg von der Scheiße. Du warst doch weg von der Gang, du hast jetzt einen Beruf. Warum?“ Aus Andrés Stimme klang Wut, ein wenig Verzweiflung, vielleicht auch Enttäuschung. Enttäuschung über Kevin, und vielleicht über ihn selbst, dass er letztendlich bei Kevin doch versagt hatte. Kevin sah André nicht an, er hielt seine Abschottungsmauern aufrecht und ließ seinen ehemaligen Mentor nicht in sein Innerstes sehen. Er hatte die Arme auf den Schreibtisch gestützt und den Kopf auf seine gefalteten Hände, und spürte Andrés Atem, der seitlich neben ihm stand und nahe gerückt war mit seinen Worten. „Nicht alles was man sieht, ist wahr.“, meinte der junge Kommissar abweisend. André seufzte, doch er gab nicht auf. „Ich will dir doch nur helfen. Ich hab dir doch auch damals geholfen! Du…“, doch dann wurde er von Kevin unterbrochen, der ruckartig von seinem Stuhl aufstand, und in Andrés Richtung rief, der sich dabei ebenfalls vom Tisch aufrichtete. „Du kannst mir aber nicht helfen. Du nicht, Semir nicht, Ben nicht und keiner von denen da draußen! Verdammt nochmal!“ Kevin stand dabei mit dem Rücken zum Außenfenster und war so erregt, dass er während dem ausgerufenen Fluch ein Wasserglas, das bei Semir auf dem Tisch stand, in die Hand nahm und mit voller Wucht gegen die rechte Wand feuerte, dass es in 100 Scherben zerbarst. Für einen kurzen Moment herrschte Stille, der ein oder andere Beamte der noch im Großraumbüro arbeitete schaute überrascht durch die Glasscheibe herein, konnte aber nur sehen, wie André neben Semirs Schreibtisch stand, und Kevin anstarrte, der auf der anderen Seite des Schreibtisches mit dem Rücken zur Außenscheibe stand, sich dann aber umdrehte, mit dem Hintern an den Schreibtisch lehnte und sich kurz durch die Augen rieb, bevor er durch die Fensterscheibe starrte. „Ich kann mir ja selbst nicht helfen.“, meinte er mit leiser, resignierender Stimme.

    André sah auf Kevins Rücken und sagte nichts mehr. Wo es damals ein Gruppenzwang war, dass er in diese Szene hineinrutschte, musste es diesmal etwas schwerwiegenderes sein. Ein Trauma, ein Vorfall, Depressionen… jedenfalls nichts, was er als ehemaliger Polizist oder Karate-Trainer lösen konnte. Kevin brauchte andere Hilfe, doch darauf musste er alleine kommen.
    Das Telefon auf Semirs Tisch klingelte. Kevin sah sich um und sah die Nummer der Chefin auf dem Display erscheinen, bevor er den Hörer in die Hand nahm. „Ja?“, meldete er sich, nachdem sein Atem sich ein wenig beruhigt hatte. „Kommen sie bitte sofort in mein Büro, und bringen sie Herrn Fux mit.“, erklang die leicht erregte Stimme seiner Kurzzeit-Vorgesetzten. Noch bevor Kevin Antwort geben konnte, hatte sie aufgelegt.

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    Wie sie.


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  • Dienststelle – 22:00 Uhr


    Ben hatte der Chefin mit kurzen prägnanten Worten Bericht erstattet. Natürlich war sie aufgeregt, natürlich auch sauer auf Ben und seinen Kollegen, dass er einige Informationen vorenthalten hatte. Der Polizist ließ diesmal nichts aus, was die Chefin noch nicht wusste. Alle Informationen, die sie über Kerler und seinen Männern gesammelt hatten, kamen auf den Tisch. Genauso wie die Mutmaßungen von André, dass sich Horn an Semir rächen könnte. Die Chefin nickte, machte sich immer wieder kurze Notizen. Ben erwähnte auch im halben Nebensatz den Streit zwischen Semir und André, die verwirrende SMS und dass Semir vermutete, dass mit André etwas nicht stimmen könnte. Dass André aber selbst nach Semir suchte, würde dagegen sprechen. Der Kommissar gab zu, die Situation um den Ex-Kollegen von Semir selbst nicht richtig einschätzen zu können.

    Nachdem Ben seinen Bericht beschlossen hatte, beorderte Anna Engelhardt die beiden Männer aus Semirs Büro zu sich. Das Klirren des fliegenden Wasserglases hatten beide nicht mitbekommen, so traten die beiden, Kevin und André dann ebenfalls ein. André lehnte sich gegen die Glaswand, während Kevin sich neben Ben setzte. „Also meine Herren…“, begann die Chefin, die sich in ihrem Stuhl ein wenig zurücklehnte und die Arme auf dem Schoß verschränkte. „Momentan haben wir also keinen Ansatzpunkt. Keinen Hinweis auf den Aufenthaltsort und keinen Kontakt zu den Entführern.“ Ben und Kevin nickte, während André bewegungslos blieb, als der Blick der Chefin ihn traf. „Herr Fux, sie kennen Kerler wohl am besten. Wir würden sie ihn einschätzen?“ André dachte kurz nach, und gab dann bereitwillig Auskunft: „Kerler ist kein Typ, der sich selbst die Finger schmutzig macht. Er steht in Horn’s Hierarchie aber auch nicht so weit oben, dass er die Rache selbst ausführen wird.“ „Sie meinen also, für den Fall dass ihre Rache - Theorie stimmt, dass Horn persönlich diese durchführen wird?“ André nickte. „Dann muss er erst mal hier nach Deutschland kommen.“, meinte Ben, und bemerkte, wie Kevin neben sich unkonzentriert wirkte, den gleichen müden Ausdruck in den Augen hatte, wie gestern Abend. „Ja…“, atmete André aus. „Oder Semir nach Spanien.“ „Das wird nicht funktionieren. Ohne Semirs Personalausweis kommt er doch nie durch den Zoll. Und der Ausweis liegt in seinem Dienstwagen.“, widersprach Ben. „Also gut, Horn muss nach Deutschland. Wissen sie, wo sich Horn aufhielt, als sie nach Deutschland geflogen sind?“, richtete die Chefin die nächste Frage an André. Der schüttelte mit dem Kopf. „Nein, Frau Engelhardt. Ich hatte ihn vorher drei Wochen nicht zu Gesicht bekommen.“ Ben stützte, ob dieser Aussage, den Kopf in die Hände. Wo sollten sie nur suchen, welchem Anhaltspunkt konnten sie nachgehen. „Kerler jetzt festzunehmen bringt auch nichts… so würden wir Semir niemals finden. Und die Kerle werden sich auch nicht melden, sie haben, was sie wollen.“, bemerkte er, nachdem er sich wieder aufrichtete, und sich mit beiden Händen durch die Haare fuhr. Eine bedrückende Stille erfüllte den Raum, in allen vier Köpfen arbeitete es. Die Chefin sah André an… inwieweit konnte sie ihm vertrauen. Er war mal ein Mitarbeiter unter ihr, ein sehr guter Mitarbeiter. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass André sie einfach anlog, dass André nicht auf Semirs Seite stand. Sie wusste aber auch, dass solche Gefühle fatal sein konnten. Aber momentan gab es einfach nichts zu tun, es gab nichts was sie hätten tun können. „Vielleicht müssen wir einfach warten…“, meinte André mit ruhiger Stimme. „Warten? Auf was? Dass sie uns Semir in Einzelteile schicken? Wenn deine Theorie stimmt, warum sollten sich die Typen melden?“ „WENN Herr Fux‘ Theorie stimmt…“, gab Frau Engelhardt zu bedenken. „Ich weiß nicht, wie die Kerle über mich denken. Vielleicht wollen sie, dass ich es mit ansehe…“, versuchte der ehemalige Kollege Hoffnungen zu wecken. „Warum sollten sie… die wissen doch, dass du mit uns zusammen arbeitest.“ Ben konnte keinen Hoffnungsschimmer in Andrés Worten erkennen. Kevin blieb die ganze Zeit über seltsam still. Er fühlte sich nicht wohl, er spürte den Entzug. Im war kalt und heiß gleichzeitig, außerdem übel.

    „Meine Herren, ich weiß es fällt schwer, aber momentan können wir nichts tun, außer uns den Kopf zu zerbrechen. Aber dazu müssen sie nicht hier sein…“, meinte die Chefin, die sich danach aufrichtete. „Fahren sie nach Hause… versuchen sie, sich ein wenig auszuruhen. Sobald ihnen etwas einfällt“, es schien Zufall zu sein, dass sie bei dem Wort „Ihnen“ gerade André im Blick hatte, „machen sie Rundruf, und gehen gemeinsam der Sache nach.“ Ben wollte gerade protestieren: „Aber Chefin, wir können doch nicht…“, „Jäger, das war keine Bitte sondern ein Befehl. Ich sage ihnen aus Erfahrung, dass sie auf keinen klaren Gedanken kommen, wenn sie übermüdet Kreise in ihrem Büro laufen.“
    André nickte, und wandte sich ab, auch Kevin stieg vom Stuhl auf und stieß Ben an der Schulter. „Na komm schon…“ Ben konnte es nicht fassen. Semir saß irgendwo in einem Loch, und sie sollten sich schlafen legen. Letztendlich siegte dann aber doch der Verstand. Sie konnten eh nichts tun, bis ihnen etwas einfallen würde. Schlafen würde Ben aber wohl trotzdem nicht können…


    Kevin’s Wohnung – 22:30 Uhr

    Ben machte sich unendliche Sorgen um Semir, als die drei Männer im Wagen saßen und auf den großen Wohnblock zusteuerten, wo Kevin gerade ausstieg. In diesem Moment erinnerte er sich aber, wie er Kevin heute Morgen vorgefunden hatte, nachdem er ihn am Abend zuvor mit den selben müden Augen alleine ließ. „Kevin…“, rief er durch das geöffnete Fenster, als der sich nochmal umdrehte. „Wenn etwas ist, ruf mich an, okay?“ André sah herüber zu Ben und schien die Worte richtig zu deuten. Ben wusste davon, dass Kevin Probleme hatte…. Aber wusste er auch WELCHE Probleme. Wusste er vielleicht etwas, was Kevin ihm verschwieg. Kevin winkte ab „Schon okay.“, und verschwand im Dunkel des Weges, der zu dem großen Hochhaus führte. Er drückte die, wie immer nicht schließende Haustür auf und ging mit müden Schritten hinauf, bis er vor seiner Wohntür stand. Als er diese hinter sich schloss, ließ er sich mit dem Rücken dagegen fallen, und rutschte langsam hinab, bis er auf dem Boden ankam. Es schien, als läge sich wie gestern ein Grauschleier über seine Welt. Er hörte die Worte von Herzberger und André in seinem Kopf, auch von Ben… so viele Gefühle, so viele gutgemeinte Ratschläge waren auf ihn eingeprasselt. Kevin war mit seinen Problemen bisher immer alleine, was ihn zusehends fertigmachte, doch plötzlich wollte sich jemand um ihn „kümmern“, womit er noch wenig zurechtkam. Am liebsten würde er jetzt sein Döschen mit den Pillen nehmen, sich betäuben und hoffen, dass die Nacht schnell vorüberging, doch er hatte das Gefühl, als würde ihm André über die Schulter schauen… so wie früher, als er den Karatelehrer nicht enttäuschen wollte. ‚Ich will dir doch nur helfen. Ich hab dir doch auch damals geholfen!‘, hämmerte es im Kopf des jungen Polizisten, der langsam aufstand und zu einem Seitenschrank ging. Mit zitternden Händen nahm er ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus, auf dem einige Zeilen geschrieben standen. Ein Gedicht, ein Lied, Sätze und Strophen die sich mehr oder weniger reimten, die er einmal angefangen hatte zu schreiben. Irgendwann hatte er angefangen, und obwohl die Sätze düster klangen, so halfen sie ihm an diesem Schwellenpunkt zu den Drogen immer wieder mal, wieder zur hellen Seite zurück zu rutschen. Er lehnte sich auf das Küchentresen und schrieb. Eine Zeile, eine zweite Zeile… dachte nach… eine weitere Zeile. Er schrieb aus dem Bauch, er schrieb die Gefühle ab, die gerade durch seine Seele schwammen, und sie es half ihm diesen Gefühlen nicht nachzugeben. Nach 20 Minuten hatte er fünf neue Zeilen aufs Papier gebracht, er hatte das Gefühl einen Marathon gelaufen zu sein. Die Übelkeit war weg, doch kalt fühlte er sich immer noch. Er starrte auf das Blatt Papier und schmiss den Stift weg, weil die sechste Zeile einfach nicht kommen wollte. Er wunderte sich selbst, dass er sich darüber so sehr ärgerte, dass er die Wohnung verließ, ohne abzuschließen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Kevin versuchte, die dunklen Gedanken einfach zu verdrängen. Wie er es machte, wenn er auf der Arbeit war. Wollte nachdenken, über die Arbeit, über Semir. Doch die Wohnung erdrückte ihn, und so stieg er Stockwerk um Stockwerk im dunklen Hochhaus hinauf, bis er an eine Feuerleiter kam, die er heraufstieg. Kalte Luft schlug ihm entgegen, er trug keine Jacke mehr, nur noch ein Langarm-Shirt und Jeans, als er über das Dach des Hochhauses schritt. Man hatte eigentlich einen herrlichen Blick, er war öfter mal hier oben, doch nie wenn seine Depression wirklich akut war.
    Mit einem leisen Schnippen zündete sich Kevin eine Zigarette an, doch sein Dämon ließ ihn nicht zu den Gedanken um Semir kommen. Sein Dämon trieb ihn weiter bis an die Kante des Daches, die nur durch eine Erhöhung von der Absturzkante unterbrochen war. Nach unten sah Kevin nur Schwärze, keine Lampe erleuchtete den Weg. Was tat er hier… die Zeilen hatten doch immer geholfen. Sein Körper, seine Beine taten nicht, was sein Verstand ihm vorgab, als er auf die Erhöhung stieg und nun nichts mehr zwischen sich und dem Abgrund hatte. Die Spitzen seiner Schuhe waren vielleicht noch 10cm vom Nichts entfernt. „Ein Schritt“, sagte Kevin mit einer, ihm fremden Stimme, zu sich selbst. „Ein Schritt ist so leicht.“ Der Wind hier oben war scharf wie Messer, die Kälte klammerte sich an sein dünnes Oberteil. „Es ist zu dunkel zum sehen. Es ist zu laut um zu reden. Ich bin zu schwach um weiterzugehen.“, zitierte er sich selbst aus den Zeilen auf seinem Zettel, die er vor Wochen geschrieben hatte, als er einen Fuß über dem Abgrund ausstreckte, und nichts mehr unter diesem Fuß spürte, außer Luft und Erlösung. Mit dem anderen Bein hielt er das Gleichgewicht, und wollte offenbar das Schicksal entscheiden lassen, ob er jetzt nach vorne oder nach hinten kippte.


    Nicht sein Schicksal entschied, sondern der letzte Teil seines Gehirns, der seine Vernunft lenkte. Die ließ ihn das Körpergewicht nach hinten verlagern, und ihn langsam wieder von der Überhöhung fallen. Der junge Polizist erschrak, als er auf dem Boden aufkam… er erschrak über sich selbst. Es war eine neue Dimension, es war, als wäre er auf einen Schlag wieder ganz bei sich. Die Spiele mit der Waffe war niemals gefährlich für ihn, weil er in Trance, im Rausch immer das Magazin vorher entfernte… doch hier war die Gefahr wirklich, sie war zum Greifen, sie war real. Panisch, fast schon verängstigt krallte Kevin sich in die lose Dachpappe neben sich. Dass mehrere Meter unter ihm gerade ein Mann durch die Haustür ging, und auf dem Weg zu seiner Wohnung war, bemerkte er nicht… es war ein Mann mit schwarz gefärbten Haaren…

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • André’s Boxschule – 22:30 Uhr

    Nachdem Ben und André Kevin bei sich zu Hause abgesetzt hatten, schlug Ben den Weg in die Stadt ein, um auch André in seiner momentanen Bleibe abzusetzen. Unterwegs sprachen die beiden nicht miteinander, Ben sah geradeaus und hing seinen Gedanken nach, während André einen Arm auf die Türlehne gestützt hatte und den Zeigefinger vor den Mund legte, als die Lichter der Stadt an ihm vorbeihuschten. Beide machten sich große Sorgen um Semir, doch der junge Kommissar am Steuer war sich nicht sicher, wie ehrlich Andrés Sorgen wirklich waren. Konnte er ihm vertrauen? Ben wusste es nicht, er wusste nichts über André. Kevin hatte ihn früher kennengelernt, Semir und auch die Chefin, sie wussten wie André vor 14 Jahren getickt hatte. Aber tickte er auch heute noch so, oder schaffte er es, die perfekte Maskerade vor zu spielen?
    Ben hielt den Wagen auf dem Gehweg, und bekam erst mal kein Wort des Abschieds heraus. „Danke fürs Fahren.“, war es dann André, der das Schweigen unterbrach. Ben nickte leicht: „Kein Ding.“ Er hörte das Klacken der Autotür und spürte, wie die eiskalte Luft in den Fond strömte. „Willst du noch was trinken? Schlafen kann ich jetzt sowieso nicht.“, meinte André und sah es als kleines Versöhnungsangebot, dafür dass er sich vorher recht bescheuert gegenüber Ben benommen hatte. Durch das Gespräch mit Andrea hatte er gemerkt, dass sie alle an einem Strang ziehen mussten. Ben sah André etwas überrascht an, und sprang über seinen Schatten. „Du hast recht… mir ist auch nicht nach Schlafen zu Mute.“, sagte er und zog den Schlüssel aus dem Zündschloß.

