Schein oder Wirklichkeit?

  • In jedem Freundeskreis gibt es mindestens einen Freund, der einen kleinen oder weniger kleinen Tick hat. So auch in Semirs. Toni Zander war seit der Schulzeit Musiker eines eigenwilligen Instruments, des schottischen Dudelsacks. Mit Bonnie, wie er sein Instrument selbst voller Stolz und liebevoll nannte, verbrachte er die meiste Zeit in diversen Fußgängerzonen und hoffte auf die Spendenfreudigkeit der Leute, die auch meist hoch ausfiel, besonders dann wenn er Amazing Grace mit voller Leidenschaft spielte. Toni war mit seinem Leben zufrieden, auch wenn ihm so manches Mal diverse Geldsorgen plagten. Wenn er Glück hatte, wurde er zu Hochzeiten oder Geburtstagen engagiert und bekam neben seinem Festsatz von 200 Euro auch noch ein saftiges Trinkgeld. Doch meist stand er in irgendwelchen Fußgängerzonen oder an diversen Straßenecken und unterhielt die eilenden und gehetzten Fußgänger.


    So auch an diesem Tag. Es war ein herrlich schöner Wintertag und die Sonne ließ den Schnee in einem puren Weiß erstrahlen. Toni stand in der Fußgängerzone und spielte auf seinem Instrument die schönsten schottischen Melodien, die er seit seiner Jugendzeit beherrschte. Semir hatte ihn darum immer ein wenig verspottet, hielt aber als Freund zu ihm. Die polizeilichen Verordnungen sahen aber voraus, dass er alle halbe Stunde den Standort wechselte, da er keinerlei Genehmigung vom Ordnungsamt hatte.


    Bei einem seiner Ortswechsel kam er an einem Supermarkt vorbei. Vom vielen Stehen etwas erschöpft, ruhte er sich auf der Bank etwas aus. „Toni?“, hörte er plötzlich eine vertraute Stimme fragend rufen. Er drehte sich um und blickte in das Gesicht von Andrea, die gerade dabei war, einige Einkäufe zu erledigen. „Toni. Wie geht es dir?“, fragte sie freundlich und drückte den Mann mit der ungewöhnlichen Kostümierung kurz. „Eigentlich gut, auch wenn das Geld nicht immer reicht.“, meinte er lächelnd und erzählte so aus seinen Erlebnissen der vergangenen Zeit, während Andrea interessiert zuhörte.


    Nicht weit vom Supermarkt entfernt, warteten drei Männer sichtlich nervös auf das Eintreffen eines bestimmten Wagens. Jochen, Vladi und dessen Freundin Sina saßen in ihrem alten Opel Kadett und warteten auf den Geldtransporter, der den Supermarkt belieferte. „Wie spät ist es?“, fragte Jochen und zog nervös an seiner Zigarette. „Halb zwei.“, antwortete Vladi und tippte nervös auf dem Lenkrad herum. Sina sah sich immer wieder nach allen Seiten um. „Da ist er.“, stieß sie plötzlich aus und zeigte mit ihren Finger auf die einige hundert Meter entferne Kreuzung, die direkt zur Autobahn führte, von wo aus ein weißer, gepanzerter Wagen auf den Parkplatz des Supermarktes einbog. „Okay, hoffen wir, dass die beiden Wächter nicht den Helden spielen wollen.“, meinte Jochen und drückte die Zigarette aus. Alle drei zogen sich ihre Skimasken über. Vladi gab Gas, stellte sich vor dem Transporter quer. Schnell sprangen die drei Räuber aus ihrem Wagen und bedrohten die Wachleute. „Los, Tür auf.“, schrie Sina dem einen Wachmann zu, während sie ihn aus der Beifahrertür zerrte. Vladi hielt den anderen in Schach. Der Wachmann, ein etwas bulliger Typ mit kahlgeschorenem Kopf, öffnete die Tür und packte das Geld in die von den Räubern mitgebrachte rot-grüne Reisetasche.


    ...

  • Plötzlich jedoch schlug der zweite Wachmann seinen Ellenbogen Vladi ins Gesicht und zog seine Waffe. Sina reagierte jedoch schneller und schoß dem Mann mitten in die Stirn. Der Mann war tot, ehe er auf die asphaltierte Straße fiel. Panik machte sich nun in den drei Räubern breit. Sie wollten niemanden verletzen, sondern nur an das Geld und jetzt hatten sie einen Toten. „Scheiße, Scheiße, Scheiße.“, stieß Jochen aus. „Los, schnell weg hier.“, meinte Sina und krallte sich die Tasche mit dem Geld. Alle drei sprangen in den Kadett und fuhren mit quietschenden Reifen auf die Autobahn. Schon nach wenigen Minuten wurden sie von drei blau-silbernen Streifenwagen verfolgt.


    „Mach schon, gib Gas.“, fauchte Sina mit greller Stimme. „Ich mach ja schon.“, meinte Vladi und drückte das Pedal noch weiter durch. Der alte Opel beschleunigte noch mehr und wich den anderen Fahrzeugen gekonnt aus, doch noch immer war die Polizei in gefährlicher Nähe hinter dem Wagen. Doch vor ihnen bildete sich aufgrund einer Baustelle ein Stau. Vladi lenkte den Kadett gekonnt durch die stoppenden Fahrzeuge, allerdings nicht ohne dabei den ein oder anderen Spiegel mitzunehmen. Vor Schreck stellten sich einige Autos quer und verhinderten so der Polizei die weitere Verfolgung.


    „Ja, wir haben’s geschafft.“, freute sich Jochen und fiel Vladi um den Hals. „Nimm deine Hand weg. Ich seh nichts mehr.“, stieß dieser aus und Jochen tat, was sein Bruder verlangte. Doch es war schon zu spät. Vor ihnen wurde das Baufahrzeug auf der Brücke immer größer und Vladi verriss das Steuer nach rechts. Der Wagen knallte durch das Brückengeländer und flog einige Meter weit über den Abgrund, bevor er mit lautem Scheppern auf der Motorhaube aufkam, sich drei Mal überschlug und dann auf dem Dach liegen blieb.



    Toni war auf dem Weg nach Hause und nahm dazu immer den Feldweg, der unter der Autobahn entlang führte. Seine Gedanken kreisten um die nächst fällige Monatsmiete und die drei Mieten, mit denen er im Rückstand war. Doch diese Probleme sollten sich schon bald lösen. Seinen Dudelsack hatte er über die Schulter geworfen und ging vor sich hinpfeifend den Weg entlang. Doch sein Blick weitete sich plötzlich, als er den zerschellten Opel auf dem Feld liegen sah. Sofort rannte er hin und wollte helfen. Die hinteren Wagentüren waren verbeult, aber offen. Toni warf einen Blick in den Wagen. „Scheibenkleister.“, stieß er aus, als er den leblosen Körper eines jungen Mannes, der am Steuer eingequetscht war und dessen Kopf eine große Wunde zierte, sah. „Hallo? Sind sie okay?“, fragte Toni, doch plötzlich fiel sein Blick auf etwas viel interessanteres auf der Rückbank.



    ...

  • Sina und Vladi hatten den Unfall mit einigen kleinen Schürfwunden und Prellungen überlebt. Sie konnten sich schnell aus dem Auto befreien. „Verflucht, wo ist die Tasche?“, fragte Sina und sah sich hektisch um. „Ich dachte, du hast sie.“, erwiderte Vladi, außer Atem. „Ich? Warum ich?“, fauchte Sina und sah dann zum Wagen hinüber. „Schau mal. Der Typ da. Der macht sich an unserer Tasche zu schaffen.“, meinte sie mit hysterischer Stimme und sah, wie sich Toni einige der Euro-Bündel in die Manteltasche steckte. „Los, den kaufen wir uns.“, meinte Vladi und wollte gerade aus seinem Versteck schnellen, doch Sina hielt ihn zurück und machte ihn auf die nahenden Sirenen aufmerksam. „Lass, den kaufen wir uns später.“, meinte sie. „Ja, aber das Geld.“ „Ist sowieso futsch. Wir können uns nur das wiederholen, was der sich dort eingesteckt hat.“, meinte Sina und beide verschwanden danach.


    „Soll ich nicht doch mitkommen?“, fragte Ben seinen Kollegen, als sie vor dem Arzthaus hielten. „Ben, das ist eine Routineuntersuchung.“, erwiderte Semir leicht genervt. „Na, ich meine ja nur. Viele Leute haben ja Angst vor dieser Art Arzt.“, entgegnete er spitzbübig. „Angst? So etwas kenne ich nicht.“, meinte Semir hob seinen Kopf und stieg, gespielt beleidigt, aus. „Schon klar.“, meinte Ben dann und fuhr weiter zur PASt.


    „Tja, Herr Gerkhan. Sieht nicht gut aus, was ich da sehe.“, meinte Dr. Philip Drechsler und legte sein Untersuchungsbesteck in den Destilierapperat. „Was ist mit mir, Doc?“, fragte er etwas beunruhigt. „Ich muss operieren.“, meinte der Arzt und sah Semir vielsagend an. Der saß kreidebleich auf dem Untersuchungssessel und starrte vor sich hin. „Wollen sie gleich oder einen Termin haben?“, fragte er dann. „Was, wenn sie nicht operieren?“, wollte Semir wissen. „Dann werden sie sterben.“, meinte der Arzt trocken und wusch sich die Hände. „WAS?“, stieß Semir vor Schreck aus.


    Der Arzt lachte kurz auf. „Ja, so wie ich ihre Frau kenne und so wie die Schmerzen sein werden, wird Sie sie umbringen, damit das Gejammer aufhört.“, meinte der Arzt lächelnd. „Ich jammere gar nicht.“, fauchte Semir und stand auf. „Schon gut. Also, wann wollen sie den Termin haben. Die Weisheitszähne müssen unbedingt raus und ich würde das gerne in einer Sitzung erledigen.“, meinte Dr. Drechsler und hielt Block und Stift bereit. Gerade wollte Semir antworten, als sein Handy klingelte. „Moment bitte.“, meinte Semir und drückte den grünen Knopf. „Ja Ben, was gibt’s?“, fragte er. „Semir, wir haben hier einen Überfall auf einen Geldtransporter mit Todesfolge und ein ziemlich zusammengefaltetes Fluchtauto. Einer der Täter ist tot. Von den anderen Beiden fehlt jede Spur.“, meldete Ben seinem Kollegen durchs Telefon. „Okay, schick mir einen Wagen. Ich komme sofort.“, meinte Semir, legte auf und entschuldigte sich dann beim Arzt. Doch bevor er gehen konnte, versperrte der Arzt die Tür. „Sie haben mir noch keine Antwort gegeben.“, meinte Dr. Drechsler mit verschmitztem Lächeln. „Okay.“, ergab sich Semir. „Wann würden sie denn bei mir das Messer anlegen wollen?“, fragte der Hauptkommissar dann. „Sagen wir in drei Tagen, also Donnerstag um 14:00 Uhr. Seien sie bitte pünktlich und sorgen sie dafür, dass sie nach der OP nach Hause gebracht werden.“, mahnte der Arzt und entließ Semir mit dem Terminzettel.


    Der Streifenwagen setzte den Hauptkommissar beim Fundort des zerschellten Fluchtwagens ab. Ben stand direkt hinter Hartmut, der das Wrack in den kritischen, ersten Augenschein nahm. „Was ist denn hier passiert?“, fragte Semir, streifte sich seine weißen Einweghandschuhe über und sah sich das Chaos der einzeln herumliegenden Wrackteile mit kritischem Blick an. „Tja, hier hat jemand die Kontrolle über den Wagen verloren.“, meinte Hartmut und putzte sich den Schneematsch von seinen Knien. „Danke, das sehe ich auch.“, entgegnete Semir. „Ich will wissen, wie es passiert ist.“, forderte er. Ben wies ihn auf das durchstoßene Geländer der Brücke hin. „Der Wagen ist wohl ungebremst in die Baustelle, musste einem Baufahrzeug ausweichen und stürzte dann hier runter. Er überschlug sich noch einige Male, bevor er so liegen blieb.“, erklärte der junge Hauptkommissar und sah betroffen auf den von einer Plane bedeckten, leblosen Körper des Fahrers. „Wie alt?“, wollte Semir wissen und hob kurz die Plane hoch. Er sah in ein von Scherben und Splittern aufgerissenes und zerschundenes Gesicht. „Nicht einmal Mitte Dreißig.“, erwiderte Ben und seufzte kurz unverständlich. Auch Semir schüttelte ein wenig niedergeschlagen den Kopf. Er konnte nicht verstehen, warum ein junger Mann sein Leben so wegwerfen musste.

