Von den Lebenden und den Toten

  • 15. Oktober 2008,


    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 21:50



    Anna saß mit dem Telefon in der Hand auf der Couch im Wohnzimmer und lauschte Andrés Stimme, der ein wenig was von seinem Tag in Avignon erzählte.

    Am Nachmittag hatte Meyer sich schließlich auf eine Zusammenarbeit mit der Autobahnpolizei eingelassen und ihr alle Unterlagen im Fall Krämer überlassen, die sie gemeinsam mit Ben und Semir in der PAST durchgegangen war.

    Ben hatte noch am Abend eine Idee gehabt, wie sie dem Maulwurf eventuelle eine Falle stellen konnten. Sie konnten einfach behaupten, Beweise im Autowrack gefunden zu haben und ihn damit aus der Reserve locken.

    Die Idee war gut und Anna war ganz klar der Meinung, dass sie es auf jeden Fall versuchen sollten. Hartmut würde ihnen dabei mit Sicherheit zu Handgehen, diese ‚Beweise‘ zu fingieren.

    In Absprache mit Meyer hatten sie sich darauf geeinigt, es bereits am nächsten Tag zu versuchen.


    „Hörst du mir überhaupt noch zu?“, die Frage riss Anna aus ihren Gedanken und sie musste kurz ertappt grinsen.


    „Doch, schon...!“


    „U-hm... Dann stimmst du mir als zu, das Schweine fliegen können und Katzen auch?“


    „Was? Nein, natürlich nicht!“ Sie lachte, wurde dann aber recht schnell wieder ernst.


    „Entschuldige... Ich bin einfach nur müde und hatte einen beschissenen Tag...“


    „Was ist denn los?“


    Anna erzählte Fux von dem Unfall, Max Degenbach und was sein Vater ihr an den Kopf geworfen hatte.


    „Vielleicht hat er sogar recht und ich bin tatsächlich mit schuld an dem, was passiert ist...“


    „Das ist doch völliger Blödsinn und du hörst sofort auf dir das einzureden! Anna, der, der ihn verraten hat, ist schuld an seinem Tod! Aber ganz sicher nicht du!“


    „Ja... vermutlich hast du recht... Es ist nur...“ Die Polizistin schluckte und brach ab.


    „Was ist ‚nur‘...?“ Andrés Stimme klang sanft und er gab ihr Zeit zu antworten, hörte er doch selbst durch das Telefon, dass da noch etwas anderes, viel tiefer liegendes war.


    „Ich bin in letzte Zeit einfach so unglaublich müde und habe die Arbeit zwischendurch so satt!“, brach es schließlich aus ihr hervor und Fux konnte sich sofort denken, von was für einer Mündigkeit sie da sprach, hatte er sie doch vor 10 Jahren selbst schon einmal gefühlt.


    „Du gibst jeden Tag dein Bestes und trotzdem habe ich das Gefühl, einfach nichts Positives mehr zu bewirken. Das Schlechte und Böse scheint fast überall zu sein und egal wie viele Verbrecher wir aus dem Verkehr ziehen, sofort kommen zehn neue von irgendwoher! Ich habe es einfach so satt deren Dreck wegzuräumen!“


    „Mein Schatz, ich weiß, wo von du redest... Das ist genau der Grund, warum ich damals aufgehört habe...“ André machte eine kurze Pause, fragte dann aber:


    „Soll ich nach Köln kommen? Ich kann schon morgen Nachmittag den Flieger nehmen.“

    Das trieb Anna unwillkürlich ein Lächeln auf die Lippen.


    „Nein, ist schon okay. Du hast morgen Nachmittag doch das Treffen mit den potenziellen Kunden aus Österreich.“


    „Oh, du hast mir also doch zugehört. Das ist aber nicht so wichtig und mit denen kann sich auch jemand anderes Treffen und die Weinprobe machen. Und ich kann auch den letzten Flieger morgen Abend nehmen.“


    „André das ist lieb, aber wirklich nicht nötig. Sie den Ausbruch gerade als Ausdruck unglaublicher Frustration an. Mehr aber auch nicht. Das gibt sich schon wieder...“ Ganz wollte sie jedoch ihren eigenen Worten nicht glauben.


    „Sicher?“


    „Ganz sicher!“


    „Also schön... Vielleicht komme ich trotzdem schon morgen Nacht!“


    „Abhalten werde ich dich davon bestimmt nicht!“




    17. Oktober 2008:


    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 07:30 Uhr



    „Leonie hast du alle deine Hefte in deine Schultasche gepackt?“, rief Anna fragend aus der Küche in Richtung Badezimmer, wo die Tochter soeben Zähne putzte.

    Der kaum zu verstehen Laut, der aus dem Bad antwortete, sollte vermutlich ein ‚Ja‘ sein. Als Leo kurz darauf aus dem Bad kam, musste sie allerdings doch noch ein Heft mit ihren Hausaufgaben einpacken, dass sie beinahe vergessen hätte.


    „Musst du heute wieder so lange arbeiten wie gestern, Mama?“ fragte die Achtjährige etwas mürrisch, während sie sich ihre Schuhe anzog.


    „Nein mein Schatz, das muss ich nicht.“ Anna lächelte. „Heute habe ich ganz viel Zeit für dich. Was hälst du davon, wenn ich dich heute Mittag von der Schule abhole und wir dann zusammen in die Stadt fahren, um dir deine neuen Sportschuhe zu kaufen?“


    „Oh ja bitte!“ Leonie nickte heftig. „Können wir dann auch ein Eis essen gehen?“


    „Wir können dann auch ein Eis essen gehen.“ Das Lächeln auf dem Gesicht der Tochter wurde noch breiter, allerdings fragte sie noch einmal nach:


    „Versprochen, dass wir heute Eis essen gehen?“


    „Versprochen!“, bestätigte Anna, als sie ihr die Jacke reichte. „Und viel Glück bei dem Mathetest heute, mein Schatz!“ Sie strich Leo über den Kopf.


    „Ach, der ist bestimmt ganz leicht. Ich habe am Telefon mit Paps geübt.“


    „Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen!“ Anna lächelte und küsste zum Abschied ihre Stirn. „Viel Spaß in der Schule! Ich habe dich lieb!“ Leonie stürmte leichtfüßig die Treppen im Flur herunter und winkte, bevor sie durch die Haustür verschwand.



    Die Chefin schloss die Wohnungstür und ging ein wenig unschlüssig zurück in ihr Arbeitszimmer, wo sie sich an den Schreibtisch setzte, auf dem ein paar Unterlagen zum Tod von Max Degenbach lagen.

    Auch wenn sich gestern Abend eigentlich alles aufgeklärt hatte, und sie den Maulwurf identifiziert und geschnappt hatten, ließ ihr der Fall keine Ruhe.

    Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen, nach dem sie nach dem Zugriff eh schon sehr spät nach Hause gekommen war.

    Es passte einfach alles viel zu gut zusammen und sie hatte das Gefühl irgendetwas übersehen zu haben!


    Am Tag zuvor hatten sie Hartmut einen Bericht anfertigen lassen, laut dem er eine recht kaputte Festplatte im Wrack von Degenbachs Wagen gefunden hatte, die er dabei war in der KTU wiederherzustellen.

    Ben und Semir hatten in ihrem Bericht dazu erwähnt, dass sie glaubten, das sich vermutlich belastendes Material auf der Festplatte befand.

    Beide berichte hatten sie selbstverständlich der SOKO Krämer zukommen lassen.

    Dann hieß es abwarten.


    Sie hatten die KTU, in der sich die angeblichen Beweismittel befanden mit mehreren Beamten überwacht und fürchtete schon fast das ihr Plan nicht aufgegangen war, als Hauptkommissar Schmidt plötzlich auftaucht war.

    Als sie ihn zur Rede stellen wollten, geriet dieser unvermittelt in Panik und flüchtete.

    Ben, Semir und auch Kriminaloberrat Meyer hatten die Verfolgung aufgenommen und ihn bis zum Deutzer Hafen verfolgte, wo es auf Schmidts Boot zu einer Schießerei gekommen war, bei der Meyer angeschossen wurde und daraufhin Schmidt erschossen hatte.

    Gerkhan und Jäger hatten sich auf dem Weg dorthin mit einem 40-Tonner angelegt und waren erst eingetroffen, als Schmidt schon tot war.

    Kurz überlegte die Chefin, ob sie doch in die PAST fahren sollte, entschied sich spontan jedoch für einen anderen Ansatz.






    17. Oktober 2008


    PAST, 07:50 Uhr




    In der PAST hatte Semir sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen.

    Genau wie seine Chefin hatte er das Gefühl, das hier etwas einfach nicht stimmte. Alle Fragen waren restlos beantwortet und alle offenen Enden z in Windeseile zusammengeführt worden, als sie gestern im Hafen ihren Kollegen Schmidt tot auf seinem Boot gefunden hatten, nach dem Robert Meyer ihn in Notwehr erschossen hatte.

    Gerkhan glaubte einfach nicht, dass Schmidt der Maulwurf im LKA gewesen war.


    „Morgen!“ Ben kam gerade mit einer Tüte Brötchen bewaffnet in das Büro. „Und ich dachte ich wäre heute früh dran! Warst du etwa die ganze Nacht hier?“


    „Ja... Bei diesem Fall stimmt irgendetwas nicht! Das habe ich einfach im Urin! Ich hätte einige Fragen an Schmidt gehabt!“ Gerkhan warf frustriert einen Kugelschreiber auf seinen Schreibtisch.


    „Es ist ärgerlich das wir den Maulwurf nicht mehr befragen können, aber Meyer hat ihn ja nicht mit Absicht erschossen, sondern in Notwehr, nach dem Schmidt auf ihn geschossen hat.“


    „Und wenn es doch Absicht war?“


    „Warum sollte Kriminaloberrat Meyer einen seiner Leute erschießen?“


    „Weil er vielleicht nicht so unschuldig ist, wie wir glauben?“


    „Die Chefin war ziemlich deutlich, als sie gesagt hat, dass er über jeden Zweifel erhaben ist...“ grummelte Ben, der von ihr ziemlich angefahren worden war, als er mehr aus Spaß gefragt hatte, was sie machen sollten, wenn Meyer selber der Verräter war.


    Gerkhan nickte jetzt sehr bedächtig und gab zu bedenken:


    „Vielleicht will sie auch nur das sehen, was sie sehen will. Immerhin war er ihr Mentor und sie verdank ihm einen Teil ihrer Karriere...“


    I dance in tune with what I fear,

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    Cause' it's overrated how we underrate!

  • 17. Oktober 2008


    Wohnung von Robert Meyer, Köln Mühlheim, 08:53 Uhr.



    „Anna! Das ist ja eine Überraschung, komm rein!“ Robert Meyer trat lächelnd beiseite und ließ seine ehemalige Schülerin in die Wohnung.


    „Tut mir leid, dass ich dich schon so früh überfalle, Robert.“ Die Chefin lächelte leicht verlegen, was ihr damaliger Ausbilder aber mit einem knappen Kopfschütteln abtat.


