Von den Lebenden und den Toten

  • Ein fröhliches Servus und Hallo in die Runde wünsche ich!

    Bin neu hier und wollte mal kurz 'Hallo' sagen :)



    Was kann ich groß erzählen:

    Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich jemals eigenen Fanfiktions veröffentlichen würde, aber: Corona macht’s möglich!

    Die angeordnete Zwangspause für viele von uns, hat mich mit einem Überfluss an Zeit ausgestattet, den ich versucht habe zumindest ein wenig kreativ zu nutzen und Dinge zu tun, die sonst niemals möglich gewesen wären.


    Cobra 11 hat mich in meiner Jugend (lang, lang ist’s her!) begleitet und war zwischen 2000 und 2008 jeden Donnerstagabend Pflichtprogram.
    In dieser Zeit habe ich auch fleißig FFs gelesen und mich von den vielen tollen Autoren inspirieren lassen und das ein oder andere Mal überlegt selber eine Geschichte zu schreiben. Ideen waren da, Zeit dafür leider nie. Bis jetzt.

    Die Geschichte ist zwar größten Teils ‚Old-School‘ und spielt hauptsächlich im Jahr 2004, ich hoffe aber trotzdem das sie gefällt und auch die jüngere Generation damit etwas anfangen kann.


    *****


    Nun ein bisschen etwas zu der Geschichte selber, und der Idee die da hinter steckt:


    ‚Von den Lebenden und den Toten‘ ist eine Reise durch die Welt von Cobra 11 und beginnt bereits im Jahr 1999.
    Ich habe die Geschichte in drei Teile eingeteilt und insbesondere im ersten und dritten Teil, nehme ich existierende Cobra 11 Folgen, aus denen ich mir mal eine, mal mehrere Szenen ausgesucht habe, die mehr oder weniger so im TV zu sehen waren.

    Hier und da habe ich die Szenen allerdings abgeändert oder etwas ergänzt.

    ‚Hauptpartner‘ von Semir wird Ben Jäger sein. Allerdings habe ich mir die künstlerische Freiheit heraus genommen, ihn zu einem anderen Zeitpunkt zum Cobra Team dazu stoßen zu lassen, als es in der Serie der Fall war.



    Ich bin wirklich gespannt wie diese Geschichte ankommen wird und würde mich natürlich sehr über euer Feedback freuen!

    Viel Spaß beim Lesen!



    GLG, eure SpeedBird!

    I dance in tune with what I fear,

    To do adrenaline!

    Cause' it's overrated how we underrate!

  • Teil 1


    Vergangenheit






    'Taxi 541'




    14. April 1999:


    Königsforst, Kettners Weiher 19:07 Uhr



    Die frische Luft war herrlich und hatte genau die richtige Temperatur zum Joggen.

    Nicht zu warm, aber auch nicht zu kühl, dass es beim Einatmen in den Lungen brannte. Der Waldboden, auf dem sie lief, war vom Regen am Morgen noch immer recht feucht und hier und da musste sie einer Pfütze ausweichen.

    Die Chefin der Autobahnpolizei Köln warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr, die ihr zeigte, dass sie seit einer guten Stunde unterwegs war.

    Sie atmete weiter gleichmäßig ein und aus und steigerte das Tempo für den letzten Kilometer noch einmal.


    Sie hatte das Laufen erst vor einem guten halben Jahr wieder für sich entdeckt, nach dem sie einige Monate zuvor mit dem Rauchen aufgehört hatte. Ein unschönes Laster, das sie viel zu lange mit sich herumgetragen hatte und von dem es höchste Zeit gewesen war, es abzulegen.

    Ihre jüngere Schwester, Christina, hatte sie zudem angestachelt und motiviert, in dem sie an Silvester behauptet hatte, dass sie es niemals schaffen würde, im September den Köln Marathon mit ihr zu laufen.

    Selbstverständlich hatte sie dagegenhalten müssen. Alleine schon aus Prinzip!

    Deswegen war das Joggen mittlerweile ein festes Ritual nach Dienstschluss, welches auch dazu beitrug, dass sie während der Arbeit um einiges ausgeglichener und ruhiger war.


    Ein kurzer Anflug von schlechtem Gewissen überkam sie, als sie daran dachte, dass sie ihren Kollegen und Untergebenen, in der Zeit, als sie mit dem Nikotinentzug zu kämpfen hatte, doch einiges zugemutet hatte.

    Um es auf den Punkt zu bringen: Sie war launisch und unausstehlich gewesen.

    Aber das war zum Glück Geschichte.

    Keine zehn Minuten später stand sie bereits neben ihrem Wagen und dehnte sich zum Abschluss, noch einmal tief die leicht feuchte Waldluft einatmend.



    Anna Engelhardts gute Laune fand jedoch ein jähes Ende, als sie kurz darauf versucht ihr Wagen zu starten. Der schon etwas in die Jahre gekommene Renault machte bereits seit einigen Monaten immer mal wieder Zicken und es war nicht das erste Mal, das er nicht ansprang.

    Erst vor einer Woche hatte André Fux erneut sein Talent als Mechaniker unter Beweis gestellt. Dabei hatte er ihr nahegelegt, sich vielleicht besser nach einem neuen Wagen umzusehen.

    Ja, das sollte sie anscheinend wirklich besser tun. Helfen tat ihr das in dem Moment jedoch auch nicht.


    Da sie Fux nicht schon wieder um Hilfe bitten wollte, entschied Anna kurzerhand bis zur nächsten S-Bahn Haltestelle zu laufen, von wo aus sie in die Kölner Innenstadt fahren konnte. Es war zwar ein ganzes Stück und ihre Begeisterung darüber hielt sich eindeutig in Grenzen, aber es war durchaus in einer guten halben Stunde zu schaffen.

    Genervt stieg die Polizistin wieder aus dem Auto aus, schloss es ab und machte sich an den bevorstehenden Fußmarsch.

    Sie war jedoch erst 100 Meter weit gekommen, als doch tatsächlich ein Taxi auf sie zukam.

    Das Glück schien heute also doch auf ihrer Seite zu sein!



    Das dem ganz eindeutig nicht so war, wurde keine fünf Minuten später mehr als deutlich, als der Fahrer, der ihr eh schon ein wenig komisch vorgekommen war, da er recht nervös wirkte, plötzlich eine Waffe auf sie richtete, den Wagen stoppte und ihr befahl auszusteigen.

    Anna ließ den Blick kurz über ihre Umgebung schweifen und erkannte sofort, dass sie auf sich alleine gestellt war.

    Sie befanden sich noch immer im Wald und es war mehr als unwahrscheinlich, dass ihr hier jemand zur Hilfe kommen würde. Im Hintergrund waren nur die Geräusche der nicht allzu weit entfernten A4 zu hören.

    Ob sie es schaffen würde bis dorthin zu rennen? Es konnten nicht mehr als vielleicht 300 bis maximal 400 Meter sein...

    Aber auch den Gedanken verwarf sie recht schnell. Der Wald war in diesem Abschnitt nur von sehr wenigen Bäumen besiedelt und sie hätte kaum Deckung.


    Ihr Herz schlug wild und Adrenalin zirkulierte durch ihren Körper.

    Aber es war nicht das erste Mal, das jemand eine Waffe auf sie richtete. Wenn jemand eine Chance hatte aus dieser Situation zu entkommen, dann sollte das ja wohl sie sein!

    Auch wenn es schon zwei Jahre her war, das sie viel und regelmäßig im Außendienst bei Einsätzen tätig gewesen war.

    Die zwei Jahre am Schreibtisch konnten wohl nicht alles zunichte gemacht haben, was sie in ihren davor, knapp 13 Jahren Dienst auf der Straße gelernt hatte!


    „Los, vom Auto weg und auf den Boden!“ befahl der vollbärtige Fahrer und fuchtelte nervös mit der Pistole.


    „Hören sie... Wenn sie Geld wollen... Mein Portemonnaie ist in meiner rechten Jackentasche. Sie können es haben...“ versuchte sie den Mann zu beruhigen. Auch wenn sie nicht glaubte, dass er es auf Geld abgesehen hatte.


    „Auf den Boden habe ich gesagt!“


    „Okay, okay...“ Sie tat so als wolle sie der Aufforderung nachkommen. In dem Moment machte der Kerl jedoch den Fehler, auf den die Polizistin gehofft hatte.


    Wie viele Verbrecher, die eine Waffe auf jemand richteten, kam auch er zu nah an sein potentielles Opfer heran und verspielte so den Vorteil der Pistole in seiner Hand, bei der es sich ja eindeutig um eine Distanzwaffe handelte.

    Das was folgte, waren Bewegungen, die sie seit ihrer Ausbildung an der Polizeischule unzählige Male geübt hatte, die ihr schon das ein oder andre Mal den Hals gerettet hatten und ihr mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen waren.

    Mit einer schnellen Bewegung trat Anna einen Schritt nach vorne und schlug nach der Hand des Mannes, in der er die Pistole hielt, so dass sie von ihrem Körper weggerichtet war.


    Der krachende Schuss, der sich keine Sekunde später löste, konnte ihr so nichts mehr anhaben und die Kugel schlug harmlos im Boden ein.

    Mit derselben Bewegung verpasste sie dem Typen einen gezielten und kräftigen Tritt zwischen die Beine.

    Wenig elegant, aber sehr effektiv.

    Der Mann heulte vor Schmerzen und ging umgehend zu Boden. Die Pistole hatte er dabei fallen gelassen, um sein schmerzendes Gemächt zu schützen.

    Ohne groß nachzudenken schwang sich Anna hinter das Steuer des Taxis, dessen Motor noch immer lief, und gab Gas.


    Weit kam sie jedoch auch dieses Mal nicht.


    Der Kerl schien im Nehmen härter zu sein als sie es gedacht hatte. Er hatte sich binnen kürzester Zeit von dem Tritt erholt und hatte ihr wieder mit der Waffe in der Hand nachgesetzt.

    Links und rechts neben dem Waldweg befand sich ein Graben und bis zur nächsten Kurve war es noch ein Stückchen, weswegen es kaum keine Ausweichmöglichkeiten gab und die jetzt abgefeuerten Kugeln nacheinander in dem Taxi einschlugen.

    In Geduckter Haltung fuhr sie unbeirrt weiter, bis eine der Kugeln das rechte Hinterrad traf und es zerfetzte.

    Da der nasse Waldboden eh schon wenig halt gab, kam das Auto sofort gefährlich ins Schlingern.


    Anna tat das, in ihren Augen, einzig Richtige in dem Moment und gab noch einmal Gas. Der Motor des alten Mercedes heulte auf und anstelle, um die Kurve zu fahren, schoss er geradeaus zwischen mehreren Bäumen hindurch und rutschte den dahinterliegenden Abhang hinunter.


    Den Abhang, der als Lärmschutzwall für die dahinter liegende A4 diente.




    ***********

    Szenen aus Cobra 11, Staffel 3, Folge 44 'Taxi 541'



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  • 14. April 1999


    PAST, an der A4 bei Hürth, 19:20 Uhr



    Kriminalhauptkommissar André Fux schaltete erleichterte seine Computer aus. Im gegenüber tat sein Partner dasselbe.

    Eigentlich hätten sie schon vor gut zwei Stunden in den Feierabend gehen können.


    Eigentlich.


    In den letzten vier Wochen waren sie mit dem Schreiben von ihren Berichten derart in Verzug geraten, dass der Chefin am Vormittag endgültig der Kragen geplatzt war und sie ihnen eine Deadline bis zum nächsten Morgen 09:00 Uhr gesetzt hatte. Ansonsten würde es zwei Wochen Innendienst für sie beide geben.

    Da sie darauf mehre als gut verzichten konnten, hatten sie sich umgehend an die Arbeit gemacht und seither all ihre noch offenen Berichte geschrieben und abgearbeitet.


    „Nu los Partner! Zur Feier des Tages lade ich dich auf eine Currywurst ein!“


    „Ach ja?“ Semir grinste in seine Richtung. „Was gibt’s denn zu feiern?“


    „Na, dass ich mir beim Tippen keine Blase an den Finger geholt habe!“ Fux grinste ebenfalls und gemeinsam schritten sie durch das Hauptbüro in Richtung Ausgang.


    Sie schaffte es jedoch nur bis zum Ausgang aus dem Großraumbüro, ehe ein überraschter „WAS?!“ Ruf von Dieter Bonrath, sie innehalten ließ.


    „Nein, natürlich, wir kommen sofort!“ Der Hüne sah in Semir und Andrés Richtung, während er auflegte.


    „Auf der A4 hat es einen Unfall gegeben. Und die Engelhardt ist mittendrin!“ verkündete er schließlich. Fux und Gerkhan musste nicht mehr hören. Genau wie Bonrtah und Herzberger waren sie bereits auf dem Weg!



    Zu ihrer aller Erleichterung stellten sie vor Ort sofort fest, dass ihrer Vorgesetzten nichts passiert war.

    Als sie erzählte, wie es zu dem Unfall gekommen war, staunten sie allerdings nicht schlecht.


    „Und sie haben keine Ahnung was der Taxifahrer von ihnen wollte?“ fragte Semir, währen André sich das leicht demolierte Taxi genauer ansah.


    „Nein. Er wollte kein Geld und hat auch sonst keine Anstalten gemacht irgendetwas zu versuchen. Ich hatte den Eindruck, dass er mich einfach nur erschießen wollte...“


    „Das kann gut sein!“ verkündete Fux, der soeben den Kofferraum des Taxis geöffnet hatte. „Allerdings glaube ich nicht, dass es sich bei dem Kerl um den Fahrer gehandelt hat.“


    Semir und die Chefin sahen ihn fragend an und André bedeutet ihnen zu ihm zu kommen.

    Als sie um das Auto herum traten, sahen sie sofort was Fux meinte:

    Im Kofferraum lag die Leiche eines Mannes, der offensichtlich erschossen worden war.


    „Ich denke das das hier der eigentliche Fahrer ist.“ André sah seine Vorgesetzte an.


    „Und ich glaube das sie seinen Mörder getroffen haben, Chefin.“





    15.April 1999


    PAST, 16:53 Uhr




    „Das Blut, was ich heute Morgen in der Sandstraße gefunden habe, wo unser getöteter Fahrer

    zuletzt hinbestellt wurde, stammt eindeutig von unserem Opfer.“

    Verkündete Semir, nach dem der Bericht aus der KTU eingetroffen war und er ihn überfolgen hatte.


    „Es scheint so, als ob der Mörder ihn zu sich bestellt hat und ihn auch gleich vor Ort erschossen hat.“ Semir sah zur Chefin, die im Türrahmen zu seinem und Andrés Büro lehnte. „Vermutlich wollte er die Leiche im Wald loswerden. Das passt zu dem Spaten, der im Kofferraum gelegen hat.“


    „Ja, genau. Aber bevor er das konnte, sind sie zu ihm ins Auto gestiegen.“ Stimmte Fux zu und auch Anna nickte. Das klang durchaus plausibel.

    Blieb die Frage, warum der Taxifahrer getötet wurde. Und natürlich von wem.


    „Wer wohnt an der Adresse, wo sie das Blut gefunden haben, Semir?“ fragte die Chefin.


    „Niemand. Das Haus steht leider seit Monaten leer.“


    „Schade. Aber das war ja leider zu erwarten. Hat die Überprüfung der anderen Fahrgäste etwas ergeben? Und die Überprüfung der Konten?“


    „Leider auch Fehlanzeige...“ Semir schüttelte ein wenig mürrisch den Kopf.


    „Na gut... Machen sie Schluss für heute. Sie haben gestern schon genug Überstunden gemacht.“


    Gerkhan nickte zustimmend. Ihm fiel momentan nichts ein, was sie aktuell noch tun konnten.


    „Soll ich mir ihr Auto nochmal anschauen?“ fragte André, da auch ihm nichts einfiel, was sie sonst tun konnten.