  • „Du sagtest, es gab einen Überfall?“, meinte Semir dann, als er die Plane zurückgepackt hatte. „Hm, die Kollegen sagen, es waren drei Täter. Sie warteten in einer kleinen Seitengasse vor dem nahegelegenen Supermarkt auf den Transporter, versperrten ihm dann den Weg und raubten das Geld. Als sich ein Wachmann wehrte, haben sie ihn erschossen.“, erklärte Ben. „Was ist mit dem anderen Wachmann?“ „Der kam mit einer Kopfwunde ins Krankenhaus. Seiner ersten Beschreibung nach waren es drei Täter. Einen haben wir hier liegen.“, meinte Ben dann und steckte sich einen Kaugummi in den Mund. „Und die anderen sind wahrscheinlich schon längst durch den Wald mit der Beute abgehauen.“, schlussfolgerte Semir und deutete auf den Waldrand. „Nicht ganz.“, meinte Hartmut und kam aus dem hinteren Teil des Autowracks wieder hervorgekrabbelt. „Was meinst du, Hartmut?“ „Hier, das habe ich auf der Rückbank gefunden. Sie muss sich beim Crash geöffnet haben oder war nicht ganz geschlossen.“, meinte der Rotschopf und hielt den Autobahnpolizisten die rote Sporttasche hin. Semir nahm sie dem Techniker aus der Hand und warf einen kurzen Blick hinein. „Scheint sich ja ganz schön gelohnt zu haben.“, meinte er und gab die Tasche an Ben weiter. „Wow!“, stieß dieser nur pfeifend aus. „Na, das meine ich aber auch. Wie viel schätzt du?“ „Ich würde sagen, so um eine viertel Million.“, mutmaßte Ben. „Das denk ich auch. Okay, fahren wir aufs Revier zurück und finden was über unseren Toten hier raus. Mal sehen, was er so zu bieten hat.“


    „Semir, euer Mann heißt Jochen Körner.“, meinte Susanne und reichte dem Deutschtürken eine dicke Akte ins Büro. „Ah, gut Susanne.“, meinte er trocken und machte sich gleich über den dicken Wälzer her. „Ab und zu ein Dankeschön wäre ja auch mal angebracht oder?“, fauchte sie und machte auf dem Absatz kehrt. Semir sah ihr erschrocken nach. Diesen Ton war er von ihr überhaupt nicht gewöhnt. Er sah Ben fragend an. „Sieh mich nicht so an. Ich hätte mich bedankt.“, meinte er grinsend. „Schon klar.“ Nach diesem kleinen Schlagabtausch machten sich beide Kommissare über die Akte her, die ziemlich umfangreich erschien. „Man, man, wie kann man nur so viele Vorstrafen haben.“, meinte Ben. „Hör dir das mal an. Mit 15 verurteilt wegen wiederholten Ladendiebstahls, dann mit 17 wegen leichter Körperverletzung, 18 zwei Jahre Haft wegen Missbrauch von Betäubungsmitteln und mit 22 Raubüberfall mit schwerer Körperverletzung. Die Haftstrafe hatte er erst seit einem Jahr abgesessen.“, zählte Ben auf. „So viel Scheiße hab ich ja nicht mal in meiner Jugend gebaut.“, meinte Semir etwas scherzhaft. Ben sah ihn verwundert an. „Wie war das?“, fragte er und zog die Augenbrauen hoch. „Ach nichts. Irgendwas aktuelles von Körner?“, lenkte Semir ab. „Er arbeitete zuletzt im Zoo. Aber vielleicht sollten wir uns erstmal seine Wohnung ansehen.“, meinte Ben und grinste immer noch. „Gute Idee. Dann kann Susanne ja gleich mal in Erfahrung bringen, wie viel Geld aus dem Transporter gestohlen wurde.“, entgegnete Semir und griff sich seine Jacke. Ben informierte bat schnell Susanne um die Information und dann fuhren sie zur Wohnung des Opfers.


    In einer ruhigen, abgelegenen Wohngegend parkte Ben den Wagen vor einem kleinen Reihenhäuschen. „Hier soll er gewohnt haben?“, fragte der junge Hauptkommissar skeptisch. „So steht es jedenfalls in seiner Akte. Er wohnte wieder bei seinen Eltern.“, entgegnete Semir und ging auf das Gartentor zu. Er öffnete es und beide Kommissare schritten auf die Haustür zu. „Sie müssen ihren Sohn sehr lieben, wenn sie ihn trotzt der Vorstrafen wieder bei sich wohnen lassen.“, meinte Ben etwas bissig. „Würdest du das nicht machen? Familie ist immer noch Familie.“, entgegnete Semir mit hochgezogener Augenbraue.


    Die Tür öffnete sich und ein älterer, kleiner Herr streckte seine mit Schweißperlen verzierte Stirn den Kommissaren entgegen. „Ja bitte?“, fragte der Mann und wischte sich mit dem Ärmel seines Flanellhemdes die Perlen von der Stirn, die schon langsam in die Augen runterliefen. „Gerkhan, Kripo Autobahn, mein Kollege Hauptkommissar Jäger.“, stellte Semir Ben und sich vor. Der Herr sah mit kurzem Blick auf die beiden Dienstausweise. „Wollen sie zu meinem Sohn?“, fragte der Mann mit etwas boshafter Stimme. „Der Junge hat doch nichts angestellt, oder?“, fügte er dann hinzu, als er die bedrückten Gesichter der beiden Polizeibeamten sah. „Herr Körner, können wir kurz reinkommen.“, bat Ben und stellte einen Fuß auf die Schwelle. Körner Senior machte die Tür frei und geleitete Semir und Ben ins Wohnzimmer.


    ...

  • „Was ist mit meinem Jungen?“, kam er gleich zur Sache, nachdem er sich in seinen selbst gezimmerten Schaukelstuhl fallen ließ. „Herr Körner, wir müssen ihnen leider mitteilen, dass ihr Sohn bei einem Autounfall ums Leben kam.“, fing Semir mit schwerer Stimme an. Dass er auf der Flucht nach einem Überfall mit Todesfolge war, verschwieg der Hauptkommissar absichtlich. Er wollte den alten Herren nicht noch mehr belasten. „Was? Jochen ist tot?“, fragte der Mann entsetzt und riss dabei die Augen weit auf. „Es tut uns Leid.“, gab Ben von sich und sah den Mann bedrückt an. „Das glaube ich ihnen nicht.“, fauchte Körner plötzlich mit tränenerfüllter Stimme. Ben wich erschrocken zurück. „Herr Körner, beruhigen sie sich.“, meinte Semir mit sanfter, beschwichtigender Stimme. „Seien sie still.“, stieß der Vater mit einem harschen Ton aus. „Sie kommen hier her, sagen mir, dass mein Kind, mein einziges Kind tot ist und meinen noch, es täte ihnen Leid. Dabei ist ihnen das Ganze doch so was von egal. Für sie war er doch nichts weiter, als ein notorischer Kleinkrimineller.“, meinte Körner mit harscher Stimme. Tränen liefen ihm dabei die Wangen entlang. „Gehen sie.“, forderte er von den Kommissaren und beide kamen dieser harschen Forderung nach.


    Zurück in der PASt wartete schon Susanne mit den Informationen auf Ben und Semir. „Jungs, ich hab was interessantes für euch.“, meinte sie und wedelte mit einem der kleinen Zettel umher. „Nun spann uns nicht so auf die Folter.“, meinte Semir freundlich. „Also, laut Sicherheitsfirma sind 512.429 Euro entwendet worden. Aber beim Opfer haben wir nur 248.650 Euro gefunden.“, erklärte Susanne den Kommissaren und sah in verduzte Gesichter. „Was?“ „Da fehlen doch…” „Um die 263.779 Euro um genau zu sein.“, beendete Susanne Bens Satz. „Aber außer die Kollegen und die anderen Komplizen war doch niemand am Tatort, oder?“, dachte Ben laut nach. „Aber Ben, das ist doch unmöglich. Ich meine, Hartmut hat uns doch erst die Tasche aus dem Wrack geholt und Hartmut würde doch niemals...“, Semir führte diesen Satz nicht zu Ende. „Da muss es eine andere Erklärung geben.“, meinte er dann und Ben stimmte ihn zu.


    Im Büro gingen sie die Aussagen des Überfalls durch. „Laut den Aussagen der Zeugen haben die nur den Fluchtwagen gesehen, wie er auf die Autobahn fuhr.“, meinte Ben. „Und vom Wachmann haben sie nichts gesehen?“, wollte Semir wissen. „Nein.“ „Dann kann es gut möglich sein, dass er die Situation ausgenutzt hat.“, mutmaßte der erfahrene Kommissar. „Das sollten wir mal nachprüfen.“, meinte Ben und zog seine Jacke von seiner Stuhllehne. Wenige Minuten später waren sie schon auf dem Weg zu ihrem Wagen und zur Securityfirma unterwegs, den mit dem Geldtransport beauftragt war.


    Toni war indes mit raschen Schritten in seiner Wohnung angelangt, legte Bonnie zurück in ihren Kasten und holte das Geld aus seiner Manteltasche hervor. „Ist das nur Schein oder Wirklichkeit?“, fragte er sich vor Freude strahlend, während er die Euro-Scheine durch seine Finger sausen ließ. „Das ist das Ende all meiner Sorgen.“, freute er sich. Doch da klingelte es plötzlich an der Tür. Vorsichtig lugte er durch den Spion und öffnete dann, nach kurzem Zögern, die Tür. „Herr Zander, ich bin hier, um die rückständige Miete einzufordern.“, meinte der Mann mit dem Schnauzer erbost und hielt ihm eine Rechnung von über 2.000 Euro hin. „Ich weiß, Herr Lahm, ich habe das Geld.“, entgegnete Toni. Dieser sah ihn verwundert an. „Was, sie haben das Geld? Dann geben sie es mir gleich mit und ich bin sofort wieder weg.“, sein Ton war jetzt freundlicher. Toni kam mit vier Fünfhundert-Euro-Scheinen zurück und drückte sie seinem Vermieter in die Hand. „Danke, warum denn nicht gleich so? Schönen Tag noch.“, meinte der Vermieter. Toni widmete sich wieder seinem vom Himmel gefallenen Reichtum. Er musste es irgendwo verstecken. „Das wird mich einige Zeit über Wasser halten. Nur nicht auf einmal verschleudern.“, dachte er und packte die Bündel in den unteren Teil eines alten Koffers. Diesen verstaute er sicher weit unter seinem Bett.


    ...

  • In abgelegenen Kölner Gewerbegebiet befand sich der Sitz der Firma „SecuRiders“, einer jungen Firma, die sich auf dem großen Sektor der Sicherheit zu integrieren versuchte. Semir parkte vor dem großen Gittertor und beide Kommissare gingen aufs Hauptgebäude zu. Der Chef der jungen Firma, ein gewisser Gregor Lahnstein, saß in seinem Büro und überprüfte einige Akten, als die Autobahnkommissare in sein Büro traten.


    „Herr Lahnstein?“ „Ja, bitte?“ „Hauptkommissar Jäger, Kripo Autobahn, mein Kollege Semir Gerkhan.“, stellte Ben vor. „Sie kommen sicher wegen dem Überfall auf unseren Geldtransporter.“, meinte Lahnstein und legte seinen Kugelschreiber auf die Schreibunterlage. „Genau, wir würden uns gerne mit den Kollegen des toten Mitarbeiter sprechen.“, entgegnete Semir und setzte sich, vor Ben, auf den einzig freien Stuhl. „Das Alter macht sich langsam bemerkbar, oder?“, fragte Ben und grinste nur. Semir antwortete nichts, sondern tat so, als hätte er dies nicht gehört. „Herr Lahnstein, wir haben, von der halben Million Euro, die gestohlen wurde, nur etwa 250.000 Euro gefunden.“, begann Semir. „Was wollen sie damit sagen?“, wollte der Geschäftsmann wissen. Ben kam nun näher an den Mann in etwa seinem Alter ran. „Wie vertrauensvoll sind ihre Mitarbeiter?“, wollte der junge Hauptkommissar wissen. „Ich verstehe nicht.“ „Es könnte gut möglich sein, dass sich der Partner vom Toten nach dem Überfall selbst bedient hat.“, erklärte Ben dann und sah in ein ungläubiges Gesicht. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Meine Mitarbeiter sind alle zuverlässig.“, versicherte der Geschäftsmann und spielte nervös mit dem Kugelschreiber herum. „Trotzdem würden wir gerne mit ihm sprechen.“, bat Semir den Mann und beobachtete jegliche Regungen von ihm. „Natürlich. Ich suche ihnen gleich die Adresse von Thomas heraus.“, meinte Lahnstein und griff sich einen dicken Aktenordner. „Thomas und weiter?“, fragte Ben und strich sich durchs Haar. „Thomas Helmer.“, entgegnete Lahnstein und reichte den Zettel Semir rüber. Dieser nahm ihn dankend an. „Sollte ihnen noch etwas einfallen, hier ist meine Karte.“, meinte Semir und reichte dem Mann seine Visitenkarte.