    „Ach quatsch, das tust du nicht. Ich wollte gerade Frühstück machen. Möchtest du auch etwas essen?“


    „Einen Kaffee würde ich nehmen. Wie geht es deinem Arm?“ Anna folgte ihm in die Küche und nahm am Tresen Platz, während Robert an die Kaffeemaschine trat.


    „Alles bestens! Ist ja nur ein Streifschuss. Trinkst du deinen Kaffee immer noch schwarz?“


    „Ja, danke!“ Nachdem er ihr die Tasse gereicht hatte, fing er an sich am Herd ein Rührei zu machen, sah aber fragend zu seiner Kollegin.


    „Was führt dich hier her, Anna?“


    „Mir lässt der Fall einfach keine Ruhe...“ gab die Chefin nach kurzem Zögern zu. „Irgendetwas stimmt da nicht...“


    Meyer sah sie recht lange prüfend an, ehe er fragte: „Was glaubst du denn, stimmt da nicht? Wir haben den Maulwurf und Degenbachs Mörder geschnappt.“


    „Ja... Ja vielleicht haben wir das. Aber findest du nicht, dass das alle zu glattging? Alles zu einfach gegangen ist?“


    „Wie genau meinst du das?“ Er sah sie weiter sehr aufmerksam an.


    „Das weiß ich eben nicht so genau...“ Sie zuckte ratlos mit den Schultern. „Deswegen bin ich vermutlich auch hier.“ Anna lächelte nun in seine Richtung „Mir Rat bei meinem Lehrer holen, weil ich nicht weiterweiß.“

    Das Klingeln ihres Handys durchbrach die kurz entstanden Stille. Als sie sah das es Semir war der anrief, entschuldigte sie sich kurz und nahm das Gespräch entgegen.


    „Semir, was gibt es?“


    „Chefin, Ben und ich sind da gerade auf etwas gestoßen! Wir glauben nicht, dass Schmidt der Maulwurf beim LKA war!“


    „Wie kommen sie darauf?“


    „Wir haben uns die Bilder vom Tatort noch einmal angesehen. Schmidt hat die Waffe, mit der er auf Meyer geschossen hat, in der rechten Hand!“


    „Ja und?“


    „Chefin sein Schulterholster hat er auch rechts getragen... Das heißt er ist eigentlich Linkshänder.“


    Anna schluckte schwer als sie begriff was das hieß. Sie glaubte schon zu wissen, was Gerkhan als nächstes sagen würde.


    „Und das legt die Vermutung nahe, dass ihm jemand die Waffe in die Hand gelegt hat... Auch wenn sie es nicht hören wollen: Dafür kommt leider nur eine einzige Person infrage...“


    „Anna stimmt etwas nicht?“ Der Kriminaloberrat hatte seine Kollegin vom Herd aus beobachtet, während sie mit ihrem Kommissar sprach.

    Am anderen Ende der Leitung hatte auch Semir die Stimme von Meyer gehört und fragte jetzt alarmiert: „Chefin sind sie etwa bei ihm?“


    „Äm, ja. Tun sie das Semir.“ Antwortete Anna leicht ausweichend.


    „Chefin, Ben und ich sind auf dem Weg! Sehen sie zu, dass sie da wegkommen!“


    „Ja, ist gut. Melden sie sich, wenn es etwas Neues gibt...“ Damit legte die Engelhardt auf und steckte das Handy zurück in die Hosentasche.




    Als sie jetzt zu ihrem ehemaligen Mentor sah, wusste sie umgehend, dass sie einen riesen Fehler gemacht hatte.

    Dieser begriff in derselben Sekunde, dass sie Bescheid wusste.

    Ein bitteres Lächeln trat auf seine Lippen. „Du und deine Leute... Ihr seid gut! Wie habt ihr es rausgefunden?“


    „Du warst nachlässig und hast einen Fehler gemacht, Robert. Genau wie ich einen Fehler gemacht habe, als ich dir vertraut habe!“ Anna schüttelte völlig geschockt und verständnislos dem Kopf. „Warum?!“


    „Ich habe für den Job alles gegeben! Meine Ehe, meine Gesundheit! Alles! Und wofür? Für die kleine Rente die ich bald bekommen soll?“ Er schüttelte verbittert den Kopf.


    „Ich habe nicht vor die letzten guten Jahre, die ich noch habe, zu vergeuden!“


    Er trat vom Herd weg und wollte in Richtung Tür gehen.

    Die Chefin war jedoch auch aufgestanden und versperrte ihm den Weg. Automatisch griff sie an die Stelle wo normalerweise ihr Holster und die Dienstwaffe war, nur um jetzt ins Leere zu fassen.

    Die Polizisten schloss kurz die Augen.

    Ihre Waffe lag zu Hause im Safe, da sie nicht im Traum auf die Idee gekommen wäre sie hier zu brauchen.

    Trotzdem wich sie nicht vor ihm zurück. „Bleib stehen! Es ist vorbei!“


    „Deine Leute sind also schon auf dem Weg hier her... Anna, geh zur Seite!“


    „Nein!“, sie schüttelte entschieden mit dem Kopf. Er zögerte einen kurzen Moment, ging dann aber doch auf sie zu und holte zum Schlag aus.


    Damit hatte sein ehemaliger Protegé jedoch gerechnet, duckte sich geschickt weg und holte ihrerseits aus. Anna landete einen Treffer, der Mayer kurz aus der Balance brachte.


    Zeitgleich musste er amüsiert lächeln, während er etwas Blut ausspuckte.


    „Wie in alten Zeiten...“, murmelte er.




    Ja, das war wie in alten Zeiten und die Chefin fühlte sich für ein paar Sekunden in die Vergangenheit zurückversetzt.

    War plötzlich wieder die blutjunge, unerfahrene Polizeibeamtin, die von einem ihrer ersten Einsätze kam, bei dem sie kräftig Prügel bezogen hatte.

    Sie und ihr Ausbilder, Robert Meyer, waren zu einer Kneipenschlägerei gerufen worden. Bei ihrer Ankunft hatte sie keiner der anwesenden Kerle für voll genommen, sondern sich nur über ‚das Püppchen in Uniform‘ lustig gemacht.

    Im anschließenden Handgemenge und bei der Verhaftung der zwei Kontrahenten hatte sie mehr als einen schmerzhaften Treffer einstecken müssen.


    Zurück auf dem Revier hatte sie von ihrem damaligen Chef nur sehr wenig Mitleid und keinen Zuspruch bekommen. Er war ein Polizist der alten Schule und grundsätzlich gegen Frauen im Polizeidienst.


    „Da zeigt es sich wieder! Das schwache Geschlecht kann sich einfach nicht durchsetzen!“ hatte er nur kommentiert.


    Anna wusste noch genau, wie sie kurz darauf vor Wut heulend in der Umkleide gesessen hatte, wo Meyer sie schließlich gefunden hatte.


    „Du hast jetzt genau zwei Möglichkeiten.“ Hatte er damals gesagt. „Entweder du findest dich damit ab das ‚Püppchen in Uniform‘ zu sein, die keiner ernst nimmt, oder du lernst dich zu wehren und sorgst dafür, dass sie dich ernst nehmen!“


    Und sie hatte gelernt sich zu wehren.


    Nach Dienstschluss hatte sie sich über Wochen zum Sparring mit Meyer getroffen und er hatte ihr nicht nur gezeigt wie man Boxte, sondern auch noch ein paar andere Tricks, die an der Polizeischule nicht auf dem Lehrplan standen.

    Als sie das nächste Mal zu einer Kneipenschlägerei ausrücken musste, war sie es gewesen die kräftig ausgeteilt und sich keine blutige Nase geholt hatte.

    Im Hier und Jetzt wurde sie jedoch deutlich daran erinnert, dass dies mittlerweile 24 Jahre her war...



    Meyer war zwar 12 Jahre älter als sie, aber auch einen guten Kopf größer und fast doppelt so schwer.

    Die Chefin blockte noch zwei weitere Treffer, musste dann jedoch einen besonders kräftigen Schlag einstecken, der sie benommen zu Boden gingen, ließ.

    Meyer nutzte die Zeit, um nach seiner Waffe zu greifen und über den Balkon auf das angrenzende Flachdach des Nebengebäudes zu kommen.

    Draußen auf der Straße war bereits die Sirene von Bens Dienstwagen zu hören. Durch das Treppenhaus zu fliehen machte also keinen Sinn mehr.

    Im Wohnzimmer rappelte Anna sich derweil wieder auf und setzte ihm nach, die Benommenheit mit jedem Schritt weiter abschüttelnd.


    „Robert bleib stehen!“, rief sie ihm nach, als sie auf dem mit Kieselsteinen bedeckten Dach hinter ihm herrannte.


    „Anna, bleib, wo du bist! Ich will dich nicht verletzten!“ Er schoss in ihre grobe Richtung und zwang sie so hinter einer Ecke in Deckung zu gehen.


    „Robert es ist vorbei! Du hast keine Chance zu entkommen!“


    Vor dem Haus kam der Mercedes mit quietschenden Reifen zum Stehen und Meyer fluchte, sich leicht panisch umsehend, nicht genau wissend, wohin er laufen sollte.


    „Weißt du was das Lustigste ist?“, rief er in Richtung der Chefin. „Ich wusste das du mir gefährlich werden könntest, von dem Moment an, als du mein Büro betreten hast. Die Schülerin hat den Meister einmal mehr übertroffen...“


    „Dann weißt du, dass es vorbei ist!“


    „Ich gehe nicht ins Gefängnis!“ Er wandte sich halb um, schoss noch einmal in ihre grobe Richtung, ohne jedoch wirklich hinzusehen und setzte zu einem Sprint über das Dach an. „Das musst du doch verstehen!“, rief er und warf noch einmal einen kurzen Blick über die Schulter.


    Schlittern kam Meyer im nächsten Moment auf den Kieselsteinen zum Stehen, die Augen weit aufgerissen!



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  • 17. Oktober 2008


    Köln Mülheim, Düsseldorfer Straße, 09:04 Uhr



    „Ben gib Gas! Nu mach schon!“ feuerte Semir seinen Partner an, der seinen Dienstwagen eh schon mit rasanter Geschwindigkeit durch die Stadt jagte.

    Seit er das Telefonat mit der Chefin beendet hatte, hatte er ein ganz eigenartiges Gefühl.

    Warum zum Teufel hatte sie an diesem Morgen zu Meyer fahren müssen?!

    Gerkhan beantwortete sich die Frage sofort selber:

    Weil sie ihm Vertraut hatte und von ihm genauso verraten und hinters Licht geführt worden war, wie sie alle.


    Wenn Ben das mit der Waffe und dem Holster nicht aufgefallen wäre, wäre Meyer mit seiner miesen Nummer vielleicht sogar durchgekommen.

    Jäger musste in dem Moment scharf bremsen und gab ein ungehaltenes: „Fuck! Man verpiss dich du Penner! Siehst du das Blaulicht nicht?!“, von sich.

    Er war keinen Deut weniger angespannt als sein Partner, der ihn erneut ermahnte, sich zu beeilen und schneller zu fahren. Denn auch Ben hatte kein gutes Gefühl bei der Sache…


    Mit quietschenden Reifen und ausbrechendem Heck bogen sie schließlich in die Straße, in der Robert Meyer lebte. Wenige Meter, bevor sie das Haus erreichten, hörten sie den ersten Schuss.