    „Das kann ich wirklich nicht von ihnen verlangen. Ich hatte vor ihn abschleppen zu lassen.“


    „Ach Quatsch! Das ist kein Problem!“ Er grinste. „Außerdem nehme ich es persönlich, dass er schon wieder Zicken macht, obwohl ich ihn erst von einer Woche repariert habe.“


    „Sind sie sicher?“


    „Na klar! Das wäre doch wohl gelachte, wenn ich den nicht wieder zum Laufen bekommen würde!“


    Sie verließen gemeinsam die PAST, in dessen Eingangsbereich zu dem Zeitpunkt Herzberger und Semir hinterm Empfangstresen standen. Während Zweiter damit beschäftig war etwas abzuheften, sah Hotte Fux und der Chefin mürrisch hinterher.

    Kurz zuvor hatte er der Engelhardt angeboten sie nach Hause zu bringen, was diese jedoch dankend abgelehnt hatte.


    „Klar, mit André fährt sie...“ murmelte er mit Neid in der Stimme und fragte an Semir gewandt: „Was hat der, was ich nicht habe?“


    Semir grinste verschmitzt und überlegte kurz ob er ehrlich darauf antworten sollte, tat es dann aber tatsächlich:


    „Was soll ich sagen: Keine Unterhaltszahlungen für Frau und Kind, keine Hypothek auf dem Haus und André hat ganz klar sein ideal Gewicht...“


    Nach der Antwort war Herzberger noch um einiges pikierter, während Semir schnell das Weite suchte.



    ***********

    Szenen aus Cobra 11, Staffel 3, Folge 44 'Taxi 541'


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  • 15.April 1999


    Königsforst, Kettners Weiher 18:39 Uhr




    „Hmm... Hier am Motor kann ich nichts finden.“ André lugte hinter der geöffneten Motorhaube hervor. „Versuchen sie ihn einfach noch mal anzulassen.“

    Anna tat was er verlangte, oder vielmehr versuchte es. Sie verdrehte genervt die Augen.


    „Das Zündschloss klemmt mal wieder...“


    „Ah...“ Fux grinste wissend. Das war auch nicht das erste Mal...


    Er trat neben die geöffnete Fahrertür und kniete sich hin, während die Chefin weiter versuchte das widerspenstige Zündschloss zu zähmen.

    Gerade als er sich hingekniet hatte, fiel dem Polizisten ein dünner Draht auf, der von der Lenksäule wegführte und in Richtung des Bodens verschwand.

    Binnen Sekunden begriff er, warum das Zündschloss dieses Mal vermutlich klemmte...

    Ohne zu zögern packte er seine Vorgesetzte am Arm und zog sie aus dem Fahrersitz, genau in dem Moment, als das Schloss nachgab und sie den Schlüssel umdrehte.


    Das der Zündfunke einige Sekunden verzögert kam, rettete ihnen das Leben! Nichtsdestotrotz wurden sie von der folgenden Explosion mehrere Meter weit von dem Auto weggeschleudert und landeten auf dem, zum Glück, immer noch feuchten Waldboden, so dass der Aufprall eine wenig Gedämpft wurde.

    Den ein oder anderen blauen Flecken würde es dennoch geben, das stand außer Zweifel.

    Während die letzten Trümmerteile zu Boden fielen, legte sich Fux schützend über die Frau unter sich.

    Innerhalb kürzester Zeit war alles vorbei und beiden Polizisten rappelten sich wieder auf. Die Chefin starrte dabei mit offenem Mund und leichten entsetzen im Blick auf das brennende Wrack, das noch vor eine Minute ihr Wagen gewesen war. Im nächsten Moment rief sie jedoch mit leichter Panik in der Stimme:


    „Um Gottes willen! Fux, sie brennen!“


    André hatte nicht bemerkt, dass seine Jacke am Rücken Feuer gefangen hatte. In Windeseile entledigte er sich des brennenden Kleidungsstücks und trat die Flammen am Boden aus.


    „Haben sie sich verletzt?“ Anna begutachtete bereits die Stelle am Rücken wo die Jacke gebrannt hatte. „Ne, alles gut. Ist nichts durch gegangen.“


    Auch André sah nun ein wenig geschockt in Richtung des brennenden Wracks. Der Typ hatte sich anscheinend in den Kopf gesetzt die einzige Zeugin zu beseitigen.


    Verdammt!


    Wieso hatte sie da nicht sofort dran gedacht! Er kickte wütend ein paar Steine beiseite. Auch die Chefin schien zu begreifen, dass sie den Kerl wohl unterschätzt hatten und er noch nicht aufgegeben hatte, sie aus dem Weg zu schaffen.

    Nach dem André die Feuerwehr und die Kollegen verständigt hatte deutete er mit einem schiefen Grinsen auf das noch immer brennende Auto.


    „Ich fürchte, da kann selbst ich jetzt nicht mehr viel machen...“ seine Worte hatten den gewünschten Effekt und Anna lachte kurz.


    „Ja... Ich denke um ein neues Auto werde ich wohl jetzt nicht mehr drum herum kommen...“



    ***



    Eine dreiviertel Stunde später hatten die Kollegen der Kriminaltechnik bereits ihre Arbeit aufgenommen.

    Semir, André und die Engelhardt standen etwas Abseits. Letztere schüttelte erneut den Kopf, als sie zu dem verkohlten Wrack hinübersah.

    Das war vorhin knapp gewesen. Richtig knapp.


    „Der Kerl meint es bitterernst und wir haben ihn gehörig unterschätz!“ verkündete Gerkhan soeben. „Ich denke, dass sie fürs Erste Personenschutz benötigen, Chefin.“


    Es stand der Engelhardt sofort deutlich ins Gesicht geschrieben was sie davon hielt, allerdings kam auch sie nicht umher zu erkennen, dass es in der Tat angebracht war.

    Etwas widerwillig nickte sie deshalb.


    „Gut! Semir kümmerst du dich darum?“ André sah von seinem Partner zu seiner Chefin. „Und sie, bringe ich jetzt nach Hause. Wie war das noch gleich? Seesternstraße?“


    „Fast... Seestraße...“ Als sie das sagte, schoss Anna ein weiterer Gedanke in den Kopf. Sie hatte dem Typen gestern gesagt, wo sie wohnte!


    „Stimmt was nicht?“ Semir sah sie fragen an, während die Chefin kurz die Augen schloss.


    „Ich habe dem Kerl gestern meine Adresse genannt...“


    Natürlich hatte sie das!

    André konnte nicht glauben, dass sie auch daran nicht gedacht hatten! Sie benahmen sich momentan wirklich wie die letzten, stümperhaftesten Anfänger!

    Das musste schleunigst aufhören!


    Der angeforderte Personenschutz war recht zügig eingetroffen, allerdings stand erst ab dem nächsten Morgen ein komplettes Team zur Verfügung.

    Daher beschloss André, dass er das Team bis zum Morgen unterstützen würde. Nachdem er und Semir die Wohnung der Chefin Zimmer für Zimmer kontrolliert hatten und nichts Verdächtiges hatten finden können, betrat auch die Besitzerin in Begleitung von Bonrath und Herzberger kurz darauf das Wohnzimmer.

    Sie hatten auf eine Hotel Unterbringung mit voller Absicht verzichtet. Wenn der Kerl es wieder versuchen würde, hatten sie so eine Chance ihn recht schnell zu schnappen.

    Und auch deswegen stand es für Fux außer Frage, dass er die Nacht dableiben würde. Den Kollegen vom Personenschutz traute er leider, aus Erfahrung, nicht allzu viel zu.


    „Soll ich nicht vielleicht auch besser hierbleiben?“ bot Hotte an.


    „Vielen Dank Herzberger, aber das ist wirklich nicht nötig...“


    „Sind sie sicher Chefin? Ich meine zwei Bodyguards sind besser als einer!“


    „Das ist wirklich nicht nötig!“


    Nachdem Semir, Bonrath und sogar Herzberger kurzdarauf gegangen waren und auch die Personenschützer wieder vor dem Haus Stellung bezogen hatten prüfte André erneut das alle Fenster verschlossen waren und die Umgebung ruhig war.


    „Mögen sie Nudeln mit frischem Pesto? Vielmehr habe ich im Moment leider nicht im Kühlschrank.“ Entschuldigte sich die Chefin als er zu ihr in die Küche trat.


    „Nudel und Pesto klingt doch gut, danke! Kann ich was helfen?“


    „Auch Quatsch! Sie haben heute schon mehr als genug getan, André!“


    I dance in tune with what I fear,

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  • 15. April 1999


    Wohnung der Chefin, Köln Eigelstein 22:52 Uhr




    Das sie sich äußerst gut verstanden zeigte sich auch an diesem Abend wieder.


    Obwohl die Umstände nicht schön waren und André seine Aufgabe sehr ernst nahm und regelmäßige Updates von den Kollegen vorm Haus einforderte, war sowohl das Essen als auch die Unterhaltung danach sehr vergnüglich gewesen.

    Sie hatten sich vom ersten Tag an, seit Anna im März 1997 die Leitung der Autobahnpolizei von ihrer Vorgängerin, Katrin Lamprecht, übernommen hatte, gut verstanden und recht schnell festgestellt, dass sie nicht nur denselben Humor hatten, sondern auch sonst bei vielen Dingen auf einer Wellenlänge schwammen.

    Daraus war eine Art Freundschaft entstanden, die ein wenig über ihr dienstliches Verhältnis hinaus ging. Es war bei weitem nicht mit der Freundschaft zu vergleichen, die André und Semir verband, aber man schätze und mochte sich.


    „Habe ich bei ihrer Wahl für das neue Auto eigentlich Mitspracherecht?“ fragte Fux frech als sie sich auf der Couch gegenübersaßen.


    „Warum sollten sie?“


    „Naja, ich werde es dann ja wohl auch wieder sein, der daran herumschraubt, wenn es kaputt geht.“


    „Ha-Ha!“ Anna rollte mit den Augen, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen. Das war durchaus ein gerechtfertigter Einwand.

    Sie warf einen Blick auf die Uhr, die bereits kurz vor 23:00 Uhr anzeigte und sah fragend in Andrés Richtung.


    „Wollen sie im Gästezimmer oder hier auf der Couch im Wohnzimmer schlafen?“

    Er überlegte kurz und deutete dann schließlich auf das Sofa, auf dem er saß. So würde er eher mitbekommen, wenn jemand die Wohnung betrat.


    „Dann stehen sie mal eben auf. Man kann das Sofa noch ausziehen.“


    „Oh, wie praktisch!“ Das würde es bequemer machen, als er gedacht hatte. Mit wenigen Handgriffen und vereinten Kräften hatten sie das Sofa in kürzester Zeit aufgeklappt und Anna hatte frischbezogenes Bettzeug aus dem Gästezimmer geholt, das sie ihm zuwarf.


    ***


    Wie genau es zu dem gekommen war, was kurz danach geschah, konnte Anna auch Jahre später nicht so wirklich sagen.

    Und sie war sich auch nicht sicher, von wem es ausgegangen war oder wer den ersten Schritt gemacht hatte.

    Mit einem Mal waren sie sich so nah gewesen wie noch nie zuvor und blickten stumm in die Augen des Anderen. Sie hatten dem daraus entstanden Impuls einfach nachgegeben und schon im nächsten Moment hatten sich ihre Lippe sanft berührt.


    Der erste Kuss war von Zögern und unausgesprochenen Fragen geprägt gewesen. Beides wurde jedoch recht schnell durch erkundungsfreudiges Interesse und Verlangen nach Mehr abgelöst, dem sie Beide, ohne großes Bedenken, nachgaben.

    Ein Kuss führte zum nächsten und binnen kürzester Zeit hatte sie sich von André in das gerade erst dort platzierte Bettzeug auf der Schlafcouch drücken lassen.


    Aus sanften, unschuldigen Berührungen, wurde schnell sehr viel mehr, während Kleidungsstücke achtlos zu Boden fielen.

    Es war offensichtlich, dass sie, ohne es zu hinterfragen, ihren Instinkten folgten und dabei keine Sekunde an mögliche Folgen ihres Handelns dachten.

    Das ‚Hier und Jetzt‘ war alles, was in dem Augenblick für sie zählte und jegliche Vorsicht und Zurückhaltung wurde von ihnen für eine Nacht über Bord geworfen, als ihre Körper sich vereinten und Eins wurden.



    Erst mit dem Erwachen am nächsten Morgen hielt auch die Vernunft wieder Einzug und die erste Gewissheit setzte ein, dass ihr unbedachtes Handeln von der vorangegangenen Nacht wohl keine gute Idee gewesen war und unangenehme Konsequenzen mit jeder Menge Ärger nach sich ziehen konnte.

    Unangenehmes, bedrücktes Schweigen hing genauso schwer im Raum, wie der Geruch nach Sex.

    Sowohl Anna als auch André setzte mehrfach an, um zu sprechen, wussten dann aber doch nicht was sie sagen sollten oder wollten.

    Schließlich entschied sich Fux für die Flucht ins Badezimmer, wo er duschte und sich anzog.


    Unter der Dusche hatte André mehrfach lautstark geflucht und frustriert gegen die Fliesen geschlagen. Wie um alles in der Welt hatte er dem Impuls, dem Drang, nachgeben können sie zu küssen?

    Er konnte sie wirklich gut leiden und wusste, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Hier und da hatte es in den letzten zwei Jahren auch Wortgeplänkel gegeben, die ein Außenstehender durchaus als filierten bezeichnet hätte, aber es hatte eine eindeutige Grenze gegeben, von der er gedacht hätte, dass er sie nie überschreiten würden.

    Und dass Anna sie auch unter keinen Umständen überschreiten würde!

    Wozu sie sich die letzte Nacht hatten hinreißen lassen, war in mehr als einem Punkt falsch!


    Als André die schmale Wendeltreppe ins Wohnzimmer hinunterstieg las er auf dem Gesicht der Wohnungsbesitzerin, das sie anscheinend genau dasselbe dachte. Anna war es dann auch, die endlich das Schweigen durchbrach:


    „Das hätte nicht passieren dürfen...“


    „Nein... Hätte es nicht...“


    „André, wenn das raus kommt...“


    „Ich weiß... Ich weiß...“


    „Dann sind wir uns einig, dass das nie passiert ist?“


    „Ja! Da sind wir uns einig!“ Er nickte heftig und auch Anna schien damit einigermaßen zufrieden zu sein, da ein wenig Anspannung aus ihren Gesichtszügen verschwand.

    Entspannt, wirkte sie dennoch nicht.

    Und das war sie auch nicht.

    Die Chefin fühlte sie mies und schuldig. Das hätte auf keinen Fall geschehen dürfen! Gewisse Grenzen überschritt man einfach nicht! Und mit einem Untergebenen zu schlafen war für sie ganz eindeutig eine dieser Grenzen.


    „Also gut...“ Fux deutete in Richtung Wohnungstür und räusperte sich. „Meine Ablösung kommt gleich... Ich sollte langsam runter gehen...“


    „Ja, natürlich!“ die Antwort wirkte überhastete und wurde erneut von Schweigen abgelöst.

    Erst in der Tür bleib André noch einmal stehen und wandte sich zu Anna um.


    „Zwischen uns ist aber alles okay und wir bekommen keinen Stress miteinander, oder?“


    Er verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen, das jedoch etwas hilflos wirkte als er sagte: „Sowas ist doch schon ganz anderen passiert...“


    „Ich hoffe doch, dass alles okay ist und wir keinen Stress miteinander bekommen. An mir wird es nicht scheitern.“


    „An mir auch nicht...“ Mit den Worten verschwand er durch die Tür und ließ seine Chefin alleine in ihrer Wohnung zurück. Er hoffte innständig, dass sie wirklich keine Probleme miteinander bekommen würden...


    Aber so etwas sagte sich immer so leicht.

    Vor der Wohnung vergewisserte er sich, dass seine Ablösung da war und auch die Übrigen Personenschützer an ihren Plätzen waren.

    „Passt mir ja gut auf die Frau auf!“ mahnte er eindringlich, bevor er sich in seinen Dienstwagen setzte und Richtung PAST fuhr.


    I dance in tune with what I fear,

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  • Der Tod eines Jungen


    03.Mai 1999:


    PAST, 14:17 Uhr



    André Fux saß alleine in der kleinen Küche und rührte seit mehreren Minuten Zucker in seinen Kaffee.