    Derweil im Kölner Zoo. Sina und Vladi machten sich gerade für ihre Arbeitsschicht fertig. „Was ist mit dem Kerl, der uns das Geld gestohlen hat?“, fragte Vladi flüsternd und zog sich seine Latzhose an. „Ich weiß noch nichts über ihn.“, entgegnete Sina und band sich einen Zopf. „Wir müssen ihn finden. Wie viele Männer laufen in Köln und Düsseldorf schon mit einem Kilt herum?“, fragte er mit etwas lauterer Stimme. „Ich weiß. Immerhin brauchen wir das Geld.“, meinte Sina, setzte sich ihr Base-Cap gerade auf und zog ihren Zopf durch den Schlitz. „Wie viel Zeit hat uns dieser Russe noch gegeben?“, wollte Vladi wissen. „Noch drei Tage, dann müssen wir ihm die 300.000 Euro mit Zins und Zinseszins zurückzahlen.“, entgegnete Sina, griff sich ihr Werkzeug und ging dann zur Tür hinaus.


    Sie machte sich gerade daran, den Käfig der frisch geworfenen Löwin Shenzi vom Unrat zu befreien, doch plötzlich wurde sie am Zopf gepackt. Sie stieß einen kurzen Schrei aus, doch eine Hand legte sich auf den Mund und presste ihn fest zu. „Sei ruhig, Püppchen.“, fauchte eine männliche Stimme mit starkem osteuropäischen Akzent und Sina konnte deutlich den von Wodka getränkten Atem riechen. „Und ich tu dir nichts.“, fügte er hinzu. Sie nickte angsterfüllt und schon verschwand die Hand von ihrem Mund. Sie drehte sich um und sah in ein fies grinsendes Gesicht eines jungen Polen. „Was wollen sie?“, fragte Sina und war sichtlich ängstlich. „Ich wollte dich nur noch mal an das Geld erinnern, dass du uns schuldest.“, fauchte er und strich ihr sanft übers Gesicht. „Es wäre doch Schade, wenn so etwas Hübsches wie du kaputt gemacht wirst.“, drohte er. „Ihr habt noch drei Tage, dann will der Chef das Geld. Andernfalls werdet ihr selbst zu Löwenfutter, klar?“, drohte er und verschwand wieder. Zurück blieb eine verstörte und verängstigte Frau.


    ...

  • Währenddessen fuhr der silberne BMW vor der angegebenen Adresse vor. Eine Reihenhaussiedlung mit dem Standartprogramm. Weiße Häuserwände und rote Dächer, vom Nachbarn mit einer grünen, mannshohen Hecke getrennt. „Sieht ja auch sehr monoton aus.“, meinte Ben und schlug die Wagentür zu. „Du magst es lieber picassomäßig oder? Alles verschoben und in Unordnung.“, stichelte Semir und grinste hinter seiner Sonnenbrille hervor. Zwar war es Winter, doch die Sonne schien dennoch vom klaren Himmel herab. „Wenigstenz finde ich noch alles in meiner Ordnung ... äh Unordnung.“, entgegnete Ben und klingelte an der Haustür. Semirs Blick fiel dabei auf den reich gefüllten und schon fast überquellenden Briefkasten, aus den Semir eindeutig einen Brief vom Finanzamt erkennen konnte. „Sieh mal an, die staatlichen Raubritter.“, dachte Semir und hob den Brief auf. „Die dritte Mahnung.“, las er in roter Stempelschrift auf dem Umschlag. „Schau an, schau an.“, murmelte er nur. „Man liest nicht anderer Leute Post.“, maßregelte ihn Ben und warf den Brief zurück in den Kasten. „Nur wenn’s interessant ist.“, entgegnete Semir und grinste frech.


    Ein kleines Mädchen, es muss so um die neun, zehn Jahre alt sein, öffnete den Autobahnpolizisten die Tür. „Hallo, wer seid ihr?“, fragte sie ganz keck und stellte sich in den kleinen Spalt zwischen Wand und Tür. „Wir sind von der Polizei und würden gerne mal deinen Vater sprechen.“, meinte Semir mit freundlicher Stimme. Die Kleine stemmte ihre Arme in die Hüften und versuchte möglichst groß zu erscheinen. „Das kann ja jeder sagen.“, behauptete sie mutig. Ben musste lachen. „Hey, wir sind wirklich von der Polizei.“, versuchte er zu überzeugen, doch das Mädchen schien sich damit nicht zufrieden zu geben. Dann dröhnte eine tiefe Stimme aus dem Wohnzimmer. „Jana, wer ist denn da?“, fragte die männliche Stimme. „Zwei Männer, die behaupten von der Polizei zu sein.“, erwiderte sie mit lauter, fast kreischender Stimme. Sofort kam der dickliche Mann zur Tür und stellte sich hinter seine Tochter. „Polizei?“, fragte er und sah die Kommissare gespannt an. „Herr Helmer, wir sind von der Kripo Autobahn. Gerkhan, mein Name, mein Kollege Ben Jäger.“, stellte Semir sich und seinen Partner vor. „Es geht sicher noch einmal um den Überfall von heute Mittag.“ „Genau. Herr Helmer wir würden uns gerne mit ihnen über das verschwundene Geld unterhalten.“, meinte Ben. Der bullige Mann gab die Tür frei und bat beide Herren ins Wohnzimmer.


    Sie saßen sich gegenüber, Ben und Semir auf der Couch und Thomas Helmer in seinem Sessel. „Herr Helmer, was ist bei dem Überfall passiert?“, fragte Semir und lehnte sich nach vorne. „Das habe ich doch ihren Kollegen schon erzählt.“, entgegnete der Mann und war bei diesem Punkt sichtlich genervt. „Würden sie es uns dennoch einmal erzählen.“, forderte Ben und lächelte freundlich. Der Mann atmete tief ein, hielt einige Momente inne und strich sich über seinen kahl rasierten Kopf. Dann stieß er die eingeatmete Luft wieder aus. „Mein Kollege Marcel wurde auf die andere Seite des Wagens an die Wand gedrückt und von einem der Gangster in Schach gehalten.“, erzählte Helmer und knetete seine Hände, was Ben nicht verborgen blieb. „Was passierte dann?“, fragte Semir nach. „Marcel schlug einen der Gangster mit seinem Ellenbogen nieder und zog seine Waffe.“, dem Mann fiel es schwer, darüber zu reden. Schwer schluckte er kurz und fuhr dann in seinen Ausführungen fort. „Einer der Gangster war schneller.“, er schluckte kurz und versuchte seine Tränen zurück zu halten. „Ich konnte nichts machen."


    ...

  • „Herr Helmer, es fehlen insgesamt um die 500.000 Euro. Wir haben bei dem toten Räuber aber nur die Hälfte sicherstellen können.“, meinte Semir dann und wartete auf eine Reaktion des Mannes. „Was wollen sie damit sagen?“, fauchte er gleich mit aggressiver Tonlage. „Wollen sie mir unterstellen, dass ich das Geld genommen habe?“ „Ganz so abwegig ist das nicht, bei den Rechnungen, die in ihrem Briefkasten liegen.“, erwiderte Semir und blieb ganz gelassen. „Ja, ich habe Schulden. Aber ich würde niemals ...“ „Herr Helmer,“, mischte sich Ben ein, „sehen sie, da waren die offenen Geldkassetten, das Durcheinander am Tatort und die Polizei war hinter den flüchtenden Räubern her. Wenn sie das Geld zurückgeben, denke ich, können wir von einer Strafanzeige absehen.“, erklärte der junge Hauptkommissar mit ruhiger, doch energischer Stimme. Dem Mann schienen die Wutadern aus dem Kopf nur so zu sprießen. „Lassen sie mich alleine.“, fauchte er und schlug vorher auf den Tisch. „Okay, aber wir kommen wieder.“, meinte Semir und ging mit Ben zum Wagen zurück.


    „Was hältst du von ihm?“, fragte der Deutschtürke seinen Partner, als sie beide wieder im Wagen saßen und das Haus beobachteten. „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.“, meinte Ben und sah Semir kurz an. „Auf der einen Seite glaube ich ihm, andererseits hatte er Gelegenheit und ein Motiv.“, fügte er hinzu. „Vielleicht sollten wir uns mal gründlich über diesen Herren informieren, bevor wir ihn mit weiteren Verdächtigungen konfrontieren.“, dachte Semir laut und startete den Motor. „Das sollten wir allerdings erst morgen machen.“, fügte er dann noch hinzu und grinste Ben vielsagend an. „Gute Idee. Hab sowieso noch mit der Band Probe.“, entgegnete er.


    Semir warf den Schlüssel in den Korb auf der Anrichte und strich erschöpft seine Lederjacke vom Körper ab. Seine Nase vernahm einen ihm so vertrauten, wie wohltuenden Duft: Spaghetti mit Tomatensauce. Und das mit viel Knoblauch und Basilikum. Dem Duft folgend, stand er wenig später in der Küche und sah seiner Frau mit gierigem Blick über die Schulter. „Hm, das duftet lecker.“, meinte Semir und gab seiner Andrea einen großen Begrüßungskuss. „Hallo, mein Hase.“, erwiderte sie und warf noch etwas kleingehacktes Oregano in den Topf. „Hey Aida.“, freudig begrüßte Semir seine Tochter, drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange und nahm sie auf den Arm, als sie in die Küche getapst kam. „Weißt du, wen ich heute getroffen habe?“, fing Andrea an zu erzählen, während sie die rote Sauce nochmals umrührte. „Wen denn?“, fragte Semir und rieb dabei seine Nase an die Wange von Aida, sodass ein freudiges Gelächter von der Kleinen zu hören war. „Toni Zander, deinen alten Schulfreund.“, meinte Andrea und schmeckte die Soße kurz ab, griff dann zum Pfeffer. „Toni? Mein Gott, den habe ich schon ewig nicht mehr gesehen.“, meinte Semir erstaunt. „Wie geht’s ihm?“, wollte er dann wissen. „Er machte auf mich einen ganz munteren Eindruck.“ „Hat er etwa immer noch dieses scheußliche Instrument?“, fragte Semir, seine Stimme klang dabei etwas abwertend, und sah seine Frau abwartend an. „Ach du meinst, ob er seinen Dudelsack noch hat? Ja, und er spielt immer noch damit in Fußgängerzonen.“, erwiderte sie. „Das ein so talentierter Musiker wie Toni, der das Zeug zu einem wirklich guten Konzertspieler hätte, sich in irgendwelche Fußgängerzonen mit Kilt und Dudelsack stellt, kann ich nicht verstehen.“, dachte Semir laut. „Er hat es sich eben so ausgesucht und es scheint ihm Spaß zu machen.“ „Na ja, ich sollte mal wieder zu ihm.“, meinte Semir dann und ging mit Aida ins Wohnzimmer.


    Die Familie aß dann zusammen, wobei sich Semir einen Heidenspaß daraus machte, Aida zu zeigen, wie man lange, einzelne Spaghetti schnell in den Mund zog. Was allerdings nicht ohne Spritzer auf Kleidung und Tischdecke ablief, was wiederum Andrea ein wenig, nun sagen wir, sauer werden ließ. Doch als Semir mit seinen hinteren Weisheitszahn ein Fleischbällchen durchbiss, überkam ihn ein grenzenloser Schmerz, der seinen ganzen Mund gefrieren ließ. Am liebsten hätte er los geschrieen, so unerträglich war das. Schnell hielt er sich die Wange, sprang vom Tisch auf und rannte ins Bad, um sich die Wange zu kühlen. Andrea klopfte kurz an die Badezimmertür. „Alles in Ordnung mit dir, Schatz?“, fragte sie besorgt. „Alles bestens.“, kam von Semir gedrückt und seine Frau musste schmunzeln. Kurz danach saßen beide wieder am Tisch und aßen weiter.