    Gerkhan wartete nicht einmal ab, bis Ben den Mercedes komplett zum Stehen gebracht hatte, als er auch schon aus dem Auto sprang und auf den Eingang zustürmte.

    Wertvolle Sekunden verstrichen, in denen er mit der flachen Hand auf alle Klingelknöpfe gleichzeitig drückte und ungeduldig darauf warten musste, bis einer der Hausbewohner schließlich die Tür öffnete.


    Sie hatten die Hälfte des Treppenhauses hinter sich gelassen, als die Kommissare einen zweiten Schuss hörten. Dadurch noch weiter angespornt traten sie die schwere Holztür zu Meyers Wohnung mit Leichtigkeit ein und preschte durch die Wohnung.

    Ben war es, der die offene Balkontür als ersten entdeckte.


    „Semir sie sind hier raus und vermutlich aufs Dach!“, brüllte er und war auch schon nach draußen verschwunden.


    Gerkhan folgte im Fahrtwasser!


    Mit kräftigen, schnellen Schritten rannten sie über das kiesbedeckte Dach-


    Und erstarrten zeitgleich inmitten ihrer Bewegung!



    Hinter einer Ecke kniete Kriminaloberrat Robert Meyer neben seiner am Boden liegenden, früheren Schülerin.

    Semir und Ben sahen die Panik in seinem Blick, als er sie erspähte.


    „Einen Krankenwagen, schnell!“, brüllte er schrill in ihre Richtung.


    Semir war es, der sich als erstes aus seiner Schockstarre löste und Sekunden später neben seiner Chefin in die Knie ging.

    Was er dann sah, ließ das Blut in seinen Adern gefrieren und er hatte das Gefühl, dass sein Herz mehrere Schläge aussetzte.

    Die letzte, von Meyers abgefeuerten Kugeln, hatte Anna Engelhardt mittig in den Bach getroffen.

    Blut lief unaufhaltsam auf die Kieselsteine, auf denen sie lag und färbte diese rot.


    „Das habe ich nicht gewollt! Ich wollte sie nicht treffen!“ beteuerte Meyer, während Ben ihn grob von seiner Chefin wegzerrte und einige Meter weiter auf den Boden warf, wo er ihm Handschellen anlegte.



    Semir schluckte schwer und presste zitternd seine eigenen Hände auf die Wunde.

    Auch wenn er bereits wusste, dass es nichts mehr bringen würde…

    Er war lange genug Polizist und hatte genügend Schusswunden gesehen, um zu wissen, dass er es hier mit einer tödlichen Verletzung zu tun hatte.

    Die Geschwindigkeit, mit der das Blut aus der Wunde austrat, war ein eindeutiges Zeichen dafür, das die Kugel die Aorta, oder ein anderes, großes Blutgefäß, getroffen und sehr wahrscheinlich zerfetz hatte.


    „Chefin...“, flüsterte er mit belegter Stimme und Tränen schossen ihm in die Augen, als er in das bleiche Gesicht seiner Vorgesetzten sah.


    Es bestand für ihn kein Zweifel daran, dass auch sie wusste, dass für sie jede Hilfe zu spät kommen würde...

    Anna atmete schwer und blinzelte mehrfach, als Tränen anfingen, ihr über die Wangen zu laufen.

    Sie fühlte zwar weder Schmerzen noch Angst, dafür fühlte sie ein unendlich großes Maß an Bedauern und Schuld.

    Ihr Blick suchte den von Semir und es kostete sie bereits einiges an Kraft zu sprechen, als sie sagte:


    „Es tut mir leid... Es tut mir so unendlich leid...“ mehr Tränen rollten über ihre Wangen und Semir wusste sofort was sie damit meinte. Vielmehr, wen sie damit meinte:


    Sie sprach von ihrer Tochter.


    „Sagen sie ihr, wie leid es mir tut...“


    „Chefin...“ Semir kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals. „Das werde ich! Versprochen!“ Sie nickte kaum merklich, schloss kurz die Augen und atmete zitternd ein.



    Anna wusste, dass sie Leonie heute Morgen zum letzten Mal gesehen hatte.

    Das sie Leo nicht mehr von der Schule abholen würde und sie auch kein Eis mehr zusammen essen gehen würden.

    Und sie würde auch nicht sehen, wie ihr Kind weiter aufwachsen und schließlich erwachsen werden würde.

    Sie würde ihre Tochter auf dieser Welt alleine lassen.

    Und dieses Wissen zerriss ihr das nur noch schwach schlagende Herz in der Brust.


    „Wir werden uns um sie kümmern!“, hörte sie Semirs sanfte Worte, der zu wissen schien was gerade in ihr vorging und Anna schlug die Augen noch einmal auf.


    „Leonie wird es gut gehen und es wird ihr an nichts mangeln. Dafür werden wir sorgen. André, ihre Familie, das ganze Team der PAST... Wir werden alle für Leo da sein. Das verspreche ich!“

    Semir musste abbrechen, versuchte sie stattdessen versichernd anzulächeln, während weiter unaufhaltsam Blut zwischen seinen Finger hindurchlief.


    „Danke... André... leid tut...“ Sie sprach leise, abgehackt und kaum noch hörbar. Sie schaffte es auch kaum noch, beim Atmen den Brustkorb zu heben.


    Ihre Zeit war gekommen.



    Anna sah in den tiefblauen Himmel über sich, beobachtete eine der wenigen weißen Wolken, die über das unendliche Firmament zogen.

    Hatte das Gefühl, sich an alle schönen Momente in ihrem Leben zu erinnern. Und tief in ihrem Inneren wusste sie, das es Leonie gut gehen würde.

    Dafür würden André, ihre Schwester und ihr Vater sorgen. Wenn dann auch noch ihr Team von der PAST mithelfen würde, konnte nichts mehr schiefgehen. Außerdem kannte sie ihr Kind und wusste, wie stark Leonie war.


    Ihre Gedanken wanderten ein letztes Mal zu André Fux und Dankbarkeit durchflutete sie.

    Er hatte ihr nicht nur die Tochter und damit das größte Glück der Welt geschenkt, sondern hatte ihr Leben in den letzten vier Jahren unglaublich bereichert und ihr halt gegeben.

    Wenn sie etwas in ihrem Leben bedauerte, dann das sie und André nicht schon viel früher zueinander gefunden hatten.


    Anna hörte den Wind, der ihr eine lange, widerspenstige dunkle Haarsträhne über das Gesicht blies, als sie ein letztes Mal ausatmete, ehe ihr Herz aufhörte zu schlagen.




    I dance in tune with what I fear,

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  • 17.Oktober 2008


    Hausdach Köln Mühlheim, 09:11 Uhr




    „Chefin...?“ Flüsterte Semir mit belegter Stimme und schaffte es kaum ein Aufschluchzen zu verhindern.


    Er wusste, dass sie nicht mehr antworten würde.

    Das sie nie wieder antworten würde.

    Denn er hatte gesehen, wie der Glanz in den braunen Augen, soeben erloschen war.

    Fühlte unter seinen Händen keinen Herzschlag mehr.


    Anna Engelhardt war tot.


    Er sah auf, fand den Blick seines Partners, der ebenfalls völlig verstört zu ihm sah.


    „Semir...?“ Ben schluckte, konnte es nicht fassen, als sein Kollege den Blick senkte und mit dem Kopf schüttelte.


    „Nein!“ Jäger sah jetzt auf den Mann herab, der vor ihm lag. „Was hast du getan...?“ fragte er entsetzt, nur um die Frage im nächsten Augenblick zu brüllen:


    „WAS HAST DU GETAN?!“


    „Gott, das wollte ich nicht! Das wollte ich ganz sicher nicht!“ Robert Meyer war nicht weniger entsetzt, denn das hatte er wirklich nicht gewollt.

    Als er sich vorhin umgedreht hatte, war ihm das Blut in den Adern gefroren, als er seine ehemalige Schülerin gesehen hatte.

    Sie musste genau in den Moment aus der Deckung gekommen sein, als er blindlinks in ihre Richtung geschossen hatte.

    Unglauben und Überraschung hatte sich auf ihrem Gesicht gespiegelt, als sie beide Hände auf ihre Körpermitte presste und langsam auf die Knie fiel.

    Panisch war er zu ihr gelaufen und hatte seine Hände fest auf ihre gedrückt. Aber da war so viel Blut...

    Anna hatte ihn angesehen und matt gefragt: „Warum, Robert...? Warum...?“



    „DU HAST SIE UMGEBRACHT! Du Scheißkerl hast sie einfach abgeknallt!“


    Jäger packte den Älteren am Kragen, zerrte ihn unbarmherzig zum Rand des Daches. Schon im nächsten Augenblick war Meyer zur Hälfte über Rand geschoben und wurde nur noch Von Bens kräftigen Armen vorm Sturz in die Tiefe und bei der Höhe in den sicheren Tod, bewahrt.


    „Gib mir einen Grund dich nicht loszulassen, du elendes Drecksschwein!“ Der Kriminaloberrat schüttelte matt den Kopf und von der einen auf die andere Sekunde wich jegliche Anspannung aus seinem Körper.

    Bens Augen verengten sich zu Schlitzen und er verstärkte den Griff am Kragen des anderen.

    Der Mistkerl wollte das er ihn losließ!


    Oh nein...!

    So einfach würde er es dem Mistkerl ganz sicher nicht machen!


    Jäger zog seinen Kollegen zurück auf das Dach, schleifte ihn ein Stück vom Rand weg und machte ihn mit den Handschellen schließlich an einem Metallstück fest. Nicht das er noch auf dumme Ideen kam!

    Dicht neben Meyers Ohr zischte Ben schließlich:


    „So einfach lasse ich dich nicht davonkommen, mein Freund! Du wirst damit leben müssen, dass du mehrere Menschen ermordet hast! Das du einen Menschen getötet hast, der dir voll und ganz vertraut hat! Und ich verspreche dir, dass du dafür büßen wirst! Von jetzt an werde ich persönlich dafür sorgen, dass der Rest deines elenden Daseins die Hölle auf Erden sein wird!“

    Damit ließ er den Mann los und trat angewidert von ihm weg.

    Das er kurz so ausgerastet war, lag auch daran, dass er sich nicht der unglaublich bitteren Situation stellen wollte, die ihn wenige Meter weiter erwartete:



    Sein Freund und Partner, kniete noch immer vollkommen regungslos neben ihrer Chefin. Semir hatte seinen Ausbruch vermutlich gar nicht mitbekommen.

    Zögerlich trat Ben auf ihn zu, kniete sich neben ihn und konnte es nicht mehr verhindern, dass ein dicker Kloss in seinem Hals aufstieg.

    Die glanzlosen Augen und das im Tod erstarrte Gesicht seiner Chefin ging ihm durch Mark und Bein.


    Das konnte einfach nicht sein! Das durfte einfach nicht sein!


    Eine stumme Träne lief Ben die Wange herunter, als Semir sich vorbeugte und Anna Engelhardt für immer die Augen schloss.