    Die Bilder vom heutigen Morgen wollten einfach nicht aus seinem Kopf verschwinden.

    Der dunkelhaarige Junge, der blutüberström in den Armen seiner Mutter lag und für den jeden Hilfe zu spät gekommen war.

    Genauso gedankenverloren wie er unaufhörlich Zucker in seinen Kaffee gekippt hatte, griff er jetzt nach der Tasse und wollte einen Schluck des inzwischen kalten Getränks nehmen, wurde jedoch von seiner Vorgesetzten davon abgehalten.


    „Das würde ich an ihrer Stelle nicht mehr trinken...“ Fux sah auf und blinzelte etwas verwirrt in ihre Richtung.

    Als er den leeren Zuckertopf vor sich auf dem Tisch stehen sah, auf den die Chefin deutete, begriff er jedoch und ein schiefes Grinsen trat kurz auf seine Lippen.

    „Danke für die Warnung...“ Er schob die Zuckerkaffeemischung von sich weg und nahm die frische Tasse Kaffee, die sie ihm jetzt reichte, dankend entgegen.


    Die Chefin zögerte kurz, setzte sich dann aber doch zu ihm an den Tisch. Seit ihrem ‚Unfall‘ von vor knapp drei Wochen waren sie wie auf Zehenspitzen umeinander hergeschlichen und waren sich, wann immer es möglich war, aus dem Weg gegangen.


    „Wer macht so etwas?“ André sah sie bei der Frage direkt an. „Wer schießt auf einen neunjährigen Jungen?“


    Sie hielt dem Blick stand, konnte aber nur matt mit dem Kopfschütteln. „Ich weiß es nicht...“


    „Herr Gott! Er hatte sein ganzes Leben doch noch vor sich! Wenn ich doch nur...“ Die Chefin unterbrach ihn mit einem entschiedenen Schütteln ihres Kopfes.


    „Sie hätte nicht mehr tun können.“ Anna zögerte erneut, legte dann aber doch sachte eine Hand auf seine.


    „Das ist wohl das härteste an unserem Beruf: Manchmal können wir einfach nichts mehr tun. Auch wenn wir alles in unserer Macht Stehende versuchen. Und sie haben alles gegeben und getan was sie konnten.“


    André nickte, dankbar für die ehrlichen Worte. Dabei trafen sich ihre Blicke und für einen kurzen Augenblick glaubte er dieselbe Nähe zu fühlen, die er vor knapp drei Wochen gefühlt hatte. Schon im nächsten Moment wandte sich die Chefin jedoch von ihm ab und das Gefühl verflog. Sein Eindruck der letzten Tage, dass sie sich dringend unterhalten sollten, verfestigte sich dadurch jedoch.


    „André!“ Semirs Ruf holte ihn endgültig aus seinen Gedanken und er wandte sich seinem Partner zu.


    „Ich habe da vielleicht etwas zu diesem Carlos Berger gefunden, dem Vater des Jungen, komm mit!“ Das ließ Fux sich nicht zwei Mal sagen und sprang von seinem Stuhl auf.






    04.Mai 1999:


    PAST, 10:04 Uhr



    Die schlechte Stimmung von Vortag hatte sich noch verschlimmert.

    Am späten Abend war auch noch die schwerverletzte Mutter, des gestern Morgen getöteten Jungen, bei einem Anschlag im Krankenhaus ums Leben gekommen.

    André und Semir schritten gerade mit gesenkten Köpfen durch das Hauptbüro, als sie aufgebrachte Stimmen aus dem Büro der Chefin hörten. Schon im nächsten Moment flog die Bürotür auf und die Engelhardt kam auf sie zu gelaufen. Im Schlepptau einen hochgewachsenen Mann.


    „Meine Herren, darf ich ihnen Herrn Kessler vom BKA vorstellen? Er ist im Fall Carlos Berger zuständig.“ Anna deutete auf das Büro der Kommissare und alle vier traten ein.


    „Sie beide haben keine Ahnung was für eine Tragweite der Fall ‚Berger‘ hat!“ polterte Kessler auch gleich los.


    „Oh das denke ich doch! Ein neunjähriges Kind und seine Mutter sind tot!“ zischte Fux wütend und baute sich vor dem Anzugträger auf.


    „Das ist sehr bedauerlich, aber ihre Ermittlungen gefährden die monatelange Arbeit der SOKO ‚Mallorca‘!“


    Gerkhan schnaubte im Hintergrund abfällig und auch die Chefin konnte sich einen missmutigen Laut nicht verkneifen, ehe sie sagte:


    „Herr Kessler hier hat mich gebeten, ihnen beiden zu sagen, dass sie doch ab jetzt bitte die Füße stillhalten sollen.“


    „Hat er das?“ Semirs Augen verengten sich zu Schlitzen. „Seit wann hat das BKA Weisungsbefugnis über die Autobahnpolizei?“


    „Hat es nicht... Weswegen ich dem auch nicht nachkommen werde.“ Kessler warf der Chefin einen wütenden Blick zu. Was bildete sich diese Frau eigentlich ein?


    „Aber ich habe einen Vorschlag.“ Anna sah zu André und Semir. „Was würden sie beide davon halten, wenn ich sie für die Ermittlungen freistellen würde?“


    „Freistellen?“ Fux sah sie fragend an.


    „Soweit mir bekannt ist, ist das BKA chronisch unterbesetzt und kann dringen Hilfe bei der SOKO ‚Mallorca‘ gebrauchen. Sie würden während ihrer Freistellung, Herrn Kessler unterstehen und würde für ihn arbeiten. Dadurch können sie weiter ermitteln und das BKA bekommt die dringend gebrauchte Unterstützung auf Mallorca.“ Anna sah in die Runde. „Was halten sie davon?“


    Auch wenn es offensichtlich war das die drei Männen nur sehr ungerne zusammenarbeiten wollten, erkannte sie doch alle, dass sie dadurch nur Vorteile hatten.


    „Also gut...“ Kessler nickte grimmig. „Der Flieger geht in vier Stunden!“



    Bevor André nach Hause fuhr, um eilig ein paar Sachen zu packen, ging er noch einmal zur Chefin ins Büro.

    Anna sah ihm vom Schreibtisch aus entgegen, einen etwas fragenden Ausdruck auf dem Gesicht. „Gibt es noch etwas?“


    „Danke das sie sich für uns eingesetzt haben.“ Er lächelte sie ehrlich dankbar an, was sie erwiderte.


    „Das ist doch selbstverständlich.“ Anna legte den Kopf leicht zur Seite und fügte hinzu:


    „Der Fall bedeutet ihnen viel.“ Fux nickte bedächtig und trat näher an den Schreibtisch heran.


    „Lassen sie das Ganze trotzdem nicht zu nah an sich heran.“ Ein Anflug von Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit, die ihm nicht verborgen blieb.


    „Und passen sie bloß auf sich auf, André!“


    „Das werde ich. Versprochen!“


    Ihre Blicke trafen sich erneut und dieses Mal sah Anna nicht sofort weg.

    Dasselbe Gefühl von Nähe und Vertrautheit, dass er schon gestern geglaubt hatte zu fühlen, überkam ihn erneut. Die Sekunden verstrichen, bis er die Lippen zu einem leicht verlegenen Lächeln verzog.


    „Ich muss dann mal... Sonst fliegt Semir noch alleine nach Mallorca und trink vermutlich nur Sangria am Strand, anstatt zu arbeiten.“ Die Chefin lächelte und deutete in Richtung Tür.


    „Worauf warten sie dann noch? Sehen sie zu, dass sie hier rauskommen.“ Anna zwinkerte ihm zu.


    Als André nach der Türklinke griff, hielt er noch ein letztes Mal inne und wandte sich um.

    „Wenn ich von Mallorca wiederkomme, sollten wir uns, glaube ich, noch einmal ganz in Ruhe unterhalten.“ Anna begriff sofort was er meinte und nickte langsam.


    „Ja... Das sollten wir wohl wirklich...“ Fux nickte zufrieden und ging mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen aus dem Büro.


    Anna starrte noch eine ganze Weile gedankenverloren und mit einem eigenartigen Gefühl in der Brust, auf die Stelle, an der er zuletzt gestanden hatte, ehe sie den Kopf schüttelte und sich wieder den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch widmete.



    **********

    Szene aus Cobra 11, Folge 46, Staffel 3, 'Der Tod eines Jungen'



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  • Ein einsamer Sieg




    06. Mai 19999:

    Mallorca, Bucht bei Port d’Andratx 17:11 Uhr




    Er wusste das es vorbei war.


    In dem Moment als Carlos Berger die Harpune auf ihn richtete, wusste André Fux, dass seine Zeit gekommen war und er jetzt sterben würde.


    André beobachtete noch wie Berger sich mit dem Handrücken Blut vom Mund wischte. Seine Lippen verzogen sich daraufhin wie in Zeitlupe zu einem fiesen Grinsen, als er den Finger am Abzug krümmte.


    Der Pfeil schoss nach vorne und fand sein Ziel.


    Fast schon ein wenig ungläubig starrte Fux auf das Stück Metall, das jetzt aus seiner Körpermitte herausragte.

    Aber er fühlte kaum Schmerzen und eine merkwürdige Welle der Erleichterung durchflutete seinen Körper. Er hatte es sich schlimmer vorgestellt von einer Harpune durchbohrt zu werden...


    Erst jetzt drang der ohrenbetäubende Lärm, den der Helikopter, der über dem Motorboot schwebte, verursachte, wieder zu ihm durch. Wenn er sich konzentrierte, glaubte er auch die entsetzen Schreie seines Partners und Schüsse zu hören.

    André trat einen taumelnden Schritt nach hinten und fühlte im nächsten Augenblick wie er fiel. Das noch recht kalte Mittelmeerwasser empfing ihn mit offenen Armen und umschloss ihn innerhalb weniger Sekunden komplett.

    Die so entstehende Stille war das friedlichste, was er jemals erlebt hatte. Mit jeder Sekunde sank er ein wenig tiefer, der Dunkelheit entgegen, völlig abgeschnitten und losgelöst von Allem.


    Ein letztes Mal fühlte er Bedauern, als er an seinen Partner und Freund dachte, der jetzt ohne ihn zurechtkommen musste.

    Vermutlich würden Semir, die Kollegen und ein paar seiner engen Freunde auch die Einzigen sein, die um ihr trauern würden.

    Sein Vater war abgehauen als er noch ein Teenager gewesen war und seine Mutter vor knapp drei Jahren einem Krebsleiden erlegen. Geschwister hatte er keine. Allzu sehr würde man ihn also nicht vermissen.


    Er bedauerte es jedoch zutiefst, dass es niemals zu dem Gespräch zwischen ihm und Anna Engelhardt kommen würde, dass sie nach seiner Rückkehr nach Köln hatten führen wollen. Kurz fragte er sich was wohl hätte werden können, aber der Gedanke verflog genau so schnell wie er gekommen war.


    Vermutlich war es auch besser so.


    So konnte sie um einen Kollegen trauern und schon bald wäre er nur noch eine Erinnerung, die immer weiter verblassen würde. Und damit würde auch die Erinnerung, an die eine Nacht, in der sie mehr als nur Kollegen gewesen waren, verblassen.


    André blinzelte gegen das gebrochene Licht der Sonne.


    Vollkommenen Leichtigkeit überkam ihn als er schließlich vollends von endloser Dunkelheit umschlossen wurde...



    ***



    Semir schrie voller Entsetzen und konnte nicht glauben was er da zu sehen bekam!


    „ANDRÈ!!“


    Nein! Das konnte nicht sein!


    Das dufte nicht sein!


    „ANDRÈ!“ brüllte er erneut aus vollen Leibeskräften. Er musste etwas tun!


    Sofort!


    Er feuerte das gesamte Magazin seines Revolvers auf Carlos Berger. Mehrere Kugeln fanden ihr Ziel.


    Ohne weiter groß nachzudenken setzte er anschließend an und sprang mit dem Kopf voraus aus dem Helikopter in Richtung des azurblauen Meeres, das soeben seinen Freund und Partner verschluckt hatte.

    Das Schnellboot mit dem tödlich verletzten Verbrecher an Bord fuhr davon und Semir tauchte panisch nach seinem Partner.


    Aber da war nichts! Er konnte ihn einfach nirgendwo sehen!


    Erst als seine Lungen brannten tauchte er wieder auf, um gierig nach Luft zu schnappen, nur um im nächsten Augenblick erneut nach André zu tauchen.


    Nein... Nein... Nein...!


    Wo zur Hölle war sein Freund nur?! Semir sah sich immer panischer um, schwamm ziellos umher und blinzelte gegen das Salzwasser in seinen Augen.


    Wieder musste er auftauchen, um nach Luft zu schnappen.


    „ANDRÈ!“ brüllte er über Wasser, in der Hoffnung, dass er vielleicht von alleine wieder an die Wasseroberfläche gekommen war und er ihn deshalb Unterwasser nicht finden konnte.

    Der kleine Polizist vollführte eine 360 Grad Drehung.

    Die durch den Downwash des über ihm kreisenden Helikopters entstehenden Wellen, machten es ihm jedoch unmöglich wirklich etwas zu sehen.


    Gott, bitte nicht!


    Und schon war er wieder untergetaucht, um dort erneut sein Glück zu versuchen.

    Semir vollführte diese Prozedur so lange, bis er selber drohte vor Erschöpfung zu ertrinken. Unter heftigstem Protest wurde er von Kollegen der mallorquinischen Küstenwache zurück an Land gebracht.


    Über eine Stunde hatte er vergeblich nach einem seiner besten Freunde gesucht.

    Gott, er hatte ihm im Stich gelassen! Versagt, als André ihm am dringendsten gebraucht hatte!


    Küstenwache und die hinzugerufene Seenotrettung suchten noch immer nach ihm. Allerdings bestand kaum noch Hoffnung Fux lebend zu finden.

    Erst als die Nacht über die Baleareninsel hereinbrach, unterbrachen sie die Suche.


    Auf sein Flehen hin, hatte man Semir jedoch versichert sofort bei Sonnenaufgang mit der Suche fortzufahren.

    Allerdings war es dann keine Rettungsaktion mehr, sondern nur noch eine Bergungsaktion. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, war sich Semir dessen unterschwellig schon bewusst.


    Von dem kleinen Hotel aus, in dem er bereits die letzte Nacht geschlafen hatte, rief er schließlich auf dem Revier an.

    Auch wenn es bereits kurz nach 21:00 Uhr war, war er sich sicher, dass die Chefin noch in ihrem Büro war und ungeduldig auf Meldung von ihm wartete.


    Es schnürte Gerkhan die Kehle zu, als er daran dachte, was er ihr gleich berichten musste...



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  • 06. Mai 1999


    PAST Köln, 21:18 Uhr



    Die Chefin war seit dem Nachmittag unruhig auf dem Revier auf und ab gelaufen und hatte mehr als einen Kollegen barsch angefahren, wenn dieser, in ihren Augen, unnütze Fragen gestellt hatte, oder seinen Aufgaben nicht schnell genug nachgekommen war.

    Auch Andrea hatte den einen oder anderen genervten Kommentar über sich ergehen lassen müssen.

    Aber Anna wusste das irgendetwas nicht stimmte, und ihre Nerven lagen blank.


    Hinzukam, dass sie unglaublich müde war und es ihr zwischendurch schwerfiel, sich zu konzentrieren. Eine ungute Kombination die die eh schon angespannte Situation nicht besser machte.

    Semir und André hätten sich eigentlich schon vor geraumer Zeit melden sollen. Mit jeder weiteren Stunde, die verstrich und in der sie sich nicht meldeten, wurde ihre Sorge größer, das etwas fürchterlich schief gegangen war.

    Das von Seiten des BKA ebenfalls Schweigen herrschte, machte die Sache nicht besser.


    Auf das, was sie dann von Semir zu hören bekam, als er um kurz nach 21:00 Uhr endlich anrief, hätte sie jedoch nichts auf der Welt jemals vorbereiten können.


    Anna hörte die tonlose, leise Stimme.


    Hörte auch die Worte die Semir nacheinander sagte.