    Der weitere Abend blieb für Semir nicht ohne weitere Qualen. Zum Nachtisch hatte Andrea Eis besorgt. Schokoladeneis, Semirs Lieblingseissorte. Er wollte sich nicht anmerken lassen, dass ihm seine Zahnschmerzen fast um den Verstand brachten. So ließ er das kalte Eis vom Löffel auf die Zunge gleiten und versuchte die kalte Masse schnell schmelzen zu lassen und sie ganz einfach, in flüssiger Form, hinunter zu schlucken. Doch einige Male kam die kalte Masse doch an den Zahn und ließ vor Semirs Augen Schmerzsterne erscheinen. Andrea beobachtete ihren Mann genau. Sie wusste vom Termin bei Dr. Drechsler, hatte sie ihren Mann doch eigens dazu verdonnert. Ein unterschwelliges Lächeln huschte über ihre Lippen. Semir bemerkte dies und sah seine Frau abwartend an. „Wie war dein Besuch beim Zahnarzt?“, fragte Andrea und grinste vielsagend. „Och, er hat nicht einmal gebohrt.“, erwiderte ihr Mann und versuchte so entspannt wie möglich zu wirken, doch die Schmerzen schienen von Minute zu Minute stärker zu werden. „Semir, ich habe den Zettel mit deinem nächsten Termin gefunden.“, deckte sie dann ihre Karten auf. Sein lachendes Gesicht fiel in sich zusammen. „Andrea, ich...“, fing er an, doch sie unterbrach ihn. „Semir, wenn der Arzt meint, sie müssen raus, dann müssen sie schnell raus. Ich seh doch, wie du leidest.“, meinte sie besorgt, aber energisch, und mit einem liebevollen, sanften Blick. Er gab sich geschlagen. Doch die Nacht wurde für Semir eine der schlaflosesten Nächte, die er nicht mehr erlebt hatte, seit Aida ihre ersten Zähnchen bekam.


    Am nächsten Tag wartete Ben in der PASt auf seinen Kollegen. Er hatte heute früh erfahren, dass Jochen Körner einen Bruder hatte. Ungeduldig schaute der junge Kommissar auf seine Armbanduhr und tippte mit seinen Finger auf der Schreibtischplatte herum. Endlich kam Semir zur Tür herein. „Morgen Partner, bist aber ganz schön spät dran.“, begrüßte Ben ihn und fing sich einen halbtödlichen Blick aus Semirs braunen Augen ein. Ben zuckte zurück. „Was ist los? Hast du schlecht geschlafen?“ „Wenn ich überhaupt mal geschlafen hätte.“, erwiderte Semir und hielt sich ein Kühlpaket an seine Wange. Ben musst ein wenig schmunzeln, als er das sah. „Ich habe die ganze Nacht wachgelegen, weil meine Weisheitszähne gepocht haben, als ob jemand mit dem Auto dagegen fährt.“, erklärte Semir und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Brauchst dich gar nicht erst hinsetzen. Wir können gleich los.“, meinte Ben und sah dann in Semirs müdes Gesicht. „Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich fahre.“ Semir sah ihn mit kleinen, müden Augen an. „So wie du aussiehst, landen wir höchstens wieder an der Leitplanke, als dass wir am Ziel ankommen.“, scherzte er. Semir antwortete darauf nicht, nahm das Kühlpaket und schleppte sich zum Wagen. Kurz nachdem Ben den Parkplatz verlassen hatte, vernahm er ein lautes Schnarchen vom Beifahrersitz. Der Kommissar schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Wie sich jemand so gehen lassen kann.“, meinte er nur und fuhr zu der Wohnung des Bruders.


    ...

  • Derweil war Vladi dabei, seinen Vater zu besuchen. Körner war im hinteren Teil seines Gartens und hackte Holz für den Kamin. Dies tat er mit solcher Wucht, dass die einzelnen Holzscheite manches Mal gegen den Zaun des Nachbarn knallten. Sein Grundstück grenzte direkt an einen kleinen Bach, hinter dem eine große Parkanlage lag. Vladi schlich sich leise an seinen Vater heran. Er legte ihm vorsichtig eine hand auf seine Schulter. Erschrocken drehte sich sein Vater um. „Man Vladi, musst du dich so an deinen alten Herren ranschleichen?“, fragte er und griff sich symbolisch ans Herz. „Tschuldige Paps, aber ich brauch deine Hilfe.“, meinte der Sohn kleinlaut. Der Vater ahnte was, doch wollte er den Verdacht nicht äußern. „Wie kann ich dir helfen?“, fragte er und hatte dennoch seine Ahnung aufs Gesicht geschrieben.


    Ben brachte den BMW vor einem grauen Hochhaus am Rande der Stadt zum Stehen. „Hübsch hässlich.“, kommentierte er, als er aus dem Wagen stieg. Dann sah er zu Semir rüber, der immer noch tief schlief und schwer atmete. „So was gibt’s doch nicht.“, meinte Ben mit schüttelndem Kop, nahm die Wagentür in die Hand und warf sie kräftig zu. Aufgeschreckt knallte Semir mit seinen Kopf fast gegen das Dach und sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. Ben grinste nur fröhlich vor sich hin. „Sag mal, spinnst du?“, fauchte Semir erbost. „Willst wohl, dass ich einen Herzanfall kriege, was?“ „Komm, nun übertreib mal nicht. Außerdem wollt ich dir nur mitteilen, dass wir da sind.“, entgegnete Ben lächelnd. Semir stieg aus, sah an dem Hochhaus empor und verzog das Gesicht. „Hübsch hässlich.“, meinte er trocken und ging mit Ben zum Eingang des Hauses.
    Sina packte gerade ihre Sachen für die Arbeit ein. Mit einem Marmeladenbrötchen zwischen den Zähnen huschte sie durch die Wohnung, packte Brotbüchse und Thermokanne in den rot-grünen Rucksack, als es plötzlich an der Sprechanlage klingelte. „Wahrscheinlich die Post.“, dachte sich Sina und drückte auf den Summer. Nur wenige Minuten später klingelte es an der Tür. „Ich komme.“, rief Sina, schnappte sich ihren Rucksack und wollte nur unterschreiben, doch in der Tür stand nicht der Postbote.


    „Hallo, wir sind von der Kripo Autobahn.“, meinte der kleine Kerl, der neben einem größeren Mann mit Wuschelhaaren stand. „Und was wollen sie?“, fragte Sina verwundert. „Erstmal reinkommen.“, meinte Ben und Sina gab den Durchgang frei. Ben fiel sofort der Rucksack ins Auge. Irgendwie kam ihm die Farbkombination so bekannt vor. „Wir sind eigentlich auf der Suche nach Vladi Körner.“, meinte Semir und sah sich im Flur etwas um. „Das ist mein Freund. Warum wollen sie ihn sprechen?“, fragte Sina und sah nervös auf die beiden Kommissare. „Es geht um seinen Bruder. Er war in einem Überfall verwickelt und starb auf der Flucht.“, erklärte Ben und sah die Frau bedrückt an. Ihm ging dieses Muster nicht aus dem Kopf. Immer wieder sah er auf den Rucksack, was der Frau natürlich auffiel. „Was ist?“, fragte sie leicht nervös. „Nichts.“, entgegnete Ben. „Tja, Frau?“ „Mahler.“, erwiderte die junge Frau. „Frau Mahler, wissen sie denn nicht, wo ihr Freund ist?“, fragte Semir und sah die Frau abwartend an. Sina sah zu dem kleinen Mann, der etwa gut sieben bis acht Zentimeter kleiner als sie war, hinab und in die entschlossenen braunen Augen. Sie überlegte, ob sie ihm von Vladis Besuch bei seinem Vater erzählen sollte, doch dann entschied sie sich anders. „Er ist schon auf Arbeit. Und ich muss auch gleich los.“, meinte sie und machte demonstrativ die Tür auf. Ben sah Semir an. Dieser nickte nur und beide gingen zur Wohnung raus. „Wir werden uns bestimmt wiedersehen.“, meinte Semir und seine Stimme klang dabei warnend. Sina schloss die Tür hinter den Beiden und atmete tief durch.


    ...

  • „Was ist mit dir? Du siehst so nachdenklich aus?“, fragte Semir seinen Partner, der schweigend die Treppen hinunterlief. „Mir kommt das Muster des Rucksacks so bekannt vor.“, meinte er nachdenklich. Semir versuchte zu grinsen, doch da kamen wieder diese unerträglichen Zahnschmerzen hervor. Schon fast automatisch griff er sich an die Wange und verzog das Gesicht vor Schmerzen. „Semir, lass dir endlich die Dinger ziehen.“, meinte Ben, als er sah, wie sein Freund und Kollege litt. „Mach ich ja. In zwei Tagen, dann ist es vorbei.“, erwiderte Semir mit gedrückter Stimme. Sie blieben vorerst im Wagen sitzen. „Was nun? Fahren wir nicht zum Revier zurück?“, fragte Semir. „Nein, ich will wissen, wohin Frau Mahler geht.“, meinte Ben und wartete ab. Semir verkroch sich wieder in den Sitz und machte die Augen zu. Ben sah nur kopfschüttelnd zu ihm hinüber.


    Schon wenige Minuten später kam Sina Mahler aus der Tür und ging zu ihrem Wagen, der ein paar Meter vor Semirs BMW stand. „Da ist sie.“, meinte Ben leise und tippte Semir kurz an. „Dann fahr hinterher und mach wenn möglich nichts kaputt.“, murmelte Semir verschlafen. „Als ob ich je was kaputt gemacht hätte.“, meinte Ben und startete den Wagen. Er folgte ihr durch die Stadt und sah dann wie der Wagen auf das Zoogelände einbog. „Sie ist einfach zu ihrer Arbeit gefahren.“, meinte Semir, als er durch das etwas harsche Bremsen von Ben wach wurde. „Ich folge ihr mal zu Fuß. Mal sehen, ob sie mich zu ihrem Freund führt.“ Semir sah seinen Partner an. „Du willst alleine in den Zoo? Bei all den wilden Tieren?“, scherzte der Deutschtürke und grinste. „Ja, willst du etwa mitkommen? Bei deinem Gejammer kriegen wir von dem Gespräch sowieso nichts mit.“, erwiderte Ben und grinste breiter als Semir. „Ich jammere überhaupt nicht.“ Semir tat ein wenig beleidigt und stieg dann aus, Ben ebenfalls und beide gingen in Richtung Zoogelände.


    Vladi war inzwischen zurück von seinem Vater im Zoo und wartete im Bereitschaftsraum auf seine Sina. Gerade, als er sich einen Kaffee einschenkte, ging die Tür auf und Sina kam herein. „Da bist du ja endlich.“, begrüßte er seine Freundin und gab ihr einen Kuss. „Mein Vater wird uns helfen. Er wird uns das Geld leihen.“, meinte er und strahlte vor Freude. Sina sah ihn nicht gerade begeistert an. „Was hast du?“, fragte er und sah sie mit verwirrtem Blick an. „Die Polizei war vorhin bei mir.“, fing sie an. Ihr Blick war ernst und starr. „Sie wollten dich etwas über deinen Bruder fragen. Vladi, was machen wir jetzt. Früher oder später werden sie wissen, wer die beiden anderen Täter waren.“, mutmaßte Sina. „Ich glaube nicht, dass sie so schnell dahinter kommen werden. Erstens haben wir Masken getragen und zweitens kann sich der andere Wachmann bestimmt nicht daran erinnern. Ich habe sehr kräftig zugeschlagen.“, erklärte Vladi und setzte ein triumphierendes Lächeln auf.


    Ben und Semir schlichen sich langsam an den Raum heran. Ben drückte sein rechtes Ohr an den Türspalt. „Ben, wir haben doch gar keinen Verdacht gegen die Beiden.“, zischte Semir und sah Ben abwartend an. „Das Muster der Tasche geht mir nicht aus dem Kopf und jetzt ist mir auch eingefallen, woher ich das kenne. Das Muster ist genau dasselbe wie auf der Tasche, die bei dem Überfall verwendet wurde.“, erklärte er sich. „Das kann purer Zufall sein.“, erwiderte Semir und legte seinen Kopf ebenfalls gegen die Tür. Doch mit einem Male war es still im Raum. Beide Kommissare sahen sich nur vielsagend an. Semir ging einen Schritt beiseite und Ben zog die Tür auf. Der Raum war leer. „Verdammt, bestimmt haben die uns gehört.“, fluchte Ben und stampfte mit dem Fuß auf. „Die müssen zur anderen Tür raus sein.“, meinte Semir dann und deutete auf den anderen Ausgang neben dem großen Fenster. „Tja und nun?“, fragte Ben genervt und sah sich um. Dann entdeckte er etwas, das tief in die Ecke eines Schrankes geschoben worden war. „Hm, das interessiert mich jetzt aber.“, dachte Ben und ging zum Schrank hinüber. Doch plötzlich wurde seine Hand gepackt.