    Beide Männer überquerten die Hauptstraße und traten in das Gebäude. André erinnerte sich, dass er hier gestern mit Semir noch saß und seufzte leise. Die Beleuchtung des Raumes flackerte auf und Ben nahm am Tresen Platz, während Semirs Ex-Kollege sich dahinter am Kühlschrank zu schaffen machte. „Cola, Bier, Wasser, Saft?“, fragte die Stimme von unten. „Wasser…“, meinte der Polizist darauf und sah sich um. Ein Teil aus Semirs und Andrés früheren Leben, als er selbst wohl noch zur Schule ging… komisches Gefühl.
    André tauchte wieder auf und stellte zwei Gläser und zwei Flaschen auf den Tresen. Sie prosteten sich zu und tranken beide einen Schluck. Wieder Schweigen, Schweigen das erdrückte. Nur das Raunen des Kühlschrankes war zu hören, das leise Atmen der beiden Männer. Diesmal war es Ben, der das Schweigen nach einigen Minuten brach: „André, es tut mir leid, falls ich dir misstrauen sollte…“ André unterbrach ihn: „Nein nein… mir muss es leid tun. Ich hab mich daneben benommen, ich kann nicht erwarten dass du mir glaubst. Du kennst mich nicht…“ Ben drückte die Lippen aufeinander und nickte. „Es klingt alles so vage. Dein Leben dort auf Mallorca, warum du nicht zurückgekehrt bist. Es ist… es ist nur sehr schwer vorstellbar.“ „Ja…“, raunte André mit seiner kernigen Stimme und gab zu: „Ich weiß…“ Wieder Schweigen, Schweigen zwischen zwei Männer, die zuerst ein gleiches, dann zwei völlig unterschiedliche Leben gelebt haben. Eines hatten sie gemeinsam… sie waren und sind Semirs Partner. „Wie bist du damals zur Autobahnpolizei gekommen?“, fragte Ben, um das unsägliche Schweigen irgendwie zu Brechen. „Ich kam vom Diebstahldezernat, und hatte mich beworben. Mein Hobby waren damals Musik und schnelle Autos. Die Kripo Autobahn hatte damals ausgeschrieben, und ich wurde genommen.“, erzählte der großgewachsene Ex-Polizist und erinnerte sich selbst an seine Zeit bei Cobra. „Und… wie kamst du am Anfang mit Semir klar?“, fragte Ben dann, weil er sich erinnerte dass er während des ersten Falles mit Semir einige Differenzen hatte. „Eigentlich ganz gut. Wir waren ein gutes Team, und konnten uns aufeinander verlassen. Wir sind zwar nicht gemeinsam in Urlaub gefahren, aber es war okay.“ „Aber ihrer hattet doch bestimmt mal Streit, oder?“, hakte Ben nach. „Na klar.“, meinte André und lächelte. „Einmal hatten wir uns in der Dienststelle beinahe geprügelt wenn die Engelhardt nicht reingekommen wäre. Damals hatte Semir seinen Cousin versucht in Schutz zu nehmen, der unter Mordverdacht stand.“ Auch Ben musste lächeln bei der Vorstellung, wie sich der kleine Semir und der um mindestens anderthalb Köpfe größere André sich geprügelt hätten. „Wie war’s bei dir?“, fragte André und Ben lächelte, als er an seinen ersten Fall mit Semir dachte. „Semir war damals recht voreingenommen, weil ich so viel jünger war. Außerdem war er emotional sehr betroffen, weil wir damals einen Zeugen beschützten, der gegen den Mörder seines Ex-Partners Chris Ritter aussagen sollte. Das hatte Semir sehr mitgenommen.“, erzählte der Polizist und sein Gegenüber erinnerte sich an eins der Gräber. „Aber danach haben wir uns zusammengerauft. Semir ist der beste Partner, den man sich vorstellen kann… wenn er unvoreingenommen in einem Fall ermittelt.“ „Ja, da hast du recht. Semir hat mich öfters aus der Scheiße gezogen.“, sagte André leise und erinnerte sich daran, als Semir ihn und ein Kind mit dem Heli aus einem Tanklaster zog, der nicht anhalten konnte… oder ihn vor dem sicheren Sturz ins Meer bewahrte auf Mallorca, wenige Stunden bevor André ins Meer stürzte. Und Ben konnte es ihm nachfühlen.
    So saßen die beiden Männer am Tresen… Ben, der André noch immer nicht 100 Prozent traute, aber mit dem Wissen, dass der Ex-Polizist dafür so etwas wie Verständnis hatte, und redeten über Semir und vergessene Zeiten, bis Ben sich schließlich tief in der Nacht mit einem festen Händedruck verabschiedete…


    Kevin’s Wohnung - 23:15 Uhr

    Es dauerte eine Zeitlang, bis Kevin’s Atem sich beruhigt hatte. Der Wind pfiff übers Dach und zerrte immer noch an seiner dünnen Bekleidung, während ihm nur langsam bewusst wurde, was er da gerade veranstaltet hatte. Er fror und schlang die Arme um den Körper, machte aber keinerlei Anstalten zurück in seine Wohnung zu gehen, er saß mit dem Rücken an der Überhöhung und machte sich klein, als ob er Angst vor etwas hatte… Angst davor, dass der Dämon irgendwann so viel Besitz ergreift, dass er selbst nicht mehr dagegen steuern kann, dass seine Vernunft die lebensrettende Maßnahme nicht mehr durchsetzen kann, wie zb die, dass Magazin aus der Waffe zu entfernen.
    Es dauerte eine Viertelstunde, bis Kevin den Weg nach unten antrat… durchgefroren, hundemüde, aber sicher die Nacht ohne Drogen zu überstehen. Es war eine unangenehme Wärme, die ihn vom Flur empfing in diesem ungemütlichen Loch, dass sich Mietshaus nannte.
    Als er an seiner Wohnungstür ankam, bemerkte er, dass sie einen Spalt offenstand. Für einen Moment spannten sich seine Muskeln an. Hatte er sie nicht richtig zugezogen? Möglich, er war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er das durchaus hatte vergessen können. Als er jedoch in die Wohnung eintrat, blieb er wie angewurzelt stehen… hier stimmte etwas nicht. Er hatte den Zettel mit seinen Zeilen auf den Boden geschmissen und nicht aufgehoben… jetzt lag er sorgfältig mit einem Stift daneben auf dem Wohnzimmertisch.

    Bevor Kevin darüber nachdenken konnte, bekam er von hinten einen heftigen Tritt in den Rücken, der ihn zu Boden gehen ließ. Er federte mit den Händen vom Boden weg, drehte sich auf den Rücken um den Angreifer zu sehen. Eine Gestalt mit einer tief ins Gesicht gezogenen Mütze stand über ihm, und holte mit etwas aus um zuzustechen. Kevin war zwar müde, doch ein Schub Adrenalin, das durch seine Adern schoss vertrieben diese Müdigkeit sofort wieder. Sein Fuß traf die Kniekehle des Angreifers, der sofort einknickte und Kevin die Möglichkeit gab zumindest einen Fuß auf den Boden zu stellen, und das zweite Bein in Knielage zu bringen, um aufzustehen. Ein Schmerz zog sich durch seinen Rücken, und er sah die Faust des zweiten Angreifers, der deutlich bulliger und kraftvoller war als der erste, nicht kommen. Ein Schmerz und das Gefühl von warmen Blut, was Kevin aus der Nase schoss und kurzzeitig die Welt in ein Rot tauchte, als er erneut zu Boden ging, war das was er noch voll spürte. Der schwarzhaarige Kerl, auch Peter Becker genannt, lächelte und rieb die getroffene Kniekehle ein wenig. „Früher warst du mal schneller, Kevin.“, höhnte er über den Mann, der irritiert am Boden lag, gerade im Begriff sich seitlich wieder hochzustemmen. Peter unterband das aber mit einem gezielten Tritt in Kevins Magen und brach diesen Versuch somit ab, als der Körper des Polizisten wieder zu Boden sackte und der Schmerz Stöhn und Hustgeräusche verursachte. „Wirklich schade, dass ich es nicht zu einem fairen Zweikampf komme lassen kann.“ Kevin nahm die Stimme nur von ganz weit weg wahr, im Vordergrund war sein Herzrasen, Schmerz und Brennen, vor allem als Beckers Schuh dann auch nochmal sein Gesicht traf und der Polizist das Gefühl hatte, das ihm gleich sämtliche Lichter ausgehen würden. Die Haut riss oberhalb des Auges und seitlich neben der Nase auf und Blut tropfte neben den schmutzigen Teppich auf den Boden. Becker zog eine Spritze aus der Tasche, um dem Spiel ein Ende zu machen. Die Worte, die er sprach, bevor er Kevin mit einem Stich in den Hals ins Reich der Träume beförderte, konnte der junge Kommissar genau hören. „Schäm dich… selbst deine Schwester hatte sich damals mehr gewehrt!“ Mit diesen Worten wurde Kevin auf den schlimmsten Trip seines Lebens geschickt...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Versteck – 0:30 Uhr

    Semir kam nicht umhin, wenigstens zu versuchen einzuschlafen. Die ganze Nacht hier sitzen, ins Dunkle glotzen und dabei dem ein oder anderen Wassertropfen zu zu hören, wie er aus einer undichten Leitung auf den Boden tropfte… er würde wohl wahnsinnig werden. Der Besuch vor einigen Stunden ging so schnell, wie er gekommen war und ließ einen sehr verwirrten Semir zurück… junger Kollege? Privatangelegenheit? Wer war damit gemeint? Mit jung konnte eigentlich nur Ben oder Kevin gemeint sein, aber was hatten die mit diesem eigenartigen Kerl zu tun? Es war eine Vielzahl neuer Fragen, auf die er keine Antworten wusste.
    Immer mal wieder glitt er ein wenig ab ins Reich der Träume, bei der kleinsten Muskelbewegung seiner angespannten Arme und Beine wachte er aber wieder auf. Morgen früh wäre er müde, und es würde ihm wohl jeder Knochen wehtun, das wusste er jetzt schon.

    Richtig munter wurde er erst, als er erneut Stimmen und Schritte vernahm. Doch diesmal waren es nicht nur Schritte, es war auch noch ein Geräusch, als würde jemand etwas hinter sich her schleifen. Semir lief es kalt den Rücken hinunter, als er an die Worte Kerlers dachte. „Oh Gott… sie haben doch nicht…“, weiter kam der türkische Kommissar mit seinen Gedanken nicht. Die Tür wurde aufgestoßen, das Licht blitzte geißend hell auf. Semir kniff die Augen zusammen und konnte nur verschwommen wahrnehmen, wie eine Gestalt recht unsanft auf den Boden fallen gelassen wurde. Nur langsam wurde seine Sicht klarer, und als sich die Gestalt in Zeitlupentempo auf den Rücken rollen ließ, stockte Semir der Atem. Kevins Gesicht war gehüllt in Blut, es war bereits getrocknet und lief aus Nase und zwei Rissen über Auge und neben der Nase. Sein Mund stand halb offen, seine Augen starrten mit winzigen Pupillen an die Decke. Sein Körper zitterte, als läge er im Eisfach. Semir war geschockt, die Kerle mussten ihm irgendwelche Drogen verabreicht haben und noch dazu übel zugerichtet haben. „Na komm, lieg hier nicht so faul rum.“, sagte der schwarzhaarige Kerl, der ihn mit zwei Typen, Marke Kleiderschrank, reingebracht hatte. Sie hoben den völlig verwirrten, wehrlosen Kevin hoch und ließen ihn auf einen Stuhl fallen. „Lasst ihn in Ruhe, ihr Arschlöcher.“, kläffte Semir, wusste jedoch dass er mit Worten nicht kämpfen konnte. Seine Wut steigerte sich ins unermessliche und ließ ihn vehement an seinen Fesseln ziehen und zerren. Doch Peter Becker lachte nur, und achtete gar nicht auf den Polizisten neben ihm, während er Kevin Klebeband um die Fußgelenke und Handgelenke band. Der junge Polizist war nicht im Stande, Widerstand zu leisteten, er nahm alles wie durch eine große Glasglocke wahr. Die Wörter dumpf, als wäre er unter Wasser, die Schmerzen betäubt. Er wusste, dass er irgendwo saß, dass irgendjemand bei ihm war. Mal dachte er, er säße im Wohnzimmer seiner Ersatzmutter, und Janine fragte ihn etwas zu den Hausaufgaben, und er wollte so gern Antwort geben, doch konnte nicht. Mal dachte er, er saß auf einem elektrischen Stuhl, und vor ihm waren Ben und André, die die Anklageschrift verlasen. „Mord an Janine Peters!“, wiederhole André mehrmals. Dass er wie wild zitterte, bemerkte er nicht.

    Peter Becker und seine zwei Helfer traten von dem Gefesselten zurück, und der schwarzgefärbte Typ war zufrieden mit seinem Werk. „Schäm dich Kevin… früher warste das Zeug doch gewohnt.“, höhnte der Kerl und spuckte vor Kevin auf den Boden. „Elender Schwächling. Deiner Schwester konntest du damals nicht helfen… und jetzt kannst du dir selbst nicht helfen.“ Semir war sprachlos über diese Rohheit und Brutalität, konnte die Worte des Mannes aber nicht einordnen. Was war mit Kevins Schwester geschehen? Was meinte der Kerl? „Was haben sie mit ihm gemacht?“, richtete er seine energische Stimme gegen Becker. Seine Schmerzen in den Gelenken waren wie weggeblasen. „Keine Angst, Bulle. Das ist nicht sein erster Trip, in ein paar Stunden habt ihr sicher einiges zu besprechen.“ Wieder dieser versteckte Hinweis, von dem Semir nur erahnen konnte, was er bedeutete. Danach verließen die Männer das Versteck.
    Semir konnte Kevin im Dunkeln nicht sehen, doch er hörte seinen unregelmäßigen Atem, das Geräusch wie seine zitternde Schuhsohle gegen Stuhlfuß und Boden schlug. Immer mal wieder hörte er ein Schmerzstöhnen. „Kevin…“, sagte Semir mit bemüht ruhiger Stimme. „Kevin, kannst du mich verstehen?“ Kevin gelang keine Antwort. Semirs Stimme war ganz weit weg. Erst in der Nacht dachte Semir einmal, er hätte etwas vernommen. Kevin war bereits ruhiger, sein Gezitter hatte abgenommen. „Sie ist tot.“, flüsterte er mit leiser gebrochener Stimme, von der Semir aus dem Halbschlaf hochschreckte. „Kevin? Wer ist tot?“, fragte er vorsichtig. Es kam wieder keine Antwort, erst Minuten später hörte er erneut: „Sie ist tot.“


    Kevins Wohnung – 8:30 Uhr

    André und Ben warteten nun bereits 10 Minuten und wurden beide zusehends nervöser. Beide hatten wenig geschlafen, wenn überhaupt und standen vor einem neuen Tag Ungewissheit. Stießen sie irgendwo auf eine Spur. Stießen sie auf neue Hinweise, auf Antworten? Ben hatte sich geschworen spätestens zur Mittagsstunde Kerlers Laden auseinander zu nehmen, wenn sich nichts ergab, doch jetzt warteten sie erst einmal auf Kevin. „Ich hab kein gutes Gefühl.“, sagte André plötzlich, und Ben wunderte sich… wusste er von Kevins Problemen? „Ich auch nicht…“, antwortete er und obwohl sie nie davon gesprochen hatten waren sich beide plötzlich klar, das gleiche zu ahnen. Wie auf ein stummes Kommando stiegen die beiden Polizisten aus und gingen durch die Haustür in den schlecht geheizten Flur. Ben hatte ein schlechtes Gefühl im Magen als er an die Wohnungstür von Kevin kam und sah, dass sie nur angelehnt war. „Scheiße.“, murmelt André und Ben zog seine Waffe. André tat es ihm gleich, und beide stießen die Tür zur Wohnung auf und gingen mit gezückten Waffen hinein. Kein Wasser lief, wie es bei Bens erstem Besuch der Fall war. Hatte Kevin einfach nur vergessen, die Tür ordentlich zu schließen gestern abend? War er wieder betrunken? Das waren Bens erste Gedanken als er schnurstracks zur Schlafzimmertür ging, und diese vorsichtig aufstieß. Doch die Hoffnung, einen erneut verkaterten Kevin zu finden, zerschlug sich. André ging langsam durch die Wohnung, riskierte einen Blick ins letzte Zimmer, ins Badezimmer, doch auch da sah er nichts. Sein Blick fiel auf den unscheinbaren Zettel auf dem Wohnzimmertisch. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er mit schnellen Augen die Zeilen überflog. „Ben… komm schnell.“, sagte er dann mit hörbar erregter Stimme. „Das klingt wie ein Abschiedsbrief…“, hörte Ben als er den Zettel ebenfalls durchlas:

    Das Haus bricht
    in sich zusammen
    und es fällt der Staub
    auf einen leblosen Traum.
    Am Anfang war die Wut.
    Wurde dann zu Sucht.
    Das gute Kind im Manne
    ergreift die Flucht.


    Stechende Schmerzen tief im Herzen
    bin bereit sie auszumerzen.
    Dich zu lieben zog mich nach unten.
    Das Herz stand in Flammen
    doch sprang nicht über der Funke.
    Als mich der Gedanke erreicht
    das es jetzt zu leben reicht.


    Seht mich an ich bin bleich
    weil Mir keine Sonne scheint.
    Ich bin das was du nicht siehst
    gib mir ne Knarre und ich schieß
    mir präzise in meinen Kopf
    auf das mein Blut zu Boden tropft


    Und das ist was ich erlebe.
    Es ist zu krank um zu leben.
    Es ist zu dunkel zum sehen.
    Es ist zu laut um zu reden.
    Ich bin zu schwach um weiterzugehen.
    Verdammte Seele Ruhe in Frieden.
    Und deshalb ist Zeit zu gehen.
    Es ist Zeit um aufzugeben.
    Es ist die Zeit zu verwesen.
    Sich im Grabe niederzulegen.
    Sich das Leben zu nehmen.
    Elende Seele Ruhe in Frieden.

    Ben ließ entsetzt den Zettel fallen, und schlug die Hände vor den Mund. André setzte sich fassungslos aufs Sofa nieder. Beide Männer wussten von Kevins Problemen, doch beide hatten nicht gerechnet, wie schlimm es um den jungen Polizisten stand. Seine Fähigkeit im Dienst die Probleme halbwegs zu überspielen hatte beiden die Augen verschlossen.
    Eine gespenstische Stille erfüllte den Raum, bis Ben auf dem Boden der Wohnung etwas entdeckte.