    Vor dem Haus fuhr soeben der gerufene RTW vor. Das Getöse des Martinshornes, hatte keine der beiden Kommissare wirklich gehört.


    „Wir waren nicht schnell genug.“ Semirs stimme hätte trostloser und verzweifelter nicht sein können.


    „Wir waren nicht schnell genug und sind zu spät gekommen.“ Wiederholte er und starrte auf seine Blutverschmierten Hände.


    Ben schluckte, hielt sich eine Faust vor den Mund und Biss leicht in seine Hand, nur um nicht lauf aufzuschreien.


    Ja... Sie waren zu spät gekommen!



    Eine fröhliche Melodie ließ beide Kommissare zusammenzucken.

    Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriffen, woher die Melodie kam und was sie war.

    Es war das Handy in Anna Engelhardts Hosentasche, das klingelte.

    Die zwei Polizisten sahen sich an, unschlüssig, bis Semir doch zögerlich in die Tasche Griff und das Handy hervorholte.

    Die Caller-ID schnürte ihm erneut komplett die Kehle zu.


    ‚André‘, las er auf dem Display.


    Es dauerte etwas länger, bis er es schaffte mit den blutverschmierten Fingern auf den grünen Hörer zu drücken und das Gespräch anzunehmen.

    Fast wäre ihm das Handy aus der Hand gefallen, als er es zitternd zum Ohr führte.


    „Hallo mein Schatz, ich bin es! Ich hoffe du hast letzte Nacht doch noch ein paar Stunden Schlaf gefunden und bist nach all dem Stress heute wirklich zu Hause geblieben? Ich hatte eigentlich vor gestern Abend spontan den letzten Flug zu nehmen, hab ihn aber leider verpasst. Deswegen komme ich wie geplant morgen Früh.“ Hörte er sofort die gut gelaunte Stimme seines ehemaligen Partners und Freundes.


    Oh Gott! Was sollte er jetzt sagen...?


    Semir war kurz davor endgültig die Fassung zu verlieren. Er ging ein paar Schritte, als der Notarzt jetzt an ihm vorbei stürmte und sich seinerseits neben die Chefin kniete.


    „Anna? Bist du da...?“ hörte er Fux jetzt fragen.


    „André?“ Semir erkannte seine eigene Stimme kaum als er es schaffte zu sprechen.


    „Semir?“ Der Mann am anderen Ende der Leitung klang überrascht. „Semir, warum gehst du an Annas Handy? Ist sie doch ins Büro gefahren?“


    „André es...“ Gerkhan brach ab, wusste nicht was er sagen sollte, vielmehr wollte es nicht sagen.


    „Semir was ist los?“ Fux klang jetzt alarmiert, hörte er in der Stimme seines Freundes doch deutlich, dass etwas nicht zu stimmen schien.


    „Es ist etwas furchtbares passiert...“ schaffte Semir schließlich mit erstickter Stimme hervorzupressen.


    „Okay... Was ist passiert? Ist sie verletzte? Im Krankenhaus? Ich mach mich sofort auf den Weg zum Flughafen! In welches Krankenhaus soll ich kommen?“

    Der kleinen Deutschtürke konnte deutlich hören, dass André anscheinend schon eilig durch die Finca bei Avignon lief, vermutlich um eine Tasche zu packen.


    „Es tut mir so leid!“ brach es schließlich aus Semir heraus. „Es tut mir so unendlich leid! Wir waren nicht schnell genug... André wir konnten nichts mehr tun!“


    Die Leitung blieb für geraume Zeit vollkommen still.

    Keiner der Männer sagte etwas, bis schließlich Fux es war, der mit bebender Stimme fragte:


    „Was willst du mir damit sagen...? Semir, was willst du mir damit sagen!?“


    Ein bitterliches Flehen hatte sich in seine Worte gemischt, ahnte André doch bereits, was sein Freund ihm damit versuchte mitzuteilen.


    „André, sie ist tot... Anna lebt nicht mehr...“


    Die Verbindung wurde schlagartig unterbrochen, als André Fux in Frankreich das Handy aus der Hand fiel.



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  • 17. Oktober 2008


    Grundschule Köln Marienburg, 13:20 Uhr.




    Semir und Ben hatten bewusst recht lange vor der Schule gewartet, bis Leonie Engelhardt Schulschluss hatte.

    Sie hatten sie nicht vorzeitig aus dem Unterricht geholt, sondern ihr die, vorerst letzten, unbeschwerten Stunden, gelassen.

    Gerkhan hatte sich noch in Meyers Wohnung gewaschen und seinen eigenen, blutverschmierten Pullover, kurze Hand gegen einen aus Meyers Schrank getauscht. Der war ihm zwar deutlich zu groß, aber das interessierte ihn im Moment herzlich wenig.

    André hatte eine gute Stunde gebraucht, bis er in der Lage gewesen war, Semir zurück zu rufen und ihm zu sagen das er um 17:50 Uhr am Flughafen in Köln landen würde. Gerkhan hatte ihm versichert, dass er oder Ben ihn dort abholen würde.


    In der Zwischenzeit hatte der Notarzt offiziell den Tod von Anna Engelhardt festgestellt und mehr und mehr Kollegen und die KTU waren am Tatort eingetroffen.

    Bonrath hatte Herzberger umgehend stützen müssen, als sie auf dem Dach erfahren hatte, was passiert war.

    Genau wie für Ben und Semir war für die beiden uniformierten Kollegen eine Welt zusammengebrochen und sie waren nicht mehr in der Lange gewesen ihrem Job nachzukommen.

    Kollegen vom ansässigen Revier hatten sie zurück auf die PAST bringen müssen.


    Von der Kriminaltechnik hatte natürlich ausgerechnet Hartmut kommen müssen.

    Einstein war kreidebleich geworden als er das Opfer gesehen hatte und hatte sich kurz darauf noch auf dem Dach übergeben.

    Im Anschluss hatte er sich geweigert, diesen Tatort zu sichern. „Ich kann das nicht... Das kann ich einfach nicht!“

    Ben hatte ihn vom Dach und zurück auf die Straße gebracht und ihm versichert, dass dies überhaupt kein Problem sei und ihm niemand einen Vorwurf machte.

    Gegen 11:15 Uhr hatten sich Ben und Semir auf den unglaublich schweren Weg nach Marienburg gemacht.

    Es lag wohl vor allem an ihrer Berufserfahrung, dass sie noch funktionierten.


    ***


    Um 11:40 hatte Ben den Mercedes vor dem Haus geparkt, in dem Holger Engelhardt wohnte.


    „Semir, ich übernehme das...“ hatte der jüngere durchgesetzt und damit seinem Partner einen großen Gefallen getan.


    So hatte Gerkhan nur schweigend danebengestanden, als Jäger dem Vater der Chefin behutsam mitteilte, dass seine ältere Tochter nicht mehr am Leben war.

    Holger hatte daraufhin einen leichten Schwächeanfall erlitten und sie hatten den Hausarzt da zurufen müssen.

    In der Zeit, wo sie auf den Arzt gewartet hatten, hatte Ben auch die jüngere Schwester, Christina, angerufen, die als Staatsanwältin in Koblenz arbeitete.

    Sie hatte weinend versichert sich umgehen auf den Weg nach Köln zu machen, würde es aber nicht rechtzeitig schaffen, bis ihr Nichte Schulschluss hatte.

    Mit einem dicken Kloss im Hals hatte Ben ihr daraufhin versprochen, Leonie aus der Schule abzuholen und sich um sie zu kümmern.



    Als sich der Schulhof der Grundschule jetzt langsam füllte und immer mehr Kinder aus dem Gebäude strömten, stiegen auch die Kommissare aus dem Auto aus.

    Beide Polizisten hatten schon viele schwere Gänge gehen müssen. Aber keiner war wohl so schwer, wie den, den sie jetzt gehen mussten.

    Es dauerte nicht allzu lange, bis sie Leonie in der Kindermenge entdeckten. Sie lief zwischen zwei Freundinnen und die Mädchen kicherten über irgendetwas, was eine von ihnen gerade gesagt hatte.

    Ben wurde schlecht bei dem Gedanken, dass er und sein Partner das Leben des Kindes gleich für immer verändern würde.

    Leo war jetzt auf sie aufmerksam geworden und kam mit einem fröhlichen Lächeln auf sie zu gelaufen.


    „Hallo Semir, Hallo Ben!“ begrüßte sie sie und sah sie dann fragend an. „Was macht ihr denn hier?“ Während Ben noch für das Kommende Luft holte, zog Leonie schon eine Schnute und fragte leicht verstimmt: „Muss Mama doch wieder lange arbeiten? Wir wollten doch heute in die Stadt fahren...“


    Semir kniete sich vor das Mädchen, heftig dagegen ankämpfend nicht auf der Stelle die Nerven zu verlieren.

    „Leonie, Ben und ich bringen dich jetzt nach Hause. Und dann müssen wir mir dir Reden...“



    Schon im Auto auf dem kurzen Weg nach Hause konnten die Kommissare eine Veränderung in dem Mädchen beobachten.

    Sie war nicht dumm und genauso feinfühlig wie die Mutter. Sie hatte also durchaus bereits mitbekommen, dass etwas nicht stimmte.


    „Warum hat Mama mich nicht abgeholte?“

    Sie saß auf dem Mittelsitz und sah von Semir zu Ben.

    „Sie hat mir heute morgen versprochen, dass sie heute nicht arbeiten muss und viel Zeit für mich hat! Wir wollten in die Stadt fahren und neue Sportschuhe kaufen gehen. Und Eis essen gehen!“


    Es war Ben, der bei den Worten dann doch die Nerven verlor und von seinen Emotionen übermannt wurde.

    Auch wenn er in den letzten fünf Jahren einiges an Erfahrung dazu gewonnen hatte, war er mit der momentanen Situation völlig überfordert.

    Denn hierauf, hatte ihn niemand vorbereitet! Es war schlimm genug, Menschen die man nicht kannte, vom Verlust eines Angehörigen zu erzählen.

    Und jetzt sollte er einem Kind, das er die letzten fünf Jahre hatte aufwachsen sehen sagen, dass seine Mutter tot war?!

    Er stoppte den Wagen am Straßenrand und musste aussteigen. Unglaublich wütend trat er vor den Vorderreifen seines Dienstwagens. Wieso war das Schicksal nur so ein elendes Drecksschwein?!



    „Was ist mit Ben?“ Leonie sah Semir jetzt aus großen Augen an, in die sich nun auch immer mehr Unsicherheit und aufkeimende Angst schlichen.


    „Weißt du Leo, der Ben ist gerade ein bisschen traurig.“ Semir hatte sich abgeschnallt und zu ihr umgewandt.


    „Ohh... Warum denn?“ sie machte ein betretenes Gesicht.


    „Weil etwas Schlimmes passiert ist...“ Er wusste, dass es keinen Sinn mehr machte, länger zu warten.


    Es war egal, ob er dem Mädchen hier oder woanders sagen würde, dass die Mutter sie nie wieder von der Schule abholen würde...

    Ihre Welt würde, so oder so, für eine ganze Weile aufhören sich zu drehen und stehen bleiben.