    „Was machen sie da?“, fragte ein Tierpfleger mit harscher Stimme, der gerade in den Raum getreten war, um ein Werkzeug zu holen. „Hey, ganz ruhig. Ich bin von der Polizei.“, meinte Ben und zog aus seiner Hosentasche seinen Ausweis hervor. Sofort ließ der Pfleger von Ben ab, auch weil Semir ihn an der Schulter packte. „Hätten sie die Güte, meinen Kollegen loszulassen?“, bat Semir mit sanfter Stimme und sah den Pfleger abwartend an. „Entschuldigen sie.“, meinte der stämmige Kerl und ließ Bens Hand sofort los. „Was sucht die Polizei hier?“, fragte er dann. „Wollen sie sehen, ob wir unsere Tiere richtig pflegen.“, meinte er etwas verbissen. Ben lächelte leicht gezwungen. „Wir sind nicht vom Tierschutz. Kripo Autobahn. Jäger mein Name, der Kleine dort ist Semir Gerkhan mein Kollege.“, meinte Ben und deutete auf Semir, der noch immer hinter dem Pfleger stand. „Kriminalpolizei? Was suchen sie dann hier bei uns im Zoo?“, fragte der Zoomitarbeiter. „Oder wollen sie blau machen und sich unsere Tiere ansehen?“, scherzte er. Semir rollte mit den Augen. „Das mach ich am Wochenende.“, entgegnete Semir lächelnd. „Wir sind eigentlich auf der Suche nach Vladi Körner.“, meinte Ben und erhob sich wieder. „Ach, sie suchen Vladi. Ich bringe sie zu ihm.“, erwiderte er dann nur freundlich.


  • Der Spaziergang durch den Kölner Zoo weckte in Semir keine Begeisterung, wie sonst immer. Die Schmerzen seiner Weisheitszähne wurde wieder stärker und pochten ihm gegen den Kiefer. Ben sah das verzerrte Gesicht seines Kollegen, da er sich wundernd umgedreht hatte, nachdem ihm Semir so still vorkam. „Geht’s noch oder sollen wir gleich zum Doktor fahren?“, stichelte Semirs junger Partner mit breitem Grinsen. „Ich glaube, ich gehe doch heute noch zum Zahnarzt. Kommst du hier alleine klar?“, fragte Semir mit leidvollem Gesicht. „Hau ab.“, winkte Ben nur ab. „Danke Partner.“, erwiderte der Deutschtürke und verschwand zum Wagen. „Was hat ihr Kollege denn?“, wollte der Pfleger wissen. „Zahnschmerzen.“, erwiderte Ben nur und der Mann verstand sofort.


    Ben wurde von seinem Begleiter ins Krokodilhaus geführt, wo Vladi gerade mit der Reinigung der Behausung der Nilkrokodile beschäftigt war. „Hey Vladi!“, rief der ältere Mann ins Becken runter. Der Blondschopf sah hoch. „Besuch für dich. Komm rauf.“, forderte er und verschwand dann in Richtung Elefantenhaus. Vladi war nach wenigen Minuten die Leiter aus dem Becken emporgeklettert und stand auf der als Holzbrücke geschmückte Empore. „Vladi Körner.“, stellte sich der junge Mann mit leichter Erschöpfung vor. „Hauptkommissar Ben Jäger, Kripo Autobahn.“, erwiderte Ben und war dabei in dienstlicher Ernsthaftigkeit versunken. „Kripo Autobahn? Bin ich zu schnell gefahren?“, fragte der Tierpfleger grinsend und zeigte keine Zeichen von Nervosität. Ben erwiderte ein gestelltes Grinsen. „Nein, ich bin eigentlich wegen ihrem Bruder hier.“, entgegnete der Hauptkommissar und steckte seinen Ausweis wieder in die Hosentasche. „Was ist mit Jochen?“, wollte Vladi wissen und hielt dabei die Schaufel mit fester Hand. Ben sah kurz auf die Hände seines Gegenübers. „Herr Körner, ich muss ihnen leider sagen, dass ihr Bruder bei einem Unfall ums Leben kam.“ „Was?“, seine Stimme war zittrig und klang betroffen. Ben sah in seine Augen und konnte lesen, dass er betroffen war. War er das oder nur ein guter Schauspieler? Das musste sich sein kriminalistischer Verstand fragen. Doch Ben sah in diese grünen Augen und meinte Betroffenheit zu erkennen, dennoch sah er auch ein Schimmern, das ihm nicht gefiel.


    „Herr Körner, ich müsste ihnen einige Fragen stellen.“, kündigte Ben an. Der Pfleger nickte nur. „War ihr Bruder in Geldsorgen?“, wollte Ben wissen. „Nein , er spielte zwar ein wenig viel, aber wir haben auch seit einigen Monaten kein Kontakt mehr gehabt.“, log Vladi und Ben spürte richtig, dass sein Gegenüber ihm etwas verheimlichte. Doch ohne einen Beweis musste er ihm glauben. „Gab es dafür einen bestimmten Grund?“, fragte Ben dann und schaute ein wenig nervös auf die Krokodile hinunter, die ziemlich hungrig auf ihn zu wirken schienen. „Keine Angst, die haben schon gefressen.“, meinte Vladi und lachte kurz. „Aha, das ist aber keine Antwort auf meine Frage.“, erwiderte Ben und sah sein Gegenüber abwartend an. „Wir haben nun mal unterschiedliche Leben geführt.“, meinte Vladi und sah dann auf die Uhr. „War's das? Ich müsste dann mal weiter machen.“, fragte er Ben. „Schon okay, ich melde mich, sollte ich noch einige Fragen haben.“, erwiderte Ben und ging.


    Doch draußen blieb er kurz stehen und drehte sich noch mal um. Durch die große Scheibe sah er, wie sich Vladi Körner mit jemanden wild destingulierend am Telefon unterhielt. „Möchte doch mal wissen, was du da zu reden hast.“, dachte sich Ben und schlich sich vorsichtig zurück ins Reptilienhaus. „Ja, ich habe das Geld.“, hörte er die angsterfüllte Stimme von Vladi. Ben hörte auf. Hatte er gerade gehört, dass er das Geld habe. Der junge Hauptkommissar schlich sich noch dichter an die Zielperson ran. „Okay, wann wollen sie sich das Geld holen?“, fragte Vladi und sah sich immer wieder nervös um und hielt das Handy fest in seiner Hand. Doch Ben wurde bemerkt. Nichts ahnend schlich sich jemand von hinten an den Kommissar ran und hielt dabei eine Schaufel in der Hand. Plötzlich verspürte Ben ein leichtes Atmen hinter seinen Rücken. Doch als er sich umdrehte, krachte schon das Aluminiumgerät auf seinen Kopf und der Kommissar ging der Länge nach zu Boden. „Shit Sina, was hast du gemacht?“, fragte Vladi, als er sah, was geschehen war. „Ist er tot?“, fragte Sina völlig aufgelöst. Vladi fühlte den Puls von Ben. „Er lebt ... noch.“, meinte Vladi und sah dann auf die Krokodile hinunter. „Dem werde ich einen Denkzettel verpassen.“, dachte er und packte Ben bei den Füßen.


    ...

  • „Ah, der Herr Gerkhan.“, begrüßte Dr. Drechsler seinen Patienten, als Semir ins Behandlungszimmer trat, mit einem für Semir fies aussehendes Lächeln. Schon immer meinte der Hauptkommissar, dass nur die Menschen Zahnärzte wurden, die eine sadistische Veranlagung hatten. „Doc, holen sie mir die verdammten Zähne raus.“, flehte Semir und ließ sich schon auf dem bedrohlich wirkenden Behandlungsstuhl nieder. Der Arzt sah seinen Patienten verwundert an. „Komisch, sonst muss sie ihre Frau förmlich herschleifen und nun kommen sie von ganz alleine.“, scherzte der Arzt und zog sich neue Handschuhe an. Semir versuchte, eine Grimasse zu schneiden, doch der pochende Schmerz ließ das nicht so einfach zu. „Ich halte die Schmerzen einfach nicht mehr aus.“, murrte Semir und öffnete sogar freiwillig den Mund.
    Dr. Drechsler nahm seine Instrumente in die Hand und legte los. „Dann wollen wir mal.“, meinte der Dentist und rüttelte kurz am hinteren Weisheitszahn. Semir stöhnte kurz auf. Am Liebsten hätte er jetzt zugebissen, doch er riss sich zusammen. „Okay, ich sehe. Zum Glück hat sich das Zahnfleisch nicht entzündet.“, meinte der Arzt und legte das Besteck kurz weg. Dann nahm er eine kleine Spritze und zog sie mit einer durchsichtigen Flüssigkeit auf. „Ich gebe ihnen jetzt eine Lokalanästhesie und in wenigen Augenblicken merken sie gar nichts mehr.“, erklärte er Semir, der etwas zittrig auf seinen Stuhl saß, als er die Spritze auf seinen Mund zukommen sah. „Angst?“, fragte Dr. Drechsler lächelnd. „Ich doch nicht.“, erwiderte Semir und riss seinen Mund weit auf. Der Arzt ließ die Spritze in Semirs Mund verschwinden, stach unweit der Weisheitszähne ins Zahnfleisch und leerte die Kanüle aus. „So Herr Gerkhan, noch ein paar Minuten und sie haben kein Gefühl mehr im Mund.“, meinte der Arzt und legte die Spritze wieder weg. Und der Doktor hatte Recht. Nach einigen Momenten fühlte Semir, wie seine linke Wange taub wurde und langsam auch die rechte Wange nach unten hing. Der Deutschtürke hielt nur noch den Mund auf und sah ins Licht. Er merkte nicht, wie der Arzt mit dem Operationsbesteck ansetzte und nach anderthalb Stunden alle vier Weisheitszähne des Hauptkommissars gezogen und in eine mit Desinfektionswasser gefüllte Petrischale legte. Danach saugte er das Blut ab und spülte die Wunden noch mal kurz mit Wasser aus. „So, das war's.“, meinte er dann und sah Semir abwartend an. Dieser erhob sich aus seiner liegenden Haltung und betrachtete die in der Petrischale liegenden Zähne. Dann sah er den Doktor abwartend an. „Es könnte sein, dass sie beim ersten Kauen noch Schmerzen haben. Ich empfehle ihnen in den nächsten drei Tagen nichts anderes als Suppe, Pudding oder solche Sachen zu essen, wo sie nicht viel kauen müssen.“, riet ihm Dr. Drechsler und entließ seinen Patienten.


    Vor der Praxis versuchte Semir seinen Kollegen Ben zu erreichen. „Mensch, wo steckst du bloß wieder?“, fragte er leicht genervt. Semir konnte ja nicht ahnen, was mit Ben passiert war und wo sein Kollege gerade rumhing. Nach dem dritten erfolglosen Anrufsversuch, ging Semir, mit geladener Wut im Bauch, zum nahegelegenen Taxistand. Für den Rest des Tages wollte er sich frei nehmen. Autofahren konnte er mit dem Schmerzmittel sowieso nicht und im Büro rumsitzen, ertrug er einfach nicht. So beschloss er seinen alten Freund Toni zu besuchen, denn ihn hatte er wirklich schon lange nicht mehr gesehen.


    ...