    (Der Text ist nicht von mir, sondern von einer Band)

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Versteck – 8:45 Uhr

    Immer wieder nickte Semir ein, immer wieder hörte er Geräusche neben sich. Kevin musste es schlecht gehen, er hustete, würgte und konnte sich einfach nicht übergeben. Aber immerhin konnte der türkische Polizist hören, dass sein Kollege noch atmete. Die Dosis, die Becker ihm verpasst hatte war also nicht zu viel, dass Kevin davon ernsthaften Schaden davontrug, so sah es zumindest aus. Wenn er ihn doch nur mal sehen könnte… sehen, ob er wach war oder bewusstlos.
    Semir hatte mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren. Wie oft war er nun schon eingenickt, hatte er richtig geschlafen? Einige Minuten, Stunden? Er wusste es nicht. „S… Semir?“, hörte er plötzlich die gequälte Stimme neben sich und gab sofort hastig Antwort: „Ja? Kevin, wie geht’s dir?“ „W… Was ist … passiert?“, quälte sich Kevin jedes Wort über die Lippen, doch Semir bezweifelte dass lange Erklärungen jetzt förderlich wären. „Keine Sorge, wir kommen hier wieder…“, doch Semir brach ab. Er hörte wieder etwas… Schritte. Es war mittlerweile wie eine Türklingel, das Schlagen einer Autotür vorm Haus, wenn sich zu Hause Besuch ankündigte. Die schnellen Schritte, die den Flut entlangschritten, bis zur Tür, den Schlüssel umdrehten und die Tür aufschwingen ließen. Kevin stöhnte ein wenig auf, als das Licht aufflackerte, seine Augen brennten wie die Hölle, und es dauerte einige Zeit bis er merkte, dass sein Entführer im Raum stand. Die Tür fiel wieder krachend ins Schloss. Peter Becker wartete, er wartete bis Kevin die Augen richtig öffnen konnte, und vollkommen bei sich war. Semir versuchte es gar nicht erst mit den polizei-typischen „Geben sie auf“-Sprüchen, er wusste dass diese sinnlos waren. Aber er musste doch irgendetwas tun, dachte er. Er konnte doch nicht da sitzen und mitansehen, was dieser Typ jetzt mit Kevin anstellen würde.
    Der wiederrum hatte seinen Blick in den kalten Augen des Schwarzhaarigen Mannes gebohrt. Im Hirn des jungen Polizisten herrschte Unordnung, kein Gedanke war an seinem Platz, aber er hatte das Gefühl, dass er diese Augen kannte. Und plötzlich überfiel ihn ein Grauen, als er die Stimme erkannte. „Hallo Kevin.“, sagte sie, doch Kevin hörte nur: „Schäm dich… selbst deine Schwester hatte sich damals mehr gewehrt!“ Sein Mund öffnete sich langsam, er konnte das Gesicht nicht in seine frühere Zeit einordnen. Nicht in seine alte Gang… wars vielleicht doch nur ein Zufall?

    Peter Becker grinste, ein diabolisches Grinsen, als er merkte, dass Kevin völlig bei Sinnen war. Er ging mit einigen Schritten hinter den jungen Polizisten, und zog ein scharfes Messer aus der Hose. Semir rüttelte an den Fesseln, der Stuhl knarzte wie wild, während Kevin wie erstarrt saß, und versuchte mit Kopf und Augen dem ihm noch fremden Mann zu folgen. Doch Becker verhinderte dies, in dem er Kevins Haare brutal packte, und seinen Kopf nach hinten zu sich zog, und dabei das Messer fest an Kevins springenden Kehlkopf drückte. Der Atem des jungen Mannes ging schnell, ein leichtes Beben durchfuhr seinen Körper, und Peter Becker genoß seinen Auftritt. „Kleiner Bastard“, sagte er leise, in dem er mit seinem Mund nah an Kevins Ohr herankam. „Weißt du wie das ist… jemandem die Kehle durchzuschneiden?“ fragte er mit ruhiger, durchdringender Stimme, dass es sogar Semir eiskalt den Rücken hinunterlief, während sich der Kerl in Rage redete, aber die Stimme bewusst varierte. „In dem Moment bist du ein GOTT!“, wobei er das Wort „Gott“ Kevin ins Ohr rief und das Messer etwas fester an den Hals drückte. „Du entscheidest über Leben und Tod.“, sprach er dann wieder leiser und lachte etwas. „Der andere schaut wie du, panisch nach oben, und dann: ZACK!“, wobei er das Messer mit einem schnellen Zug nur sanft über Kevins Haut zischen ließ, und die Haut nur oberflächlich verletzte. „Dieser Gesichtsausdruck… WEIL SIE WISSEN… dass du das tatsächlich tust… ist GEIL!“ schrie er wieder das letzte Wort. Semir sah dem Schauspiel zu, zog an den Fesseln und fühlte sich schrecklich hilflos. Er vermutete den Kerl auf Drogen und hatte Angst, dass er Kevin sofort töten würde, wenn Semir die Stimme erheben würde. „Der ist einzigartig! Das liebe ich.“ Wieder das heisere Lachen. „Ich habe schon so viele angstverzerrte Gesichter gesehen, wie sie verzweifelt versuchen das Blut aus dem Hals zurückzuhalten… das deiner HURE… war genauso wie alle anderen.“ In Kevin breiteten sich in diesem Moment eine solche Vielzahl von Gefühlen aus, wie er es noch nicht erlebt hatte. Soviel Gegensatz, so eine Mischung aus fast unbändiger Wut, die ihn hätte ohne Umschweife töten lassen könne, aus unmenschlicher Abscheu, aus unendlicher Trauer, als er in dem Moment an seine lachende unschuldige Schwester dachte, wie sie ihn fragte, ob er ihr bei den Hausaufgaben helfen könne. Das Herz des Polizisten wollte zerspringen, die geschundene Seele, die er in den letzten Jahren mit Drogen und Alkohol zu bekämpfen versuchte, oftmals am Abgrund taumelnd, schien von diesem Kerl mit voller Absicht in selbigen gestoßen zu werden.
    Doch Peter Becker war noch nicht fertig. Es schien, als sei er auf seinem persönlichen Höhepunkt angekommen zu sein, und es war fast klar, dass er Kevin nicht erlösen würde. Selbst einem hartgesottenen Polizisten wie Semir, der fast schon alles erlebt hatte, schnürte es die Kehle zu, ob solcher Grausamkeit: „Es war der beste Höhepunkt meines Lebens, als ich ihr die Kehle durchgeschnitten hab, und sie in meinen Armen gezappelt hatte.“ Kevins Unterlippe zitterte, sein Körper bebte, seine Hände liefen weiß an weil er sie so fest zu Fäusten ballte. Das brennende Messer an seinem Hals spürte er fast nicht mehr, seine Schmerzen waren wie weggeblasen. Nur Hass und Wut bestimmte sein Gefühl und Peter Becker merkte es. Er merkte, wie Kevin da saß und mit sich rang, nicht versuchen würde an den Fesseln zu ziehen und den Kerl mit Drohungen zu überschütten. Er lachte wieder und kam wieder dichter an Kevins Ohr: „Ich werde immer dein Alptraum bleiben, du Bastard.“


    Mit einem Ruck warf er Kevins Kopf nach vorne, nahm das Messer weg und ließ seine Haare los. Mit einem teuflischen Lächeln ging er an dem innerlich gebrochenen Mann vorbei, und Semir verpasste es vor Betroffenheit dem Kerl noch etwas hinter zu rufen. Stattdessen sah er Kevin an, sah im Lichtschein, das Becker vergaß auszuschalten, dass er wie gebannt auf die Tür sah. Ein fester Blick, der Semir gar nicht beachtete, den Mund geschlossen, den Atem immer noch heftig, aber langsam beruhigender. „Kevin…“, sagte Semir und hoffte einfach nur auf eine Reaktion, die ausblieb. Der junge Polizist machte den Eindruck, gerade den Entschluss gefasst zu haben, zum eiskalten Mörder zu werden…

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Kevin’s Wohnung – 8:45 Uhr

    Der erste Schreck, der sich in die Sorgenwüste der beiden Männer einpflegte war noch nicht ganz verdaut, als Ben sich zum Boden neigte, weil er dort etwas gesehen hatte. Einige kleine rot-braune Punkte auf dem hellen Boden waren dem Polizisten aufgefallen, er tastete sie ab. Sie fühlten sich rau und klebrig an. André stand direkt hinter ihm, und hatte die gleichen Gedanken. „Denkst du was ich denke?“, fragte er nach unten, und Ben nickte. „Das ist Blut.“ Sofort verstärkten sich die Sorgenfalten auf Bens Stirn, er glitt wieder nach oben und zog sofort sein Handy. „Was machst du denn da?“, fragte André mit seiner gewohnt leicht kratzigen Stimme und Skepsisfalten in seinem Gesicht. „Na was wohl… ne Fahndung nach Kevin rausgeben, bevor er sich etwas antut, wenn er es nicht schon gemacht hat.“, gab Ben erregt zurück, der die Zeilen auf dem Zettel verdammt ernstnahm. „Jetzt warte doch mal.“, meinte sein Gegenüber in einer Mischung aus Sorge und Ruhe. „Wenn er sich umbringen will, warum verletzt er sich schon hier?“ Ben sah André leicht verwirrt an, soviele Gedanken, Sorgen um Kevin und Semir schwirrten ihm durch den Kopf. „Und dann offenbar so wenig… schau mal.“ André ging einige Schritte Richtung Tür. Ein Tropfen, noch ein Tropfen. „Das sieht mehr nach Nasenbluten aus, als dass er sich die Pulsadern aufgeschnitten hat.“ Langsam dämmerte es Ben. „Du meinst…“, während André die Hände in die Hüften stemmte, sich mit der Zunge über die Lippen fuhr und nickte. „Ja. Es ergibt zwar keinen Sinn, aber ich glaube, die haben Kevin auch entführt.“ So langsam setzte das Puzzle sich für Ben zusammen. „Und die Zeilen geschrieben, um uns auf die falsche Fährte zu locken.“, vollendete er Andrés Gedankengang, der wiederum selbst einen Geistesblitz hatte. „Genauso wie Semirs SMS.“ Für einen Moment herrschte Stille im Raum. Ben fuhr sich an den Kopf, man hatte versucht die Polizisten gegen André aufzuhetzen, und nun versuchte man sie von einem Selbstmordversuch Kevins auszugehen. „Da hat jemand Kevin aber gut gekannt.“, murmelte Ben leise, als er die Zeilen nochmal überflog. Er hatte geahnt, dass Kevin Probleme mit sich selbst hatte, doch konnte sich nicht vorstellen wie tiefgehend diese waren. „Wie meinst du das?“, fragte André, der wiederrum wusste dass Kevin zu den Drogen zurückgekehrt war. Doch er würde dies Ben nicht sagen… er vertraute auf Kevin, dass er sich selbst seinen Kollegen anvertraute, und wenn nicht, dann war es schlicht seine eigene Sache. Ben zögerte, er hatte Kevin versprochen niemandem etwas zu erzählen, auch wenn er wusste dass André ihn als Jugendlicher kannte. „Er… hat mir was von seinem früheren Leben erzählt.“, wich der Polizist aus, und André nickte… er spürte dass Kevin mehr erzählt hatte, doch er bohrte nicht weiter nach, sondern sah wieder zu Boden.

    „Schau mal.“, murmelte er und beugte sich nun nach unten. Auf dem recht sauberen Boden lagen Erdkrumen verstreut, vor allem im Eingangsbereich. „Hatten wir gestern dreckige Schuhe?“, fragte er nach oben zu Ben, der verneinte. „Nicht, dass ich wüsste. Der Weg zu der Halle war asphaltiert.“ Die Blicke der beiden Männer trafen sich, eine stumme Kommunikation die Ben das Handy erneut aus der Tasche ziehen ließ, und die Nummer der KTU wählte. „Hartmut, hier ist Ben. Bereite alles für eine Bodenuntersuchung vor, wir bringen dir das Zeug gleich vorbei. Wir müssen wissen, woher der Boden stammt.“, knallte er dem KTU-Beamten und technischem Genie Hartmut sofort harte Fakten um die Ohren, während er André eine Plastiktüte und Handschuhe entgegenwarf, der die Spuren einsammelte. Der großgewachsene Kerl ging im Entengang bis zur Eingangstür, und sah dass auch im Flur bis zur Treppe diese Spuren zu sehen waren. Er hatte genug, und rief Ben zu sich.
    Im Eiltempo und mit Blaulicht rasten die beiden Männer zur polizeilichen KTU. „Aber warum entführen die Kevin? Was hat er damit zu tun?“, fragte Ben, von dieser Frage immer noch verwirrt. „Keine Ahnung, Mann.“, meinte André in seiner typischen Art und Weise. „Wenn wir wissen, woher die Erde stammt, haben wir vielleicht eine Spur.“, sprach der Mann hinter dem Lenkrad seine Hoffnung laut aus. „Ja… vielleicht sogar das Versteck.“, stimmte ihm sein Nebenmann zu, und griff nach den Sicherheitsgurten, als Ben auf die Autobahn aufbog und aufs Gaspedal drückte. Hartmut wartete bereits, er war über Semirs offensichtliche Entführung bereits informiert und bereit, die Untersuchung sofort zu starten. „Ich brauch ungefähr ne halbe Stunde, dann wisst ihr mehr.“, versprach er, und verschwand sofort im Labor. Ben versuchte sich ruhig auf einen Stuhl zu setzen, während André, wie immer, einfach nicht stillhalten konnte und nervös durch den Raum tigerte. „Was machen wir, wenn nichts dabei rauskommt?“, fragte Ben nach einer Weile. „Lass uns lieber nachdenken, was wir machen, wenn etwas dabei rauskommt.“, ließ André die Frage unbeantwortet, und schaffte es, für einen Moment stehen zu bleiben. „Engelhard informieren, würde ich erstmal sagen.“

    Den beiden Männern kamen die 27 Minuten, die Hartmut letztlich brauchte, wie eine Ewigkeit vor. Sofort sprang Ben auf, André stand sowieso, als der rote Wuschelkopf aus der Tür schaute. „Also, ich will euch keine falschen Hoffnungen machen, aber ich hab folgendes herausgefunden…“, begann er. Hartmut war bekannt dafür, einfache Informationen mit so vielen Details auszuschmücken, dass sich die Vorträge in die Länge ziehen könnten. Ben bremste ihn diesmal sofort: „Bitte nur das Nötigste, Hartmut.“ Der nickte wie selbstverständlich und schaute auf das Blatt Papier, das er in der Hand hielt: „Also, der Boden ist stark belastet, und zwar mit Blei, Alkali, Zink und Quecksilber. Das könnte auf eine Batteriefabrik hindeuten.“ Ben und André sahen einander fast verzweifelt an. „Ne Batteriefabrik? Davon gibt’s im ganzen Ruhrgebiet Dutzende, Mann…“, meinte der großgewachsene Karatekämpfer mit ausladender Geste, während Ben im zustimmte. „Selbst wenn wir nur die stillgelegten überprüfen, das sind zu viele!“ Hartmut lächelte, er hatte noch ein Ass im Ärmel. „Für normale Batterien, ja. Aber das Quecksilber wurde früher nur in speziellen Knopfbatterien hergestellt. Die Herstellung ist mittlerweile in ganz Europa verboten, und im Ruhrgebiet gab es nur eine Fabrik, die diese Batterie hergestellt hat.“ Es waren nur wenige Worte, die in André und Ben plötzlich riesige Hoffnung aufleben ließ. „Weißt du in welcher?“, fragte Hartmuts Polizeikollege hektisch. „Na klar!“, brüstete Hartmut, als wäre das selbstverständlich. „Kercherstraße 14-18 im Industriegebiet Frechen." André nahm sofort die Beine in die Hand, Ben brachte noch ein schnelles „Danke, Hartmut.“, heraus bevor er André folgte. „Bringt mir Semir gesund nach Hause!“, rief Hartmut ihnen hinterher und war froh, helfen zu können.
    Als Ben wieder auf die Autobahn auffuhr tippte er die Nummer der Chefin ein, die nach einem Klingeln sofort ranging. Er wartete irgendwelche Ratschläge gar nicht erst ab: „Chefin! Schicken sie alle Einheiten und das SEK zu einer stillgelegten Batteriefabrik in die Kercherstraße 14 in Frechen. Wir glauben, dass Semir und Kevin dort versteckt wurden!“ Die Chefin war höchst erstaunt: „Semir UND Kevin? Wir kommen sie auf eine Batteriefabrik? Was…“, doch Ben unterbrach seine Chefin energisch: „Bitte Chefin, vertrauen sie uns! Wir erklären ihnen das später. Wir gehen schon mal rein.“ „Jäger, sie warten auf die Ver…“, doch Ben hatte das Gespräch bereits weggedrückt, während André den Trommelrevolver mit 6 Kugeln lud, und tief durch atmete.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Versteck – 09:15 Uhr

    Es war schwer für Semir, mit anzusehen wie die Gedanken Kevin quälten. Seit Becker den Raum verlassen hatte, hatte der junge Kommissar geschwiegen, während Semir versucht hatte, auf ihn einzureden. „Kevin! Kevin, rede mit mir.“, hatte der türkische Polizist immer wieder gesagt, doch er hatte das Gefühl dass sein Kollege entweder vom Hass oder von dem Rest Drogen berauscht war. Doch dagegen sprach, dass sein Blick klar schien, seine Augen strahlten Konzentration aus, und er starrte auf die Tür, als könne er sie mit der Macht seiner Gedanken öffnen. Der junge Kommissar war am Ende, psychisch gebrochen. Er hörte Semir weit weg, doch etwas hörte er ganz nah… die Schreie seiner Schwester, als würde sie neben ihm stehen und ihm panisch ins Ohr schreien. „Hilfe… Kevin, helf mir.“ Der Kevin, dem früher nichts zu schwer fiel, der alle Herausforderungen auf sich nahm, der ein optimistischer Mensch war und immer der Fels in der Brandung für eine kleine Schwester… er lag hilflos am Boden, er sass hilflos auf diesem verdammten Stuhl. „Kevin!“, Semirs konzentrierte Stimme vermischte sich mit der von Janine, doch Kevins Blick wich nicht.
    Es tat Semir in der Seele weh, denn er spürte, wie Kevin litt… innerlich litt. Er wusste nur, dass sein junger Partner etwas schrecklich durchmachen musste vor Jahren, mit ansehen musste wie ein Mensch, der ihm wichtig war, umgebracht wurde von diesem Kerl. Er konnte seinen Ausdruck verstehen…