    Aber es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich die Worte in ihren Verstand vorkämpften und sie tatsächlich begriff, was Gerkhan ihr da sagte.

    Realisation brach wie ein unbändiger Sturm über sie herein und ihr war von der einen auf die andere Sekunde speiübel.

    Der Telefonhören fiel ihr aus der Hand und schlug klappern auf den Schreibtisch auf, ehe sie, mit einer Hand vor dem Mund und so schnell es ihr in dem Moment möglich war, aus dem Büro stürzte.

    Sie schaffte es gerade so die nächstgelegene Toilette zu erreichen, bevor ihr Magen endgültig rebellierte und sie sich übergeben musste.



    Andrea hatte das Spektakeln mit großen Augen von ihrem Schreibtisch aus beobachtet und erkannte sofort das etwas nicht stimmte. Auch sie war länger geblieben und hatte auf den ersehnten Anruf aus Spanien gewartet.

    Mit schnellen Schritten ging sie in das Büro der Dienstellenleitung und hob den Hörer vom Schreibtisch auf, aus dem man Semirs fragende Stimme rufen hören konnte.


    „Semir?“ Fragte sie aufgeregt und hielt sich das Plastik ans Ohr.


    „Andrea? Was machst du am Telefon? Wo ist die Engelhardt?“ Semir klang leicht verwirrt.


    Die Sekretärin berichtete knapp was passiert war und frage dann ihrerseits, was denn los sein.


    Auch sie konnte und wollte das, was sie dann zu hören bekam, nicht wahrhaben!

    Tränen stiegen ihr unaufhaltsam in die Augen und sie musste ein Schluchzten unterdrücken, in dem sie sich eine Hand fest auf den Mund legte.


    Um Gotteswillen! Das durfte einfach nicht wahr sein!


    „Vielleicht finden sie ihn ja morgen doch noch...“ ihre Stimme klang erstickt und wenig Hoffnung schwang darin mit.


    „Ja... Vielleicht. Sag der Chefin das ich mich morgen wieder melde. Ich bin jetzt müde.“ Semirs Worte klangen nicht weniger trostlos als er auflegte und das beständige Tuten Andrea daran erinnerte, den Hörer ebenfalls aufzulegen.

    Als sie das getan hatte, ließ sie den Tränen der Bestürzung und Trauer freien Lauf.

    Die anwesenden Kollegen der Nachtschicht sahen überrascht, zeitgleich besorgt in ihre Richtung. Sie ahnten bereits das etwas schreckliches Geschehen sein musste.



    Nebenan, über eins der Waschbecken gebeugt, versuchte die Chefin gerade ihre Gedanken und Emotionen soweit zu sortieren und unter Kontrolle zu bringen, dass sie der anstehenden Aufgabe gewachsen war.

    Nämlich den anwesenden Beamten mitzuteilen, was passiert war. Das einer der Ihrigen sehr wahrscheinlich nicht mehr am Leben war.

    Anna hatte die Lippe fest aufeinander gepresst und atmete schwer durch die Nase.

    Aus ihrem Gesicht war jegliche Farbe verschwunden und in ihren Ohren rauschte das Blut.


    „Reiß dich zusammen!“ mahnte sie sich selber zur Rasant.


    Für sie war jetzt nicht die Zeit, ihren Emotionen nachzugeben und Schwäche zu zeigen. Ihre Aufgabe war es jetzt, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Aufgaben zu bewältigen, die ihr als Leiterin zugeteilt worden waren. Sie hatte jetzt für ihre Mitarbeiter dazu sein und Stärke zu zeigen.

    Der Bestürzung und dem Schock, über die Geschehnisse auf Mallorca konnte sie nachgeben, wenn sie alleine zu Hause war. Aber nicht jetzt!


    Die Chefin schloss für ein paar Sekunden die Augen und atmete tief ein und aus. Als sie die Augen wieder öffnete, straffte sie die Schultern und setzte einen nüchternen Gesichtsausdruck auf, von dem sie hoffte, dass sie ihn aufrechterhalten konnte und die Fassade nicht vor den Kollegen anfangen würde zu bröckeln.


    Zu ihrer großen Erleichterung, hielt die Fassade stand.


    Sie hielt genau bis zu der Sekunde stand, als sie gute drei Stunden später die Wohnungstür hinter sich schloss.

    In dem Moment als die Tür ins Schloss gefallen war, drang ein ersticktes Schluchzen über ihre Lippen und sie sackte kraftlos in sich zusammen.


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  • 14. Mai 1999


    Flughafen Köln/Bonn 09:46 Uhr



    Semir Gerkhan starrte an diesem frühen Morgen emotionslos aus dem kleinen ovalen Flugzeugfenster der Boeing 737 von Air Berlin, während sie immer weiter dem Boden entgegenflogen. Wirklich etwas sehen tat er jedoch nicht.


    Mit seinen Gedanken war er noch immer auf Mallorca und bei seinem toten Partner.

    Die erfolglos Suche nach André Fux war am Abend zuvor offiziell eingestellt worden.

    Für die spanischen Behörden und Kollegen bestand kein Zweifel mehr daran, dass der deutsche Polizist tot war.

    Und auch wenn er sich nichts sehnlicher wünschte als dass sie damit falsch lagen, wusste Semir, dass sie recht hatten.


    Sein Freund war tot.


    Mit dem Pfeil einer Harpune von Carlos Berger erschoss und von den unendlichen Weiten des Meeres verschluckt.

    Er war zu spät gekommen und hatte nichts mehr tun können, um das Unglück zu verhindern. Hatte André nicht mehr helfen können!


    Gott, er hatte es nicht einmal zustande gebracht die Leiche seines Partners zu finden, um ihm ein anständiges Begräbnis zu ermöglichen! Das Mittelmeer würde ihm als letzte Ruhestätte dienen.


    Immerhin hatte die Chefin ihm Zeit gegeben vor Ort zu suchen und sich anschließend an den Gedanken zu gewöhnen, das André nicht wiederkommen würde. Und dafür war er ihr unglaublich dankbar.

    Am Abend zuvor hatte er sich dennoch derart betrunken, dass er heute Morgen um ein Haar das Flugzeug zurück nach Köln verpasst hätte.


    Bei allem Verständnis für die Situation und die gegebenen Umstände, hätte ihm das vermutlich einen Anschiss von der Engelhardt eingebracht, da sie beide in nicht einmal einer Stunde im BKA erwartet wurden, wo man noch einige Fragen an sie, vor allem aber wohl an ihn hatte.

    Der Flieger setzte nicht ganz sanft auf und Gerkhan wurde im wahrsten Sinne des Wortes auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.


    In ihrer Wohnung, keine 20 Kilometer entfernt, war zur selben Zeit auch seine Vorgesetzte kurz davor, auf den Boden der Tatsachen geholt zu werden.





    Wohnung der Chefin, Köln Eigelstein, 09:47 Uhr




    Anna Engelhardt lief unruhig im Badezimmer auf und ab.


    Dabei fuhr sie sich abwechselnd nervös durch die dunkeln Haare oder knetete genauso nervös ihre Hände. In regelmäßigen Abständen ging ihr Blick zudem zu der kleinen Digitaluhr, die oberhalb des Waschbeckens stand.


    Noch zwei Minuten...


    Warum dauerte das auch so lange?! Das konnte doch alles nicht wahr sein!


    An der Tür drehte sie sich zum zigsten Mal um und lief die wenigen Schritte zurück in Richtung Dusche.

    Anstelle wieder kehrt zu machen setzte sie sich dieses Mal jedoch auf den Toilettendeckel neben der Dusche und vergrub das Gesicht in den Händen, unwillkürlich mit dem Kopf schüttelnd.


    Zum hundertsten Mal ging sie die Liste der Indizien in ihrem Kopf durch. Es deutete vieles in eine Richtung und auch zeitlich passte es wunderbar zusammen.

    Die braunen Augen wanderten wieder unruhig zu den roten Ziffern der Uhr.


    Noch eine Minute...


    ‚Was-wäre-wenn‘- Szenarien begannen in ihrem Kopf zu tanzen und machten es ihr nicht leichter.


    Ja... Was wäre, wenn?!


    Was um alles in der Welt sollte sie dann tun?


    Was wollte sie dann tun und was konnte sie tun?


    Im Gegensatz zu den beiden anderen Fragen, gab es auf die letzte Frage tatsächlich nur eine begrenzte Zahl von Antwortmöglichkeiten. Zu mindestens, wenn man im gesetzlich erlaubten Rahmen bleiben wollte.


    Anna fuhr sich erneut mit den Händen über das Gesicht, als könne sie so die Gedanken einfach wegwischen. Wenn es doch nur so einfach wäre!

    Vielleicht machte sie sich auch völlig umsonst so verrückt und es gab eine ganz harmlose, andere Erklärung für alles.

    Sie hob den Blick und konnte es nicht verhindern schwer zu schlucken.


    Die fünf Minuten waren um.


    Es war Zeit der Realität ins Auge zu schauen und Gewissheit zu erlangen.


    Sie zögerte.


    Wischte ihre, vor Aufregung feuchten Hände, an dem flauschigen Bademantel ab, den sie noch immer trug.


    „Jetzt sei kein Feigling! Du hast dich ganz alleine in diese Situation gebracht! Also stell dich jetzt nicht so an!“ Dachte sie, ein wenig von sich selbst genervt und stand schließlich auf.


    Strenggenommen, war das jedoch nicht ganz richtig. Denn ganz alleine, war sie nicht in diese Situation geraten...


    Ein wenig fahrig griff sie schließlich nach dem weiß-blauen Plastikstäbchen, dass neben dem Waschbecken lang und drehte es langsam um- Großer Gott!


    Umgehend riss sie, noch immer ungläubig, die Augen weit auf.

    Aber nun hatte sie sie.

    Nun hatte sie die Bestätigung, dass sie die verschiedenen Symptome der letzten Wochen allesamt durchaus richtig gedeutet und den richtigen Schluss daraus gezogen hatte:


    Sie war schwanger.


    Und es gab genau eine Möglichkeit, wie es dazu gekommen war...


    ***


    Das plötzliche, unerwartete Klingeln ihres Handys ließ sie derart heftig zusammenzucken, dass ihr der Test aus der Hand fiel und klappernd im Waschbecken landete.


    Wie ferngesteuert ging sie durch die Wohnung zum Wohnzimmertisch, auf dem das Handy lag, und meldete sich.


    Semir war am anderen Ende der Leitung und fragte, wo genau sie denn sei.


    Im ersten Moment wusste die Chefin nicht, wovon er redete, bis es ihr in den Sinn schoss und sie leise fluchte.

    Sie hatte total vergessen, dass sie Semir vom Flughafen hatte abholen wollen, um mit ihm gemeinsam ins BKA zu fahren, wo man bereits ungeduldig auf Gerkhans Aussage wartete.

    Anna entschuldigte sich mehrfach und versprach in einer halben Stunde am Flughafen zu sein.

    Hastig stürzte sie zurück ins Badezimmer, wo sie den Bademantel gegen einen Hosenanzug tauschte.


    Bevor sie das Bad jedoch verließ, blieben ihr Augen für einen kurzen Moment noch einmal an dem, immer noch im Waschbecken liegenden und immer noch positiven Schwangerschaftstest hängen.


    Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter.


    Aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit! Damit würde sie sich in Ruhe heute Abend auseinandersetzen. Oder Morgen...






    04. Juni 1999


    Kapelle am Süd-Friedhof, 11:30 Uhr




    Da man noch immer keine Leiche gefunden hatte, gab es auch keine Beerdigung im klassischen Sinn.

    Allerdings hatten die Kollegen der PAST in Zusammenarbeit mit dem BKA eine Gedenk- und Trauerfeiere für ihren verstorbenen Kollegen organisiert.

    Die Anzahl der Anwesenden Kollegen und Wegbegleiter, die sich an diesem Freitag in der Kapelle versammelt hatten, sprach eindeutig dafür, wie beliebt André Fux gewesen war.


    Semir saß zwischen Bonrath und Andrea in einer der vordersten Reihen und lauschte mit versteinerter Mine der ruhigen Stimme der Chefin, die, wie er fand, genau die richtigen Worte gefunden hatte, um die Geschehnisse zu beschreiben und in einer sehr gelungen, passenden Art und Weise an André erinnerte. Dabei würdigte sie auch dessen Leistungen und seine hervorragende Arbeit als Polizist.


    Andrea neben ihm machte sich nicht die Mühe, die Tränen zu verbergen, die ihr in regelmäßigen Abständen über die Wangen liefen.


    Er selber schaffte es einfach nicht zu Weinen, auch wenn er keinen Deut weniger um den Verlust seines Partners und guten Freundes trauerte.


    Ganz im Gegenteil.


    Aber die Tränen wollten einfach nicht kommen. Denn er konnte noch immer nicht so richtig begreifen, was da vor einem Monat geschehen war und dass er André nie wiedersehen würde.



    Gerkhan blinzelte kurz, als die Chefin verstummte und einen kurzen Blick mit dem Pfarrer austauschte, ehe sie zurück in Richtung ihres Platzes ging.

    Auf halbem Weg dorthin hielt sie jedoch kurz inne und lenkte ihre Schritte stattdessen zügig in Richtung Ausgang. Semir glaube zu sehen, wie sie sich dabei eine Hand vor den Mund hielt.


    Als sie nach ein paar Minuten nicht wiederkam, stand er leise auf und ging ihr nach. Er fand sie schließlich in dem kleinen Vorraum der Kapelle, neben dem Eingang zu den Toiletten lehnend.


    „Geht’s wieder?“


    „Ja... Es muss ja.“


    „Die letzten Wochen haben wohl bei uns allen ihre Spuren hinterlassen.“


    Als Reaktion auf seine Aussage bekam er ein mattes Nicken und einen Blick, den er überhaupt nicht zu deuten wusste, was dazu führte, dass Gerkhan sie jetzt ein wenig aufmerksamer musterte.

    Dabei stellte er fest, dass ihre Mine nun wieder genauso versteinert war wie seine eigene.


    Ihre Blicke trafen sich und ein eigenartiges, stummes Verständnis lag in ihren Augen, das Semir in diesem Moment ebenfalls nicht so richtig zu deuten wusste, es im dennoch viel bedeutete und er ihr dankbar zunickte.


    Er wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass es noch Jahre dauern würde, bis er den Blick schließlich verstehen würde und hinter das darin liegende Geheimnis blicken durfte.


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  • ‚Höllenfahrt auf der A4‘




    1. Juli 1999


    A4, Ausfahrt bei Aachen 12:04 Uhr



    „Verdammt noch mal! Sind die denn alle vollkommen durchgeknallt?! Scheiße! Wollen die uns umbringen?! Herrgott, in dem Auto sitzt ein Baby!“


    Semir Gerkhan brüllte ungehalten und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen in sein Handy, nachdem er keine Minute zuvor die Barriere aus Wasserfässern durchbrochen hatte, die verhindern sollte, dass der Amokfahrenden Mercedes durch die Aachener Innenstadt fahren konnte.

    Mit dieser Aktion hatte er den Insassen, unter denen sich auch sein neuer Partner befand, wohl das Leben gerettet.


    „Semir es tut mir unglaublich leid! Aber ich konnte nichts machen! Regierungspräsident Brüssler hat die Aktion angeordnet...“ Aufrichtiges und ehrliches Bedauern schwang in der Stimme der Chefin mit.


    Auch wenn der kleine Polizist wusste, dass die Engelhardt alles in ihrer machtstehend tat, um zu helfen, warf er das Handy dennoch wütend auf den Beifahrersitz.


    Die Nummer hätte wirklich böse enden können!



    In der PAST war die Chefin keinen Deut weniger wütend und fuhr sich entnervt durch die mittlerweile etwas längeren Haare.

    Semirs neuer Partner, Tom Kranich, gab einen Einstand, der aufregender und ereignisreicher wohl nicht hätte sein können. Etwas, auf das sie momentan gut und gerne hätte verzichten können.

    Immerhin könnte dies zur Folge zu haben, dass Semir ihm vielleicht eine Chance geben würde.