    So ruhig es ihm möglich war, fing er sanft an zu sprechen. Dabei machte er sich nicht die Mühe, seine eigene Trauer zu verbergen und hoffte innständig, dass er die richtigen Worte finden würde.


    Leonie hörte ihm zu und wurde ganz still.


    Sie knetete die kleinen Hände und sah ihn aus großen, feucht schimmernden Augen an, als er schließlich aufhörte zu sprechen.


    „Aber Mama hat mir doch versprochen, dass wir heute Eis essen gehen!“ Ihre Unterlippe zitterte und schon im nächsten Moment kullerten dicke Tränen über ihre Wangen.


    „Ich weiß Leo, ich weiß... Und es tut deiner Mama unendlich leid!“


    Semir zog sie in seine Arme, strich ihr beruhigend über den Rücken, während das Mädchen hemmungslos weinte und nach ihrem Vater schrie.


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  • 30. Oktober 2008


    Kapelle am Süd Friedhof, 13:30 Uhr.




    Vor der Kapelle am Kölner Süd Friedhof zeigte sich der Herbst von seiner schönsten Seite. Die Sonne schien und am blauen Himmel war keine Wolke zu sehen.

    Das goldene Licht der Sonne ließ die bunten Farben an den Bäumen und Sträuchern in ihrer ganzen Pracht erstrahlen und hüllte das Gelände in freundliche Stimmung.

    In der Kapelle war die Stimmung jedoch sehr viel gedrückter und trostloser. Daran konnte auch die Kraft der Sonne nichts ändern.

    Semir saß zwischen Andrea und Ben auf einer der Holzbänke und starrte mir rot unterlaufenden Augen auf seine schwarzen Lederschuhe.

    Vor ein paar Minuten hatte er den Fehler gemacht, zu der ersten Bankreihe auf der anderen Seite hinüber zu sehen.

    Zwischen ihrem Opa und ihrer Tante, die bemüht waren die Fassung nicht komplett zu verlieren, saß Leonie auf dem Schoß des Vaters.


    Sie wirkte völlig verloren und sah mit großen, verweinten Augen zwischen dem weißen, mit Lilien und roten Rosen geschmückten Sarg vor dem Altar, und dem Polizeipräsidenten in seiner Uniform, hin und her, der soeben seine Trauerrede hielt.

    Der Anblick des Kindes, hatte ihm einmal mehr das Herz in der Brust zerrissen.

    Sein Blick war dabei auch wieder über die Bilder neben dem Sarg gehuscht und hatten den viel zu frühen Tod seiner Chefin einmal mehr deutlich gemacht.


    Das eine Bild war ein sehr gelungener Schnappschuss, den André erst zu Beginn des Sommers gemacht hatte, als die Chefin und Leo die Ferien bei ihm in Frankreich verbracht hatten.

    Eine schwarzweiße Aufnahme, die Anna Engelhardt völlig entspannt, seitlich auf einem Stuhl sitzend zeigte. Dabei ein Bein lässig angewinkelt auf der Sitzfläche abgestellt hatte und mit einem herzhaften Lachen in die Kamera schaute.

    Das zweite Bild war um einiges älter und zeigte sie mit Ende Zwanzig und in Polizeiuniform samt Mütze.

    Es konnte doch nicht sein, dass die so fröhlich und sorglos lächelnde Frau auf dem Bild, jetzt in dem Sarg am Altar lag!


    Gerkhan hob den Blick ein wenig, als seine Frau neben ihm erstickt aufschluchzte und das Gesicht kurz in den Händen vergrub.

    Er drückte daraufhin versichernd ihre Hand, als die wieder in seiner lag und hob den Blick noch ein wenig weiter.

    Erst jetzt fiel ihm auf, dass er nahezu auf demselben Platz saß, wie vor neuneinhalb Jahren, als er und die Kollegen damals dachten, für immer Abschied von André Fux zu nehmen.


    Für einen kurzen Augenblich hörte er wieder die ruhige Stimme der Engelhardt, die vor all der Zeit so passende Worte für André gefunden hatte, sah sie vom Altar auf sich zukommen und dann doch abrupt Richtung Ausgang gehen.

    Semir blinzelte und erinnerte sich auch daran wie er ihr nach draußen gefolgt war und Anna neben den Toiletten an der Wand lehnend vorgefunden hatte.

    Damals hatte er gedacht, dass ihr Magen aufgrund der Situation rebelliert hatte. Rückblickend wusste er jetzt, dass sie zu dem Zeitpunkt natürlich schon mit Leonie schwanger war und es wohl eher Schwangerschaftsübelkeit gewesen war, die ihren Magen hatte rebellieren lassen.


    Schlagartig erinnerte er sich auch an den eigenartigen Blick, den sie ihm damals zugeworfen hatte und den er nie wirklich zu deuten gewusst hatte.

    In diesem Moment sah er die Szene noch einmal deutlich vor sich, so, als wäre es erst gestern gewesen.

    Und mit einem Mal wusste er, was sich in ihrem Blick verborgen hatte:

    Sie hatte André schon damals besser leiden können, als sie es hatte zeigen können und dürfen. Und gewusst, dass sie einen Teil von ihm unter ihrem Herzen trug...


    Semir fühlte unendliche Bitterkeit in sich aufsteigen. Die Ironie des Schicksals konnte so unglaublich ungerecht und bösartig sein!

    Denn nun war es ausgerechnet der damals totgeglaubte André, der mit Leonie zwar für immer einen Teil der Mutter bei sich haben würde, sich aber nun in einer ähnlichen Situation wiederfand, wie Anna vor neuneinhalb Jahren. Nur das es jetzt eindeutig ein Abschied für immer war…

    Gerkhan wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und sah zu dem großen, bunten Fenster hinter dem Altar, durch das Sonnenstrahlen auf den Sarg fielen und ihn in buntes Licht tauchten.


    ***


    Die Chefin fand ihre letzte Ruhe schließlich in einem Grab direkt neben der Mutter, und Ben und Semir nahmen beide verbittert zur Kenntnis, dass sich das Schicksal auf grausame und unfaire Weise wiederholte hatte.

    Mutter und Tochter waren beide viel zu früh, mitten aus dem Leben gerissen worden.












    20. Dezember, 2013


    Haus von Semir Gerkhan, Leverkusen 20:18 Uhr



    Semir starrte mürrisch an die recht karge Wand in seinem schwach beleuchteten Wohnzimmer.

    Auch wenn es kurz vor Weihnachten war, hatte er sich nicht die Mühe gemacht das Haus zu dekorieren und Weihnachtsbeleuchtung aufzuhängen.


    Wofür auch?


    Andrea war mit den beiden gemeinsamen Töchtern vor ein paar Wochen ausgezogen und hatte nach 9 Jahren Ehe die Scheidung eingereicht.

    Zu allem Überfluss hatte vor gut einer Woche auch noch sein Partner und bester Freund Ben Jäger, nach 10 Jahren den Dienst bei der Autobahnpolizei quittiert.


    Am Nachmittag hatte Semir sich am Flughafen von ihm verabschiedet, bevor Ben in ein Flugzeug gestiegen war, das ihn in die USA bringen würde, wo er einen Plattenvertrag unterzeichnen würde und sich fortan voll und ganz der Musik widmen würde.

    Es war nicht so, dass Semir es seinem Freund nicht gönnte, dass er nun etwas tun konnte, von dem er in den letzten Jahren immer mal wieder geredet hatte.

    Und nach dem was mit seiner Freundin geschehen war, konnte er es auch nachvollziehen, dass er nicht mehr Tag ein Tag aus Entscheidungen treffen wollte, die im Zweifelsfall über Leben und Tod entschieden.

    Aber er vermisste ihn schon jetzt unglaublich doll und konnte sich nicht vorstellen, wie es für ihn ohne Ben bei der Autobahnpolizei weiter gehen sollte.

    In den letzten fünf Jahren hatte sich für seinen Geschmack einfach viel zu viel verändert.


    Nach Anna Engelhardts tragischem Tod im Herbst 2008, hatte seine jetzige Chefin, Kim Krüger die Leitung der Autobahnpolizei übernommen.

    Nach André Fux vermeintlichem Tod und der Kündigung von Tom Kranich, die einschneidenste Veränderung, die die PAST bis dato gesehen hatte.

    Und die gesamte Belegschaft hatte es der Krüger zu Anfang nicht gerade einfach gemacht. Insbesondre er und Ben hatten ihr über eine recht lange Zeit die kalte Schulter gezeigt, ein Verhalten, was er mittlerweile durchaus bereute.


    Kim Krüger war genauso loyal und fähig, wie es die Engelhardt gewesen war.

    Insgesamt ähnelten sich beide Frauen in vielen Punkten, zu einem gewissen Maß sogar äußerlich.

    Sie hätten mit der Krüger letztlich keine würdigere Nachfolgerin bekommen können und Semir hatte sie in den letzten Jahren sehr zu schätzen gelernt.

    Trotzdem war es einfach nicht mehr dasselbe gewesen.


    Zu Anfang des Jahres war dann auch noch Horst Herzberger kurz vor seiner Pensionierung im Dienst erschossen worden. Ein weiterer schwerer Schlag für die PAST Familie, die um ein weiteres Mitglied Trauern mussten.

    Und jetzt war auch noch sein langjähriger Partner nicht mehr da und seine Ehe lag in Scherben.

    Semir leerte das Glas in seiner Hand in einem kräftigen Zug und stellte es anschließend mit einem lauten Knall auf den Glastisch vor sich.

    Vielleicht hatten all seine bisherigen Partner es genau richtig gemacht, und rechtzeitig den Absprung aus dem Polizeidienst geschafft, bevor der Job sie gar das Leben kostete oder das Privatleben unwiderruflich zerstörte.


    Vielleicht war ja jetzt auch für ihn die Zeit gekommen, sich etwas Neues zu suchen?

    Unwillkürlich schüttelte er jedoch den Kopf.

    Was sollte er schon anderes machen? Er hatte nichts anderes gelernt, als Bulle zu sein. Wenn er das jetzt auch noch aufgeben würde, dann hätte er endgültig nichts mehr.


    Rein gar nichts mehr!


    Nein, er würde am Montag ganz normal seinen Dienst wiederantreten und abwarten, wen man ihm dieses Mal als Partner an die Seite stellen würde...

    Er war schließlich der türkische Hengst Semir Gerkhan, und irgendwie würde er auch das Überstehen!


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  • 24. September 2020 ‚Ein langer Weg‘


    Neue PAST, 16:34




    Semir Gerkhan parkte müde seinen Dienstwagen auf dem Parkplatz vor dem Revier der Autobahnpolizei.

    Keine zwei Stunden zuvor hatte er und seine junge Partnerin, Vicky Reisinger, einen Mordanschlag auf den Hauptbelastungszeugen im Falle der rassistischen Kollegen aus Dortmund vereitelt.

    Vicky war dabei an der Schulter angeschossen worden und zur Behandlung der Verletzung in ein Krankenhaus gebracht worden.

    Etwas ungelenk stieg er schließlich aus dem BMW und musste sich erst einmal strecken.