    Semir wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich wieder Stimmen und Schritte näherten. Die Tür schwang auf, Kerler trat ein, gefolgt von dem immer noch diabolisch grinsenden Becker. Sein Erscheinen ließ Kevin aufzucken und die Hände wieder zu Fäusten ballen. Der junge Polizist hatte ein hasserfülltes Funkeln in den Augen, und sein rationales Denken stellte sich fast vollständig ein. Doch hinter Kerler und Becker erschien noch eine dritte Person. Der Mann war großgewachsen, trug ein Hemd und ein recht feines Jackett, seine Haare waren grau und sein Gesicht ein wenig faltig. Kevin kannte ihn nicht, er konzentrierte sich auch gar nicht auf ihn, sondern ließ Becker nicht aus dem Blick. Doch Semir wusste genau wen er vor sich hatte. „Guten Morgen, Herr Gerkhan… es ist lange her.“, sagte seine Stimme, die Semir vor 14 Jahren fast nicht hören konnte, weil betreffender Mann damals so sehr erkältet war, dass er nicht sprechen konnte beim kurzen Verhör. „Horn…“, war Semirs kühle und berechnende Antwort, gefolgt von einem kurzen Kopfschütteln. „Sie erinnern sich.“, stellte sein Gegenüber fest, während er sich gemächlich und in aller Ruhe Lederhandschuhe über die Hände zog. „Allerdings. Sie haben lange gebraucht, um sich zu rächen.“, meinte der türkische Kommissar. Er wollte sich nicht damit abfinden, dass hier alles zu Ende war, doch die Hoffnung schwand diesmal, es sah düsterer aus als sonst. André und Ben hatten keinerlei Anhaltspunkte, Kevin war ihm in seinem jetzigen Zustand auch keine Hilfe. Was sollte die beiden noch retten? „Wissen sie…“, sagte Horn in aller Seelenruhe, während sich Becker und Kerler hinter ihm im Hintergrund hielten… „eine Rache will wohl überlegt sein. Einfach ein paar Männer auf sie ansetzen schien mir all die Jahre zu einfach.“ Er kam näher zu Semir, der zu Horn aufblickte und ihn böse ansah. „Alles nur wegen Carlos Berger?“, fragte er. Horns lockere Miene verfinsterte sich und er bedachte den türkischen Kommissar mit einem fürchterlichen Schlag ins Gesicht, so dass dieser aufstöhnte. „NUR?“, schrie Horn, dessen Fassade schnell einbrach. „Carlos war wie ein Vater für mich!“, hörte Semir die Stimme seines Widersachers. Es musste Horn sehr ernst sein, er ging ein großes Risiko ein, als Kopf eines Verbrechersyndikats sich so einer Gefahr auszusetzen. Daran erkannte Semir, wie wichtig ihm es war, diese Rache selbst durchzuführen. Sein Atem ging schnell als er sah, wie Horn sich von Kerler eine Waffe geben ließ und sie mit Kraft gegen Semirs Schläfe drückte, so dass dieser den Kopf ein wenig zur Seite neigen musste. Ein Blick auf Kevin verriet ihm, dass dieser den Blick zu Semir gerichtet hatte, ihn aber ohne Ausdruck ansah. Resignation. Er konnte ihm auch nicht helfen. „Ein letzter Wunsch, Bulle? Den hatte Carlos nicht…“ Das harte kantige Metall der Waffe drückte sich in Semirs Haut an der Stirn, und er nickte. „Ja… eine Frage.“ Eine Frage, die Semir auf der Seele brannte, eine Frage die er gerne beantwortet haben wollte, so klar er gerade noch denken konnte. „Welche Rolle spielt André.“ Horn grinste, als hätte er gewusst dass diese Frage kommen würde. Semir sah ihn von schräg unten an. Es würde ihm nichts mehr nützen, ob André nun sein Freund oder Verräter war, aber er wollte es wissen. „Fux war mir eine große Hilfe, allerdings unbewusst. Ich hatte gehofft, dass er zu ihnen Kontakt aufnimmt, wenn sein Freund Timo hier in Deutschland, hier in Köln zu Tode kommt. So, oder so ähnlich war es auch gekommen.“ Semirs Seele wusste nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein sollte. André wurde reingelegt, doch letztendlich hatte er Horn geholfen. Aber er hatte nicht gelogen… aber war es richtig, dass er ihm vertraut hatte? „Ich hoffe, der Wunsch ist erfüllt.“, sagte Horn höhnisch und entsicherte die Waffe. „Sie werden nicht entkommen, Horn…“, drohte Semir. Sooft hatte er eine Waffe am Kopf, die kurz davor war, abgedrückt zu werden, so oft passierte etwas, was ihn rettete. Doch was sollte jetzt passieren?

    Mit einem heftigen Gepolter wurde die Tür aufgerissen. Einer von Horns Männer stürzte herein und berichtete atemlos: „Zwei Bullen sind da, und einen Hubschrauber habe ich auch schon gehört. Sie haben uns gefunden.“ Kerler verlor alle Gesichtszüge, Peter Becker sah ebenfalls erstmals überrascht drein. Horn drehte sich zu dem Berichterstatter, und schrie: „Wie konnte das passieren?“ Semir stieß sich mit letzter Kraft aus seinen schwachen Füßen vom Boden weg, um den Stuhl nach vorne kippen zu lassen und nutzte die Unachtsamkeit, und das kurzzeitige Chaos. Mit Wucht rammte er Horn die Stirn in den Magen, wie ein Fussballer einem Flugkopfball verwandelt. Es lag eine Kraft eines kräftigen Karatetritts dahinter, der Stuhl ächzte unter der Last und zwei Beine brachen unter lautem Holzkrachen vom Rest des Stuhls. Horn klappte vor Semir zusammen und war für den türkischen Kommissar kurzzeitig ein Schutzschild, als im Erdgeschoss der großen Industriehalle die ersten Schüsse zu vernehmen waren. Kerler verlor die Nerven, er riss Horn an den Schultern nach oben als er sah dass dem die Waffe zu Boden fiel und er seinen Chef schützen wollte. Er sah nicht, dass Semir die Waffe nicht aufheben konnte. „Los Boss, wir müssen raus.“ Horn japste durch den Schlag nach Luft.
    Kevin saß in diesen turbulenten Sekunden stocksteif, konnte er doch nichts tun, außer Peter Becker beobachten. Der schien kurzzeitig zu überlegen… doch er konnte Semir nicht töten, das würde Horn ihm nicht verzeihen. Und Kevin wollte er nicht töten, das war nie seine Absicht… er wollte ihn leiden sehen, wie er seine Geister der Vergangenheit, seinen Dämon niemals loswerden würde, für immer mit sich herumschleppen würde, bis in alle Ewigkeit. Bevor er hinter den anderen beiden den Raum verließ, spie er Kevin entgegen: „Du wirst mich bis an dein Lebensende jagen… und deine Schwester doch niemals rächen.“ Die Schüsse oben wurden immer lauter. Semir atmete hörbar und versuchte sich aufzurappeln. Teile des Stuhls hingen immer noch an seinen Knöcheln und Handgelenken, doch dadurch dass der Stuhl durchgebrochen war, waren die Ketten loser. Mit tauben Gefühl stand er auf und wankte zu Kevin. "Los, mach mich los.", schrie dieser, der sah wie Becker sich wieder weiter von ihm entfernte. Becker hatte Kevin zum Glück mit Klebeband, nicht mit Ketten am Stuhl fixiert, die Semir versuchte eilig abzureißen. "Ganz ruhig.", versuchte der den jungen Kollegen zu beruhigen, doch kaum hatte der die Arme frei, riss er sich das Klebeband mühevoll von den Füßen. Die Schmerzen kamen etwas zurück, wurden jedoch sofort vom Adrenalin nach unten gedrückt, als Semir ihn am Arm festhielt. "Wir bleiben zusammen. Kevin, wir sind unbewaffnet!" Der erfahrene Kollege ahnte fast schon, dass Kevin blind dem Mörder seiner Schwester hinterherstürzen wollte. "Lass mich los Semir! Er darf mir nicht entkommen!", schrie er und versetzte Semir einen Stoß, der aufgrund der nur langsam abklingenden Taubheit in den Beinen nach hinten torkelte und den Griff um Kevin loslassen musste. Der stürzte durch die Tür, Semir versuchte ihm leicht humpelnd zu folgen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Dienstauto – 09:15 Uhr

    André und Ben kamen an der alten Batteriefabrik an. 100m vorher hatten sie einen Geländewagen am Straßenrand passiert und konnten 2 und 2 zusammenzählen. Vermutlich würden die Typen gewarnt werden. Die beiden Männer mussten sich beeilen und hielten direkt am Tor zu Fabrik. Von aussen machte das Gebäude einen einsamen Eindruck, die Kerle mussten sich offenbar sehr sicher sein, nicht entdeckt zu werden, denn ausser dem Geländewagen gab es keine Wachen. Viele Eisenträger, die ein Schienensystem in der oberen Etage aufrechthielten boten gute Deckungsmöglichkeiten, als die beiden Männer mit gezückten Waffen sich langsam zu der zentralen großen Halle fortbewegten. Dort ließen sich auch bald die ersten Männer sehen, die sofort das Feuer eröffneten. Ben und André gingen in Deckung und schoßen als bald zurück. Einer der Männer wurde durch einen Beinschuss ausgeschaltet, der andere mit einem Treffer am Arm. Danach drangen sie langsam vor in die Halle, als sie schon den ersten Hubschrauber über der Fabrik hörten. Lautlos seilte sich das SEK auf das Fabrikgelände ab.

    Im Keller kam Horn langsam wieder auf die Beine. Er kochte vor Wut, dass sein Plan kurz vorm Abschluss stand, und doch schiefgegangen war. Wie, verdammt nochmal, waren die Bullen auf das Versteck gekommen. Während sie durch die Gänge im Keller hetzten schaffte er es noch, ein kurzes Telefonat nach Spanien zu führen. Der kurze und prägnante Befehl an seinen Gesprächspartner war: „Schick das Paket ab. Das wird dem Kerl leid tun.“
    Kerler führte das Trio an. „Die werden uns hier entgegen kommen. Wir müssen den Tunnel nehmen und kommen im Nachbargebäude heraus. Dort steht einer unserer Wagen.“ In einem langen Flur bogen sie durch den einzigen Durchgang rechts ab.

    André und Ben durchquerten die Halle, bis sie an ein Treppengeländer kamen, das in den Keller führte. „Sollen wir?“, fragte Ben misstrauisch. Sie mussten sich für einen Weg entscheiden, und dass Kerler Semir und Kevin im Keller versteckt hielt war logischer als dass sie irgendwo in der Halle saßen. André nickte und die beiden Männer gingen mit den Waffen im Anschlag die Treppe herunter. Als der breite Kleiderschrank plötzlich um die Ecke bog und einen Revolver hob, reagierte André am schnellsten und schoss ihn nieder. „Puh…“, atmete er aus. „Los weiter, schnell.“, drängte Ben und die beiden stiegen über den Kerl hinweg. André sammelte den Revolver auf, während Bens Angst um seinen Partner wuchs. Waren sie zu spät? Würden sie rechtzeitig kommen? Doch dann hörte er etwas, als sie auf einen langen Gang zuliefen.

    „Kevin!“, brüllte Semir hinter seinem jungen Partner her. Der türkische Polizist hatte Angst, dass sein Partner blindlings einem bewaffneten Verbrecher in die Kugel laufen würde. Doch der ließ sich nicht aufhalten, lief und hatte nur ein Ziel. Peter Becker töten, um jeden Preis. Und was danach kam, war egal. Den letzten Schritt würde keiner seiner Kollegen mehr verhindern können, doch diese Gedanken waren in seinem Kopf gar nicht präsent. Sein Herz, sein gebrochener Stolz hatten Besitz von ihm ergriffen, und er konnte die Dämonen aus seinem Kopf nur vertreiben, wenn er selbst… er selbst Peter Becker zur Strecke bringen würde.
    Das einzige was er hörte war sein Tappen, sein schnelles Atmen und wie Semir versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Im schlecht ausgeleuchteten Flur sah Kevin gerade noch die Öffnung auf der rechten Seite, und blieb stehen. „Verdammt.“, fluchte er, als Semir bei ihm ankam. Wo waren sie hingelaufen? „Wir müssen uns trennen.“, fuhr er seinen türkischen Partner an und wollte schon durch die Öffnung verschwinden, doch erneut wurde er festgehalten. „Das ist Selbstmord, Kevin!!“, schrie Semir dem größeren Mann ins Gesicht. „Lass mich los, verdammt!“, schrie dieser zurück und begann mit Semir zu rangeln, so dass sie die Schritte, die schnell näher kamen gar nicht mitbekamen. „Semir! Kevin!“, vernahmen die beiden Bens erleichterte Stimme und sie blickten auf. Semir fiel ein Stein vom Herzen, als er sah dass André dabei war. Er hatte sich nicht gegen sie gestellt… er stand auf ihrer Seite, er hatte Ben geholfen. „Ben! André!“, gab er erleichtert zurück. „Sind sie euch entgegen gekommen? Kerler, Horn?“ André schüttelte heftig den Kopf als die beiden bei ihren Freunden ankamen. „Nein, wir können sie aber nicht verpasst haben.“
    Für Kevin war das das Zeichen, dem Tunnel zu folgen. Er kletterte die Leitung hinunter, seine Kollegen folgten ihm. In dem unterirdischen Tunnel stand das Wasser knöchelhoch, in dass sie reinplatschten. Wie ein Echo konnten sie das Platschen der drei Verbrecher hören, die einen kleinen Vorsprung hatten. „BECKER!“, schrie Kevin und verfiel sofort in schnellen Lauf. Das Wasser spritzte den drei Polizisten und André bis ins Gesicht, als sie dem Tunnel folgten. An einer Abzweigung mussten sie zurückweichen, als Kerler, der als letzter an einer Leiter nach oben zurück an die Oberfläche hing, auf sie schoss. Kevin war zu schnell um die Ecke und hechtete nach unten ins Brackwasser, und war nun vollständig durchnässt, während der zweite, Semir, hinter ihm, hinter dem Wandvorsprung zurückwich. Neben ihm drehte sich André an ihm vorbei und feuerte zweimal zurück, doch Kerler hatte sich aus dem Blickfeld geklettert. „Los!“, wies André an und folgte Kevin zur Leiter, der sich wieder aufgerappelt hatte.
    Bevor sie die Leiter hochkletterten, sicherte André in dem er und Ben mit den Pistolen nach oben zielten, damit niemand auf sie schoss. Ben war es auch, der als erstes hochkletterte, die Pistole im Anschlag. Sie kamen an der Oberfläche der Nachbarhalle wieder heraus, Ben schwang sich gerade aus dem Loch als die drei Gangster das Hallentor erreichten. „Stehenbleiben!!“, schrie Ben und eröffnete das Feuer während seine Kollegen ebenfalls an die Oberfläche kletterten.

    Becker und Kerler erwiderten das Feuer auf Ben, Kevin nahm den Revolver des Mannes, den André erschossen hatte und feuerte ebenfalls zurück. Horn schlüpfte durchs Tor, erst als seine beiden Kumpanen folgten, nahmen ihre vier Verfolger die Jagd wieder auf. „Wir trennen uns!“, ordnete Horn an. „Ich nehme das Auto, und ihr werdet die Typen los. Wir treffen uns im Versteck, verstanden?“ Kerler und sah aus, als würde er gleich losheulen. „Aber Chef…“, begann er zu stammeln, als der sich ins Auto schwang. Die Straße war nur wenige Meter entfernt, als er den Motor startete. „Verdammter Wichser…“, fluchte Becker und lief sofort los. Der Schwarzhaarige lief und sprang an eine Leiter, die aufs Dach des Gebäudes führte. Wenn ihm einer folgen würde, könne er ihn auf den Dach ausschalten. Auch Kerler begann zu rennen und lief in das nächste Gebäude hinein.

    Ben kam als erstes aus der Halle, und konnte noch sehen, wie sich der Wagen mit Horn entfernte, und Kerler gerade durch das Tor des Nachbargebäudes schlüpfte. „Ich nehm Kerler!“, rief er, während André und Semir Richtung Straße liefen. „Ich hab die Schnauze voll, Mann!“, fluchte André, als er sah wie sich Horn langsam entfernte. „Mist…“, rutschte es auch Semir heraus. Es schien wie ein Zufall zu sein, dass sich gerade ein Auto näherte, dass die beiden Ex-Kollegen prompt anhielten. André begab sich, wie früher selbstverständlich auf die Fahrerseite, öffnete die Tür und zog den verdutzten Fahrer aus dem Fahrzeug. „Polizei, der Wagen ist beschlagnahmt, raus!“ Noch bevor der ältere Mann gegen die Entwendung seines neuen Mercedes protestieren konnte, saß André auf dem Fahrersitz, und Semir neben ihm. „Schalter… kein Problem.“, merkte André noch an und trat aufs Gas. „Oh nein…“, murmelte Semir, als er aus dem Fenster sah und gerade noch beobachten konnte, wie Kevin Becker auf das Dach folgte…

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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  • Batteriefabrik - 9:35 Uhr


    Die Luft war eiskalt, kleine Eiskristalle bildeten sich in Kevins schwarzem, durchnässten Oberteil, das an seinem muskulösen Körper zu kleben schien, und an seinen nassen Haaren. Doch der junge Polizist spürte keine Kälte, keinen Schmerz seiner blutvertrockneten Wunden im Gesicht und keinerlei Nebenwirkungen der gespritzten Drogen. Sein Adrenalin überdeckte jegliches Körpergefühl, seine unbändige Wut auf den Kerl, dem er gerade die steile Feuerleiter hochjagte vertrieb jedes Schmerzempfinden.


    Becker übersprang die Brüstung, lehnte sich nach unten und schoss dreimal in Kevins Richtung, jedoch ohne ihn zu treffen. Der junge Kommissar spürte, wie die Kugeln vom Metallgeländer neben ihm wegsprangen und hielt mit Klettern kurz inne, bevor er zweimal zurückschoss. Becker lief weiter, und Kevin verharrte kurz, ließ die Trommel des Revolvers aufschnappen - nur noch eine Kugel. "Verdammt...", murmelte er, drehte die Trommel an die richtige Stelle und steckte den Revolver in den Hosenbund. Als er sich selbst über die Brüstung schwang und nun auf dem Dach stand, wartete Becker bereits auf ihn. "Na komm schon, Kevin. Diesmal hast du ne faire Chance.", rief er und strich sich die schwarze Strähne aus dem Gesicht. Seine leergeschossene Waffe schmiss er im hohen Bogen vom Dach. Sein Gegenüber ließ sich von seinen Emotionen leiten, statt den Revolver zu ziehen und Becker festzunehmen, kam er in Kampfstellung näher. Er wollte ihn nicht einfach erschießen...
    Wie zwei Raubtiere standen sich Becker und Kevin gegenüber. Der Mörder seiner Schwester war nicht ungeschickt im Nahkampf, das konnte Kevin an seiner gekonnten Kampfhaltung sehen. Es war schwierig für ihn, seinen Zorn im Zaum zu halten und seinem Gegner mit möglichst kaltem Blut gegenüber zu treten. Trotzdem wagte der Polizist den ersten Vorstoß mit einem Fußtritt, dem Becker aber auswich und versuchte mit den blanken Fäusten zu schlagen wie ein Boxer, Kevin jedoch ebenfalls nicht traf. Becker grinste: "Du hast dich damals einfach mit den falschen angelegt." Erstmals gab der Killer Andeutungen von sich über den Grund des Angriffes. Wieder kam eine Schlagkombination, diesmal traf Becker Kevin im Gesicht, woraufhin der ein wenig zurücktaumelte. Doch der schwarzhaarige setzte nicht nach, er wollte den Augenblick genießen. "Eigentlich wollten wir in der Nacht nur dich. Deine Schwester war ein netter Zusatz.", grinste er erneut und unterschätzte Kevins Nehmerqualitäten, der sofort wieder in Aktion war und sein Gegenüber mit einer dreiviertel Drehung und einem Tritt über die Gürtelschnalle überraschte. Diesmal war es Becker, der nach hinten taumelte und Kevins Worte hörte: "Warum?", war seine etwas fassungslose Frage und wurde durch schnellen Atem begleitet.