  • Ben wachte langsam aus seiner ungewollten Ohnmacht auf. Sein Schädel brummte und er hatte das Gefühl, dass ein ganzer Bienenschwarm in seinem Kopf nistete. Er wollte sich an die Stirn fassen, doch seine Hände waren ihm auf den Rücken gebunden worden. Er sah sich hektisch um und merkte, dass er kopfüber über dem Krokodilbecken schwebte. Die gefräßigen Krokotaschen versammelten sich schon mit hungrigen Mäulern unter ihm. „Du heilige Scheiße.“, stieß er aus, als eine der wandernden Umhängetaschen nach ihm zu schnappen begann. Ben versuchte sich von seiner Fesselung zu befreien und an sein Handy zu kommen, dass er langsam aus seiner Hosentasche rutschen sah. „Bitte nicht.“, dachte er und wollte es irgendwie abfangen, doch zu spät. Im selben Moment fiel sein Handy geradewegs in das Maul eines dieser Echsen. Er hörte nur noch das Krachen des Krokodilkiefers, wie er Bens Handy in Hunderte von Kleinteilen zerbiss. Ben wusste, dass sein Handy nicht das einzige Opfer bleiben würde, wenn ihm nicht schleunigst etwas einfiel. Das Blut rann ihn vom Kopfüberhängen ins Gehirn. Wieder und wieder rüttelte Ben an seinen Handfesseln und mit jeder Bewegung, sie schienen nicht besonders fest zu sitzen, merkte der junge Kommissar, wie sie sich lockerten. „Endlich.“, stieß er aus, als der Knoten sich öffnete und Ben seine Hände wieder bewegen konnte. Doch jetzt stand er vor einem größeren Problem. Wenn er die Fesseln an den Beinen löste, würde er direkt in den Schlund dieser Allesfresser unter ihm fallen. Er musste sich also mit einer Hand festhalten und mit der anderen versuchen, die Fesseln aufzumachen.


    Toni hatte nochmals seinen lebensrettenden Schatz gezählt und packte ihn mit hastigen, nervösen Griffen in den Koffer zurück, als er das Klingeln vernommen hatte. Mit einem kleinen Tritt katapultierte er den ledernen Reisebehälter unter das Bett und ging zur Tür. Er staunte nicht schlecht, als er sie öffnete und seinen alten Schulfreund Semir in die Augen blickte, soweit man das bei dem Höhenunterschied so nennen konnte. Toni war gute zwei Köpfe größer, als der Hauptkommissar. „Semir!“, meinte der Musiker erfreut und nahm seinen Schulfreund in die Arme, denn die letzte Begegnung lag schon einige Zeit zurück. „Grüß dich, Toni.”, meinte Semir, als er sich aus der Umarmung wieder löste. „Komm rein.“; bat der Musiker und gab die Tür zum kleinen, schmalen Flur frei. Semir tat wie verlangt und sah die kleine, aber doch mit wenig Geld liebevoll eingerichtete Wohnung.


    Toni geleitete ihn ins Wohnzimmer, wo Semir gleich über einige Notenblätter stolperte. „Möchtest du was trinken? Ein kühles Kölsch vielleicht?“, fragte Toni und gab sich gastfreundlich. „Nein danke, komme gerade vom Zahnarzt und darf noch nichts Kaltes trinken.“, erwiderte Semir und ließ sich auf das Sofa fallen. Sofort verschwand er fast, da das Sitzmobiliar schon ziemlich durchgesessen zu sein schien. „Erzähl mal, wie geht es dir?“, fragte Semir und sah sich ein wenig um. Überall hingen Fotos und Farbposter von schottischen Landschaften und Orten. „Ach, im Moment kann ich nicht klagen.“, entgegnete Toni und grinste vielsagend bis über beide Ohren. Semir dachte sich nichts dabei und sah sich die Fotos an der Wand an.


    „Warst du jetzt schon mal in Schottland?“, wollte Semir wissen und sah auf ein Foto, das Loch Ness zeigte. Tonis Gesicht ließ einen Schwall der Enttäuschung los. „Nein, das ist immer noch einer meiner größten Lebensträume. Irgendwann werde ich soviel Geld haben, dass ich den Rest meines Lebens dort verbringen kann.“, meinte er und grinste dann wieder vielsagend und Semir wusste nicht, warum. Die Beiden saßen noch eine ganze Weile zusammen, bis Semir auffiel, dass es draußen schon fast dunkel war. „Shit, ich muss los.“, meinte er und sprang vom Sofa auf. „War schön, dich mal wieder zu sehen.“, sagte Semir zu Toni und fiel ihm nun in die Arme. „Hoffentlich wird das nächste Treffen nicht wieder einige Jahre auf sich warten lassen.“, meinte Toni und grinste frech. Semir versprach, dass sie sich nächste Woche auf ein Bierchen treffen würden, wenn sie sich nicht irgendwie in der Fußgängerzone begegnen würden. So verabschiedeten sie sich noch mal herzlichst voneinander und Semir stieg in ein Taxi auf der anderen Straßenseite, während Toni abwartend am Fenster stand und sah, wie das gelbe Fahrzeug die Straße hinunterfuhr. Lächelnd drehte er sich wieder um, schnappte sich seinen Dudelsack Bonnie und, weil Semirs Besuch in ihm wieder schöne Erinnerung wachgerufen hatte, spielte er ein kurzes Musikstück und dachte dabei an die schöne Schulzeit zurück.


    ...

  • Ben versuchte sich immer noch zu befreien. Dann fiel sein Blick auf das Geländer über ihm. Langsam schwang er sich hin und her, versuchte mit den Händen das Geländer zu packen. Doch das Seil schien schon alt zu sein. Mit jedem Schwenker löste sich das Seil in seine Bestandteile auf. Ben hörte dies und sah schlagartig zu den Krokodilen nach unten. „Ne, ihr kriegt mich nicht.“, meinte er und schwang noch einmal zum Geländer hin. Endlich fasste er es mit beiden Händen kraftvoll. Gleichzeitig riss aber auch das Seil und Bens Füße zogen ihn runter, doch er hielt sich fest und zog sich in die Freiheit. „Tja, da müsst ihr wohl auf euer zweites Abendessen verzichten.“, meinte Ben zu den Krokodilen runter. Schnell verließ er das Krokodilhaus und eilte zu seinem Wagen. „Jetzt brauch ich erstmal eine heiße Dusche.“, dachte er und atmete tief durch, während er sein Kopf geschafft aufs Lenkrad legte. So verweilte er fast fünf Minuten. Dann startete er den Motor und fuhr in seine Wohnung. Er sah auf die Uhr. „Oh man, schon halb zwei und wir haben morgen Frühschicht.“, grummelte er, schmiss seine Klamotten in den Wäschekorb und ging in die Dusche. Nach dieser Grundreinigung schmiss er sich ins Bett, zog die Decke über den Kopf und schnarchte sofort drauf los.


    Der nächste Tag brach mit Sonnenschein und klarem Winterhimmel an. Die Temperaturen bewegten sich zwischen acht und zehn Grad, was ungewöhnlich für Ende Januar war. Sina und Vladi waren schon früh unterwegs. Unter einer Eisenbahnbrücke, weit abgelegen von jeglichem frühmorgendlichen Trubel, traf sich das Pärchen mit dem jungen Polen, der Sina im Zoo schon in die Mangel genommen hatte. Er stieg aus seinem dunklen Wagen und sah mit herablassenden Blick zu den Beiden hinüber. „Habt ihr das Geld?“, fauchte er fragend. Vladi nickte eingeschüchtert und warf ihm die Tasche vor die Füße. Der Pole hob sie auf ohne dabei die Beiden aus den Augen zu lassen. Er schob den Reißverschluss langsam auf und entdeckte etliche von Euroscheinen, sauber zu einzelnen Bündeln zusammengebunden. Er schüttete sie auf der Motorhaube seines Wagens aus und zählte mit präzisen Griffen nach. Sina und Vladi standen in einigen Metern Entfernung und tuschelten. „Was hast du mit dem Bullen gemacht?“, wollte sie wissen. „Das Seil ist durchgerissen und ich habe nur noch das zerbissene Handy gefunden.“, erwiderte Vladi und ließ den Polen nicht aus den Augen. „Heißt das, er ist tot?“, fragte Sina entsetzt und sah ihren Freund mit weit aufgerissenen Augen an. „Ich weiß es nicht. Normalerweise sind die Krokos gut genährt und hätten noch was von dem Kerl übrig lassen müssen, so groß wie der war.“, erwiderte er. Dann kam der Pole auf die Beiden zu. „Gut, ihr habt Glück. Das Geld stimmt genau.“, meinte er und warf den Beiden etwas zu. „Hier, euer Schuldschein. Ich will hoffen, dass wir euch nie wiedersehen.“ „Das beruht auf Gegenseitigkeit.“, giftete Sina fauchend und zerknüllte das Papier. Der Wagen mit dem Polen und dem Geld brausten mit quietschenden Reifen davon. „Was machen wir jetzt?“, fragte Vladi und sah seine Freundin abwartend an. „Wir suchen uns jetzt diesen Kiltträger, der uns unser Geld gestohlen hat.“, meinte Sina und gab Vladi einen Kuss.


    Währenddessen wartete Ben vor Semirs Haustür auf seinen Partner. Ungeduldig tippte er mit den Fingern auf dem Lenkrad seines Mercedes herum, warf ab und zu einen Blick auf die Uhr und lauschte dem morgendlichen Radioprogramm. „Man Semir, komm schon.“, murrte Ben und sah zur Tür. Endlich kam Semir raus und öffnete die Beifahrertür. „Morgen.“, stöhnte der Ältere und ließ sich in den Sitz gleiten. „Was ist los? Schlecht geschlafen?“, wollte Ben wissen. Semir winkte nur ab und drehte seinen Kopf zur Seite, während er den Gurt anlegte. „Sag mal, verprügelt dich Andrea neuerdings?“, fragte er, als er Semirs geschwollene und blaue Wange sah. Semir sah ihn entsetzt an. „Was? Nein, ich wachte so schon auf.“, erwiderte Semir. „Ah, dann hast du dich also selbst verprügelt. Reicht dir wohl nicht mehr, von den bösen Buben eins aufs Dach zu kriegen.“, scherzte Ben. „Haha, sehr witzig.“, fauchte Semir. Dann sah er die Platzwunde an Bens Stirn, die er mit einem Pflaster verstecken wollte. „Hm, wer hat dir eigentlich eine Tasse an den Kopf geworfen?“, fragte Semir und fasste gegen Bens Stirn. „Lass das, Papa.“, meinte Ben und schlug sachte Semirs Finger weg. „Hey, da ist ja ne Riesen-Beule.“, meinte Semir und seine Stimme klang besorgt. „Mit wem haben wir uns denn geprügelt?“ „Wenn du es genau wissen willst, ich habe einen Spaten ins Gesicht bekommen.“ Semir sah ihn entsetzt an. „Die wollten mich tatsächlich an die Krokodile verfüttern.“, erzählte Ben weiter. „Ich sage ja immer, so ein Zoobesuch kann einen ganz schön mitnehmen.“, meinte Semir während Ben den Wagen startete und losfuhr. Auf der Fahrt zu Dr. Drechsler erzählte Ben seinem Partner, was er rausgefunden hatte.


    Derweil auf dem Domplatz. Toni machte sich für seinen morgendliches Programm fertig, stimmte sein Instrument und unterhielt die vorbeigehenden Leute und die Touristen mit seinem Spiel unterhielt. Viele blieben stehen, warfen ihm einige Münzen und sogar Scheine in seinen Koffer. So machte er stundenlang weiter, erntete Applaus und sein Koffer wurde voller und voller. Doch irgendwann plagte ihn der Hunger. So unterbrach er sein Spiel und ging zu einem Imbiss und bestellte sich eine Kleinigkeit. Da er genug Geld eingenommen hatte, kaufte er sich gleich zwei Bratwürste. Er konnte ja nicht ahnen, dass in diesem Moment Sina und Vladi aus der U-Bahnstation kamen und sich auf dem Platz genau umsahen.


    ...

  • „Sieh mal, dort am Imbiss.“, meinte Sina und deutete auf einen Mann, mittlerer Statur mit kariertem Rock. „Das ist unser Mann.“, erwiderte Vladi und überprüfte seine Waffe. Doch Sina hielt ihn zurück. „Nicht hier vor all den Leuten. Wir beobachten ihn erstmal, bis wir eine besserer Gelegenheit kriegen.“, meinte Sina. Man merkte deutlich, dass sie die Hosen in dieser Beziehung trug, was das Nachdenken anbelangte. „Okay, wie du willst, aber ich will endlich das Geld haben, damit wir hier abhauen können.“, meinte er und sah sich immer wieder hektisch um. Da sich auf dem Platz viele Touristen die Füße fast abtraten, war auch die Polizeipräsenz dementsprechend hoch, um Taschendiebe dingfest zu machen. Sina stieß ihren Freund unauffällig aber energisch in die Seite. „Verlier jetzt nur nicht die Nerven, hörst du? In ein paar Stunden haben wir das Geld und können nach Spanien verschwinden.“, meinte sie und blickte wieder zum Imbisswagen hinüber. Sie sah, wie der Mann sein Instrument in den Koffer packte und ging. „Na komm, hinterher.“, flüsterte sie und beide folgten ihrem stillen Teilhaber, mit dem sie nicht teilen wollten.