    „Du wirst alt, Gerkhan...“ dachte er mürrisch bei sich. Die Schläge, die er bei dem Einsatz hatte einstecken müssen, steckte er nicht mehr so leicht weg, wie noch vor fünf oder zehn Jahren, soviel war sicher.

    Mit einem kaum merklich humpeln ging er schließlich zum Eingang und ging in die PAST.


    Als er das Büro betrat, stellte er erneut fest, dass ihm das neue Konzept des Großraumbüros, das sein Chef, Roman Kramer, eigeführt hatte, noch immer nicht wirklich gefiel. Er vermisste sein eigenes Büro.

    Überhaupt tat er sich mit den doch sehr, sehr starken Veränderungen, die während seines langen Aufenthaltes in der Türkei stattgefunden hatten, schwer.

    Hin und wieder erwischte sich Semir bei dem ‚Damals war alles besser‘-Gedanken, nur um sich sofort zur Rasant zu rufen. Für den Spruch war er dann doch noch ein bisschen zu jung. Glaubte er zu mindestens.

    Als er jetzt durch das Büro schritt, kam seine Tochter, Dana, sofort auf ihn zugestürmt.


    „Ist alles in Ordnung? Ich habe von Vicky gehört!“


    „Mir geht’s gut und Vicky ist hart im Nehmen! Sie ist zwar im Krankenhaus, aber laut eigener Aussage hat sie nur einen kleinen Kratzer und sie ist im nun wieder diensttauglich.“ Gerkhan grinste kurz und auch Dana nickte mit einem erleichterten Grinsen.


    Ja, das klang ganz nach Vicky!


    Semir wollte eigentlich noch etwas ausführlicher berichten, wurde jedoch von etwas abgelenkt, das er im ersten Moment nicht so richtig einordnen konnte, es ihm jedoch merkwürdig vertraut vorkam und ihn kurz irritierte.

    Der kleine Polizist sah an seiner Tochter vorbei in Richtung des etwas abgetrennten Bereiches, wo sein Chef seinen Schreibtisch hatte.
    Krama saß in seinem Rollstuhl nicht direkt am Schreibtisch, sondern ein Stück davor und unterhielt sich mit einer Kollegin in Uniform, die er jedoch nicht erkannte, da sie ihm den Rücken zuwandte.


    Irgendetwas...


    Semir ließ die etwas perplex Dana mitten im Raum stehen und ging auf seinen Chef zu.


    „...ah, da ist er ja!“ verkündete Kramer, als Gerkhan auf die zwei zukam und die Kollegin drehte sich zu ihm um.

    Semir Gerkhan erstarrte wie vom Blitz getroffen, stolperte anschließend und hätte sich beinahe der Länge nach hingelegt.

    Er fühlte sich mit einem Mal um 20 Jahre in der Zeit zurückversetzt und rief automatisch und ungläubig:


    „Chefin?!“ nur um im nächsten Moment verwirrt den Kopf zu schütteln und noch ungläubiger zu fragen: „Leonie...?“


    Die angesprochene lachte herzhaft und trat mit offenen Armen auf ihn zu.


    „Hallo ‚Onkel‘ Semir!“


    Noch immer vollkommen erstaunt und verwirrt umarmte er die junge Frau seinerseits und konnte es zeitgleich nicht fassen.

    Leonie Engelhardt stand tatsächlich nach all den Jahren vor ihm und das auch noch in dunkelblauer Polizeiuniform!

    Die Abzeichen auf ihren Schultern verrieten ihm zwar, dass sie erst Kommissaranwärterin und noch in der Ausbildung war, aber das zählte im Augenblick nicht.

    Anna Engelhardts, inzwischen erwachsene Tochter, stand vor ihm, offensichtlich kräftig dabei in die Fußstapfen der Mutter zu treten!


    „Ich hoffe, dass mein plötzliches Auftauchen hier, kein zu großer Schock für dich ist, Semir.“ Leo klang fast ein wenig entschuldigend, als sie jetzt Semir musterte, der sie noch immer anstarrte, als hätte er eine Erscheinung.


    „Nein, nein ganz und gar nicht! Im Gegenteil! Es ist eine Überraschung der besten Sorte!“


    Kramer hatte die Szene abwartend beobachtet und verkündete jetzt:


    „Frau Engelhardt hat Ihr erstes Ausbildungsjahr an der Akademie hinter sich gebracht und wird ihr erstes Praktikum bei uns machen. Ich hatte eigentlich vorgehabt sie schon vor einigen Tagen darüber in Kenntnis zu setzen, aber die Gelegenheit hatte sich einfach nicht ergeben.“


    Semir nickte, noch immer nicht wieder ganz bei sich. An Leonie gewandt sagte der Chef:


    „Das wäre es dann auch erst mal für heute. Wir sehen uns pünktlich morgen Früh zu Dienstbeginn.“


    „Jawohl, Chef!“ die junge Polizistin nickte. „Hast du noch Zeit für einen Kaffee?“ Sie sah Semir lächelnd an.


    Oh ja, das hatte er ganz sicher!


    ***


    15 Minuten später hatte Leo die Uniform gegen ihre private Kleidung eingetauscht und saß Semir in der Kaffeeküche der PAST gegenüber.

    Gerkhan war noch immer ein wenig von der Rolle und schüttelte zum 1000 Mal mit dem Kopf.

    Er hatte vorhin wirklich für ein paar Sekunden geglaubt, seine ehemalige Chefin sei von den Toten auferstanden. Was sich bei ihr als Kind schon angedeutet hatte, war ganz eindeutig eingetreten:

    Leonie Engelhardt war nahezu eine 1:1 Kopie ihrer Mutter.

    Von den Augen einmal abgesehen.


    Das wurde noch deutlicher, als sie ihm jetzt mit offenen Haaren gegenübersaß und sie nicht, wie zur Uniform, zum Zopf zusammengebunden hatte.

    Selbst ihre Stimme klang sehr ähnlich wie die der Mutter. Das war es auch gewesen, was ihn vorhin auf sie aufmerksam gemacht hatte.


    „Ich kann es ehrlich gesagt noch immer nicht so richtig fassen... Gott, bist du groß geworden. Und erwachsen!“


    Leo grinste, und jetzt erkannte Semir auch ein wenig vom Vater in ihr. Das verschmitzte Fux- Grinsen war unverkennbar. „Ich hatte auch ordentlich Zeit zu wachsen und erwachsen zu werden. Es ist lange her.“


    Das war es in der Tat und Semir überkam ein Anflug von Reue.


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  • 24. September 2020


    Neue PAST, 17:00 Uhr



    Auch wenn er seiner damaligen Chefin versprochen hatte, mit auf Leonie aufzupassen, war nach dem Tod der Mutter der Kontakt zu Leonie und auch zu ihrem Vater leider recht zügig weniger geworden und schließlich ganz abgebrochen.

    Direkt nach der Beerdigung hatte André sie für mehrere Wochen mit nach Avignon genommen, um ihr ganz in Ruhe Zeit zu geben, sich an die neue Realität zu gewöhnen.

    In Absprache mit der Tante, dem Opa und Leonie selber hatten sie jedoch beschlossen, dass sie weiterhin in Deutschland zur Schule gehen würde.


    Allerdings nicht in Köln.


    André, Christina und Holger hatten sich lange Gedanken darüber gemacht, ob es besser oder schlechter für das Mädchen sein würde, aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden.

    Letztlich hatte auch hier Leo die Entscheidung mit beeinflusst, nachdem sie sich immer öfter weigerte in die Schule zu gehen.

    Christina Engelhardt hatte zu der Zeit eine lukrative Stelle in der Staatsanwaltschaft in Berlin angeboten bekommen und so kam es, dass Leonie im Januar 2009 mit ihr dort hinzog, um in Berlin die Schule zu besuchen und dort neuanzufangen.

    Daraufhin war auch André Fux nicht mehr nach Köln gekommen, da er, mehr denn je, möglichst viel Zeit mit der Tochter verbringen wollte. Er war sogar kurz davor gewesen in Frankreich alles zu verkaufen und wieder ganz nach Deutschland zu ziehen, was er dann jedoch doch nicht getan hatte, als er gesehen hatte, wie glücklich Leo in den sechs Wochen Sommerferien in Frankreich gewesen war.



    Zur Ablenkung und um das kurz entstandene Schweigen zu durchbrechen, deutete Semir in die Richtung, wo sich einmal das Büro der Dienststellenleitung befunden hatte.


    „Ich kann mich noch ziemlich genau daran erinnern, wie mir deine Mutter da drüber in ihrem Büro erzählt hat, das sie mit dir schwanger ist...“ Er grinste.


    „Mein Gesicht muss damals ziemlich lustig anzuschauen gewesen sein, da ich aus allen Wolken gefallen bin!“


    Leo lachte erneut. „Oh ja, das glaube ich dir gerne! Das war ja auch alles eine recht... Interessante Geschichte. Als Paps mir vor ein paar Jahren erzählt was damals alles passiert ist, war ich selber etwas baff. Aber hey: Das wäre 1A Material für ein Soap Opera gewesen!“

    Semir grinste ebenfalls, allerdings veränderte sich sein Gesichtsausdruck recht schnell und er wirkte nachdenklich als er sagte: „Soap Opera oder ein Drama...“

    Leonie musterte ihn kurz, schüttelte dann aber entschieden mit dem Kopf und lächelte.


    „Nein, kein Drama!“ nach einer kurzen Pause erklärte sie:



    „Weißt du, ich vermiss Mama jeden Tag und würde alles dafür geben, sie noch hier bei mir zu haben. Und ich habe als Teenager auch eine Phase durchlebt, in der ich Gott und die Welt dafür gehasst und verflucht habe, dass sie mir so früh die Mutter genommen haben.

    Aber ich konnte eigentlich nie sagen, dass ich ein schlechtes Leben hatte oder habe. Natürlich waren da schwere Zeiten, aber ich bin bei Christina und ihrem Mann super toll groß geworden und sie haben mich wie ihr eigenes Kind behandelt, wenn ich bei ihnen in Berlin war.

    Ich habe zwei coole Cousins, die für mich wie Brüder sind, hab einen Opa der mich noch immer nach Strich und Faden verwöhnt und mit meinem Vater habe ich über die Jahre so viel lustige und verrückte Dinge gemacht, das ich immer etwas zu lachen und zu erzählen hatte

    Ich habe vielleicht eine etwas ungewöhnliche, aber tolle Familie, die hinter mir steht! Ich kann mich eigentlich also wirklich nicht beschweren. Da haben es andere sehr viel schlimmer getroffen.“



    Semir war unglaublich positiv überrascht und gleichzeitig unendlich erleichtert.

    Das fröhliche und gut gelaunte Mädchen, dass immer für irgendeinen Blödsinn zu haben gewesen war, hatte überdauert und war zu einer Frau herangewachsen, die genauso positiv in die Zukunft blickte und für die das Glas halb voll und nicht halb leer zu sein schien.

    Die Welt war also doch kein so finsterer Ort, wie er es in den letzten Wochen und Monaten gedacht hatte.