    Doch auch Becker konnte einstecken und richtete sich sogleich wieder auf, weil auch Kevin die Situation nicht ausnutzte. Er ging damit ein gefährliches Risiko ein, und handelte schon lange nicht mehr mit klar rationalem Denken. Er wollte diesen Zweikampf genauso wie Becker, und wenn er ihn soweit hatte, dass er sich mehr wehren konnte, würde er ihn töten. Doch jetzt war es erstmal Becker, der Kevins Frage beantwortete: "Weil du meinen Bruder totgeschlagen hast, du Bastard." Kevins Arme sanken sich kurz, als sein Kopf versuchte nachzudenken. Er hatte in der Gang viele Schlägereien, viele hässliche Schlägereien... dann fiel es ihm ein. "Der Boxkampf?" Becker nickte und kam wieder näher an Kevin heran. "Du hattest gesehen, dass er nicht mehr konnte, und hast trotzdem noch auf ihn eingeprügelt.", rief er laut und setzte wieder einen Angriff auf Kevin. Offenbar löste die Erinnerung auch in Peter Becker Wut aus, die ihn weniger kontrolliert agieren ließ, und das merkte sein Gegenüber nun. Plötzlich fühlte sich Kevin im Vorteil, die Wut blieb. Er blockte zwei Schläge ab und rief: "Dein Bruder war vollgepumpt mit Drogen und ist daran gestorben, und nicht an dem Kampf, du Idiot!" Nochmal musste Kevin der Faust ausweichen, dann griff Becker zu einer Drahlschlinge in seiner Tasche, wand sich hinter Kevin und zog sie ihm um den Hals. Kevin würgte als ihm der Draht die Kehle zu zog, er versuchte mit den Fingern unter den Drahl zu kommen, um ihn zu lockern. Becker zog, dass es unangenehm war, jedoch nicht so fest um ihn umzubringen. Er wollte ihn nicht umbringen, das wusste der Polizist, das hätte er im Keller bereits tun können. Er wollte, dass Kevin mit dem Dämon weiterlebte, und Becker wusste, dass Kevins Qual nur verschwand, wenn der Polizist ihn tötetn... und nicht, wenn er einfach ins Gefängnis ging. "Deine Schwester war es trotzdem wert, Bulle. Wie sie gezappelt hat, als ich in ihr drin war. Wie sie gezappelt hat, als sie merkte dass sie das Blut aus dem Hals nicht zurückhalten kann.", zischte er dem nun zappelnden Kevin ins Ohr, und das Gewicht der unbändigen Wut verlagerte sich wieder zu Kevin, der die Zähne zusammenbiss und wuchtig mit dem Ellbogen nach hinten schlug und dabei Beckers Magengrube traf. Becker gab ein stöhnendes Geräusch von sich, der Griff um die Drahtschlinge lockerte sich und diesmal setzte Kevin nach. Er drehte sich und schlug nochmal wuchtig eine Rechte in Beckers Unterleib, was dazu führte dass sich sein Kontrahent stöhnend nach vorne beugte. Zum Nachgang hielt Kevin Beckers Hinterkopf fest und rammte ihm das Knie ins Gesicht. Der Schwarzhaarige taumelte zurück, sah die Welt nur noch durch einen roten Blutschleier, blieb aber zunächst auf den Beinen, doch Kevins Karatetritt, der Becker mit der Schuhsohle an der Schläfe traf schickte den Kerl zu Boden.


    Stöhnend blieb er auf dem Rücken liegen, und erhob sich nur langsam in sitzende Position, da hatte der Polizist längst den Revolver mit seiner letzten Kugel gezogen und zielte Becker genau auf den Kehlkopf. Becker atmete schwer, auch Kevins Lunge und Herz pumpten was das Zeug gab. "Keine Luft mehr zu bekommen ist gewiss kein schöner Tod.", sagte Kevin plötzlich mit einer verdammten Gelassenheit... einer Gelassenheit die ihm in ruhigen Momenten auf als Arroganz ausgelegt wurde, eine Gelassenheit die Freunde allerdings in Stresssituationen gerne an ihm schätzten... und eine Gelassenheit, die wie sonst auch jetzt eher aufgesetzt war und wahre Gefühle verdecken sollte. "Oder zu merken, dass man das Blut nicht zurückhalten kann." Becker merkte, dass er verloren hatte. Er hatte sich seinen Plan zurechtgelegt, Kevin für immer mit dem Dämon alleine zu lassen, in dem er floh oder sich verhaften ließ. "Das wagst du nicht.", schnaufte Becker, der auf die Waffe blickte und sich nicht rührte. "Ich würde nicht drauf wetten...", antwortete sein Gegenüber mit zittriger Stimme und zog den Hahn des Revolvers mit dem Daumen zurück. Ein Schuss, nur einmal Druck auf den Zeigefinger ausüben, der am Abzug lag, und der Schmerz wäre zum Teil erst einmal weg. Der Rest ließe sich danach mit einem Schritt nach links vom Dach beheben. Er würde sowieso seine Stelle als Polizist verlieren, das einzige was ihn ablenkte. André hatte vermutlich längst Semir von den Drogen erzählt... es hatte alles keinen Sinn mehr. Nur diese eine Sache würde er noch erledigen, und nichts würde Kevin davon abhalten jetzt den Finger zu krümmen und dem Mörder seiner Schwester eine Kugel in den Hals jagen.


    Kevins Blick drückte absolute Entschlossenheit aus, als er vom Nachbardach laute Hilferufe hörte...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Batteriefabrik - 9:45 Uhr


    Ben sah gerade noch, wie Kerler durch die offene Tür des Nebengebäudes schlüpfte, während Horn sich mit ins Auto schwang. "Ich nehm Kerler", rief er Semir und André zu, wechselte sein Magazin und verfiel sofort wieder in schnellen Lauf. Um nicht in eine Falle zu tappen lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand stieß langsam die Tür auf und ging mit der Waffe im Anschlag in die eiskalte Halle hinein, in der sein Atem Kondensrauch entstehen ließ. "Kerler, bleib stehen!", schrie er dem flüchtenden Mann hinterher, dessen schnellen Schritte über den Metallboden der dunklen Fabrik hallten. Kerler hörte es, drehte sich schnell und schoß sofort in Richtung Ben, der sich blitschnell auf den Boden warf, sich einmal über den Boden abrollte und sofort in geknieter Stellung zurückschoß. Beide Männer verfehlten jeweils ihr Ziel, doch das Echo der Schüsse hallte durch die Location.
    Kerler hetzte in Bedrängnis eine Metalltreppe nach oben auf eine Art Balkon, während Ben im Sprint die Halle durchquerte und ebenfalls auf die Treppe zusteuerte. Wieder versuchte der flüchtende Verbrecher auf den Polizisten zu schießen, doch weil dieser Kerler immer im Augen hatte, konnte er die Bewegung sofort erkennen und durch einen Schuß in dessen Richtung die Idee vereiteln. Ben erreichte die Treppe, nahm zwei Stufen gleichzeitig während sein Widersacher zwei verschlossene Türen im Obergeschoß vergeblich versuchte zu öffnen. "Scheisse!", fluchte er als er merkte dass der Kommissar immer näher kam, endlich öffnete sich die dritte Tür, und Kerler trat ins Freie. Er sprintete an der Kante des Flachdaches vorbei und ging hinter einem Kühlergehäuse in Deckung, als Ben gerade aus der Tür trat, und aufgrund Kerlers Schüsse sofort wieder dahinter verschwand. Wie im Rausch leerte der nervöse Verbrecher sein Magazin gegen die Feuerschutztür, hinter der Ben kniete und erst als das Magazin leer war, feuerte der Verfolger aus seiner Deckung zurück, doch Kerler blieb wiederrum in seiner Deckung. "Kerler, gib endlich auf. Hier kommst du nicht mehr raus!", schrie Ben und linste an der Tür vorbei. Hinter dem Kühlergehäuse rührte sich nichts... Hatte Ben den Kerl erwischt?


    Ben wartete einige Sekunden. "Kerler!", rief er nochmal, doch es kam keine Reaktion, kein Rühren war zu sehen. Der Polizist entfernte sein Magazin und sah hinein... verdammt, noch zwei Kugeln hatte er. Er steckte es zurück und hielt die Waffe wieder im Anschlag, und bewegte sich langsam auf der Gehäuse zu. Mit angespannten Muskeln, immer bereit abzudrücken oder in Deckung, bewegte er sich auf Kerlers Deckung hin. Sein Herz schlug heftig gegen seine Kehle, Ben versuchte den Atem zu ruhig wie möglich zu halten. Immer dichter kam er zu dem Kühlergehäuse hin, nun musste er sich nur noch ums Eck drehen... doch Kerler war bereit. Mit einem gezielten Tritt aufs Knie, gerade als Ben sich ihm zu gewandt hatte, brachte er den Kommissar zu Fall, der zu allem Überfluss auch noch seine Waffe fallen ließ. Kerler wollte sich auf sie stürzen, doch der Polizist war gewandt genug, nicht wie ein Sack zu Boden zu plumpsen, und obwohl sein Knie sofort schmerzte war er sofort auf den Beinen und warf sich auf Kerler, bevor dieser die Waffe erreichen konnte.
    Ben versuchte Kerler auf den Rücken zu werfen, der wiederrum schlug nach hinten aus, um Ben abzuschütteln. Gerade hatte der Polizist es geschafft und griff erneut nach seiner Dienstwaffe, spürte er nun das Gewicht seines Widersachers auf seinem Körper, dessen Hand fest um sein Handgelenk, dass die Waffe hielt und es mehrmals auf den Boden schlagend. Die Nerven seiner Hand gehorchten nicht Bens Willen, sie gaben die Waffe erneut frei. Kerler legte die andere Hand um Bens Hals und drückte brutal zu, doch der Kommissar hatte noch einen Joker, stieß Kerler das Knie in den Magen und rollte den stöhnenden Verbrecher von sich, allerdings in die Richtung der liegenden Waffe. Ben rappelte sich auf, musste sich einem Augenblick orientieren wo die Waffe lag. Diesen Augenblick nutzte Kerler auf allen Vieren danach zu greifen und auf Ben zu zielen, der mit dem Rücken zur Dachkante stand. An der Dachkante hing ein altes Werbeplakat, was man zu Zeiten der Schließung nicht mehr entfernt hatte, es war mit einem recht stabilen Seil befestigt.


    Ben bewegte sich, er wollte aus dem Schussfeld, doch Kerler war schneller. Er traf Ben mit dem ersten Schuss in den linken Oberarm, ein glatter Durchschuss, die Wucht des Aufpralls ließ ihn allerdings nach hinten taumeln und über der Polizist spürte, wie ihm plötzlich der Boden unter den Füßen fehlte. Es war dennoch ein glücklicher Umstand, den dadurch traf ihn die zweite (und letzte Kugel in Bens Waffe) nicht im Kopf. Ein kurzer Aufschrei von Ben, die Arme ausgestreckt und sich an Teilen des alten Werbeplakates festgekrallt. Das alte Seil gab an einer Seite sofort nach und riss, was den Kommissar daran hängend noch weiter in die Tiefe segeln ließ. Die andere Seite des Seils war durch das Plakat von Witterung geschützt worden, und war noch weitaus stabiler. Ein brennender Schmerz stich durch Bens Arm, als er sich mit aller Kraft versuchte am Seil nach oben zu ziehen. Kerler sah von oben herab, wollte nochmal schießen, doch ausser einem mechanischem "Klick" gab die Waffe nichts mehr her. Doch statt zu fliehen wollte der Verbrecher Ben sterben sehen, zog ein Taschenmesser und ließ es aufklappen. "Komm nur hoch, Bulle.", rief er drohend und begann am Seil zu schneiden. Ben dachte fieberhaft nach, mit den Messer würde er einige Minuten brauchen um das Seil zu durchtrennen. Hochklettern geht nicht, dann würde Kerler ihn sofort abstechen, runterfallen lassen ist definitiv zu hoch. Verdammte Scheisse!
    Ben drehte den Kopf nach hinten in Richtung Nachbargebäude, und bekam große Augen. Er konnte gerade noch den Kopf des wohl liegenden oder sitzenden Peter Beckers sehen, der hinauf zu Kevin schaute. Der richtete den Revolver, den André ihm vorhin gab, auf Becker. Was war da los... oh Gott, Kevin würde doch nicht etwa den offenbar wehrlosen Verbrecher erschießen... aber vor allem war Kevin Bens letzte Hoffnung. Er musste Kerler, der weiter am Seil herumsägte und es verfluchte, ausschalten, damit Ben hochklettern konnte. "KEVIN!", rief Ben laut in dessen Richtung. "Hilf mir, Kevin!!", doch der Kommissar am Seil erschrak. Kevin schien ihn überhaupt nicht zu hören, er reagierte nicht, dabei war die Entfernung nur ein paar Meter zwischen den Gebäuden. Oder wollte Kevin ihn nicht sehen? War er so vertieft in seinem Hass auf Becker, dass er ihn nicht hörte? Aber warum?? "KEVIN!!" rief Ben nochmals lauter, als die erste Faser des Seiles nachgab, und Kerler nicht aufgab zu versuchen, das Seil zu kappen, was Bens Tod bedeuten würde.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Straßen – 09:45 Uhr

    Als André den Abstand zum flüchtenden Horn schnell verringerte fühlte sich Semir um 14 Jahre in der Zeit zurückversetzt. So viele Verfolgungsjagden hatte er mit André erlebt, so oft hatten sie sich noch während dieser Verfolgung gestritten und miteinander diskutiert, meistens über den Fahrstil des anderen.
    Horn bemerkte seine Verfolger recht schnell und gab seinem Wagen die Sporen, doch André ließ sich über die fast leere Verbindungsstraße aus dem Industriegebiet Richtung Autobahn nicht abhängen. Erst auf der Autobahn selbst wurde der Verkehr dichter und die beiden Fahrzeuge mussten mehrmals mit Höchstgeschwindigkeit die Spur wechseln. Während der ehemalige Polizist konzentriert und mit einem Funkeln in den Augen auf die Straße sah und das Heck des vor ihm fahrenden Wagens fokussierte, hielt Semir sich am Türgriff ein wenig fest. Es war ihm immer ein Graus, dass André bei Verfolgungsfahrten fast den Verbrechern im Kofferraum saß, und unweigerlich musste er grinsen, als mit einem kurzen „Bling“ der moderne Mercedes im Bordcomputer warnte: „Sie fahren zu dicht auf“, und das Auto automatisch verlangsamte. „Was ist das für ein Mist?“, rief André als sich einige Meter Lücke zwischen ihnen und Horn auftat. Mit einem kurzen Blick prüfte André die Knöpfe auf der Mittelkonsole, doch sein Kollege kam ihm zuvor. „Schau du auf die Straße!“ „Schalt das ab, Mann!“, rief der ehemalige Polizist und fuhr wieder dichter auf und wurde erneut gebremst. „Ich find das eigentlich nicht so schlecht.“, meinte Semir und ihm war fast schon wieder zum Lachen zu Mute. Endlich konnte er sich sicher sein, dass André nicht zur feindlichen Seite gewechselt war. Er hatte ihn mit Ben zusammen gesucht und gefunden, sie hatten sich zusammengerauft, und das konnte nur funktionieren, wenn auch Ben André vertraut. Und dazu schien es genug Gründe zu geben.

    Semir fand den Knopf um den Abstandswarner auszuschalten, als die Autobahn keinen Standstreifen mehr hatte. Im letzten Moment konnte André den Mercedes auf die Überholspur steuern und neben Horn ziehen, der seinerseits auf der rechten Spur hinter einem leeren Schwertransporter fuhr und wie wild hupte. „Das ist unsere Chance!“, meinte Semir und sah André an. Der lächelte und meinte: „Wie früher?“ Sein alter Partner antwortete mit einem Lächeln und nickte: „Wir früher!“ Daraufhin betätigte der ehemalige Polizist den Knopf für das elektronische Schiebedach, Semir entsicherte seine Waffe und öffnete den Gurt. „Dann zeig mal, ob du dich weiterentwickelt hast, die letzten 14 Jahre.“, raunte André und hielt den Mercedes genau auf Höhe des Schwertransporters und Horn, der nun versuchte den Wagen mit den Polizisten zu rammen. Funken flogen, Blech verbog sich quietschend, doch André hielt den Mercedes auf der Spur, während Semir sich mit beiden Armen aus dem Dach zog. Einen Fuß stellte er auf die Lehne des Beifahrersitzes, den anderen wie früher auf Andrés Schulter um sich heraus zu drücken, auf die hintere Kante der Öffnung zu setzen und die Füße voran aus dem Dach zu schwingen. Langsam und vorsichtig ließ er sich an der Frontscheibe hinab gleiten, lehnte sich gegen diese bis er mit den Füßen Halt auf der Motorhaube fand. André hielt den Mercedes ruhig und versuchte durch Lenkbewegungen die Rammstöße von Horn zu korrigieren, ohne dass sein Freund vom Wagen purzelte, bis dieser mit einem Hechtsprung auf die Ladefläche des leeren Schwertransporters sprang…


    Batteriefabrik – 09:55 Uhr

    Kevin fühlte sich wie kurz vor Armageddon… nichts mehr zu verlieren, weil hinter ihm sowieso die Welt untergehen würde. Er hatte Becker, den Mörder seiner kleinen Schwester, genau da, wo er ihn haben wollte… vor dem Lauf seiner Waffe, dessen Leben in der Hand. Ein Schuss, und er vertrieb diesen Dämon, der ihn zu Alkohol, zu Drogen und fast in den Selbstmord trieb. Ein Schuss und seine Schwester konnte endlich ihren Frieden finden nach ihrem kurzen Leben, das dieser Kerl so früh beendet hatte.
    Der junge Polizist hatte die rechte Hand um den Griff des Revolvers geschlungen und fest in der Hand, und auf die linke Hand aufgestützt, als er Bens Stimme hörte, die seinen Namen rief. Durch einen kurzen Seitenblick erkannte er die Situation, spürte er plötzlich ein Gefühl, das von seinem Kopf ausging und gegen den Schmerz aus seiner Seele, aus seinem Herzen anzukommen versuchte, in dem es laut rief: „Hilf Ben!“ Doch die Schreie seiner Schwester in seiner Seele übertönten die Versuche seines rationalen Denkens. Er hatte nur diese eine Chance überhaupt weiterzuleben. Die Alpträume zu vergessen, seine Schwester zu rächen. Aber würde er dann nicht nur Becker, sondern auch Ben umbringen? Hatte er dann noch einen Menschen auf dem Gewissen, einen Menschen der versucht hatte, Kevin zu helfen… der ERSTE, der versuchte Kevin zu helfen. Sein Atem wurde schneller, seine Hand zitterte. ‚Rache ist niemals ein guter Wegbegleiter, Kevin‘ , konnte der junge Polizist plötzlich Hottes Stimme aus dem Büro vernehmen, während neben Janines panischen Schreien, ihre junge Mädchenstimme immer wieder das Wort „Mörder“ flüsterte. Die Augenlider von Kevin zuckten, Becker rührte sich nicht als ob er spürte wie sein Widersacher mit sich selbst kämpfte und die Entschlossenheit aus seinem Blick, die er gerade noch in sich spürte mehr und mehr wich. „KEVIN!!!“ ‚Wir sind Polizisten, weil wir das Gesetz vertreten‘. Wieder wurde Hottes Stimme durch das flüsternde „Mörder“ unterbrochen. Tausende Gefühle rasten durch den Körper des jungen Mannes, der diese Achterbahn innerhalb von Sekunden durchlebte, während sich immer mehr Fasern des Seils, an dem Bens Leben hing, trennten. Semir würde ihm niemals verzeihen, André wäre von Kevin enttäuscht. Er wollte niemanden enttäuschen, aber er konnte Becker nicht verschonen. ‚Rache würde Janine nicht wieder lebendig machen, Kevin.‘ Aber sie könnte Kevin wieder lebendig machen… für wenige Minuten… für Janine.