    „Tja, Herr Gerkhan, sie haben mal wieder nicht auf mich gehört, oder?“, fragte Dr. Drechsler mit bestimmender, vorwurfsvoller Stimme nach, als er sich Semirs Schwellung angesehen hatte. „Wieso? Natürlich, ich sollte nur flüssiges zu mir nehmen. Nichts, wo ich kauen muss.“, gab Semir die Anweisung des Arztes von gestern wieder. „Und? Haben sie nichts gekaut?“, fragte er Arzt und sah ihn eindringlich an. „Na ja ... vielleicht ein klitzekleines Stück Fleisch zu der Suppe.“, meinte Semir kleinlaut. „Aha.“, meinte Dr. Drechsler und griff in seinen Instrumentenschrank. „Da sie es ja anscheinend nicht lernen, werde ich nun erziehungswirksamere Methoden anwenden.“, meinte er und lächelte ein wenig diabolisch. Semir rückte vor Schreck immer mehr in den Stuhl zurück, während Ben, der aus reiner Freundschaft seinen Partner begleitet hatte, sich grinsend amüsierte. „Was haben sie vor?“, fragte Semir wie ein kleines Kind. „Das Zahnfleisch hat sich entzündet. Ich werde den Zahnstiel ausspülen müssen, was für mich viel mehr schmerzhaft ist, als für sie. Glauben sie mir.“, meinte der Arzt und griff zur Munddusche. „Danach werde ich ihnen eine Spritze gegen die Schwellung geben. Dann hoffe ich, dass ihnen die Prozedur eine Lehre war. In den nächsten drei Tagen nehmen sie nichts weiter zu sich, als Flüssigkeit. Haben wir uns verstanden?“, fragte Dr. Drechsler eindringlich und fuchtelte bedrohlich mit dem Mundspüler vor Semirs Nase herum.


    Dieser nickte nur schnell und ließ seinen Unterkiefer langsam runter. „Ich werde das auch noch mal ihrer Frau sagen, damit sie sich auch wirklich daran halten.“, dann wandte sich der Dentist an Ben. „Und sie passen bitte auch darauf auf.“ „Keine Sorge, das werde ich schon.“, meinte der junge Kommissar und lächelte. Dann setzte der Arzt an und ließ den Wasserstrahl auf Semirs offene Zahnwunde brausen, was bei dem sonst so routinierten Hauptkommissar mehr als Sterne vor den Augen verursachte, doch er versuchte keinen Laut von sich zu geben. Dennoch stöhnte er und das Stöhnen wandelte sich langsam in eine Art Schreien. „Ruhig halten, ist gleich vorbei.“, meinte der Arzt und hielt mit dem Wasserstrahl voll auf den Zahnstumpf. Semir kämpfte gegen die Schmerzen an. Ihm kam dieses „Gleich“ wie eine halbe Ewigkeit vor. Dann ließ der Arzt von Semir ab, streifte seine Handschuhe ab und erhob sich von seinem Stuhl. „Ich will hoffen, dass sie jetzt besser hören.“, verabschiedete Dr. Drechsler seinen Patienten.


    Toni nahm wie immer den Feldweg nach Hause, der ihn auch schon vor einigen Tagen zu seinem unerhofften Reichtum gebracht hatte. Doch dieses Mal war er nicht alleine unterwegs. Sina und Vladi folgten ihm in gebührenden Abstand, den Mann dabei immer beobachtend. Dann schnellten sie in den Wald hinein, liefen unentdeckt an dem Mann vorbei und warteten hinter einer großen Eiche auf die passende Gelegenheit.


    ...

  • da hier alle so fleíßig beim Schreiben sind, will ich auch mal wieder. Und, liebe Leser, die Feeds nicht vergessen. ;)



    Toni lief den matschigen Weg entlang, seine Bonnie dabei im Koffer auf den Rücken geschnallt, und pfiff sich ein Liedchen. Plötzlich verstummte das Lied, Bonnie samt Koffer fielen zu Boden und Toni wurde brachial vom Weg gezerrt. „Ganz ruhig bleiben, dann passiert dir auch nichts.“, fauchte Vladi und drückte dem erschrockenen Mann die Pistole auf die Brust. „Was wollen sie von mir?“, fragte Toni mit zittriger Stimme, drückte sich gegen den Baum und hob abwehrend die Hände. „Das Geld, was du uns gestohlen hast, du Scheißkerl.“, fauchte Sina und sah ihn mit entflammten, tödlichen Blick an. Toni wollte etwas erwidern, dann jedoch packte ihn Vladi am Hals. „Wir haben dich genau gesehen, also leugne es nicht.“, meinte er und drückte dem Mann den Kehlkopf zu. Toni bekam kaum noch Luft, versuchte sich gegen die starken Hände des Mannes zu wehren. Dann trat er ihm zwischen die Beine. Vladi ließ sofort von ihm ab, ging in die Knie und ließ sogar die Waffe fallen. Sina wurde zur Seite gestoßen und Toni rannte, nachdem er sich sein geliebtes Instrument geschnappt hatte, den Feldweg zurück in Richtung Stadt.


    „Los, komm hoch.“, fauchte Sina ihren Freund an und nahm die Waffe an sich. Vladi erhob sich mit stechenden Schmerzen im Lendenbereich. „Dieses Schwein mache ich alle.“, fauchte er mit leicht piepsender Stimme. „Ja, ja. Erstmal müssen wir ihn kriegen.“, rief Sina ihrem Freund zu und rannte hinter Toni her, der langsam aber sicher immer mehr davonzurennen schien. Wenn er die Stadt erreichte, hatten beide kaum eine Chance ihn zu finden.


    Semir und Ben waren inzwischen auf der PASt angekommen, wo Susanne sie schon erwartete. „Hey, ihr Beiden, da draußen sitzt ein älterer Herr, der zu euch möchte.“, meinte sie, als sie ins Büro der Kommissare kam. Dann sah sie Semir, der stumm am Schreibtisch saß und sein Kinn auf seine Hände gestützt hatte. „Was ist denn mit dir los?“, fragte sie und stellte ihm einen Pott Kaffee vor die Nase. „Ach, ihm hat nur jemand einen Zahn gezogen.“, meinte Ben spöttisch. „Schickst du uns bitte den Herrn rein.“, bat er dann die Sekretärin. Susanne entfernte sich und Semir wollte gerade zur Kaffeetasse greifen, als Ben sie ihm aus der hand nahm. „Ey, das ist mein Kaffee.“, meckerte Semir und sah seinen Kollegen genervt und mit abwartenden Augen an. „Du hast genau gehört, was der Doktor gesagt hat. Nicht festes ...“ „Ja, aber.“ „... und nichts, was die Wunde wieder aufreißen könnte. Also kein Kaffee für dich.“, erklärte Ben, brachte den Kaffee raus und kam einige Minuten mit einer neuen Tasse wieder. „Hier, das kannst du trinken.“, meinte er und stellte Semir eine Tasse mit heißem Wasser und einem darin schwimmenden Teebeutel hin. „Was soll das sein?“, fragte Semir mürrisch. „Kamillentee.“, erwiderte Ben und setzte sich ihm wieder gegenüber. „Und was soll ich damit? Ich will sofort mein Kaffee wiederhaben.“, quengelte Semir und schob die Tasse demonstrativ an den Rand. „Das hilft die Entzündung in deiner großen Klappe zu lindern.“, erwiderte Ben leicht genervt. Semir zog die Tasse wieder an sich, hob sie mit verachtenden Blick hoch und schnupperte kurz dran. „Bäh, das ist ja wirklich Kamille.“, meinte er angewidert. „Ja natürlich oder dachtest du etwa Spülwasser?“ „Sieht jedenfalls genauso aus wie Spülwasser. Wo ist der Zucker?“, wollte Semir wissen und suchte nach dem Zuckerbehälter. „Nix Zucker. Trink das so oder ich nehm mir einen Trichter und flöß dir das ein.“, drohte Ben mit geballter Faust. „Schon gut.“, murrte Semir augenzwinkernd und nahm einen ersten Schluck. „Ist ja ekelig.“, meinte der Deutschtürke und stellte die Tasse schnell wieder weg.


    ...

  • Dann brachte Susanne den Zeugen ins Büro. „Semir, Ben, das ist Herr Anton Netzer.“, stellte Susanne den Mann vor, der durch seine dicke Brille auf die Kommissare sah. „Schön, setzen sie sich bitte.“, bat Ben den älteren Herren mit dem schneeweißen Haaren und dem eleganten Gehstock. „Ich danke.“, erwiderte er mit leicht lispelnder Stimme. „Was haben sie gesehen, Herr Netzer?“, fragte Ben und sah abwechselnd zum Zeugen und dann wieder zu Semir, der immer noch mit mäkeligem Gesichtsausdruck den Kamillentee schlürfte. Dies tat er mit demonstrativen Geräuschen, dass ihn der alte Herr anfuhr. „Können sie mal damit aufhören? Kein Benehmen mehr, die jungen Leute heutzutage.“, fauchte er und sah Semir mit seinen tiefblauen Augen an, die bei dem Hauptkommissar sofort Erinnerungen an seine strengen Lehrer hervorriefen. Sie hatten auch immer solch einen Blick drauf, wenn Semir sich mit Toni mal wieder um die Wochenendplanung kümmerte, anstatt um die Matheaufgaben. „Tschuldigung.“, meinte Semir kleinlaut und stellte die Tasse dann weg. „Nochmals, was haben sie gesehen?“, wiederholte Ben seine Frage. Der Mann berichtete, dabei seine Hände auf den Gehstock gestützt, wie der Wagen durch Brückengeländer raste und sich einige Male überschlug.
    „Und dann kam ein Mann aus dem Waldweg gelaufen und ging zum Auto.“, erzählte Herr Netzer und sah Ben an. „Können sie den Mann beschreiben?“, fragte Semir und stand nun hinter Herrn Netzer, der sich etwas mit dem Kopf drehte. „Er war auffällig angezogen, trug so einen karierten Rock und eine Art Blasebalg bei sich.“ Bei diesen Worten hörte Semir auf, seine Ohren auf Empfang gestellt, sein Hirn grübelte über die eben gehörten Worte. „Sind sie sicher?“, fragte Semir nochmals. „Ich mag zwar graue Haare und etwas mehr Falten als sie haben, aber ich bin nicht verkalkt.“, erwiderte Herr Netzer ein wenig erbost über das Zweifeln dieses kleinen Mannes. „Das hat niemand behauptet.“, beruhigte Ben den Mann. „Ihr Kollege anscheinend schon.“ „Entschuldigen sie, aber was genau hat der Mann denn getan, als er am Auto war?“, fragte Semir und stand nun direkt neben Netzer, seine Hand dabei auf die Stuhllehne gestemmt. „Ich sah nur, wie er etwas aus dem Wagen nahm, nachdem er sich am halbseitig herausgefallenen Fahrer scheinbar zu schaffen gemacht hatte.“, erzählte der alte Herr und Semir hörte genau zu. In ihm keimte ein Verdacht, den er nicht für wahr haben wollte, doch sollte es wirklich sein?
    „Semir, alles okay mit dir?“, fragte Ben, als er die Geistesabwesenheit seines Partners bemerkte. „Hm, ich hab nur kurz an was gedacht.“, meinte er entschuldigend und ließ seine Blicke dann nachdenklich schweifen. „Ich muss weg.“, verkündete Semir, schnappte sich Jacke und Autoschlüssel und war weg bevor Ben etwas sagen konnte. „Ey Semir, hallo?“, rief dieser hinterher und sah Herrn Netzer ebenso verblüfft an, wie dieser Ben ansah. Doch Semir hörte nichts. Zu laut waren die Gedanken, die in seinem Kopf kreisten.


    Sina und Vladi verfolgten noch immer Toni, dessen Puste sich langsam verringerte. Der Dudelsack war zwar ein Instrument, zu dessen Spiel man gerade ein großes Lungenvolumen brauchte, doch er wusste, dass es keine Sprinterlunge war. Dennoch bemühte er sich, diese Gangster so gut es ging abzuschütteln. Ohne Vorsicht walten zu lassen, rannte er über eine viel befahrene Straße. Autos hupten irrsinnig, stellten sich quer, vereinzelt rasten sie ineinander. Doch Toni kam unbeschadet auf die andere Seite. Ohne sich nach den Fahrzeugen umzudrehen, rannte er weiter. Er wusste, dass die Beiden noch hinter ihm her waren. Er musste einfach weiter rennen. Zu Glück war dies sein Kiez, hier ist er groß geworden und kannte so jede kleine Straße, wusste wo und wie er sich verstecken konnte.