    „Und jetzt bist du hier...“


    „Ja, jetzt bin ich hier. Ich habe aber lange überlegt, ob ich das machen soll. Also zur Polizei zu gehen. Eigentlich wollte ich Pilotin werden, wie Opa. Nach einem Schulpraktikum bei der Polizei war für mich dann aber doch klar, dass ich einen anderen Weg gehen werde. Ich wollte eh hierhin zurück nach Köln und die Akademie hat mich dann auch gleich beim ersten Versuch angenommen.“ Sie grinste. „Das ich ausgerechnet hier mein erstes Praktikum mache, war aber reiner Zufall. Denn zur Autobahnpolizei, möchte ich dann doch nicht.“


    „Was?“ Semir tat gespielt entsetzt. „Wie kann man nicht zur Autobahnpolizei wollen?“


    „Du, ich hätte mit Sicherheit Spaß daran hier Dienstwagen am fließenden Band zu schrotten! Autostunts habe ich ja immerhin schon im Kindergarten kräftig geübt. Aber trotzdem. Ich will später in eine andere Abteilung.“

    Bei der Vorstellung mit den Dienstwagen musste Semir schmunzle.

    Der Gedanke gefiel ihm.

    Endlich mal eine Engelhardt auf der ‚Dunklen Seite‘ der Macht. Wobei natürlich nicht zu vernachlässigen war, dass sie ja auch eine halbe Fux war.

    Das könnte vielleicht auch schon während ihres Praktikums sehr interessant werden. Vielleicht sollte man sie besser nicht Autofahren lassen...


    „An welche Abteilung hattest du denn gedacht?“ fragte Semir schließlich interessiert.


    „Interne.“


    Das war nicht unbedingt die Abteilung, wo die meisten hinwollten und auch Gerkhan war durchaus überrascht.

    Bei genauerem überlegen, machte es aber durchaus Sinn und Leonie bestätigte Semirs Gedanken, als sie hinzufügte:


    „Bei der Internen Ermittlung kann ich den Polizeiapparat von innenheraus aufräumen. Korrupten Kollegen sind wie ein Krebsgeschwür, das jedes Jahr mehr Schaden anrichtet! Ich will diese Kollegen finden und sie aus dem Verkehr ziehen, schon bevor sie wirklich Schaden anrichten können!“


    „Verstehe...“ Der Wunsch machte bei ihrer Geschichte natürlich durchaus Sinn.

    Hätte vor 12 Jahren jemand Robert Meyer rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen, würde ihre Mutter heute vermutlich noch leben...


    „Ich bin mir zu 100% sicher, dass du einen ziemlich guten Job machen wirst! Und es bei der Polizei allgemein sehr weit bringen wirst.“


    „Hallo? Natürlich! Chefin sein habe ich mit der Muttermilch aufgesogen. Mama war noch keine 43 als man sie zur Kriminalrätin befördert hat! Ich strebe an, sie darin zu unterbieten.“ Leonie zwinkerte Semir frech zu.


    Gerkhan war sich ziemlich sicher, wenn das eine schaffen konnte, dann das ‚kleine Monster‘.



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  • „Wie geht es eigentlich André?“ Reue flammte wieder in ihm auf, dass er schon seit Jahren so gut wie keinen Kontakt mehr, zu seinem einst engsten Freund hatte.


    „Paps geht es super! Der Wein Anbau und der Winzereibetrieb läuft schon seit einigen Jahren wirklich richtig gut. Außerdem ist auch ein kleines ‚Bed and Breakfast‘ dazu gekommen, dass Camille hauptsächlich betreibt.“


    „Camille? Camille Berthold?“ Fragte Semir erstaunt.


    „Ja, genau! Aber sie heißt jetzt Ludiér mit Nachnamen. Von Berthold hat sie sich, kurz nach dem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, scheiden lassen. Ihr Sohn, Arnaud, ist ausgebildeter Winzer und arbeitet viel mit Paps zusammen.“

    Semir überkam erneut das Gefühl zurück in die Vergangenheit geschickt zu werden. Es war bereits über 16 Jahre her, das sie Arnaud Berthold aus der kleinen Hütte im Wald befreit hatten...


    Damals, als die Dinge sich noch alle immer zum Guten zu wenden schienen


    Leonie beobachtete Semir aufmerksam und konnte dessen schlechtes Gewissen förmlich sehen.



    „Semir, André bedauert es genauso, dass der Kontakt damals doch recht plötzlich abgerissen ist und ihr jeder euren eigenen Weg gegangen seid. Und es hat wohl auch eher an ihm gelegen als an dir.“


    Der kleine Polizist sah seine Gegenüber nachdenklich an.


    „Den alten Haudegen hat das alles sehr viel mehr mitgenommen, als er es der Welt hat zeigen wollen. Er hat es einfach wirklich lange nicht übers Herz gebracht, hier her nach Köln, zurück zu kommen. In Berlin hat er mich ständig besucht und dort viel Zeit mit mir verbracht, wenn keine Ferien waren und ich ihn nicht in Frankreich besuchen konnte. Aber die Stadt hier...“


    „Köln hat ihn an das erinnert, was er alles verloren hat. Erst sein altes Leben und dann...“


    „...und dann Mama. Ich weiß, dass die Beiden, wenn sie hier zusammen waren, nach außen vielleicht nie so richtig eng gewirkt haben. Was vermutlich an der ganzen, doch etwas ungewöhnlichen Situation gelegen hat. Aber Paps hat sie wirklich geliebt und ich bin mir sicher, dass es andersherum auch so war. Mir ist als Kind schon aufgefallen, das die Zwei völlig anders zusammen waren, wenn Mama und ich, Paps in Frankreich besucht haben. Heute würde ich sagen, sie haben sich zum Teil wie verliebte Teenager benommen.“


    Leo grinste und Semir konnte ihre Analyse, genauso und ohne zu zögern unterschreiben.



    André Fux und Anna Engelhardt hatten, wenn man sich damals zu diversen Feiern und Fest im Kollegenkreis getroffen hatte, in der Öffentlichkeit immer recht distanziert gewirkt und es hatte nur selten einen Austausch von Zärtlichkeiten gegeben.

    Ein bisschen anders war es schon gewesen, wenn sie sich nur zu viert bei einem von ihnen zu Hause getroffen hatten.


    Semir erinnerte sich aber auch noch genau daran, als im Herbst 2006 ein Undercover Einsatz, bei dem Ben und er einen Serien Frauenmörder gejagt hatten, beinahe ganz böse schief gegangen wäre und die Chefin für kurze Zeit in den Fängen des Killers gewesen war.


    Für André hatte es kein Halten mehr gegeben, als sie sie in dem ausgebrannten Hotel gefunden hatten und er hatte spätestens da einen Eindruck davon bekommen, wie nahe sich die beiden wirklich standen.



    „Außerdem war es für mich genau das Richtige, damals aus Köln wegzugehen. Nach der Beerdigung habe ich ständig gedacht Mama zu sehen, wenn wir an Orten waren, wo ich viel mit ihr gewesen bin. Es liegt also wohl auch ein bisschen an mir, dass der Kontakt abgebrochen ist.“


    Semir legt ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte breit.


    „Ich bin mir sicher, dass es, so wie es gekommen ist, genau richtig war. Ich meine: Schau dich an!“ Leo grinste zurück und für einen kurzen Moment herrschte Schweigen, das jedoch keineswegs unangenehm war.


    „Kramer wird übrigens noch mit dir reden und dir vorschlagen ein paar Tage Urlaub zu machen.“ Verkündete Leonie recht unvermittelt und sah Semir prüfend an.



    Gerkhan verdrehte die Augen. Natürlich würde sein Chef das tun...


    „Wenn du Lust hast, nimm sein Angebot an. Ich kann da ein sehr feines B&B in Südfrankreich empfehlen...“

    Jetzt sah Semir die junge Frau etwas irritiert an. „Nu schau nicht so! Ich bin mir sicher, der Besitzer macht dir einen Top-Preis und würde sich außerdem wahnsinnig freuen, dich wiederzusehen!“



    „Wie? Meinst du das ernst?“


    „Ja klar! Ich ruf Paps an und du buchst einen Flug! Ganz einfach!“


    Je länger Semir über die fixe, leicht verrückte Idee nachdachte, desto mehr gefiel sie ihm. Nach all dem Stress der letzten Wochen konnte eine Pause vielleicht wirklich nicht schaden.

    Und der Gedanke, André Fux nach all der Zeit wieder zusehen, trieb ihm ein Lächeln auf die Lippen.

    I dance in tune with what I fear,

    To do adrenaline!

    Cause' it's overrated how we underrate!

  • 30. September 2020


    Avignon, Frankreich, 15:11 Uhr





    Semir Gerkhan konnte nicht leugnen, dass er doch ein wenig nervös war, als das Auto in dem er saß, sich die gewundenen Straßen durch die Weinberge kämpfte und immer weiter auf das Landhaus zufuhr.

    Wie lange war es her gewesen, dass er zuletzt hier war? 14 Jahre? Oder waren es doch schon 15 Jahre?

    Es war ein lustiger und ausgelassener Männertrip im Frühsommer gewesen. Er, André und Ben Jäger hatten es ein ganzes Wochenende ordentlich krachen lassen.


    Semir atmete die frische Landluft ein und der Geruch von Lavendel stieg ihm in die Nase. Auch wenn es bereits früh Herbst war, war das Wetter noch schön und die Temperaturen wesentlich angenehmen als im verregneten, dunklen Köln.

    Wie Leonie es ihm bereits erzählt hatte, war ein Stück weiter die Straße entlang ein weiteres Haus gebaut worden, bei dem es sich offensichtlich um das Bed&Breakfast handeln musste.

    Es war im selber Stil gehalten wie das Landhaus und machte einen unglaublich einladenden Eindruck.

    Der Fahrer, den André geschickt hatte, um ihm vom Flughafen abzuholen fuhr jedoch nicht in Richtung des B&Bs weiter, sondern parkte vor dem steinernen Landhaus, das er bereits kannte.

    Der kleine Polizist hatte die Beifahrertür noch nicht ganz geöffnet, als sich auch schon die Haustür öffnete und sein ehemaliger Partner mit einem breiten Lächeln auf ihn zuging.


    „Semir, mein Freund! Es ist viel zu lange her!“ begrüßte Fux ihn auch gleich mit offenen Armen und er hatte von der ersten Sekunde, in der sie sich zu Begrüßung umarmten, wieder das alte, vertraute Gefühl, als wäre alles wie vor 22 Jahren, als sie zusammengearbeitet hatten.


    „Gut schaust du aus, Junge!“ grinste André und klopfte Semir auf die Schulter, ehe er dessen Tasche aus dem Kofferraum holte und ein paar Worte auf französisch mit dem Fahrer wechselte.

    Gerkhan musste neidlos eingestehen, das Fux ebenfalls gut aussah und ihm das zunehmenden Alter weniger zugesetzt hatte, als ihm selbst.

    Die Ruhe der südfranzösischen Weinberge und das sanftere Klima schienen eindeutig gnädiger zu sein, als der stressige, nervenaufreibende Alltag bei der Autobahnpolizei.