    Im Juni hatte er zwei Kollegen, die ihm als Partner hättet dienen sollen, derart herablassend und gemein behandelt, dass sie nach zwei, beziehungsweise drei Tagen, freiwillig das Handtuch geschmissen hatten.


    Nach dem ersten Vorfall hatte Anna noch versucht mit Engelszungen auf ihn einzureden und ihm versucht verständlich zu machen, dass er nicht länger alleine auf Streife fahren konnte und dringend einen neunen Partner brauchte. Bei allem Verständnis, das sie für ihn hatte und wusste, dass niemand André ersetzen konnte.


    Nach dem zweiten Vorfall war ihr jedoch der Kragen geplatzt und sie hatte ein Machtwort gesprochen, da sie aktuell einfach nicht die Nerven oder Kraft hatte, sich weiterhin mit Semirs kleiner Rebellion auseinander zu setzen.


    Also hatte sie ihn vor die Wahl gestellt einen neuen Partner zu akzeptieren, oder aber in den Innendienst zu wechseln. Die Auswahl hatte ihm natürlich nicht geschmeckt und entsprechen war seine Laune in den letzten Tagen gewesen.

    Selbst Andrea hatte ihn mehr als einmal als ‚Giftzwerg‘ tituliert, was Anna als sehr passend empfunden hatte.



    Die Sekretärin war es jetzt auch, die neben sie trat und auf die Karte von Aachen und Umgebung deutete, vor der die Chefin momentan stand.


    „Was gibt es denn Andrea?“


    „Der Regierungspräsident hat die Durchfahrt durch Aachen jetzt doch genehmigt.“ Die jüngere der beiden Frauen zögerte und musterte die andere kurz, ehe sie sagte:


    „Aber wir haben ein neues Problem...“


    „Was ist denn nun schon wieder?“ Es war der Chefin deutlich anzuhören wie genervt und angespannt sie war.


    „Sie kennen die Zugbrücke, drüben bei Heinsberg?“ Anna nickte knapp und Andrea schluckte, bevor sie weitersprach: „Die ist oben und angeblich kaputt...“


    Die Engelhardt begriff sofort was das bedeutete und schloss kurz entsetzt die Augen, um ihre Gedanken zu sortieren.


    Ihrer aufmerksamen Sekretärin entging nicht, dass sie dabei, in einer schützenden Geste, eine Hand auf den Bauch legte. Etwas, das sie so erst seit kurzem tat.

    Der Sekretärin war auch nicht entgangen, dass ihre Chefin schon seit geraumer Zeit auffällig wenig Kaffee trank, sich in den letzten Wochen morgens, kurz vor Dienstbeginn, drei Mal recht plötzlich für den Tag Krankgemeldet hatte und bei ihrem Revier Grillfest am letzten Wochenende nichts außer Wasser getrunken hatte.


    Und da Andrea 1 und 1 zusammenzählen konnte, hegte sie bereits seit ein paar Wochen den Verdacht, dass ihre Vorgesetzte ein süßes kleines Geheimnis mit sich herumtrug, was sie jedoch noch recht erfolgreich zu verstecken wusste.

    Die Blonde glaubte aber, dass ihr das nicht mehr allzu lange gelingen würde, da sie glaubte erkannt zu haben, dass auch Bonrath und Herzberger vor einigen Tagen Verdacht geschöpft hatten.


    „Gibt es einen Weg um die Brücke herum?“


    Die Frage riss Andrea aus ihren Gedanken und sie schüttelte verneinen den Kopf. „Nein, den gibt es nicht.“


    „Dann sollten wir uns schleunigst etwas einfallen lassen!“



    ***



    Die Erleichterung auf der PAST war mit Händen greifbar, als sie am Fernseher das glückliche Ende der ‚Höllenfahrt‘, live verfolgen konnten.

    Bonrath und Herzberger hatten es doch noch geschafft die in Wirklichkeit vollfunktionsfähige Hubbrücke soweit zu senken, dass die beiden Autos darüber springen konnten.

    Kurz darauf war der Mercedes dann auch endlich zum Stehen gekommen und die Insassen waren alle wohlbehalten ausgestiegen.


    Noch erleichterte war die Chefin darüber, als sie sah wie angeregt sich Semir mit seinem neunen Partner unterhielt. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung...


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  • 14.Juli 1999


    PAST, 17:10 Uhr



    „Semir haben sie noch einen kurzen Moment Zeit für mich? Ich wollte noch kurz etwas mit ihnen besprechen.“


    Der angesprochene hielt mitten in der Bewegung inne, als er mit Tom Kranich gemeinsam Feierabend machen wollte.


    „Ja klar, Chefin.“ Er wandte sich seinem Partner zu. „Wir sehen uns dann morgen früh, Tom“


    Kranich nickte lächelnd und wünschte ihm und der Chefin einen schönen Abend.


    Als Gerkhan kurz darauf vor ihrem Schreibtisch saß, musterte Anna ihn einen Augenblick aufmerksam.

    Sie hatte ihn und Tom in den zwei Wochen, die sie jetzt zusammenarbeiten, genauestens beobachtet. Und das, was sie gesehen hatte, gefiel ihr. Aber sie wollte von Semir persönlich hören, was er von seinem neuen Partner hielt.


    „Sie scheinen mit Herrn Kranich ja ganz gut zurecht zu kommen...“ fing Anna schließlich an und behielt ihn dabei weiter im Auge.


    „Och jo...Naja... Ich denke schon“ Semir zuckte lässig mit den Schultern. Das Grinsen auf seinem Gesicht sprach jedoch Bände und er spezifizierte:


    „Nein, Tom ist wirklich in Ordnung. Er ist ganz lustig und kann sogar Autofahren. Natürlich nicht so gut wie ich, aber das kann man ihm bestimmt noch beibringen!“


    Die Chefin war sich ziemlich sicher, dass er mit ‚Autofahren beibringen‘ wohl eher meinte ihm zu zeigen, wie man seine Dienstwagen auf schnellstem Weg in die Werkstatt brachte...

    Aber dazu sagte sie in dem Moment nichts. Sie war einfach froh darüber, dass Semir so gut mit Tom zurechtkam.


    „Ich bin mir sicher, dass sie ihm das mit dem Autofahren in Windeseile beibringen werden.“


    „Darauf können sie sich verlassen.“ Gerkhan grinste, wurde im nächsten Moment dann aber doch ernster. Ihm war durchaus bewusst, dass sich die Chefin ernsthaft Gedanken gemacht hatte.


    „Ich weiß das ich mich im Juni ein bisschen daneben benommen habe... Und den Kollegen gegenüber nicht wirklich fair war. Aber sie müssen sich keine Sorgen machen. Tom und ich kommen gut zurecht!“





    Anna sah ihn noch einen Moment lang prüfend an, ehe sie zufrieden lächelnd nickte.

    „Das beruhigt mich wirklich. Und es freut mich.“ Sie machte eine kurze Pause, ehe sie sagte:


    „Dann kann ich sie also ab Ende November mit ihm alleine lassen und muss mir keine Sorgen machen?“


    „Klar...“ Er hielt abrupt inne und setzte sich kerzengerade in seinem Stuhl auf. „Bitte was? Alleine lassen?! Was soll das denn heißen?“


    „Nicht das was sie jetzt denken...“


    „Ja, wie? Wollen sie etwa aufhören?“


    „Nein Semir, das will ich nicht. Und das werde ich auch nicht.“


    „Haben sie einen neuen Job?“ Semir war ehrlich verwirrt und die Vorstellung das bald auch die Chefin weg sein könnte, beunruhigte ihn zutiefst. Und das stand ihm auch deutlich ins Gesicht geschrieben.


    „Semir, es ist nur eine Pause auf Zeit.“ Versuchte sie ihn zu beruhigen.


    „Wie jetzt? Ich verstehe nicht ganz... Eine Pause?“ Er war nun endgültig komplett verwirrt.


    „Ich werde ab Ende November in Mutterschutz gehen.“


    „In... Was?“ Semir starrte seine Vorgesetzte nun mit riesengroßen Augen an. Hatte er da gerade richtig gehört?


    „In Mutterschutz, Semir.“ Wiederholte die Engelhardt und ein leicht amüsierter Zug spielte um ihre Mundwinkel.


    Gerkhan blinzelte mehrfach und man konnte förmlich sehen wie sich die unterschiedlichen Rädchen in seinem Kopf drehten, ehe er zu begreifen schien und noch immer vollkommen perplex fragte: „Sind sie etwa schwanger?“


    „Ja, das bin ich.“


    „Oh. O-kay...“ Er blickte noch immer keinen Deut weniger verdattert drein. „Das kommt jetzt ehrlich gesagt eine wenig überraschend...“


    Anna hob wissentlich amüsiert die Augenbrauen. Ja, wem sagte er das...


    „So ist das eben manchmal...“ sie lächelte leicht verlegen und auch Semir fing jetzt an breit zu lächeln.


    „Das sind wirklich mal schöne Neuigkeiten! Das freut mich für sie!“


    „Danke!“


    „Wissen die Kollegen schon bescheid?“ Anna wog den Kopf hin und her. „Offiziell sind sie der erste Kollege der Bescheid weiß. Ich habe aber die Vermutung, dass Frau Schäfer bereits vor ein paar Wochen dahinter gekommen ist...“


    Semir grinste wissentlich. Das wunderte ihn nicht wirklich. Ganz kurz fragte sich der Polizist allerdings, wie es sein konnte, dass die Chefin ein Kind erwartete.

    Denn soweit er wusste, hatte sie seit Ende des letzten Jahres keinen festen Partner mehr. Den Gedanken verdrängte er jedoch umgehen wieder, schließlich brauchte es keinen Trauschein um schwanger zu werden und sie lebten nicht mehr im 18. Jahrhundert. Außerdem ging es ihn überhaupt nichts an, wie es dazu gekommen war.


    Innerlich musste er kurz grinsen: Das hin und wieder ‚Unfälle‘ passierten, wusste er ja nun mal mit am besten.

    Und als er seine Vorgesetzte jetzt musterte, war deutlich zu sehen, dass sie rundum zufrieden wirkte.         


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  • Todesfahrt der Linie 834



    5. April 2001:

    PAST, 10:20 Uhr



    Kriminalhauptkommissarin Anna Engelhardt sah genervt von einem der vier vor ihr stehenden Männern zum nächsten. Dabei tippte sie unablässig mit einem Kugelschreiber auf ihren Schreibtisch.


    Sie war erst vor drei Tagen aus der Elternzeit zurückgekommen und hatte wieder angefangen in Teilzeit zu arbeiten, nachdem sie am 30. Dezember 1999 ihre Tochter, Leonie, auf die Welt gebracht hatte.

    Jetzt gerade bereute sie es zutiefst, nicht die vollen drei Jahre Elternzeit genommen zu haben!

    Ein Basejumper hatte an diesem Morgen auf der A3 für eine Massenkarambolage gesorgt und natürlich waren Tom, Semir und dieses Mal sogar Bonrath und Herzberger, wieder einmal voll mittendrin gewesen!


    „Was wissen wir bis jetzt über diesen toten Fallschirmspringer?“ fragte die Chefin schließlich.


    „Ja, leider nicht so viel...“ Semir räusperte sich und deutete auf das Stück Nylon auf dem Schreibtisch seiner Vorgesetzten. „Wir haben nur ein Stück des Fallschirms...“


    „Worauf warten sie dann noch? An die Arbeit meine Herren! Ich will alles über diese Verrückten wissen, bevor noch so ein Unfall passiert!“


    Die Vier nickte eifrig und hatten es eilig aus dem Büro zukommen.

    In der Tür wurden sie jedoch noch einmal aufgehalten. Als die Chefin ganz beiläufig erwähnte:


    „Der Polizeipräsident möchte übrigens zu gerne wissen, wie ein mit Möbeln beladenes Dienstfahrzeug der Polizei in eine Massenkarambolage geraten konnte...“

    Anna sprach von dem LKW, den sich Bonrath für einen Umzug ‚ausgeborgt‘ hatte.

    Während Tom, Semir und Hotte ertappt dreinblickten, sagte Dieter ziemlich selbstbewusst:


    „Bei einem dienstbezogenen Wohnortswechsel darf man, in Absprache mit der zuständigen Dienstellenleitung, sehr wohl ein Dienstfahrzeug der Polizei für solche Zwecke benutzen.“


    Zustimmendes Nicken von allen Seiten ließ die Chefin schnaubend den Kopf schütteln.


    „Und wer hat sich mit mir abgesprochen?“


    Darauf hatte Bonrath nichts Schlaues zu antworten, da sich natürlich niemand mit ihr abgesprochen hatte.


    „Naja... Wir wollten ihnen den lästigen Papierkram ersparen...“ sagte Dieter schließlich kleinlaut und Anna konnte nur mit dem Kopfschütteln.


    „Sehen sie zu, dass sie Land gewinnen!“ Der Papierkram, der jetzt auf sie wartete, war um einiges aufwendiger und sie würde einmal mehr beim Polizeipräsidenten zu Kreuze kriechen müssen...


    ***


    Auf Tom und Semir war jedoch Verlass, und sie gerieten kurz darauf in einen noch größeren Schlamassel, sodass der Papierkram ihr kleinstes Problem war und schnell in Vergessenheit geriet.


    „Wenn sich in einem Umkreis von 200 Kilometern irgendwo eine Katastrophe anbahnt, sind die Herren Gerkhan und Kranich natürlich ganz vorne mit dabei! Ich weiß gar nicht wie die das immer schaffen...!“ murmelte Anna mürrisch, als Andrea ihr mitteilte das die zwei Helden mitten in eine Bus-Entführung geraten waren.

    Während sie auf den Helikopter wartete, der sie an die Front des Geschehens zu Tom und Semir bringen würde, telefonierte sie mit ihrem Vater und entschuldigte sich dafür, dass es bei ihr heute vielleicht etwas später werden könnte.

    „Das ist überhaupt kein Problem. Pass du nur gut auf dich auf und sei vorsichtig!“


    Holger Engelhardt war ein, seit einem Monat, pensionierter Lufthansa Boeing 747 Langstrecken Kapitän und war vom ersten Moment an, seit sie erfahren hatte das sie schwanger war, eine unendlich große Hilfe gewesen.

    Er war vernarrt in seine Enkelin und kümmerte sich rührend um sie. Anna wusste wirklich nicht, was sie ohne ihn machen würde.



    ***


    Am Ende des Tages hatten Tom und Semir einmal mehr eine Schneise der Verwüstung durch halb NRW gezogen. Allerdings hatten sie auch einmal mehr in Windeseile die Verbrecher geschnappt, wodurch sie letztlich schlimmeres verhindert hatten.

    Trotzdem konnte sich die Chefin einen Spruch nicht verkneifen, als sie ihre Männer auf der stark beschädigten Autobahnbrücke, wo die wilde Busfahrt letztlich geendet hatte, zu Gesicht bekam.


    „Da haben sie ja wieder ganze arbeite geleistet- alles Schrott!“


    „Naja, mehr war in der kurzen Zeit einfach nicht zu schaffen...“ Semir grinste verschmitzt.


    „Aber morgen ist ja auch noch ein Tag!“ fügte Tom ebenfalls grinsend hinzu und Anna kam nicht mehr umher zu Lachen.


    „Und ein bisschen haben sie unser Chaos doch bestimmt auch vermisst, Chefin... Oder?“ fragte Gerkhan unschuldig.


    Anna sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und tat so, als ob Semir völlig übergeschnappt war.

    In Wirklichkeit hatte sie das Chaos ihrer Kommissare, während ihrer anderthalbjährigen Pause, sehr wohl ein bisschen vermisst.

    Jedenfalls hin und wieder.


    Auf der anderen Seite genoss sie ihre neue Rolle als Mutter in vollen Zügen und wollte ihre Tochter um nichts in der Welt mehr missen.

    Die Kleine hatte ihr Leben zwar völlig auf den Kopf gestellt und trotzdem hatte sie sich nach ihrer Geburt in Rekordzeit an die neue Situation gewöhnt und sie mit völliger Selbstverständlichkeit und Begeisterung angenommen.