    Kevin schloss die Augen, nur für einen Bruchteil einer Sekunde… und er sah dann was geschah: Wie er den Finger letztendlich krümmte und die letzte Kugel des Revolvers den Lauf mit einem lauten Knall und einem Ruck verließ, wie sie sich durch Beckers Kehlkopf bohrte, der aufschreckte und sich röchelnd und gurgelnd mit einer Hand an der Kehle nach hinten fallen ließ. Er sah dessen entsetzten Augen, die nicht fassen konnten dass Kevin es getan hatte, dass Kevin seine Rache auf Kosten seines Kollegen, der ihm helfen wollte, durchführte.
    Kevin sah, wie das Seil an dem Ben hing, just in diesem Moment der Belastung nicht mehr halten konnte, wie Kerler es schaffte mit dem Messer Bens Lebensversicherung zu durchtrennen und er sah, wie Ben schreiend abstürzte. „KEVIIIIIIIN“, hörte er die Stimme, die ihm fremd vorkam, und sah wie Bens Körper auf dem harten Asphalt aufschlug und regungslos liegen blieb, aus einer Höhe, die er nicht überleben konnte. Und Kevin spürte, wie sich keine Befriedigung einstellte, Becker tot vor sich liegen zu sehen, wie er nur den regungslosen Ben tot auf dem Asphalt liegen sehen konnte, und er eine ähnliche lähmende Hilflosigkeit empfand… wie an seinem 18ten Geburtstag, als er im Dreck lag und mit ansah, wie seine Schwester ermordet wurde, und er auch ihr nicht helfen konnte…

    Dann öffnete Kevin die Augen wieder…

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • Autobahn - 10:00 Uhr

    Horn saß regelrecht mit seinem Auto in der Falle. Er schaffte es nicht durch Rammattacken André aus der Spur zu bringen, und nun sah er in eine Pistolenmündung, als Semir sich langsam auf dem Schwertransporter aufrichtete und die Waffe, die er von André genommen hatte, auf den immer langsamer werdenden Fluchtwagen richtete. André sah so aufmerksam herüber wie es ging, um die Situation zu kontrollieren.

    Doch dann riss Horn das Lenkrad plötzlich herum und bog in eine Ausfahrt ab, die sich für die beiden Polizisten unerwartet auftat, weil sie sie beide nicht sahen. „Scheisse!“, fluchte André, trat mit Wucht in die Bremsen, schaffte es aber nicht mehr hinter dem Schwertransporter abzubiegen. Semir erkannte die Situation blitzschnell, setzte zum kurzen Sprint an und sprang exakt an der Kante des Transporters mit einem Hechtsprung ab, den sein Kollege gerade noch sah, bevor Semir auf der Motorhaube des Fluchtwagens aufschlug und sich am Scheibenwischer festkrallte.
    Die beiden Autos fuhren getrennte Wege, Horn mit Semir fuhr von der Autobahn ab, André fuhr weiter und vollführte hinter der Auffahrt eine 180° Grad-Wende mit Handbremse. Er hatte Glück, dass gerade kein Wagen auf die Autobahn auffuhr, ansonsten wäre es zum Zusammenstoß gekommen. Als er den Mercedes wieder in Fahrtrichtung hatte, drückte der Karatekämpfer wieder aufs Gas und orientierte sich, wo der Fluchtwagen abgebogen war. Er konnte ihn gerade noch auf der Landstraße erkennen, und versuchte schnell wieder aufzuschließen. Semir versuchte sich unterdessen auf der Motorhaube liegend festzuhalten, eine Hand fest um den Scheibenwischer geklammert, mit der anderen hielt er den Revolver fest, mit dem er vor 14 Jahren Carlos Berger erschossen hatte. „Bleib endlich stehen, Horn.“, rief er laut, doch der dachte nicht daran und versuchte den Polizisten mit harten Lenkbewegungen abzuschütteln. Doch der türkische Polizist war dahingehend einiges gewohnt, rutschte zwar mit seinem Körper über die glatte Haube, ließ sich aber nicht abschütteln und schlug mit dem Revolver gegen die Frontscheibe, bis sie Risse bekam und die Sicht für Horn schlechter wurde. Doch davon ließ sich der Verbrecher nicht stören, die Geschwindigkeit nahm wieder zu und die Straße wurde kurvig.

    Gerade als Semir beinahe ein Loch in die Scheibe geschlagen hatte, geriet der Hinterreifen des Wagens auf den Grünstreifen und Horn konnte den schlingernden Wagen nicht mehr abfangen. Jetzt ließ Semir den Revolver los, der klappernd auf die Straße fiel, weil er zwei Hände brauchte um sich fest zu halten. Horn veriss das Lenkrad, und der Wagen kam von der Straße ab, schlug ihn eine Böschung und hob ab. „Whoooaa“, rief Semir noch, als er den Scheibenwischer los ließ bevor der Wagen sich in der Luft um die eigene Achse drehte und auf den Rädern im Sand wieder aufschlug. Der Kommissar stürzte und fiel so unglücklich auf den Rücken, dass Semir erstmal die Luft wegblieb und er sich stöhnend auf dem Boden rollte. Die helle Sonne bahnte sich den Weg durch die zusammengekniffenen Augen, und alles fühlte sich taub an, als Semir versuchte zu Atem zu kommen. Dass Horn aus dem Auto ausstieg, mit leicht humpelnden Schritten, mit der Waffe in der Hand zu Semir kam, bemerkte dieser erst gar nicht. Erst als Horn bei ihm stand und die Waffe auf den Polizisten richtete. „Ich hätte mich eben ein bisschen mehr beeilen sollen.“, keuchte Horn und zielte Semir ins Gesicht, der langsam wieder klar sah und direkt auf die Waffe sah. Kein Ausweg, Semirs Herz wollte zerspringen, so wie vor einer halben Stunde, als er dachte dass dieses Abenteuer sein letztes sein würde. Ihm kam das Gesicht von Andrea in den Sinn, seiner beiden Töchter, seiner unehelichen Tochter… das Gesicht von Ben, von André und von seinem Ex-Partner Tom, als er die Augen schloss und das Ende quasi erwartete in dem Moment als Horn den Finger um den Abzug legte. Dann hörte Semir den Schuss… er war leiser als er erwartet hatte, und er spürte tatsächlich keinen Schmerz. War es möglich, dass es so schnell ging, wenn man stirbt. Kein Gefühl, wenn die Kugel einen trifft, keine Reaktion… bis er die Augen langsam öffnete und sah, wie Horn stöhnend neben ihm lag und die Hand auf eine blutende Schusswunde im Oberschenkel drückte. Überrascht sah er sich um, und sah André auf der Landstraße stehen, den Revolver, den Semir auf der Straße vor dem Unfall verloren hatte in der Hand haltend und nun mit schnellen Schritten über das Feld laufend. „Aah… verdammter Bastard…“, fluchte Horn mit schmerzverzerrtem Gesicht. Bevor er überhaupt nochmal auf die Idee kommen konnte, nach seiner Waffe zu greifen, hatte André diese schon aufgenommen und den Revolver auf Horn gerichtet. „Alles klar?“, fragte André in Semirs Richtung, der sich langsam und stöhnend aufrichtete. „Alles noch dran…“, meinte er mühsam und André musste lächeln: „Nix verlernt, was?“ Der türkische Kommissar nickte und wollte sich gewohnheitsmäßig zu den Handschellen greifen, die allerdings nicht an seinem Platz waren. Man hatte sie ihm weggenommen, bevor man ihn gefesselt hatte. „Nimm die.“, meinte sein Kollege, griff in seine Jackentasche und warf sie Semir zu. Er hatte sie aus dem Dienstwagen genommen, bevor sie die Batteriefabrik gestürmt hatten.

    Der türkische Kommissar kniete sich in den hartgefrorenen trockenen Boden und griff Horn an den Handgelenken, um die Handschellen anzulegen. Der sah André voller Hass an. „Du wirst die Rechnung noch bezahlen, André.“, drohte er, als er von Semir auf die Beine gezogen wurde und seinem ehemaligen „Mitarbeiter“ gegenüber stand. Semir hatte ein mulmiges Gefühl im Magen, als er André und Horn kurze Zeit beobachtete. Sein Freund sah Horn mit leicht herunter gezogenen Mundwinkel missbilligend an. „Was werde ich denn bezahlen, hmm?“ „Glaubst du im Ernst, ich hätte nichts um dich zu erpressen, wenn du mein Spiel eher durchschaut hättest?“ André ließ sich seine Gefühle in diesem Moment in keinster Weise anmerken. Horn wusste, dass er das Spiel gegen Semir wissentlich niemals mitgespielt hätte. Er war blind und dumm gewesen, hatte sich aber niemals vorstellen können, dass Horn solch einen Hass gegen seinen ehemaligen Partner hegte. Beinahe wäre er schuld an Semirs Tod gewesen. „Du kannst mich nicht erpressen.“, sagte er mit seiner markant kratzigen Stimme und kam Horn mit dem Gesicht immer näher, als gerade zwei Streifenwagen an der Unfallstelle hielten. Aus einem stiegen Hotte und Bonrath, und sahen über das Feld zu den drei Gestalten. „Das wirst du schon noch sehen.“, antwortete Horn seelenruhig, und Semir gab ihm einen Schubs. „Schluß jetzt! Los!!“, ordnete er an und stapfte mit dem humpelnden Verbrecher übers Feld, bis ein Kollege ihm Horn abnahm. André verweilte für einige Sekunden auf seinem Platz, bevor er Semir folgte. „Mensch André. Du hast dich ja gar nicht geändert.“, bemerkte Bonrath mit einem Lächeln und deutete auf den ziemlich beschädigten Fluchtwagen und auf den zerdellten und zerkratzten Mercedes, den André selbst gefahren ist. Auch Hotte grinste dabei: „Manche Dinge verlernt man einfach nicht.“ „Sabbelt nicht rum.“, konterte André und bekam von Semir einen Stoß. „Schnell, wir müssen zurück zur Batteriefabrik. Ben und Kevin brauchen vielleicht noch Hilfe.“
    Das war für alle Beteiligten das Signal zum sofortigen Aufbruch. Während Horn von den Kollegen auf die Dienststelle gebracht wurde, rasten André und Semir, sowie Hotte und Dieter zur Batteriefabrik zurück.

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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  • Batteriefabrik - 10:05 Uhr


    Der Arm brannte, Schmerz trieb Ben fast die Tränen in die Augen. Er spürte, wie ihm die warme Flüssigkeit über die Schulter sickerte und sich langsam unter seiner Jacke die Blutspur durch den Stoff drückte. Er fühlte seine Füße im leeren schweben, wie er hin und wieder mal an die Stahlverkleidung der Träger neben ihm stieß. Und er sah und hörte, wie Kerler verzweifelt versuchte, mit dem dünnen Messer das massive Seil zu kappen, an dem Bens Leben hing. Verdammt nochmal, warum half Kevin ihm nicht. Er MUSSTE ihn doch einfach hören, das war doch keine große Entfernung, in der er ihn rief. "KEVIN!!!", rief er nochmal. "Dein Freund hilft dir nicht, Bulle.", rief Kerler nach unten und lachte, obwohl ihm auch nicht bekannt war, welche Verbindung Becker zu Kevin hegte. Doch Ben kam langsam ebenfalls dieser Gedanke, dass sein Kollege nicht die Absicht hatte, ihm zu helfen. Er wünschte sich so sehr, dass Semir schnell auftauchen würde...


    Doch Kevin ging es auf dem gegenüberliegenden Dach gerade nicht besonders gut. Er hatte sehr wohl mitbekommen, dass er mit dem einen, letzten Schuss Ben's Leben retten könnte, doch sein Herz wollte dem Gehirn keinen Platz geben, seine Befehle durchzusetzen. Den Revolver hielt er immer noch auf Becker gerichtet, der vor ihm saß und ihn fast beschwörend ansah. "Du bist ein Schwächling, Peters...", sagte er in die Richtung des Polizisten. "Du warst zu schwach deiner Schwester zu helfen, und jetzt bist du zu schwach deinem Kollegen zu helfen." Der Verbrecher wusste, dass Kevins Rache nur befriedigt war, wenn er selbst Becker tötete... und nicht einfach festnahm.
    Kevins Unterlippe zitterte, seine Hand um die Waffe war weiß, so fest hielt er die Waffe umklammert. Doch würde er, wenn er den einen Dämon besiegte, nicht einen anderen Dämon heraufbeschwören? Er würde wieder den Tod eines Menschen verschulden... diesmal wissentlich, diesmal in vollem Besitz seiner körperlichen Kräfte. Diesmal hatte er die Chance, etwas zu verhindern! Die Chance hatte er bei Janine nicht gehabt... es tat so weh, erneut daran zu denken, die Narben auf seinem eiskalten, nassen Rücken brannten wie Feuer.
    Tränen bahnten sich in die Augen des jungen Polizisten, als er an seine Schwester dachte und realisierte, dass er den Dämon der ihn quälte bis zu seinem Tode wohl niemals vertreiben könnte. Doch er wollte anderen Menschen nicht ebenfalls einen Dämon schicken. Semir würde sich die gleichen Vorwürfe machen, nicht da gewesen zu sein, wenn Ben etwas passieren würde...


    Noch während Kevin den Arm mit der Waffe von Becker wegrichtete und auf Kerler zielte, rappelte der Verbrecher sich wieder auf. Der junge Polizist bemerkte es nicht, der Tunnelblick ließ alles um ihn herum verschwimmen. Becker holte gerade aus, um Kevin gezielt in die Seite zu treten, der anschnellende Fuß war bereits auf dem Weg, als sich der Finger krümmte, und die letzte Kugel des Revolvers den Lauf verließ. Gerade als Kevin sah, wie Kerler im Kopf getroffen nach hinten taumelte, spürte er den heftigen Schlag auf den Rippen, der ihm die Luft zum Atmen nahm und ihn auf die Knie sinken ließ. "Feiger Bastard.", warf ihm Becker an den Kopf und brachte Kevin mit einem Knietritt unters Kinn endgültig zu Boden.
    Der Polizist lag stöhnend auf dem Boden, verklebte Wunden im Gesicht spuckten erneut Blut, und letzte Willensreserven ließen ihn nach oben blicken, wo Becker sich wieder aufrichtete. "Es wäre ein Leichtes gewesen, dich zu töten. Aber dein Tod würde dich nur befreien... und du sollst niemals mehr frei sein, Kevin Peters!" Mit diesen Worten ging Becker einige Schritte rückwärts, und Kevins Augen weiteten sich... er sah was Becker vorhatte. Nein, das durfte er nicht... Kevin würde niemals von seinen Alpträumen befreit werden. Nein... "Bleib stehen!", quetschte der keuchende Kommissar hervor und überwand seine Schmerzensgrenze um sich nochmals hochzudrücken, mehr auf Becker zuzustolpern als wirklich zu hechten, doch Kevins Griff ging ins Leere. Peter Becker ließ sich rückwärts über die Kante des Daches fallen, mit einem diabolischen Grinsen im Gesicht und den Blick starr auf Kevin gerichtet. "NEIN!", rief dieser, als er sah wie Becker von zwei harten Leitungsrohren getroffen wurde und mit einem unnatürlichen Ton auf den Asphaltboden aufschlug, dort regungslos liegenblieb. Schnell vergrößerte sich eine Blutlache um seinen Kopf.


    Kevin fiel am Rand des Daches auf die Knie. Völlig gezeichnet, mit angefrorenem feuchten dünnen Oberteil, blutverschmiert im Gesicht, die Haare voller Dreck und die Augen voller Tränen. Er war kaputt, innerlich gebrochen. Becker hatte ihm endgültig die Chance geraubt, sich zu rächen, sich bei Janine zu entschuldigen. DIe Sirenen der Verstärkung, den Hubschrauber, der jetzt über der Batteriefabrik kreiste, nahm er überhaupt nicht mehr wahr, es klang, als wäre alles ganz weit weg. Sein Dämon würde ihn niemals verlassen, doch selbst wenn Kevin in diesem Moment die Absicht gehabt hätte, sich umzubringen... selbst dafür fehlte ihm plötzlich die Willenskraft, die Stärke. Er war in sich zusammengesunken, wie ein Häufchen Elend, kraftlos. Er weinte stumm um seine Schwester, die gerade ein zweites Mal gestorben war...