    ...

  • So schlug er seinen Verfolgern ein Schnippchen, entwich in eine Seitengasse und kletterte über eine Mauer. Damit war er vorerst vor seinen Verfolgern sicher. Sein Atem tobte wie ein Hochgeschwindigkeitsmotor, als er ihre Stimmen hinter der Mauer hörte. „Verdammt, wo ist er hin?“, fauchte die Frau. „Vielleicht hinter dieser Mauer.“, hörte Toni die ruhige Stimme des Mannes, den er in die Kronjuwelen getreten hatte. Scheinbar war alles wieder in Ordnung. Schnell musste der Musiker hinter der Mauer weg. Er rannte los. „Hey, bleib stehen.“, hörte er nur die grobe Stimme und dann einen Knall. Er spürte einen Schlag an seinem linken Arm. Es brannte höllisch, doch er konnte jetzt nicht stehen bleiben. „Lass das. Wir brauchen ihn lebend.“, fauchte Sina und schlug Vladi die Pistole aus der Hand. Die Waffe fiel über die Mauer in eine der Mülltonnen und war außer Sichtweite Vladis. „Man, toll. Jetzt haben wir keine Waffe mehr. Und womit sollen wir den jetzt das Geld rauspressen?“, fragte Vladi mit stinkigem Unterton. „Jetzt kritisier mich nicht. Hol die Waffe wieder.“, fauchte Sina und gab ihrem Freund einen leichten Hieb auf die Schulter. „Schon gut.“, murrte er und kletterte über die Mauer. Die Beiden hatten Pech, denn Toni war, trotzt der Verwundung, über alle Berge. „Ich hab sie.“, rief er aus und sah sich um. Plötzlich stand eine ältere, türkische Dame im Hof und sah ihn mit großen Augen an. Er grinste nur frech und steckte schnell die Waffe unauffällig weg. „Nun komm schon da weg.“, flüsterte Sina und zog ihren Freund wieder auf die andere Seite der Mauer. Die Frau schüttelte den Kopf und ging wieder zurück ins Haus, nachdem sie den Müllbeutel in die Tonne geworfen hatte.


    Toni war derweil heil, aber dafür völlig erschöpft in seinem Haus angekommen. Sein Arm schmerzte und er sah dauernd kleine, weiße Punkte vor seinen Augen. Langsam schleppte er sich die Treppen hoch. Immer wieder musste er kurze Pausen machen und nach Luft schnappen. Seine Hand war schon ganz blutig, doch er schaffte es in die Wohnung und ließ alles von sich fallen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog er sich Hemd und T-Shirt aus und ging ins Bad. Er ließ einen Lappen voll Wasser laufen und presste ihn auf die Wunde und wischte sich das Blut vom Arm. Er presste die Zähne zusammen, als das Wasser in die frische Wunde trat. „Jetzt reiß dich zusammen.“, sagte ihm sein Verstand. „Gib jetzt nur nicht auf. Halte durch. Diese Gangster dürfen das Geld niemals kriegen.“, meinte sein Gehirn. In seinem Kopf arbeitete es. Ein genialer Plan reifte in ihm heran.
    Semir fuhr mit dem Wagen in die Straße ein, wo Toni wohnte und parkte den Wagen vor der Haustür. Schnell stieg er aus und lief die Treppen hinauf. Unterwegs fielen ihm kleine rote Flecken ins Auge. Der Deutschtürke blieb stehen und wischte einmal mit dem Finger durch. „Das ist Blut.“, dachte er und ließ es zwischen Daumen und Zeigefinger verrinnen. Dann ging er weiter und klingelte im Dauerton bei Toni.


    ...

  • Toni war gerade damit fertig, sich den Arm zu verbinden, als er das schrille Klingeln seiner Türglocke vernahm. Leise lauschte er. Er wollte jetzt eigentlich niemanden sehen. Doch der Mann vor der Tür ging nicht weg. Langsam schritt Toni auf die Tür zu und schaute durch den Spion. Er sah Semir vor der Tür stehend mit ziemlich genervtem Gesicht und immer wieder auf die Klingel drückend. Toni wich kurz zurück, krempelte sich den Ärmel am verletzten Arm runter und öffnete die Tür. „Semir, was machst du denn hier?“, fragte er mit aufgesetztem Lächeln. Doch Semir stapfte nur in die Wohnung ohne ein Wort der Begrüßung. „Toni, ich muss mit dir reden.“, meinte Semir und sah seinen Freund mit ernster Miene an. Dieser konnte sich natürlich denken, um was es ging. Dennoch spielte er den Unwissenden, auch wenn er dadurch das freundschaftliche Verhältnis auf Dauer gefährdete. „Was hast du denn auf dem Herzen?“, fragte er und tat, als wenn nichts gewesen wäre. „Toni, vor einigen Tagen ist an der Feldbrücke ein schwerer Unfall passiert.“, fing Semir an zu erzählen. „Du bist durch einen Zeugen am Tatort gesehen worden.“, fügte er dann hinzu und merkte, wie Toni sichtlich nervöser wurde. Semir war dafür einfach zu lange Bulle, um dies zu ignorieren. Es war eine Berufskrankheit, die er weder kontrollieren noch abstellen konnte. „Ich? Das kann eigentlich nicht sein.“, erwiderte Toni und versuchte dabei so locker und ruhig wie möglich zu wirken. Aber Semir durchschaute genau seine Masche und wurde langsam wütend. „Hör zu, du wurdest am Unfallwagen gesehen. Also hör auf, mir solchen Scheiß aufzutischen.“, fauchte Semir und Toni sah seinen Kumpel erstaunt an. Solch harsche Worte hatte er nicht mehr seit der Schulzeit von Semir gehört, als Tonis Freundin ihn damals verlassen hatte, er nicht darüber reden wollte und sich lieber zudröhnte. Damals war Semir für ihn da und hat ihn von weiteren Dummheiten abgehalten.


    Toni spürte, dass es sinnlos war, sich gegen Semir zu stellen. Wenigstens die Sache mit dem Unfallwagen sollte er zugeben. Vielleicht würde sich Semir damit zufrieden geben, so spekulierte er. „Semir, ich.“, fing er an und sah, dass Diskutieren keinen Sinn bei Semir hatte. So ließ sich Toni auf die Couch nieder und fing an. „Es stimmt, ich kam den Feldweg entlang, als der Wagen da lag.“, fing er an und Semir setzte sich auf den Beistelltisch, Toni gegenüber. „Wieso hast du nicht geholfen? Wieso hast du nicht die Polizei gerufen?“, fragte Semir und seine Stimme klang dabei regelrecht anklagend. Diesen Ton war Toni nicht vom Deutschtürken gewohnt. Mit großen Augen sah er seinen Schulfreund an und knetete dabei seine Hände. „In dem Auto lag ein junger Mann im Sterben. Du hättest ihm helfen können.“, mahnte Semir und sah mit seinen großen, braunen Augen in die von Toni. Doch der sprang auf. „Ich konnte ihm nicht mehr helfen. Er war schon tot.“, fauchte Toni, sprang auf und fasste sich an die Stirn. Dann ließ er sich wieder auf das Sofa sinken. Semir, vom Ausbruch seines Freundes verwundert, ließ die Hand auf dessen Schulter sinken und klopfte kurz darauf. Unter der Fassade lächelte Toni in sich hinein. „Ein Jahr Schauspielunterricht scheinen sich gut bezahlt zu machen.“, dachte er und grinste unter der Hand hämisch. Mit gespielter Betroffenheit sah er zu Semir auf. „Würde es dir was ausmachen, zu gehen. Ich möchte jetzt alleine sein.“, bat er, doch Semir war noch nicht mit ihm fertig. „Noch nicht. Ist dir bei der Untersuchung des Toten irgendwas aufgefallen? Hatte er eine Sporttasche bei sich? Oder ist dir sonst irgendwas aufgefallen?“, fragte Semir eine Frage nach der anderen und packte, völlig unbewusst, Toni an der Stelle, wo er den Streifschuss kassiert hatte. Toni verzog das Gesicht und biss sich auf die Zähne. Das merkte Semir natürlich sofort.


    ...

  • „Was ist?“, fragte er sofort besorgt und nahm die Hand wieder weg. Der Hauptkommissar sah mit geschocktem Blick auf den Ärmel des Hemdes, auf dem sich langsam ein roter Fleck bildete und immer größer wurde. „Toni, woher kommt das Blut?“, fragte Semir und sah seinen Freund eindringlich an. Doch Toni vermied jeglichen Blickkontakt, drehte sich weg und erwiderte nichts. „Ich will dir helfen, aber das kann ich nur, wenn du mir sagst, was passiert ist.“, mahnte Semir und drehte das Gesicht von Toni zu sich. „Lass los.“, forderte Toni und zog seinen Arm aus Semirs Umklammerung. Der Deutschtürke ließ ab und hatte immer noch diesen vorwurfsvollen Blick aufgesetzt. „Toni, entweder du erzählst mir jetzt hier alles in Ruhe, und zwar von Anfang an oder ich nehm dich mit auf die Wache und lass dich von meinem Partner verhören.“, drohte Semir mit ausgestrecktem Zeigefinger. „Und glaub mir, der versteht kein Spaß.“, fügte er drohend hinzu. Toni schien diese Drohung nichts auszumachen. „Wenn du unsere Freundschaft opfern willst, dann bitte.“ „Nein, das will ich nicht, aber dann sag mir endlich, was los ist und woher diese Wunde stammt, verdammt noch mal.“, schrie Semir. Toni zuckte zusammen. So hatte er seinen Freund noch nie erlebt. Seine Augen waren richtig geweitet und starrten ihn erbost an. Toni gab jedoch nicht nach. „So ein Sturkopf.“, dachte sich Semir und packte seinen Freund am Arm und zog ihn Richtung Wohnungstür. „Dann eben auf die harte Tour.“, maulte der Hauptkommissar, warf Toni seine Jacke zu und nahm dessen Schlüssel. So führte er seinen ehemaligen Schulfreund wie einen Schwerverbrecher zum Wagen und brachte ihn auf die PASt.



    Das Schauspiel wurde jedoch beobachtet. Sina und Vladi hatten sich in einer Ecke hinter den Müllcontainern versteckt. Sie waren den heruntergetropften Blutspuren bis hierher gefolgt. „Scheiße, der wurde von den Bullen kassiert.“, fauchte Vladi. Sina sah ihn nur an. „Du bist echt dämlich. Jetzt können wir doch seine Wohnung besser durchsuchen.“, entgegnete sie und gab ihrem Freund einen Katzenkopf. „Ey, lass das.“, meinte er und lächelte sie an. Dann sahen sie, wie der BMW wegfuhr. „Los komm, oder willst du hier Wurzeln schlagen?“, fragte Sina und zog ihren Freund hoch. Langsam öffnete er mit seinem Dietrich die Wohnungstür und schon fing die Sucherei an.


    Semir stand hinter der gläsernen Trennwand und beobachtete Ben, wie dieser sich mit kriminalistischer Genauigkeit und aufbrausendem Temperament über Toni hermachte, der still und ruhig auf dem Stuhl saß und ließ Bens Vorwürfe nur so an sich abprallen. „Jetzt langt’s aber.“, fauchte Ben und schlug auf den Tisch. Toni rührte sich nicht. Er saß vor Ben, die Hände auf den Tisch und sah den Kommissar mit gleichgültigem Gesicht an. „Noch mal. Sie sind am Unfallort gesehen worden. Was haben sie da gemacht?“, wollte Ben wissen und ließ seine Wut langsam abklingen. „Ich war auf dem Weg nach Hause. Das ist mein normaler Weg zu meiner Wohnung, wenn ich vom Auftritt komme.“, erwiderte Toni und sah Ben herausfordernd an. „Was haben sie dann gemacht?“ „Ich habe versucht dem Mann zu helfen, aber er war schon tot.“, entgegnete Toni fauchend. „Und was geschah dann?“, wollte Ben genervt wissen. Toni lehnte sich nach hinten. „Nichts, ich bin dann weiter gegangen. Ich konnte ihm doch nicht mehr helfen.“, meinte Toni mit entschuldigender Stimme. Semir hörte genau zu, dann kam ein Beamter in den Raum. „Semir, das hier hat die KTU auf der Tasche, in der das Geld war, gefunden. Es sind Fingerabdrücke. Sie stimmen mit seinen überein.“, meinte der Beamte und deutete durch die Trennwand auf Toni.


    ...

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