    Hatte ihr altes Leben ohne Kind einfach hinter sich gelassen und sich Hals über Kopf in das neue Abenteuer gestürzt.

    Fairerweise musste sie allerdings zugeben, dass Leo ein, wie sie es selbst beschrieb, ‚Anfängerkind‘ war, die es ihr bis jetzt recht leicht gemacht hatte. Und sie hätte ganz sicher nichts dagegen, wenn es auch so bleiben würde.


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  • 'Vater und Sohn'




    24. August 2002:


    Parkplatz vor der PAST, 15:30 Uhr



    „Doch, ich bin mir ganz sicher das Dieter sich die Kochmütze und Kochschürze in blau gewünscht hat!“ Semir nickte heftig, während er gemeinsam mit Tom und Herzberger in den BMW einstieg.


    „Sicher? Ich meine er hat was von einer roten Schürze gesagt...“ Tom sah seinen Partner etwas skeptisch an und auch Hotte meinte etwas von einer roten Schürze gehört zu haben.


    Alle drei waren auf dem Weg zu Bonrath, der an diesem Tag Geburtstag hatte und zu einem Grillnachmittag zu sich nach Hause eingeladen hatte.

    Die Diskussion über die Farbe von Mütze und Schürze wurde auf der Fahrt jedoch jäh unterbrochen, als sie zu einem schweren Unfall auf der A3 zur Verstärkung dazu gerufen wurden.

    „So ein Mist!“ maulte Semir, während er Gas gab und den BMW nun anstelle zu Bonrath, in Richtung A3 steuerte. Auf der Rückbank beschwerte Hotte sich, dass er Hunger hatte und auch Tom war von der unerwarteten Arbeit wenig begeistert.



    Bei Dieter im Garten beobachtete die Chefin zur selben Zeit, wie Andrea, die zum Set aus Mütze und Schürze gehörende Schleife, um Bonraths Hals band.

    Leonie auf ihrem Arm sah fasziniert dabei zu und deutete mit einem Finger auf Dieter.


    „Rot!“


    „Genau mein Schatz: Rot!“ Anna nickte lächelnd und sagte an Bonrath gewandte: „Rot steht ihnen ausgezeichnet.“


    „Danke! Das ist auch genau das Set in der Farbe, dass ich mir gewünscht habe.“


    Andrea und die Chefin warfen sich einen zufriedenen Blick zu.

    Im Gegensatz zu Tom und Semir, hatten sie zugehört als Bonrath von der Farbe gesprochen hatte.

    Anna reichte Andrea einen der bereitstehenden Teller, ehe sie sich selber einen nahm und genau wie ihre Sekretärin zu Bonrath an den Grill trat.


    „Junge Dame, was möchtest du denn haben?“ Dieter lächelte die Miniausgabe seiner Chefin freundlich an, die unentschlossen zwischen den vielen Verschiedenen Dingen auf dem Grill hin und hersah und es offensichtlich war, dass sie keine Ahnung hatte.


    „Leo magst du ein Würstchen bei mir probieren?“ schlug Anna schließlich vor und hielt ihrem Kollegen den Teller hin. Die Kleine nickte eifrig, sodass ihre dunklen, Haare umherflogen.


    „Wo ist denn eigentlich ihr Sohn, Bonrath?“ fragte Anna da sie den heute noch nicht gesehen hatte.


    „Ach der...“ Dieter zuckte mit den Schultern. „Der sagt mir schon lange nicht mehr, wo er sich rumtreibt. Genießen sie also bloß die Zeit, solange die Maus noch so klein ist.“ Er zwinkerte ihr zu. „So einfach wird es nie wieder werden!“



    ***



    Eine gute Stunde später tauchten dann auch endlich Tom, Semir und Hotte auf, die etwas peinlich berührt auf die rote Schürze blickten, die Dieter noch immer trug.


    „Ich habe dir ja gesagt rot... Und nicht blau!“ stichelte Tom, was dazu führte, dass der Kleinere mit den Augen rollte.

    Nach dem sie die schon anwesenden Gäste begrüßt hatten, gesellten sie sich zu Andrea und beiden Engelhardts an den Tisch.


    „Ja, tut uns leid, dass wir erst jetzt kommen... Aber zwei Jugendliche haben noch ein riesen Zinnober auf der A3 veranstaltet...“ entschuldigte sich Semir als er platzt nahm.


    Leonie sah ihn vom Schoß der Mutter aus unschuldigen Augen an und fragte: „Onkel Semir hat Unfall gemacht?“ was vor allem bei Tom für Erheiterung sorgte.


    „Oh, nein, nein, nein Leo...! Ich habe heute keinen Unfall gemacht! Das waren andere Leute.“


    „Ganz oft ist es aber doch Onkel Semir der die Unfälle macht. Da hast du schon recht!“ bestätigte Kranich.


    „Weil das bei dir so anders ist Tom... Die Tage im Jahr, wo du keinen Unfall baust, sind ganz klar in der Unterzahl!“


    „Ich würde mir eher Gedanken darüber machen, dass dich schon eine Zweieinhalbjährige durchschaut hat, Partner!“ lachte Tom.


    „Ach was! Leo und ich sind ein super Team, nicht wahr?“ Semir streckte eine Hand über den Tisch, in die kurz darauf eine kleine Kinderhand einschlug.


    Anna hatte es von Anfang an erstaunlich gefunden, was für einen ausgesprochen guten Draht, Semir zu ihrer Tochter hatte.

    Wobei es sie auf der anderen Seite, eigentlich überhaupt nicht wundern sollte.


    Was sie hingegen wirklich wunderte, und wovor sie am Anfang durchaus etwas Sorge gehabt hatte, war, dass Semir anscheinend noch keine eindeutigen Schlüsse in Bezug auf Leonies Vater geschlossen hatte.

    Auch wenn sich schon sehr früh abgezeichnet hatte, dass die Kleine äußerlich ganz eindeutig nach der Mutter kam, war es offensichtlich, dass ihre blauen Augen, ganz klar nicht von Anna, sondern vom Vater, kommen mussten.


    Auf der anderen Seite war es ihr so um einiges lieber und sie musste sich nicht erklären.

    Sie wusste zwar sehr wohl, dass hin und wieder, hinter vorgehaltener Hand gerätselt wurde, wer der Vater sein könnte, allerdings hielt es sich sehr in Grenzen und jeder respektierte, dass sie dazu nichts sagte.


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  • 'Abschied'



    10. April 2003


    PAST, 16:45 Uhr



    Bonrath, Herzberger, Andrea und die Chefin standen geschlossen vor einem der Büros in der PAST und beobachteten Semir dabei, wie er versuchte Informationen von einem der Männer, der mit Leon Zyrs in Verbindung gebracht wurden, zu bekommen.

    Dabei wurde Semir immer grober, sodass Anna befürchtete, jeden Moment einschreiten zu müssen.

    Auch wenn sie dem Scheißkerl selber gerne den Hals umgedreht hätte!


    Es war noch keine vier Stunden her, das Tom Kranichs schwangere Freundin bei einem Bombenanschlag, angeordnet von Leon Zyrs, ums Leben gekommen war.

    Das allgemeine Entsetzen über diese Gräueltat, war nicht messbar und Anna wollte und konnte sich nicht vorstellen, wie sich Tom in diesem Moment fühlen musste.


    Zumal der Anschlag eigentlich ihm gegolten hatte...


    Sie holte tief Luft und versuchte sich wieder auf das Geschehen vor ihr zu konzentrieren, da Semir in dem Moment aufgebracht aus dem Raum stürmte.


    „Der Penner sagt nichts!“ Der kleine Polizist schlug wütend gegen eine Wand. „Bonrath, der Kerl kommt sofort in U-Haft!“


    „Hat er irgendetwas gesagt?“ Anna ging neben Semir her der anscheinend ziellos, auf dem Revier umherlief.


    „Nein, gar nichts! Außer: ‚Ich will meinen Anwalt sprechen‘!“ Er schüttelte den Kopf. „Manchmal kotzt mich das alles einfach nur noch an!“ Die Chefin nickte bedächtig, wusste sie doch genau, wovon er sprach.


    „Hat sich Tom bei ihnen gemeldet?“


    „Nein... Er hat vorhin nur gesagt das ich ihn in Ruhe lassen soll und ist zu Fuß losgezogen...“


    „Worauf warten sie dann noch?“ Semir sah sie fragend an.


    „Gehen sie ihn suchen und sein sie für ihn da! Wir kommen hier einen Nachmittag auch ohne sie zurecht. Und wenn sich etwas tut, rufe ich sie an. Versprochen.“


    „Danke Chefin!“ Er nickte ihr aufrichtig dankbar zu und war auch schon auf dem Weg nach draußen.



    ***



    Nach längerer Suche fand er seinen Partner schließlich an der Bar eines kleinen Hotels im Kölner Süden.

    Auf den ersten Blick war klar, dass Tom hier schon eine ganze Weile sitzen musste und der mit Whisky gefüllte, vor ihm stehenden Tumbler, nicht sein erster war.


    Semir setzte sich schweigend neben ihn auf einen der Hocker.


    Er setzte mehrere Mal an, wusste aber einfach nicht was er sagen konnte, um seinem Freund ein wenig Schmerz zu nehmen.

    Also saßen sie eine ganze Weile einfach schweigend nebeneinander und tranken.


    „Weißt du wie das ist, wenn man genau weiß das man angekommen ist? Das man den Menschen gefunden hat, mit dem man alt werden will?“ Tom sprach leise und nicht mehr ganz deutlich.


    Semir schüttelte zaghaft mit dem Kopf. Wobei er sich da nicht sicher war. Er konnte sich vorstellen, mit Andrea diese Person vielleicht doch schon gefunden zu haben. Möglich war es...


    „Und dann wird dir diese Person genommen... Sie ist einfach weg. All die Dinge, von denen du gedacht hast, dass du noch ein ganzes Leben Zeit hast sie zu sagen, bleiben für immer ungesagt und ungehört...“


    Semir schluckte schwer und beobachtete wie Tom ein weiteres Glas leerte. Er wusste nicht was er darauf sagen sollte. Also saßen sie weiter einfach nur nebeneinander.





    14. April 2003


    PAST, Büro der Dienststellenleitung, 09:54 Uhr



    „Sind sie sicher? Tom, wenn sie einfach nur eine Pause und Zeit zum Nachdenken brauchen...“


    „Nein. Ich brauche nicht nur eine Pause.“ Kranich schüttelte müde mit dem Kopf, auch wenn er seine Vorgesetzte verstand und es zu schätzen wusste, dass sie versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.


    „Chefin, ich habe die letzten Tage lange darüber nachgedacht. Ich habe keine Ahnung wie es weitergehen soll oder was ich machen will. Aber ich weiß, dass ich kein Polizist mehr sein will.“


    Anna lehnte sich weiter in ihrem Schreibtischstuhl zurück und musterte ihn aufmerksam. Auch wenn sie, zum Glück, keine Ahnung hatte, wie sie selber in so einer Situation reagieren würde, verstand sie ihn und konnte sein Handeln durchaus nachvollziehen. Und sie war sich auch bewusst, dass es nichts bringen würde, zu versuchen, ihn weiter zum Bleiben zu überreden.


    „Tom ich kann nicht sagen, dass ich auch nur ansatzweise weiß, was sie im Moment durchmachen. Aber ich bin mir sicher, dass sie sich diesen Schritt gut überlegt haben. Auch wenn ich es sehr schade finde, dass sie sich dazu entschieden haben. Man wird sie hier vermissen.“ Sie lächelte und spezifizierte: „Ich werde sie hier vermissen.“


    „Danke Chefin...“ Er brachte ein knappes Lächeln zu Stande, wirkte im nächsten Moment jedoch schon wieder bedrückt und unsicher.


    „Ich möchte auch, dass sie wissen, das keiner der Kollegen hier glauben wird, dass sie uns im Stich lassen.“ Kranich nickte und sie glaubte Erleichterung in seinen Augen zu sehen. Bis sein Blick in Richtung seines und Semirs Büro glitt und sich wieder ein Schatten über sein Gesicht legte. Die Chefin folgte seinem Blick und sagte sanft:


    „Auch Semir wird es verstehen. Er wird zu Anfang vielleicht ein wenig enttäuscht sein, aber er wird es verstehen.“ Tom nickte bedächtig und eine etwas längere Pause entstand, ehe er sagte:


    „Sagen sie den Kollegen bitte erst einmal nichts? Ich möchte heute Abend in Ruhe mit Semir reden und will das er es von mir erfährt. Genau wie die übrigen Kollegen.“


    „Selbstverständlich, Tom.“


    ***


    Genau wie die Chefin es gesagt hatte, war Semir im ersten Moment in der Tat sehr enttäuscht und gab sich alle Mühe Tom davon zu überzeugen doch nicht zu kündigen.

    Letztlich hatte er es, nach ihrem mehrstündigen Gespräch am Rhein, aber doch verstanden und konnte das Handeln seines Freundes nachvollziehen.


    Dennoch kam es ihm unglaublich unwirklich vor, als Tom Kranich zwei Tage später die PAST ein für alle Mal verlies, einen kleinen Karton mit seinen persönlichen Dingen unterm Arm.



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  • 'Feuertaufe'



    04. August 2003:


    A57 bei Dormagen 10:27 Uhr




    Semir Gerkhan stapfte wütend über die voll gesperrte Autobahn.


    „Anfänger! So ein unglaublicher Anfänger!“ murmelte er dabei aufgebracht vor sich hin. „Versucht der doch Glatt nen‘ 40ig-Tonner mit ner‘ Mercedes C-Klasse auszubremsen...“


    Der kleine Kommissar schüttelte erneut den Kopf und blickte über das Schlachtfeld, das sein neuer Vielleicht-Partner, Hartmut Freund, mit dieser dämlichen Aktion verursacht hatte. Wobei die vom Himmelfallenden Frachtcontainer natürlich auch einiges dazu beigetragen hatten, musste er fairer Weise zugeben.

    Vom Klingeln seines Handys wurde er aus seinen Gedanken gerissen und meldete sich. Am anderen Ende der Leitung war die Chefin, der er knapp berichtete, was passiert war.


    „Wie schlägt sich Hartmut denn?“ fragte seine Vorgesetzte leicht angebunden, da sie sich schon denken konnte, dass auch Hartmut nicht als Partner für Semir in Frage kam.

    Seine Antwort: „Der kann froh sein das ich ihn nicht schlage!“ machte dies nur zu deutlich.

    Anna seufzte schwer, als sie das Gespräch kurz darauf beendete.


    Nach Andrés Tod vor etwas über vier Jahren war es schon schwer gewesen einen neuen Partner für Semir zu finden.


    Seit Tom im April gekündigt hatte, war es jedoch nahezu unmöglich, ihm überhaupt einen geeigneten Kandidaten vorzuschlagen. Und die 12, die es immerhin zum ‚Probearbeiten‘ geschafft hatten, wurden so schnell aussortiert, dass sie mit der Durchsicht von Bewerbungen nicht hinterherkam.


    So konnte es definitiv nicht weiter gehen und Anna stellte sich mental schon auf eine weitere Rebellion von Semirs Seiten ein.

    Immerhin kannte sie sich mit Zwergen Aufständen mittlerweile bestens aus, da Leonie gerade in einer Phase war, in der regelmäßige Wutanfälle an der Tagesordnung waren.


    Kurz hatte die Leiterin der Autobahnpolizei ein Bild vor Augen, in dem sich Semir wutentbrannt bei ihr im Büro auf den Boden warf und brüllend mit hochrotem Kopf verkündete, dass er keinen Partner brauchte.

    Mit einem entschiedenen Kopfschütteln verscheuchte sie das Bild aus ihrem Kopf.

    Nein, darauf konnte sie hier im Büro nur zu gut verzichten! Das Spektakel reichte ihr schon zu Hause voll und ganz!



    Und so war sie recht froh, dass Semir kurz darauf gesittet vor ihrem Schreibtisch saß und berichtete was passiert war und was sie bis jetzt an Fakten kannten.