    Ben hatte den Schuss gehört, der ihm wie eine Erlösung vorkam, als er realisierte dass Kerler tödlich getroffen wurde. Sofort mobilisierte er noch alle Kräfte um das Seil die letzten Meter nach oben zu klettern, die er nicht konnte weil Kerler mit dem Messer rumfuchtelte. Gerade hatte er sich über die Brüstung geworfen, da sah er wie Becker auf der anderen Seite abstürzte, und das nachfolgende Szenario. Auf Ben prasselte ein Heer von Gefühlen ein, die er zusammengemischt nur schwer deuten konnte. Heftig atmend sah er den zusammengesunkenen Kevin und plötzlich wurde ihm klar, dass dieser Mann eventuell der Mörder seiner Schwester gewesen ist. Der Gedanke kam ihm einfach, ohne dass er darauf Hinweise hatte. Kevin hatte ihm das Leben gerettet, wenn auch mit Verzögerung, doch es würde erklären, warum er gezögert hatte. Er wollte zu ihm, bevor sein Kollege auf dumme Gedanken kam. Er blickte nach links und rechts, und sah eine Verbindungsbrücke, die die beiden Dächer miteinander verband. Vor Schmerz etwas stöhnend verfiel er in Laufschritt, immer die Augen auf Kevin gerichtet, der sich aus seiner Position allerdings nicht veränderte. Offenbar hatte ihn nun die Kraft verlassen, die Willensstärke sowieso.
    Als Ben bei Kevin ankam, konnte er sehen, wie der Mann zitterte. So langsam kehrten Gefühle wie das Kälteempfinden zu dem Polizisten zurück, doch das Zittern rührte auch vom lautlosen Weinen. Erst als Kevin aufblickte, konnte Ben dessen Gesicht erkennen. Die Schnitte und Platzwunden, blutverschmiert, dreckverschmiert, und von einigen Tränen durchzogen. Langsam richtete sich sein Blick auf den geretteten Kollegen. Das Gefühl, es richtig gemacht zu haben, flammte bei Kevin nur eine Millisekunde auf. Ben selbst wusste sich nicht zu helfen, ihm fielen keine Worte ein, die der Situation angebracht waren... nichtmal ein "Danke", weil er wusste, dass es Kevin nicht helfen würde. Nur eine Geste zeigte sich in Ben's Hilflosigkeit... er hielt Kevin die offene Hand hin... sie zitterte vor Anstrengung und Schmerz, aber er hielt sie ihm hin. Kevin biss die Lippen zusammen, erneut drückten sich beim Augenaufschlag Tränen aus den Lidern, doch er griff, ebenfalls zitternd vor Kälte und Schmerzen am ganzen Körper, zu und ließ sich von seinem Kollegen auf die Beine helfen. Stumm und ohne ein Wort zu wechseln suchten sich die beiden Polizisten einen Weg nach unten, wo gerade André und Semir zum Stehen kamen...

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  • Batteriefabrik - 10:15 Uhr


    Gerade als André und Semir aus dem gestoppten Mercedes ausstiegen trudelte so langsam die angeforderte Verstärkung ein... wie immer zu spät. Semir sah instinktiv nach oben in Richtung des Daches, auf dem Kevin und Becker vorhin verschwunden waren, doch er brauchte nicht lange suchen. Leicht humpelnd und langsam gehend kamen Ben und Kevin aus dem Tor des linken Gebäudes, sie hatten sich den Weg über eine innere Leiter nach unten gebahnt. "Ben, Kevin! Ist alles...", doch Semirs Frage blieb dem Türken im Hals stecken, als er die beiden näher betrachtete. Ben's Jackenarm war rot, ein glatter Durchschuss den der Polizist aber noch recht gut wegstecken konnte. Kevin dagegen sah vor allem im Gesicht übel zugerichtet aus und war vor allem vom Blick her total abwesend. Semir wusste ja Bescheid, dass Becker seine Schwester ermordet hatte und konnte sich vorstellen wie sehr Kevin den Kerl kriegen wollte. Doch wo war er?
    Ben ging leicht versetzt hinter Kevin und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der junge Polizist sah niemandem in die Augen und ließ sich auf einen Stahlsockel nieder. Er zitterte, fror mittlerweile erheblich, Eiskristalle hingen in seinen schmutzigen Haaren fest, das Blut war wieder getrocknet, seine Augen brannten in den trockenen Kälte. Semir und André nahmen Ben ein wenig beiseite, sie wandten sich von Kevin etwas ab. "Was ist passiert?", fragte der kleingewachsene Polizist seinen Partner. Ben seufzte mit einem Blick Richtung Kevin. "Er hat mir das Leben gerettet. Er musste Kerler erschiessen, sonst hätte der mich getötet." Für einen Moment hielt Ben inne. "Dafür musste er aber diesen Becker verschonen. Er stand ihm gegenüber, hatte die Waffe auf ihn gerichtet und hat mich zunächst nicht um Hilfe rufen hören. Als Becker dann Selbstmord begangen hat, ist er völlig zusammengebrochen." Leichte Verwirrtheit schwang in Bens Stimme mit, er konnte die Zusammenhänge noch nicht überblicken. Semir sah etwas mitleidig auf den zusammengekauerten Kevin. Was hat er durchgemacht? "Dieser Becker hat vor einigen Jahren offenbar Kevins Schwester vergewaltigt und getötet... vor Kevins Augen.", gab er seinem Partner das fehlende entscheidene Puzzle-Stück. "Er wollte ihn umbringen... und nachdem, was ich im Kerker mitbekommen habe, hätte ich es nachvollziehen können.", fügte er düster hinzu. Sie sprachen leise miteinander, so dass Kevin sie nicht hören konnte, zwischendurch wies Semir uniformierte Kollegen an, nach die Leichen von Becker und Kerler aufzusuchen.
    André hörte stumm zu, ihm lagen jede Menge Worte auf der Zunge. Dass man Kevin helfen müsse, dass Kevin immer noch drogenabhängig sei... aber er verschwieg die Worte. Er hatte Kevin versprochen, niemandem etwas zu erzählen, genauso wie Ben es versprochen hatte, nichts von jenem Morgen zu erzählen, als er Kevin in seiner Wohnung "gefunden" hatte. "Wir müssen uns auf dem Revier noch unterhalten.", meinte der Kommissar dann dennoch und verließ die Gruppe in Richtung RTW, um seinen Arm verarzten zu lassen. Mit kurzer Geste, ein leichter Klaps auf die Schulter, nahm er Kevin quasi mit. Der junge Polizist wirkte wie eine zerbrochene Porzellanpuppe, ohne Willen. So kannte Semir ihn gar nicht. Ohne Widerworte, ohne Gefühl im Blick folgte er Ben langsam zum Rettungswagen. "Ich glaube, dass Kevin uns vieles verschweigt.", murmelte er leise in Richtung André, der nickte. "Ja...", war dessen einzige Antwort mit seiner kratzigen Stimme... im Wissen, was Kevin wirklich verschweigt.



    Dienststelle - 11:30 Uhr


    Semir und Ben fuhren mit dem Dienstwagen zurück zur Dienststelle. Bens Verletzung war ein glatter Durchschuss und wurde noch im Krankenwagen desinfiziert und verbunden. Kevin dagegen nahm man mit ins Krankenhaus, weil er zahlreiche Blutergüsse am Körper hatte, und man nicht wusste ob er irgendwelche Rippen gebrochen waren. Niemand der Männer hatte ein gutes Gefühl dabei, Kevin alleine zu lassen, und so fuhr André mit in die Klinik.
    Anna Engelhardt, die Chefin der Dienststelle wartete bereits ungeduldig auf ihre Männer. Sie hatte über den Funk erfahren, dass der Einsatz erfolgreich abgelaufen war, dass von den Drahtziehern einer tot war und einer festgenommen wurde. Als ihre Mitarbeiter das Großraumbüro betraten blickte sie vom Monitor auf, und winkte sofort und unmissverständlich die beiden zu ihr ins Büro und ihre Männer folgten aufs Wort. Die Chefin wollte jede Einzelheit des Einsatzes wissen, nachdem sie sich bei Semir um dessen Wohlergehen nach der Entführung erkundigt hatte. Die beiden Männer erzählten so detailreich wie es ging, unterschlugen jedoch Kevins Situation und die Tatsache, dass André bei dem Einsatz mit von der Partie war. Ein Lächeln spielte sich um den Mund von Frau Engelhardt, in Bezug auf André dachte sie sich ihren Teil dazu. "Ich schätze um Horns Truppe auf Mallorca wird sich nun das Präsidium für Organisierte Kriminalität befassen, in Zusammenarbeit mit Interpol. Für uns dürfte der Fall erledigt sein, da Horn bereits gestanden hat, den Mord an Timo in Auftrag gegeben zu haben und mit Hilfe von Herrn Fux an Semir ranzukommen.", sagte sie abschließend. "Gute Arbeit, meine Herren." Die beiden Männer nickten nur, und wollten sich gerade wieder zum Gehen abwenden, als Ben nochmal stehenblieb. "Was passiert jetzt mit Kevin?", fragte er recht zweideutig. Den beiden Männern lag es natürlich am Herzen, was aus seinem Zustand wird, doch das hatte der Polizist mit der Frage nicht gemeint. "Er wird zur Mordkommission zurückgehen, denke ich.", gab die Chefin zur Antwort. "Warum fragen sie?" Ben wiegte den Kopf hin und her und Semir sah seinen Freund an, und hatte die gleichen Gedanken. "Naja, ich dachte... vielleicht das er zusammen mit André... wissen sie?", begann der große Polizist ein wenig herumzudrucksen, doch die Chefin schüttelte energisch mit dem Kopf. "Das liegt nicht in meinem Ermessen. Eine Versetzung muss Peters schon selbst beantragen. Und was Herrn Fux angeht...", dabei richtete sie die Augen auf Semir "wissen wir immer noch nicht genau, was er in Mallorca gemacht hat. Sollte er da mit dem Gesetz im Konflikt geraten sein, so ist er als deutscher Polizist nicht tragbar, das wissen sie." Semir wollte protestieren: "Aber Chefin, dass er uns geholfen hat...", "Semir, sie kennen die Regeln. Fragen sie ihn doch erstmal, ob er das überhaupt möchte.", beschwichtigte sie mit ausladender Geste. "Und nun erkundigen sie sich erstmal, wie es Kevin im Krankenhaus geht.", schob sie noch hinterher und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Büros der beiden. Eine Geste, dass die Unterhaltung beendet sei, die die beiden Männer auch befolgte und das Büro der Chefin mit gemischten Gefühlen verließ.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • Krankenhaus - 11:30 Uhr


    Der Geruch eines Krankenhaus war überall gleich. Einigen Menschen war er fremd, aber nicht unangenehm, andere fanden ihn abstoßend und sagten : "Es riecht einfach nach krank." André rümpfte die Nase, während er auf dem Flur saß und wartete, bis die Untersuchungen bei Kevin zu Ende waren. Er wollte seinen ehemaligen Schüler einfach nicht alleine lassen, Semir und Ben mussten zurück ins Büro, wobei besonders Ben ebenfalls gerne mitgefahren wäre, weil er alles mitbekommen hatte, was auf dem Dach geschah. Der ehemalige Polizist hatte Zeit, sich Gedanken zu machen, wie es für ihn jetzt weitergehen würde, wenn nichts dazwischen komme. In Deutschland bleiben, zurück nach Mallorca? In eine andere Ecke, wo ihn niemand vermutete? Er wusste es nicht... was sollte ihn hier halten, ausser Semir. Sie würden jetzt zumindest weiter in Kontakt bleiben, zumindest so lange...


    Weiter kam er mit den Gedanken nicht, denn eine Krankenschwester trat gerade aus dem Zimmer, in dem sich Kevin aufhielt. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Tür und meinte: "Sie können gerne rein." "Danke", erwiederte André und erhob sich von seinem Stuhl um in den Untersuchungsraum zu treten. Kevin saß auf einer Liege, sein noch feuchtes Oberteil hing über der Heizung, und er selbst ließ gerade eine dicke Wolldecke von seinen muskulösen Schultern gleiten. "Wie gehts dir?", fragte sein ehemaliger Lehrer, und blickte auf die zahlreichen Schrammen, Flecken und Blutergüsse, Zeugen davon dass er innerhalb weniger Stunden zweimal zusammengetreten wurde. "Ging mir schon mal besser... sind aber nur Prellungen.", meinte Kevin mit recht müder Stimme. Ihm war von dem Drogencocktail noch ein wenig übel, ausserdem empfand er eine tiefe, seelische und körperliche Müdigkeit. Er war blass und hatte dunkle Ränder unter den Augen und wer konnte es ihm verübeln.
    Eigentlich wollte André ihn hier und jetzt nochmal auf seine Drogen ansprechen, warum und weshalb, doch als Kevin sich umdrehte, um nach seinem Oberteil zu greifen, gewährte er ihm den Blick auf seinen Rücken... auf das Tattoo, die Schrift und die Narben. Er erkannte das Bild, er kannte Kevins Schwester vom sehen, weil sie ihn manchmal abholte vom Training, weil Kevin manchmal von ihr erzählte. Der ehemalige Polizist las das Geburts- und Todesdatum und ließ vor Schreck den Mund etwas offenstehen, bis er die Sprache wiederfand. "Er hat deine Schwester umgebracht..." Es war keine Frage, eher eine Feststellung die Zweifel enthielt. Kevin verharrte im Griff nach seinem schwarzen Oberteil, ein Stich fuhr ihm ins Herz und er wusste, dass André es nicht böse meinte. Nur langsam, ganz langsam setzte er die Bewegung fort, nahm das Kleidungsstück und zog es sich über den Kopf, wobei sich sein ganzer Körper schmerzend meldete. André kam langsam in seine Richtung und setzte sich zu ihm auf die Bank. Er hatte einen anderen Einfluss auf ihn, als der nur wenig ältere Ben. André war für Kevin während seines Trainings, als er versuchte aus der Jugendgang auszusteigen so etwas wie ein Ersatzvater. Es lagen zwar "nur" etwa 20 Jahre zwischen ihnen, aber Kevin war damals im Kopf einfach noch jünger als er wirklich war. Er schluckte und sah André nicht an, der sich neben ihm niederließ und ruhig fragte: "Was ist passiert?"
    Kevin begann zu erzählen... er erzählte erst stockend, dann immer flüssiger, mit leiser Stimme. Seinen Schutzwall, den er für Ben lediglich geöffnet hatte, ihm aber keinen Eintritt gewährte, hatte er für André komplett fallen lassen. Er erzählte was in dieser Nacht in der Gasse geschah, seine Hilflosigkeit, als er am Boden lag, dass er Janine nicht helfen konnte, wie Peter Becker sie vergewaltigt hatte und ihr dabei die Kehle durchschnitt. Wie er danach sich in Alkohol flüchtete und den Weg zu den Drogen zurückfand. "Manche Nacht war es so schlimm, dass ich mich am liebsten umgebracht hätte...", sagte er dabei leise. André hörte stumm zu, nickte hin und wieder, war aber gefasst. Die Wut, der Zorn und die Rachegefühle hatten Kevin bis heute überleben lassen, und auch seine Arbeit bei der Polizei. "Deine damaligen Taten sind nie rausgekommen?" Kevin schüttelte den Kopf. Das Dealen, die Körperverletzung, der vermeintliche Totschlag im Ring... nichts davon tauchte in irgendwelchen polizeilichen Akten auf. Auch den Drogenkonsum konnte er weitestgehend geheimhalten. "Jetzt...", schloß er seine Beichte "fühle ich mich einfach nur leer. Es ist nichts mehr da. Wenn ich Becker selbst umgebracht hätte, hätte ich vielleicht so etwas wie ein Befriedigung empfunden... aber so ist nichts mehr da." Nun erschrak André ein wenig bei Kevins Worten und widersprach ihm heftig: "Glaubst du, Janine hätte es gewollt, dass du einen Menschen umbringst, auch wenn es ihr Mörder war?", fragte er mit gefasstere aber noch recht ruhiger Stimme. Kevin gab keine Antwort, und André seufzte. Wie konnte man in so einer Situation die richtigen Worte finden: "Sie war doch immer stolz auf ihren großen Bruder, weil ihm keine Situation zu schwer war, weil er immer einen klaren Kopf bewahrte und für sie alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumte. War es nicht so?", fragte er. "Aber das habe ich jetzt nicht geschafft...", klagte der junge Polizist. "Dann schaffe es jetzt, es ist doch nicht zu spät. Du kannst die Dinge nicht mehr rückgängig machen. Ich kann es auch nicht, obwohl ich es gerne tun würde." André wusste genau von was er sprach. "Der Kevin von damals, den ich kannte bevor ich nach Mallorca flog, hätte sich nicht verkrochen, sondern weitergemacht. Der hätte den Typen auch gefunden, wie du es jetzt getan hast, aber er hätte ihn nicht in blinder Wut umgebracht. So warst du, bevor ich dich kennengelernt habe, aber nicht als wir uns getrennt haben." Andrés Worte setzten sich tief in Kevins Seele ab, und er seufzte leise auf. "Der alte Kevin ist scheinbar wieder zurückgekehrt.", sagte er mit leiser und und unglaublich bedrückender Stimme, als gäbe es nichts was ihn aus seinem Loch holen könnte. Auch André schaute jetzt ein wenig hilflos, hatte er doch versucht Kevin an seine damalige Wandlung vom aggressiven Straßenjungen zum nachdenklichen aber kontrolliert denkendem jungen Mann zu erinnern.