    Nachdem sie in das Haus gegangen waren und André ihm sein Zimmer gezeigt hatte, saßen sie keine halbe Stunde später auf der weitläufigen Terrasse, von der man noch immer einen atemberaubenden Ausblick über das Tal hatte.

    Mit jeder Sekunde, die er hier saß, verstand Semir, warum sein Freund schon vor all den Jahren hierhergekommen war.

    Damals hatte er es nicht verstehen können, wie Fux der Autobahnpolizei den Rücken hatte kehren können. Das hatte sich mittlerweile eindeutig geändert.


    „Wie lange ist das jetzt her, das wir uns das letzte Mal gesehen haben? 11 Jahre?“ fragte André.


    Semir nickte. Ja, es war ziemlich genau 11 Jahre her. André war das letzte Mal nach Köln gekommen, als sich Annas Todestag zum ersten Mal gejährt hatte.

    Danach hatte sie noch ein paar Mal telefoniert, bis auch das irgendwie eingeschlafen war.


    „Es fühlt sich wesentlich kürzer an...“ murmelte Fux gedankenverloren und nahm einen Schluck der selbstgemachten Limonade, die auf dem Tisch stand.


    „Allerdings! Aber deine Tochter hat mich dann doch ziemlich deutlich vor Augen geführt, wie alt wir mittlerweile sind!“ Beide Männer grinsten schief.


    „Wem sagst du das!“


    „Als ich sie letzte Woche auf der PAST das erste Mal gesehen habe, habe ich im Ersten Moment wirklich gedacht, das... das die Chefin wieder vor mir steht.“ Die Aussage trieb André ein wissendes Lächeln auf die Lippen.


    „Das glaube ich dir sofort! Leo hat so unglaublich viel von ihrer Mutter, dass es mich zwischendurch wirklich immer noch erstaunt.“ Er schüttelte kurz mit dem Kopf.


    „Sie ist vor allem genauso dickköpfig und stur!“ Jetzt war es Semir, der grinsen musste.

    Wieso wunderte ihn das überhaupt nicht?



    Eine kurze Pause entstand, in der sie einfach nur über das Tal und die Weinberge mit ihren Reben blickten.


    „Es tut mir leid, dass ich damals den Kontakt so einfach habe abreißen lassen...“ sagte Fux schließlich und sah seinen Freund entschuldigend an.


    „Aber ich habe einfach Abstand zu allem gebraucht und danach irgendwie nicht mehr den Mut gehabt mich bei dir zu melden.“


    „Ist schon okay... Ich hätte mich ja auch bei dir melden können... Es war einfach, alles nicht leicht.“


    „Nein. Das war es nicht. Das war es ganz und gar nicht. Ich habe mich ziemlich lange hier verkrochen und habe mir unendlich Vorwürfe gemacht...“


    „Du, dir?“ Gerkhan war durchaus erstaunt.


    Er hatte gedacht, dass ein Grund, warum André den Kontakt zu ihm hatte abreißen lassen, es gewesen war, weil er und Ben damals nicht schnell genug gewesen waren, um das Drama zu verhindern.


    „Du hättest doch nichts tun können... Wenn Ben und ich nur ein bisschen schneller gewesen wären...“


    Fux lächelte matt und schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass ihr alles und mehr gegeben habt. Aber das habe ich dir ja damals schon gesagt...“ Er starrte einen Moment ins Nichts, bis er fortfuhr:


    „Ich habe am Abend davor eigentlich den letzten Flieger nach Köln nehmen wollen, ihn aber um ein paar Minuten verpasst, weil ich mich am Nachmittag noch mit potentiellen Kunden getroffen hatte. Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt, was wohl gewesen wäre, wenn ich den Flug bekommen hätte. Vermutlich hätten wir dann an dem Morgen gemeinsam beim Frühstück gesessen und Anna wäre gar nicht, oder erst viel später zu Meyer gefahren. Vermutlich wäre ich sogar mit ihr gefahren. Oder ihr hättet ihn zu dem Zeitpunkt schon verhaftet.“ Er schüttelte erneut den Kopf.


    „Und selbst wenn ich es nicht hätte verhindern können, dann hätte ich sie wenigstens noch einmal gesehen...“

    Eine weitere, dieses Mal etwas längere Pause entstand, bis André schließlich lächelte.


    „Aber das ist alles lange her und wir sollten nicht in der Vergangenheit schwelgen, sondern uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren! Also erzähl du mir lieber was auf der PAST so los ist! Hat Köln überhaupt noch eine Autobahn, oder hast du die mittlerweile komplett vernichtet?“


    Gerkhan grinste verschmitzt. „Ein bisschen was ist noch da...“


    „Leonie hat mir erzählt du hast eine erwachsene Tochter, die ebenfalls bei der Polizei ist? Und eine weibliche Partnerin?“


    „Allerdings... Das mit Dana, meiner Tochter, ist auch so eine Geschichte... Ich wusste auch eine ganze Zeit nicht, dass es sie gibt.“


    „Oh, ich bin ganz Ohr!“







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  • Sie unterhielten sich bis es draußen schon ziemlich dunkel war und auch die Temperaturen dazu einluden ins Haus zu gehen.

    Semir stutzte, als André den Esstisch deckte und für drei Personen eindeckt.


    „Erwartest du noch weiter Besuch?“ Fux grinste geheimnisvoll.


    „Allerdings, der müsste auch eigentlich jeden Moment hier eintreffen.“


    Während André das Abendessen aus dem Ofen holte, fuhr vor dem Haus tatsächlich ein Auto vor. „Kannst du bitte die Tür auf machen? Ich kann grad nicht...“


    Semir tat wie ihm geheißen und schritt zur Haustür.

    Als er die öffnete, traute er seinen Augen kaum, wer da gerade eine Reisetasche aus dem Kofferraum des, vermutlichen, Mietwagens holte.


    „Hallo Partner!“ Der Neuankömmling grinste noch immer so verschmitzt wie vor 7 Jahren, als er ihn das letzte Mal gesehen hatte.


    Die Rehbraunen Augen leuchteten immer noch voller Schelm und die braunen, an manchen Stellen mittlerweile grauen Haare, waren noch immer leicht gelockt.


    „Ben?! Das glaub ich jetzt nicht! Was tust du hier?“ Jäger grinste breit, während auch er seinen ehemaligen Partner zur Begrüßung umarmte.


    „Hat André gar nicht gesagt das ich komme?“ er lachte kurz, als sie ins Haus gingen und man aus der Küche hörte:


    „Nein, habe ich nicht! Muss mir altem Mann wohl entfallen sein...“


    „Ich bin immer mal wieder für ein paar Tage hier. Mir gehören ja 10% des Weinguts und ich schaue sehr gerne nach dem Rechten und nehme Wein mit in die USA. Und als ich gehört habe das du kommst, habe ich meinen eh schon geplanten Besuch ein wenig vorverlegt.“ Erklärte Ben.

    Semir konnte sich jetzt daran erinnern, dass Ben ja damals bei der Finanzierung geholfen hatte, als André das Landhaus samt Grundstück gekauft hatte.


    „Der Bursche kommt hier her, genießt die Sonne, trinkt Wein und macht dabei einen auf Chef!“ War es wieder aus der Küche zu hören.


    „Da kann ich leider nichts anderweitiges behaupten...“ Ben zuckte unschuldig mit den Schultern, während sie gemeinsam in die Wohnküche gingen, wo er auch Fux herzlich begrüßte.

    Währen des Essens, das ausgezeichnet war und Semir sich fragte, seit wann André kochen konnte, erzähle Ben was er die letzten Jahre getrieben hatte.

    Karrieretechnisch lief es gut für ihn und auch privat war er voll und ganz angekommen.


    Er hatte vor drei Jahren geheiratet und hatte einen knapp zweijährigen Sohn.


    Auch wenn er die Autobahn hin und wieder vermisste, bereute er seine Entscheidung jedoch keine bisschen, sein Dasein als Polizist beendet zu haben.


    „Ich bin jetzt mein eigener Chef und die Entscheidungen, die ich treffe, entscheiden zum Glück nicht mehr täglich über Leben und Tod.“


    ***


    Nach dem Essen saßen sie bei einer Flasche Rotwein weiter zusammen und schwelget dann doch in der Vergangenheit.


    Aber nur in den schönen Erinnerungen.


    „Erinnerst du dich noch an dein Parkmanöver im Gülleacker?“ lachte Ben und auch Semir musste sofort grinsen. Oh ja, das tat er!


    „Es war deine Schuld André, dass die PAST danach Tage lang nach Kuhmist gestunken hat!“


    „Du hättest dem Trecken ja einfach ausweichen können, so wie ich das gemacht habe!“ konterte Fux, der genau wusste, wovon sie sprachen.


    „Oder die Aktion mit der Hochzeitslimousine vom Schwiegersohn des Polizeipräsidenten? Kurz vor der Hochzeit mit Andrea? Also deiner ersten Hochzeit mit ihr.“


    „Oh ja!“ Alle drei Lachten herzhaft und Fux sagte: „Die Uniformen haben euch wirklich gutgestanden!“


    „Das sehe ich ein bisschen anders... Und ich kann mich noch wörtlich an den Anschiss erinnern, den wir für die Nummer bekommen haben...“ selbst jetzt, nach all den Jahren, stieg Semir noch ein wenig Farbe ins Gesicht.


    „Aber hallo! Wir waren so klein mit Hut!“ stimmte Ben umgehend zu und André nickte wissend. Er war zwar nicht dabei gewesen, hatte aber im Nachhinein davon gehört.


    Und jeder von ihnen hatte mehrfach am eigenen Leib erfahren, wie gut Anna Engelhardt darin gewesen war, sie zusammen zu falten, wenn es nötig gewesen war.

    Ben war es, der schließlich sein Glas zum Toast hob.


    „Auf die Lebende und die Toten, die unser Leben bis hier hin geprägt haben!“


    Semir und André taten es Jäger gleich und hoben ihre Gläser.


    „Auf die Lebende und die Toten!“


    Sie stießen an und Gerkhan konnte beobachten, wie der Blick von Fux für ein paar Sekunden zum Regal an der Wand gegenüber glitt, wo ein Foto aus einer anderen Zeit stand, dass ihn, Anna und Leonie lachend am Strand von Montpellier zeigte.

    In dem Moment erwischte sich Semir Gerkhan einmal mehr bei dem Gedanken, dass früher vielleicht doch alles besser gewesen war.


    Auf der anderen Seite war er in diesem Moment, hier zusammen mit seinen zwei besten Freunden, so glücklich wie schon lange nicht mehr.


    Vielleicht war also doch nicht alles so schlimm, wie es sich in den letzten Monaten immer wieder angefühlt hatte.


    Er musste einfach nur wieder lernen, die guten Dinge im Leben, die sich direkt vor seiner Nase befanden, zu sehen.



    Denn auch sein Glas war nicht halb leer, sondern halb voll!




    The End





    Und nun war es das! Ich hoffe sehr, das ihr Spaß beim lesen hattet und ich euch ein wenig erheitern konnte!



    Vielleicht bis zum nächsten Mal!


    GLG SpeedBird

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  • SpeedBird90

    Hat das Label von in Erarbeitung auf Fertig gestellt geändert.

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