    „Das Feuerwehrauto ist über alle Berge und die Frachtcontainer auf dem Weg in die KTU. Die Frachtmaschine, aus der die Container gefallen sind, ist mittlerweile auf einem stillgelegten Flugplatz in der Nähe der belgischen Grenze gelandet. Kapitän und Co-Pilot sind beide tot. Kopfschuss.“


    „Wissen wir schon, was genau in den Containern geladen war?“ Die Chefin hatte ihm aufmerksam zugehört.


    „Irgendein Farbpulver. Ich wollte gleich in die KTU fahren und mir das Anschauen.“


    „Tun sie das. Und nehmen sie Hartmut mit.“


    „Oh nein Chefin! Nein! Glaube sie mir: Das ist besser für meine Gesundheit und vor allem besser für ihre Nerven, wenn ich alleine fahre!“


    „Seeemir...“


    „Neeeeeeeiiiiiin!“ Und da war es wieder: Das Bild von einem quengelnden Kleinkind vor ihrem inneren Auge...



    ***



    Der Besuch in der KTU verlief jedoch nicht so ereignislos, wie Semir sich das gedacht hatte.

    Aus dem Nichts war plötzlich ein maskierter Mann aufgetaucht, der doch glatt versuchte, den LKW mit dem sichergestellten Container zu klauen!

    Bei dem anschließenden Kampf hatte Semir es geschafft dem Typen die Skimaske vom Gesicht zu reißen und starrte jetzt in das Gesicht des noch recht jungen Angreifers.


    Er hatte große, rehbraune Augen, dunkelbraune leicht gelockte Haare und trug außerdem einen Drei-Tage-Bart.

    Semir dacht noch, dass er eigentlich sehr freundlich aussah, als der Kerl im kräftig mit der

    Faust ins Gesicht schlug und damit für einen Moment ausknockte.


    Als Gerkhan wieder zu sich kam, war der Fremde samt LKW und Container verschwunden.



    ***



    Entsprechen schlecht war seine Laune, als er kurz darauf wieder in der PAST eintraf.


    Das er sich sowohl von Hotte als auch von Andrea anhören musste, dass er sich endlich einen neuen Partner suchen sollte, machte die Sache nicht besser.

    Erst als er am frühen Abend, auf Herzbergers Drängen hin, das Bowling Center betrat, in dem sie für das bevorstehende Turnier gegen Sitte, Zoll und Drogendezernat trainierten, besserte sich seine Laune ein wenig.


    Die Chefin hatte ausnahmsweise Leonie mitgebracht, da der Babysitter kurzfristig krank geworden war und sie keinen Ersatz gefunden hatte.

    Der kleine Wirbelwind stürmte begeistert auf ‚Onkel Semir‘ zu und verlange umgehen, dass er doch bitte auch einen von den bunten Bällen werfen sollte, sodass alle Klötze umfielen. Weil das dann immer so ein lustiges Geräusch machte, erklärte sie begeisterte.


    „Mama hat nicht alle Klötze umgeschmissen...“ beschwerte sie sich zudem.


    Das wunderte Semir nicht wirklich, da die Chefin für Bowling ungefähr genauso viel übrighatte, wie für kaputte Dienstwagen.


    „Ich soll also mit einem bunten Ball alle Klötze umschmeißen, ja?“ Semir hob den Zwerg hoch und klemmte sie sich unter einen Arm. „Und wenn ich nicht mit einem bunten Ball werfe, sondern vielleicht mit... Einer kleinen Leo?“


    Leonie jauchzte begeistert auf und nickte heftig mit dem Kopf, was dazu führte, dass ihre Mutter im Gegenzug einmal mehr resignierend mit dem Kopf schüttelte.

    Hätte das Kind nicht eigentlich heftigen Protest einlegen müssen, wenn man sie als Bowlingkugel verwenden wollte?

    Aber nein, ihre Tochter klatschte vor Begeisterung in die Hände und war auch noch beleidingt, als Semir dann doch eine Bowlingkugel verwendete.


    Immerhin warf Semir tatsächlich ein Strike, was den Missmut darüber, dass er einen bunten Ball und nicht sie geworfen hatte, bei der Dreieinhalbjährigen schnell in Vergessenheit geraten ließ.


    „Wirfst du mit mir dann gleich?“ Sie sah Semir aus großen Augen an, die vor Schelm nur so sprühten und Anna für einen ganz kurzen Augenblick endgültig kapitulieren ließen. Denn von ihr, hatte sie diese wilde Art ganz sicher nicht...


    Nachdem sie der Tochter ruhig erklärte hatte, dass man hier nur mit den bunten Bällen werfen durfte, weil nur dann die lustige Musik kam, wenn man alle Kegel umwarf, hatte Leonie schließlich ein Einsehen und begnügte sich damit, den übrigen Erwachsenen beim Bowlen zuzusehen.


    Allerdings ließ Anna sie dabei keine Sekunde aus den Augen.

    Auch nicht, als sie sich jetzt mit Semir unterhielt. Bei dem Kind wusste man nie, was sie als nächstes ausheckte.


    „Ich verstehe das nicht Chefin... Warum gehen die so ein Risiko ein und brechen in der KTU ein?“


    „Vielleicht war mehr in den Container als wir bis jetzt wissen?“ Gerkhan überlegte und nickte schließlich. Das konnte durchaus eine Erklärung sein.


    „Es könnten Drogen unter die Farbe gemischt worden sein...“ Sinnierte er.


    „Gut möglich, wäre nicht das erste Mal.“ Semir nickte erneut und antwortete: „Die Techniker in der KTU sind schon dabei die Proben zu untersuchen. Morgen sollten wir mehr wissen.“


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  • 05.August 2003:


    PAST, Büro der Dienststellenleitung, 09:01 Uhr



    „Wie? Das kann nicht sein! Der Computer muss sich irren!“ Semir griff am nächsten Morgen ungläubig nach dem Bericht aus der KTU, den Andrea soeben in das Büro der Chefin gebracht hatte, in dem auch er sich aufhielt.


    „Semir, der Computer irrt sich nie. Aber du hattest trotzdem den richtigen Riecher: Das Farbpulver ist ein Spezial-Pulver, das für den Druck von Geldscheinen benutzt wird. Für die Fünfhundert Euro Note, um genau zu sein. Für den kompletten Farbsatz fehlt allerdings noch Rot.“


    „Dann gibt es noch einen weiteren Container?“ Die Chefin hob erstaunt die Augenbrauen. „Warum haben wir den bis jetzt noch nicht gefunden?“


    Das war eine sehr berechtigte Frage. Andrea teilte ihnen zudem mit, dass in den letzten Wochen in ganz Europa, neben der Farbe, auch noch andere Utensilien geklaut worden waren, die man zum Gelddruck benötigte.


    „Dann wissen wir jetzt also worum es geht... Fragt sich nur, wo der letzte Container ist und wer hinter all dem steckt.“ Fasste Semir alles zusammen.


    „Allerdings. Haben sie eigentlich schon ein Phantombild von dem Mann erstellt, der ihnen gestern in der KTU eine blutige Nase verpasst hat?“ fragte Anna.


    Bei der Erinnerung daran verdüsterte sich Semirs Mine und er schüttelte den Kopf.


    „Das mache ich nachher. Ich wollte mich erstmal um den noch vermissten Container kümmern...“


    „Also gut, machen sie das. Aber Semir?“


    „Ja?“


    „Wenn sie eine Spur haben, nehmen sie Bonrath und Herzberger mit, haben wir uns verstanden?“


    „Jaaa... Mache ich... Versprochen!“ beeilte er sich zu sagen, als er den Ausdruck auf dem Gesicht seiner Vorgesetzten sah.



    ***



    Nach ein wenig Recherchearbeit hatte Semir schließlich tatsächlich eine Idee, wo der vierte gelandet sein konnte. Mit Bonrath und Herzberger im Schlepptau machte er sich kurz darauf auf den Weg dorthin.

    Als sie in der Sandgrube ankamen, stellte Semir fest das er mit seiner Vermutung vollkommen richtig gelegen hatte.

    Allerdings stellte er auch fest, dass schon jemand vor ihnen auf die Idee gekommen war, hier zu suchen und sie anscheinend gerade in eine Art Übergabe platzten, die offensichtlich schieflief.

    Noch überraschter war er, als er einen der Männer als den Kerl erkannte, der ihn gestern in der KTU niedergeschlagen hatte!

    „Na warte Bürschchen! Dich kauf ich mir!“ Grimmig trat er das Gaspedal durch.



    Ben Jäger war unglaublich erleichtert, als urplötzlich Streifenwagen in der Sandgrube auftauchten. Er hatte keine Ahnung, wo sie herkamen und warum sie hier waren. Es stand jedoch außer Frage, dass ihr Auftauchen ihm soeben das Leben gerettet hatte!

    Dennoch hatte er es jetzt sehr eilig vor ihnen zu flüchten. Er hätte sehr viel zu erklären und es würde einen Heiden Ärger geben, wenn sie ihn hier erwischten.

    Aber natürlich kam es wie es kommen musste und ausgerechnet der keine Polizist, den er gestern in der KTU niederschlagen hatte, drängte ihn mit seinem Wagen in einen Sandhügel ab, dass es kein Weiterkommen mehr für ihn gab.

    Ben fluchte ungehalten und wurde auch schon im nächsten Moment aus dem Auto gezerrt.


    „Jetzt hab ich dich, du kleiner Pisser!“ zischte Semir und schleuderte den jungen Mann grober zu Boden, als es nötig gewesen wäre.


    „Aua! Ist ja gut! Man, ich bin ein Kollege!“ Semir ignorierte den Protest und drückte das Gesicht des jungen Mannes weiter in den Sand.


    „Ich bin Polizist!“ wiederholte der energischer. „Polizist bist du, ja? Dann bin ich das Sandmännchen!“


    -


    „Wie, der ist Polizist?!“ Semir sah seine Chefin an, als wäre ihr spontan ein zweiter Kopf gewachsen, als diese die Angaben von diesem Jäger bestätigte.


    „Kommissar Ben Jäger vom KK32. Er hat vor einem Jahr seinen Abschluss an der Polizei Akademie in Münster gemacht und arbeitet seitdem im Raubdezernat. Laut seines Dienststellenleiters hat er gestern um zwei Wochen unbezahlten Urlaub gebeten um eine persönliche Angelegenheit zu regeln.“


    „Ich habe doch gesagt, dass ich ein Kollege bin.“ Jäger stellte ein recht freches Grinsen zur Schau, als er jetzt in Semirs Richtung sah.


    „So, ein Kollege bist du also, ja?“ Semir trat näher an ihn heran.


    „Ja, das habe ich ja nun schon mehrfach gesagt...“


    „Kollege... So, so...“ Gerkhan holte unvermittelt aus und verpasste Ben einen kräftigen Hieb mit seiner Rechten.


    „SEMIR!“ Die Chefin trat einen erzürnten Schritt auf beide Männer zu, aber Ben hob abwehrend die Hand. „Ist schon gut... Das habe ich wohl verdient.“


    „Nun, Herr Kollege.... Auf ihre Erklärung was das ganze Affentheater soll, bin ich sehr gespannt!“



    ***



    Die Erklärung die Ben ihnen lieferte, war allerdings mehr als überzeugend.

    „Ich will einfach nur die Typen schnappen, die einen meiner besten Freunde umgebracht haben!“


    „Dank ihres dilettantischen Eingreifens, sind die jetzt aber über alle Berge!“ polterte Semir. „Hat man ihnen auf der Polizeischule nicht beigebracht das Alleingänge scheiße sind und Polizeiarbeit Teamarbeit ist?!“


    Die Engelhardt neben ihm musste sich arg zusammenreißen, um nicht auf der Stelle in schallendes Gelächter auszubrechen. Sie hätte nicht gedacht, solche Worte jemals aus Semirs Mund zu hören.

    Anna brach zwar nicht in Gelächter aus, ein belustigtes Schnauben konnte sie jedoch nicht zurückhalten. Außerdem murmelte sie:


    „Wieso kommt mir das mit dem Alleingang nur so bekannt vor...“


    „Chefin!“ erzürnte sich Semir sofort. „Sie wollen mich doch wohl nicht mit dem Grünschnabel hier vergleichen?!“


    „Natürlich nicht, Semir... Das würde mir im Traum nicht einfallen!“ Der süffisante Unterton sprach jedoch Bände und jetzt war es Jäger, der belustigt schnaubte, was ihm einen weiteren bösen Blick von Semir einbrachte.


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  • 08. August 2003


    PAST, 15:18 Uhr



    „Das war sehr gute Arbeit meine Herren!“ lobte die Chefin anerkennend, als Semir Gerkhan und Ben Jäger vor ihrem Schreibtisch saßen.


    Die Kommissare hatten in den letzten beiden Tagen in eindrucksvoller Gemeinschaftsarbeit die Fälscher-Bande hochgehen lassen, dabei gleich noch einen Finanzbetrug aufgedeckt und das Leben der Tochter des ermordeten Piloten gerettet, mit dem Jäger befreundet gewesen war.

    Das sie dabei natürlich auch jeden Menge Schrott produziert hatten, ließ sie für den Moment außeracht.


    „Jo, der Grünschnabel hier hat sich ganz anständig angestellt. Auch wenn er noch einiges lernen muss.“ Sagte Semir, was Ben mit einem Grinsen zur Kenntnis nahm.


    „Danke. Aber ich glaube ich muss mich jetzt bei meinem Chef blicken lassen... Der hat wohl ein paar Fragen an mich....“ Der junge Polizist stand auf und reichte der Engelhardt zum Abschied die Hand, welche diese lächelnd schüttelte.


    „Danke, dass ich dabei sein durfte.“ Ben nickte ihr zu und verabschiedete sich danach auch von Semir, ehe der das Büro verließ.


    Gerkhan sah ihm eine ganze Weile grübelnd nach, was Anna interessiert beobachtete und schließlich fragte: „Ist noch etwas Semir?“


    „Was? Ach, nein... Es ist nur...“ Gerkhan schüttelte leicht den Kopf und sagte dann mit einem Schulterzucken. „Ach, nichts. Ich setze mich dann wohl mal an den Bericht. Der schreibt sich ja nicht von alleine.“


    „Ja, tun sie das.“ Während sie Semir ihrerseits nachsah, fasste sie einen Entschluss und teilte Andrea kurz darauf mit, dass sie noch einmal wegmüsse, heute Abend aber pünktlich in der Bowlinghalle sein würde, wo das Turnier stattfand.


    ***


    Keine halbe Stunde später klopfte sie an der Bürotür des Revierleiters vom KK 32.

    In dem Büro holte sich zu dem Zeitpunkt, Ben Jäger einen gewaschenen Anschiss ab und sah völlig perplex drein, als sie die Tür öffnete. Sein Chef, Hauptkommissar Martin Hanke, war nicht weniger überrascht sie zu sehen.


    „Anna, was tust du hier?“ Sie hatten gemeinsam bei der Sitte gearbeitet und kannten sich daher recht gut.


    „Ich bin hier, weil ich dir und Herrn Jäger gerne einen Vorschlag unterbreiten würde.“ Sie lächelte und schloss die Tür hinter sich.


    Beide Männer lauschten gespannt was sie zu sagen hatte und je mehr sie sagte, desto breiter wurde das Grinsen auf Bens Gesicht.


    „Also?“ Anna sah fragend zwischen den Männern hin und her, als sie geendet hatte. Hanke zuckte recht gleichgültig mit den Schultern. „Mir soll es recht sein. Ich hoffe nur du weißt was du tust.“ Er sah zu Ben. „Das ist ein Troublemaker wie er im Buche steht!“


    „Keine Sorge. Damit komme ich schon zurecht.“ Wehrte die Chefin ab und sah ebenfalls zu Ben. „Was sagen sie dazu?“


    „Wann kann ich anfangen?“ Die Engelhardt lächelte zufrieden. „Gleich heute Abend!“





    Bowlingbahn Köln Ehrenfeld, 18:00 Uhr



    „Wie, was soll das heißen wir können nicht mitmachen, weil wir ein Spieler zu wenig sind?“ empörte sich Herzberge lautstark als sie am Eingang des Bowlingcenter standen.