    "Ich habe auch Mist gemacht in den letzten Jahren, Kevin.", sagte André nach einer kurzen Zeit des Schweigens. "Und ich hatte in einer Situation auch keine Wahl, genauso wie du, als du Janine nicht helfen konntest. Und das was ich getan habe, war wirklich schlimm. Aber ich kann es eben nicht mehr ändern, und ich muss versuchen, damit zu leben. Und das musst du jetzt auch." Kevin sah zu seinem väterlichen Freund auf, und die Blicke trafen sich. "Du hättest deinen Dämon nicht besiegt, wenn du Becker erschossen hättest. Du hättest ihn nur genährt, wenn du dafür Ben geopfert hättest. Du allein kannst den Dämon besiegen, ohne jemand anderen zu schaden. Nur du allein... dein Wille.", dabei stieß er den jungen Mann auf die Brust, wo dessen Herz schlug. "Und Janine würde dir sicher dabei helfen, wenn du sie lässt.", fügte er noch hinzu. Kevin nickte, in seinem Kopf schien es zu arbeiten, und er drückte ein ehrlich gemeintes, fast hoffnungsvoll klingendes "Danke", heraus.
    André zog eine Lippenseite nach oben, nickte und erhob sich. "Komm, lass uns fahren...", und wollte sich schon zur Tür wenden, doch Kevins Stimme hielt ihn zurück. "André? Was hast du in Mallorca Schlimmes getan?" Nun war es André der an der Tür verharrte. Erst langsam drehte er sich zu Kevin um, und schaute dem jungen Mann in die blauen Augen. "Ich habe meine Versprechen gehalten und niemandem etwas von den Drogen erzählt. Versprichst du mir nun genauso... niemandem was zu sagen?", fragte er und sein Gegenüber nickte. André atmete tief durch... konnte er wirklich? Er setzte sich zurück zu Kevin, und begann zu erzählen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Kevin’s Wohnung – 12:15 Uhr

    Die Rückfahrt der beiden Männer verlief überwiegend stumm und ohne Gespräch. André schien in einer besonderen Form erleichtert, zum ersten Mal über die Dinge auf Mallorca gesprochen zu haben, und er vertraute Kevin genug, dass er sie ihm erzählt hatte. Vor allem aber konnte er sich bei ihm, gerade bei ihm eher eine Art von Verständnis vorstellen, als dass er es von Semir erwarten würde, obwohl sich die beiden so gut kannten und verstanden. Irgendwann würde er es Semir erzählen… irgendwann.
    Kevins Gedanken gingen im Kopf kreuz und quer. Er hatte sich die Arme um den Oberkörper geschlungen, ihm war frisch. Sein Oberteil war zwar trocken aber für die Temperatur halt immer noch zu dünn. Ihm hatte es definitiv gut getan, seine Geschichte der letzten Jahre nicht nur in Teilen anzureißen, wie bei Ben, sondern haarklein und ganz genau jemandem zu erzählen… vor allem jemandem, der seine eigene Vorgeschichte so gut kannte wie André. Es war, als redeten Vater und Sohn miteinander, bei dem der Vater seinen Sohn gern schützen wollte, und der Sohn umgekehrt nicht das Schlechte in seinem Vater sehen wollte, nach dessen Geständnis. Es war eine komische Situation, und Kevin wusste noch nicht genau, wie er damit umgehen sollte. Er wollte vor allem jetzt erst mal alleine sein, sich ins Bett legen, nachdenken. Er hatte André auch von seinen Suizid-Fantasien erzählt, und der war weniger begeistert, den jungen Polizisten jetzt alleine zu lassen, als sie im Auto vor Kevins Wohnung saßen. „Bist du sicher, dass du jetzt alleine sein willst?“, fragte er nochmals, als Kevin gerade aussteigen wollte. „Ja. Ganz sicher.“, gab der mit halbwegs fester Stimme zur Antwort und nickte zustimmend. André schaute sorgenvoll, konnte er es wirklich verantworten? Aber er vertraute dem Jungen, dessen Geist und Wille er früher als so stark empfand. „Na gut. Aber melde dich, wenn’s dir nicht gut geht, okay? Versuch zu schlafen.“ Kevin nickte etwas gedankenverloren und stieg aus dem Wagen aus.

    Er quälte sich schon fast die Treppen nach oben, in die Wohnung hinein und ließ sich auf die Couch fallen. Alles um ihn herum schien trist und leer, er fiel ins Bodenlose in dieser Umgebung, die ihn an manch schlimme Nacht erinnerte. Es war alles sinnlos gewesen, alles was er versucht hatte. Er hatte vor Janine versagt… damals, heute. Er hätte Becker hinterher springen sollen, aber nicht mal das hatte er fertig gebracht. Mit beiden Händen fuhr er sich durch die Haare, als sein Blick auf die unscheinbare Ampulle fiel, die immer noch auf der Küchenanrichte lag und die kleinen pinkfarbenen Pillen enthielt. Langsam, mit schmerzverzerrtem Gesicht stand Kevin vom Sofa auf und tapste in die Küche, wo er das kleine Plastikröhrchen in die Hand nahm. Lautlos zählte er die Smarty-großen Pillen. „18“, kam er zu einem Ergebnis. Eine solche Menge auf einmal würde wohl kein Mensch überleben. Seine Hand klammerte sich um das Röhrchen, sein Herz schlug schneller. ‚ Du allein kannst den Dämon besiegen‘, hörte er Andrés Stimme im Hinterkopf, als er mit dem Röhrchen in der Hand ins Schlafzimmer ging. ‚ Nur du allein... dein Wille.‘ Mit einem leisen „Plop“ öffnete Kevin das Pillenröhrchen und ließ sich aufs Bett gleiten…


    Karateschule – 12:30 Uhr

    André stieg gerade aus dem Fahrzeug aus, als er seinen Entschluss gefasst hatte. Er wollte weg hier. Er wusste nicht warum genau, aber es zog ihn zurück nach Mallorca. Er konnte hier nicht als Polizist arbeiten, was sollte er hier. Er würde mit Semir Kontakt halten, sie würden telefonieren und hin und wieder würden sie sich besuchen. Irgendwo wollte sich André ein neues Leben aufbauen, er hatte die dunklen Geister seiner Vergangenheit hoffentlich abgelegt. Er verschwendete keinen Gedanken an die Drohung von Horn, als sie ihn gefasst hatten und versuchte seine Vergangenheit zu verdrängen. Die Gegenwart zählte, sonst nichts, dachte der großgewachsene Karatekämpfer, als er seine Tasche nahm und langsam begann die Kleiderstücke aus dem alten Holzspind im Trainingsraum darin zu verstauen. Vorher würde er aber nochmal mit Semir reden, natürlich. Ein Abend zu zweit, Billard spielen, was trinken… wie früher.
    Doch sein ehemaliger Kollege kam ihm zuvor… er überraschte ihn quasi beim Packen. Die Tür stand offen und Semir trat ein, hörte die Geräusche aus den Trainingsräumen und folgte ihnen. Er sah den breiten Rücken von André, wie dieser aus einem Spind Kleider in eine Tasche packte. „Du packst?“, waren Semirs Begrüßung ohne Veränderung der Tonlage, und ließen André sich umsehen, und leicht nicken. „Ja…“


    Kevins Wohnung – währenddessen

    Eine Hand lag auf seinem Bauch, die andere verdreht hinter seinem Kopf. Das eine Beine hatte der Polizist weit ausgestreckt, das andere angewinkelt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lag er auf dem Bett, halb da, halb weg. Das Röhrchen lag neben dem Bett auf dem Boden, es war leer. Es schien, als wäre die Welt in einen Schleier getaucht, durch den er hindurch sah, er empfand eine drückende Last auf den Lungen, wie eine Hand die seine Lungenflügel zerquetschen würde. Der Raum war hell, doch die Tür sonderbarerweise ganz weit weg. Dunkle Schemen konnte er darin erkennen, die sich langsam auf ihn zu bewegten. Wer war das? War das André, Semir, Ben? Kevin kniff die Augen zusammen, um mehr zu erkennen. Kehrte Becker etwa zurück.
    Der junge Cop hatte den Kopf zur Seite gedreht um zu sehen, wer sich an sein Bett heranbewegte. Was er erkannte, ließ ihn den Atem stocken, als sich sanfte kleine Mädchenfinger auf seine Stirn legten und durch seine Haare fuhren. „Es tut mir so leid, Kevin.“, sagte die junge Mädchenstimme und strich dem Polizisten sanft über die Schläfe an den verkrusteten Platzwunden vorbei zur Wange. „…dass du dir wegen mir so viele Sorgen gemacht hast.“ „Janine…“, flüsterte Kevin tonlos, unfähig sich zu bewegen. War das real, war das eine Halluzination? Wo war er? Was geschah hier? Warum kann er sich nicht bewegen, verdammt? Er wollte seine Schwester so gerne in den Arm nehmen, so rein wie sie aussah. Frisch gemachte Haare, saubere Kleidung, ihr, für ihr Alter, sehr dezentes Make-Up. Sie sah so aus, wie Kevin sie sich gerne in Erinnerung behalten wollte… nicht schmutzig, voller Blut und mit zerissenen Kleidern, in einer dunklen Gasse. „Ich bin sehr stolz auf dich, Kevin.“, flüsterte sie, und der junge Mann verstand nicht. Warum war sie stolz… auf was? „Aber…“, murmelte er hilflos und Stimme, obwohl er gerne laut sprechen wollte. „Ich… ich habe es nicht gesc…“ „sssscht“, machte seine Schwester und legte ihm einen Zeigefinger auf die Lippen. Er spürte es ganz deutlich und seine tonlose Stimme verstummte, ohne dass er es wollte. „Du hast mir gezeigt, wie wichtig ich dir bin, Kevin. Und deshalb möchte ich durch dich weiterleben.“, flüsterte sie ihrem Bruder ins Ohr, dass er sie ganz deutlich hören konnte. „Aber dazu MUSST du leben. Lebe wieder wie du mit mir gelebt hast. Ich werde dich niemals verlassen, Bruderherz.“ Der Polizist spürte wie ihm eine Träne aus dem Auge die Wange herunterlief, als der sanfte Druck von Janines Finger auf seiner Wange und seinen Lippen verebbte und weniger wurde. Seine Augen schlossen und er verspürte den Drang alles loszulassen, alle Tränen und Gefühle, die ihn bedrückten…

    Kevin lag auf seinem Bett… eine Hand lag auf seinem Bauch, die andere verdreht hinter seinem Kopf. Das eine Bein hatte der Polizist weit ausgestreckt, das andere angewinkelt. Mit leicht verzerrtem Gesicht lag er auf dem Bett, das Röhrchen lag neben dem Bett auf dem Boden… es war leer. Die pinken Pillen lagen auf dem Fußboden verstreut… 18 Stück. Der junge Polizist schlief tief und fest… nur aus seinem Auge drückte sich eine Träne und suchte sich den Weg an seiner Wange herunter…

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

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  • Karateschule - 12:35 Uhr

    Semir stand ein wenig unschlüssig im Türrahmen, er war überrascht, beinahe überfahren als er sah, dass André seine Reisetasche packte. Er war mit so vielen Gedanken im Kopf zu der ehemaligen Schule gefahren, hatte sich bereits vorgestellt wie es sein würde, mir André wieder zusammen zu arbeiten... und nun das. André wollte offenbar wieder weg, weg aus Köln, vielleicht sogar weg aus Deutschland? Langsam kam der türkische Polizist in den Raum, in dem André stand und seine Arbeit für kurze Zeit unterbrach. Ein Schweigen lag im Raum, bleischwer. Auch André wurde überrascht, er wusste noch gar nicht wie er es Semir sagen sollte, dass er zurück nach Mallorca gehen wird, hatte sich noch nicht ausgemalt wie er es seinem Freund beibringen sollte, dass sie sich wieder trennten, kurz nachdem er von den Toten wieder auferstanden war. „Ich… ich wollte es dir eigentlich noch sagen…“, murmelte André leise, als Semir bei ihm ankam und quasi stumm die Frage stellte, was er denn nun vor habe. „Ich werde nach Mallorca zurückkehren.“ Semir wusste in diesem Moment nicht, ob er entsetzt, enttäuscht oder verständnisvoll reagieren sollte. Irgendwie eine Mischung aus allem, seine braunen Augen schauten traurig, sein offener Mund drückte ein wenig Entsetzen aus, doch seine nickende Kopfbewegung so etwas wie Verständnis. Der Türke dachte rational nach, André hat offenbar 14 Jahre auf Mallorca verbracht, was wiegen dagegen 3 Jahre mit ihm zusammen im Dienst. „Okay… das kommt… überraschend.“, meinte er dann und steckte zwei Finger in seine hintere Gesäßtasche. Eine typische Geste, wenn Semir etwas unangenehm war. „Wir… wir hatten uns gerade im Büro unterhalten, dass ihr beide… also du und Kevin… vielleicht zusammen…“ André lächelte und schüttelte ein bisschen den Kopf. „Semir, die Zeiten sind vorbei.“, meinte er mit seiner kratzigen Stimme. André wollte keinen bösen Buben mehr hinterher laufen, außerdem würde die Polizei ihn nie wieder einstellen. „Ja… es war auch mehr eine Idee, weißt du.“, antwortete Semir und lächelte ebenfalls, allerdings ein wenig gequälter als André, der nochmal zwei Kleiderstücke aus dem Spind nahm. „Wie geht es Kevin?“, erkundigte sich Semir und suchte nach einem Übergang, weil sich erneut Stille ausgebreitet hatte. „Körperlich ist er bis auf ein paar Blutergüsse okay. Aber die Sache hat ihn natürlich mitgenommen… er hat mir alles soweit erzählt, vor allem was im Versteck passiert ist.“ Semir erinnerte sich an die kranke Vorstellung von Peter Becker, als dieser Kevin bedrohte und in aller Ausführlichkeit die Vergewaltigung von Kevins Schwester Janine in Gedanken nochmal zelebrierte. Dabei lief es sogar dem eigentlich hartgesottenen Semir nochmal eiskalt den Rücken hinunter.
    „Ich wusste bei unserm ersten Fall noch gar nicht, dass du ihn trainiert hattest.“ André nickte, und dachte kurz nach. Würde er Kevin einen Gefallen tun, wenn er Semir einweihte. Er kannte Semir ja, er wusste dass der Polizist nichts gegen seinen jungen Kollegen unternehmen würde, um ihm oder seiner Polizei-Karriere zu schaden. Er bewegte sich ein wenig vom Spind weg und setzte sich auf eine der Trainingsbänke. „Ich hatte nach Olafs Tod damals ja mehr und mehr der Drogensüchtigen von der Straße in die Karateschule geholt, erinnerst du dich?“ Sein ehemaliger Partner nickte. „Kevin war einer davon…“ Nun weiteten sich die Augen von Semir und sein Mund öffnete sich. „Kevin war drogenabhängig.“ André entschied sich gegen die komplette Wahrheit. „Ja… ziemlich sogar. Er war damals in einer kriminellen Straßengang, und ich hab ihm geholfen da raus zu kommen.“ „Das hattest du nie erzählt…“, meinte Semir. „Naja… bis auf einige Weibergeschichten und Storys von deiner Mutter… haben wir uns damals eigentlich nicht viel voneinander erzählt…“ „Ja, stimmt eigentlich.“, gab Semir kleinlaut zu und wunderte sich. Obwohl sie beide richtig gute Freunde waren, und gut miteinander zusammen arbeiteten, so war es doch eine ganz andere Beziehung zu André gewesen, als es danach zu Tom war, und nochmal anders als zu Ben. Tom und Semir waren damals ungefähr gleichalt, teilten gleiche Interessen, nur inniger und privaterer Natur als mit André. Ben dagegen war, aufgrund seines jüngeren Alters immer eine Art kleiner Bruder für Semir gewesen. Es war einfach eine andere Art der Beziehung zwischen Partnern.

    „Kevin hatte es damals geschafft clean zu werden. Er wandelte sich von einem schweigsamen, aber aggressiven Jungen zu einem ernsten, aber auch solidarischen Typen. Der Tod seiner Schwester hat da vieles wieder kaputtgemacht.“, erzählte André das, was er in den Tagen beobachten konnte. Sein Freund erinnerte sich an Kevin bei dessen erstem Fall mit der Autobahnpolizei zusammen. Damals war Kevin zwar nicht redselig aber war jetzt doch nochmal eine Ecke schweigsamer. „Bei dem Einsatz damals hatte er sich in eine Tatverdächtige verliebt, die erschossen wurde. Das hat ihm bestimmt nicht geholfen.“, sagte Semir und André stellte fest, dass da doch noch das ein oder andere Puzzleteil war, das er nicht kannte. „Wenn er bei euch bleibt, musst du ein bisschen auf ihn aufpassen, Semir. Auch wenn er das nicht gerne hat. Er hat schon viel durchgemacht.“, meinte André eindringlich und sein Freund nickte. „Hatte er mal was Ernsthaftes ausgefressen?“ , fragte Semir und konnte sich nur Dinge vorstellen, die entweder nie geklärt worden waren, oder nicht so schlimm waren. André sah Semir eindringlich an, mit stummen Worten wurde dem türkischen Kommissar klar, was André damit zeigen wollte. „André… du glaubst doch nicht, ich renn jetzt zur Engelhardt, und…“ „Schon gut, schon gut… ich weiß.“, beschwichtigte André sofort. „Kevin war damals sehr dick drin. Körperverletzung, Einbruch… und ein vermeintlicher Todschlag im Boxring. Die Dinge sind aber nie ans Licht gekommen, der Tote ging anscheinend vollgepumpt mit Drogen in den Ring und starb nicht von den Schlägen… wie bei mir damals.“, erzählte André und Semir musste erst mal aufatmen. Dass man es mit so einer Vergangenheit zum Polizisten bringt… alle Achtung.
    Semir wollte das Thema wechseln, und nach dem hörbaren Durchatmen wollte er sofort umschwenken: „Was hast du jetzt auf Mallorca vor?“ „Ich hab dir doch erzählt, was ich wegen dem gefährlichen „Job“ in Mallorca nicht getan hatte, als du mich nach meiner Familie gefragt hattest.“, erklärte der großgewachsene Mann und sein Freund nickte. „Das würde ich wirklich gerne nachholen.“, meinte André lächelnd und zwinkerte, und brachte damit seinen Nebenmann auf der Kabinenbank ebenfalls zum Lachen. „Und sonst, mal sehen. Strandbar… vielleicht irgendwas mit Autos. Ich weiß noch nicht.“ Der türkische Polizist erinnerte sich an Andrés Leidenschaft zu Fahren… und wehe es war am Steuer jemand besser als er. „Naja, auf Mallorca musst du wenigstens nicht über Wasserkanäle springen.“, neckte er seinen ehemaligen Partner ein wenig. André hatte damals Semirs BMW in einen Wasserkanal gefahren, als er versuchte einem Stuntman zu folgen. Der Betroffene lachte und boxte Semir scherzhaft auf den Arm: „Hey, du weißt genau, dass dessen BMW präpariert war. Außerdem hab ich es später mit dem Porsche geschafft.“ Die beiden Männer lachten wie Schuljungen, die sich gegenseitig Streiche erzählten und schwelgten ein wenig in Erinnerung. Das Misstrauen, was Semir über die ganze Zeit in sich gehegt hatte, war weggeblasen. André war größtenteils doch der André geblieben, den er damals vermisst hatte. Stur und dickköpfig zum einen, aber das Herz auf dem rechten Fleck und die Freundschaft zu Semir war nie abgerissen.

    „Semir…“, meinte André dann plötzlich und der Angesprochene blickte zu André auf. „Ich will mich nochmal entschuldigen, für das was ich getan habe. Dass ich nichts unternommen hatte, um mich bei dir zu melden, dass es mir gut geht. Dass ich die Beziehung zwischen uns damals falsch eingeschätzt habe. Es tut mir wirklich leid… leid, dass ich 14 Jahre „tot“ war.“ Semir war ergriffen von der Entschuldigung, denn André war normalerweise nicht der Typ, der sich entschuldigte. Er presste die Lippen zusammen und lächelte. „Ich muss mich bedanken, dass du mit Ben und Kevin nicht aufgegeben habt, mich zu suchen. Ich sag dir ehrlich, dass ich die ganze Zeit Probleme hatte, dir voll zu vertrauen… aber spätestens da wusste ich, dass du der Alte geblieben bist.“ Nun war André ein wenig ergriffen und lächelte, und dann taten die beiden etwas, was sie in ihrer Partnerschaft nie getan hatten, obwohl sie so manche brenzlige Situation gemeinsam überstanden hatten… sie nahmen sich, wenn auch nur für einen kurzen Moment, freundschaftlich in die Arme.

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