    „Die Regel besagen des es pro Team sechs Spieler sein müssen.“ Der Mitarbeiter deutete auf Leonie. „Und die junge Dame ist ganz eindeutig zu klein!“


    „Ich kann schon einen Ball rollen!“ empörte die sich sofort und sah völlig verständnislos und beleidigt in das Gesicht ihrer Mutter.


    „Natürlich kannst du das. Deswegen musst du mir ja auch beim Spielen helfen. Machst du das?“ Leo nickte zufrieden und voller Begeisterung.


    „Naja, aber ohne sechsten Mann können wir nicht spielen.“ Gab Semir zu bedenken.


    „Oh, aber wir haben einen sechsten Mann. Er müsste jeden Moment hier sein.“


    „Haben wir?“ Die übrigen Vier sahen sie erstaunt an. „Wen denn?“


    „Na, Semirs neuen Partner.“ Verkündete Anna, also ob das völlig selbstverständlich sein.


    „Oh nein Chefin bitte nicht! Wissen sie, ich habe da schon jemanden in Aussicht... Also vielleicht. Ich müsste nur noch mal mit ihm reden.“


    „Ach ja? Das ist ja interessant...“ Die Chefin tat total erstaunt.


    „Ja! Er ist noch recht jung und muss auch noch einiges lernen. Vielleicht ist er auch ein bisschen stur. Aber Chefin, ich glaube der hat wirklich potential!“


    „Na, da sind wir dann doch schon zu zweit, die das Denken...“ Sie lächelte breit und wandte sich zum Eingang um, durch den soeben Ben Jäger schritt.


    ***


    Der junge Mann trat noch etwas schüchtern auf die Gruppe zu und hob zur Begrüßung die Hand, grinste jedoch breit, als er den Ausdruck auf Semirs Gesicht sah.


    „Tja... Scheint so, als ob du dich jetzt länger mit mir rumschlagen musst, Partner.“


    „Keine sorge Jäger! Dich krieg ich schon noch erzogen!“ lachte Semir.


    „Mama, wer ist das?“ fragte Leonie dicht neben dem Ohr der Mutter und musterte den Neuankömmling noch etwas schüchtern.


    „Das ist Ben Jäger, Semirs neuer Partner. Die beiden arbeiten jetzt zusammen.“ Leonie nickte leicht und fragte, zur allgemeinen Erheiterung, weiter:


    „Dann muss der jetzt auch machen was du sagst?“


    „Ja, Ben muss jetzt auch machen was ich ihm sage.“ Lachte die Chefin.


    „Sagst du ihm, dass er mit dem Ball alle Klötze umwerfen muss?“


    „Hmm... Soll ich das, ja?“ Anna sah Ben auffordernd grinsend an und auch Semir klopfte seinem neuen Partner auf die Schulter.


    „Du hast die Mini-Chefin gehört! Alle Klötzchen mit einem Ball! Auf geht’s!“


    „Klar... Nichts leichter als das!“ Da es allerdings schon ein Weilchen her war, dass er zuletzt gebowlt hatte, hoffe Ben innständig, dass er den Mund nicht zu voll genommen hatte.


    Zu seiner großen Erleichterung und zu Leonis Begeisterung warf er tatsächlich ein Strike.

    Jäger atmete erleichtert aus.

    Bei seiner neuen ‚Mini-Chefin‘ hatte er jetzt immer hin schon Mal einen Stein im Brett.


    Das war ein guter Anfang!


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  • Teil 2


    Gegenwart




    Montag, 05. April 2004:


    Köln, Zollstock, 09:35 Uhr



    Er behielt die Umgebung über alle Spiegel im Wagen genauestens im Auge.


    Bis jetzt hatte immer alles ohne große Probleme geklappt und er wollte, dass das auch verdammt noch mal so blieb!

    Zum wiederholten Mal fragte er sich allerdings, was er hier eigentlich tat. Er konnte nicht genau sagen was es war, aber seit er hier in dieser Stadt war, störte ihn irgendetwas. Er konnte nur nicht sagen, was es war!

    Außerdem fühlte sich das, was er tat eindeutig falsch an.


    Aber das war wohl auch nicht verwunderlich.


    Denn es war ganz eindeutig illegal. Er war nichts anderes als ein kleiner, dreister Dieb. Auch, wenn er ‚nur‘ den Fluchtwagen fuhr und ihre Taten irgendwie einem ‚guten Zweck‘ dienten.


    Bis vor kurzem hatte er jedoch weniger Probleme damit gehabt gegen das Gesetz zu verstoßen.

    Wobei er selber eigentlich gar nicht gegen das Gesetz verstoßen hatte, sinnierte er und warf dabei einen weiteren Blick in den Rückspiegel.

    Der Mann, für den er arbeitet, war derjenige, der hin und wieder gegen das ein oder andere Gesetz verstieß. Nichts Wildes, nur keine Betrügereien, aber dennoch illegal.

    Er war nur dazu da seinen Boss und dessen Familie vor den möglichen Konsequenzen seiner Taten zu schützen und arbeitet als eine Art ‚Bodyguard‘.


    Jedenfalls hatte er das bis vor knapp zwei Wochen getan. Auch jetzt arbeitete er zwar immer noch als Bodyguard, aber seit neustem eben auch als Fluchtwagenfahrer.

    „Was ein aufstieg auf der Karriereleiter...“, brummte er verstimmt, als er sah, wie zwei maskierte Männer aus dem Juwelier schräg gegenüber stürmten und auf ihn zu gerannt kamen.

    „On y va encore une fois...“ Er zog sich seine eigene Maske über den Kopf und starte den Motor.




    A4, Kreuz Köln-Süd 09:40 Uhr



    „Und, wie war dein Wochenende?“, fragte Semir gut gelaunt seinen Partner und beschleunigte den BMW auf der Auffahrt zur A4.


    „Ausgezeichnet!“ Jäger grinste breit. „Ich habe mir doch im Winter das neue Bike gekauft. Und das habe ich das Wochenende zum ersten Mal länger in der Eifel ausgeführt.“


    „Und, fährt sich gut?“


    „Du hast keine Ahnung! Sehr gute Fahr- und Kurveneigenschaften! Und der Sound des Motors! Ein Traum...“ schwärmte der junge Polizist. „Und dein Wochenende so?“


    Semir hätte breiter und verschmitzter nicht Grinsen können und Ben setzte sich sofort etwas anders in seinem Sitz hin.


    „Okay, was hast du gemacht?“, fragte er sofort ehrlich interessiert, was Semir noch breiter grinsen ließ. Dann fiel es Jäger wie Schuppen von den Augen.


    „Nein, hast du nicht!“ er lachte.


    „Doch habe ich!“


    „Du hast sie echt gefragt?!?“


    „Jap!“


    „Ja, und...? Hat Andrea ‚Ja‘ gesagt?“ Die Frage hätte er sich eigentlich sparen können, da Semirs Gesichtsausdruck Beweis genug war.


    „Natürlich hat sie ‚Ja‘ gesagt! Was denkst du denn?“ Semir klang gespielt empört, was Ben laut lachen ließ.


    „Semir Gerkhan, du bist ein ganz schöner Glückspilz!“ Während er das sagte, klopfte er seinem Partner fröhlich auf die Schulter.


    Ihre kleine Feier wurde jedoch jäh unterbrochen, als ihr Funkgerät knackste und sich die Zentrale meldete:

    „An alle Einheiten: Vor kurzem wurde ein Juwelier in Köln Zollstock überfallen. Die Täter flüchten in einem dunklen Chrysler Voyager Stadtauswärts. Sie sind bewaffnet und gefährlich!“


    „Zollstock... Das ist doch hier gleich um die Ecke!“


    „Allerdings. Da sollten wir wohl besser mal die Augen aufhalten!“ Stimmte Semir seinem Partner zu und wurde automatisch etwas langsamer, um sich in den Verkehr einzusortieren und nicht aufzufallen.


    ***


    Und tatsächlich mussten die beiden Autobahn-Cops nicht einmal lange warten, bis der Chrysler in ihrem Rückspiegel auftauchte.


    „Herr, Jäger: Musik, wenn ich bitten darf! Die schnappen wir uns!“


    „Sehr wohl, Maestro!“ Ben stellte breit grinsend das Blaulicht aufs Dach, währen Semir runterschaltete und den BMW beschleunigte.


    „Mach auch mal die neue Kamera an.“ Gerkhan sprach von der erst vor wenigen Tagen frisch installierten Kamera, die zur Verkehrsüberwachung gedacht war.


    „Sicher?“ Ben war nicht ganz überzeugt. Denn beide Polizisten wussten, dass das Innenministerium so auch gleich ihre Fahrweise überwachen wollten. In letzte Zeit war es recht gehäuft zu diversen Unfällen gekommen, in die sie allesamt verwickelt gewesen waren.


    „Klar. Wenn wir keinen Unfall bauen, sehen die hohen Herren das und wir haben den Beweis, dass wir keine Rowdys sind...“


    „...und wenn wir einen Unfall bauen?“ gab der jüngere zu bedenken.

    „Können wir die Aufnahme immer noch löschen und sagen, dass die Kamera bei dem Unfall kaputtgegangen ist...“ Semir grinste frech.


    „Von dir kann man ja wirklich noch etwas lernen...“ Ben grinste keinen Deut weniger frech, als er die Kamera einschaltete.



    ***



    „Merde! Les polices! Allez, puls vite!“ schimpfte sein Beifahrer und er verdrehte nur genervt die Augen.

    Was glaube der Kerl eigentlich was er hier gerade tat? Eine gemütliche Sonntagsfahrt ins Grüne? Ganz sicher nicht!

    Der Motor des Chryslers heulte erneut auf und die vier Zylinder brachten noch mehr Leistung auf die Straße. In einem Punkt war er sich jedoch mit den beiden anderen Männer im Auto einig:

    Es war äußerst ärgerlich, dass sie Bullen am Heck kleben hatten! Woher zum Teufel waren die so schnell aufgetaucht?!


    Er steuerte den Wagen nur Zentimeter zwischen zwei anderen hindurch und verschaffte sich so einen kleinen Vorsprung.

    Allerdings war es eindeutig, dass er sich schleunigst etwas Besseres einfallen lassen musste, wollte der ihre Verfolger abschütteln.

    Er blickte in den Rückspiegel und beobachtete den silbernen BMW mit dem Blaulicht auf dem Dach für ein paar Sekunden.


    Aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Bild vor dem Inneren seiner Augen auf und er verriss vor Überraschung das Steuer. Auch wenn es nur wenige Zentimeter waren reichte es, um einen neben ihnen fahrenden Opel Corsa zu touchieren. Der sehr viel kleinere Wagen geriet darauf hin ins Schleudern.


    „Fais attention! Bouffon!“ schimpfte sein Beifahrer erneut.


    „Voulez-vous conduire?“, blaffte er genauso gereizt zurück und der Mann schüttelte nach einem kurzen Moment den Kopf. „Alors, ta gueule!“


    Nach diesem kurzen Aussetzte konzentrierte er sich jetzt wieder voll und ganz auf die Straße vor ihm. Von den Straßenkarten, die er zur Vorbereitung studiert hatte, wusste er das bald eine Ausfahrt kam, die auf eine recht kurvenreiche Landstraße führte. Dort hätten sie eine bessere Möglichkeit die Bullen abzuschütteln als hier auf der Autobahn.

    In letzte Sekunde und mit quietschenden Reifen schoss der Voyager kurz darauf von der A4.



    Hinter ihm hatte Semir tatsächlich einige Mühen dranzubleiben.

    Der Fahrer des anderen Wagens war gut, das musste man ihm lassen. Beinahe wäre er mit seinem BMW an der Ausfahrt vorbeigeschossen.


    „Oh nein mein Freund! So einfach mache ich es dir ganz sicher nicht!“ murmelte Semir und auch der BMW schoss jetzt von der Autobahn in Richtung Landstraße, die ins Bergische führte.


    „Das will ich auch hoffen! Wobei der Kerl anscheinend ‚Fluchtwagen-Fahrer‘ gelernt hat! Der weiß, was er da macht!“ Musste auch Ben einsehen, als er auf der kurvenreichen Straße kräftig in seinem Sitz hin und her geworfen wurde.


    „Scheint so! Ich habe aber Fluchtwagen Verfolgung gelernt!“


    Die Verfolgung dauerte noch mehrere Kilometer und keiner der Fahrer schenke dem anderen etwas. Als sie um eine besonders enge Kurve rasten, wer das Glück jedoch aufseiten der Flüchtenden:

    Ein recht großer Trecker samt Anhänger kam ihnen entgegen. Und da die Straße recht schmal war, fuhr der Trecker auch zum Teil auf ihrer Seite der Straße.


    Der Chrysler schaffte es noch gerade so auszuweichen und auf der Straße zu bleiben. Für Semir gab es diese Möglichkeit jedoch nicht mehr.

    Er konnte sich aussuchen mit über 80 Km/h in das Tonnenschwere Landfahrzeug zu fahren, oder aber in den frisch mit Gülle bestreuten Acker neben der Straße auszuweichen.

    Auch wenn es ihm stank, entschied er sich für den Acker.

    Da der BMW leider nicht wirklich geländegängig war, fuhren sie sich zu allem Überfluss dort fest und konnte nur noch hinter dem sich schnell entfernenden Voyager hersehen.


    „Scheiße!“ Semir schlug auf sein Lenkrad und rümpfte im nächsten Augenblick angewidert die Nase.


    „Na, da hast du dir aber einen ganz feinen Parkplatz ausgesucht, Herr ‚Ich-habe-Fluchtwagen-Verfolgung-gelernt‘! War das hier auch ein Teil der Ausbildung? Parken im Gülle Acker?“ stichelte Ben, der ebenfalls die Nase rümpfte.


    „Wie lustig du doch wieder bist!“ Semir wirkte mit einem Mal wirklich angefressen und von seiner vorherigen guten Laune war nichts mehr zu spüren, was Jäger doch etwas verwunderte.


    „Na ja... Sieh es mal so: Auf der Videoaufnahme ist immerhin kein Unfall von uns zu sehen. Das ist doch schon mal was Positives...“


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  • 05. April 2004


    PAST, 13:25 Uhr



    Ganz ohne Unfall war es dann aber leider doch nicht ausgegangen.


    Bei ihrem Ausritt in den Acker hatten sie sich die Ölwanne aufgerissen. Und so war ihnen einmal mehr nichts anderes übriggeblieben, als den BMW ein weiteres Mal abschleppen zu lassen und sich von Kollegen zurück auf die PAST bringen zu lassen.

    Im Hauptbüro rochen die anwesenden Beamten ihre Kommissare schon bevor diese den Raum betraten und allgemeines Naserümpfen begrüßte sie, dem Gang durch den Acker sei Dank.


    „Semir... Hättest du nicht in einer Blumenwiese parken können?“ kommentierte Bonrath, während er sich die Nase zuhielt.


    „Mach du dich nur lustig! Du schaffst es trotz Porsche unterm Hintern ja nicht mal an einer Verfolgungsjagd teilzunehmen!“ giftete Semir zurück.


    „Was ist denn mit dir los?“ Bonrath sah ihn leicht perplex an, während Ben um Hintergrund stumm die Worte: „Schlechte Laune!“, mit dem Mund formte.


    „Kommen sie mal in mein Büro?“ Die Chefin kam auf sie zu, machte aber auf halbem Weg abrupt halt und sah skeptisch auf ihre Schuhe.

    „Aber bitte erst nach dem sie ihre Schuhe sauber gemacht haben!“



    Fünf Minuten später saßen die Kommissare nur auf Socken vor dem Schreibtisch ihrer Vorgesetzten und berichtete was passiert war. Ihre Schuhe badeten derweil in einer der Duschen.


    „Es ist sehr ärgerlich, dass ihnen die Räuber entkommen konnten. Vor allem bei der Beute, die sie gemacht haben.“


    „Na ja, es ist ja nicht so, als ob wir ihnen den roten Teppich ausgerollt hätten und zum Abschied lieb gewinkt haben! Wir hatten einfach Pech, das der verdammte Trecker da aufgetaucht ist!“ Semir musste sich beherrschen, sich der Chefin gegenüber nicht im Ton zu vergreifen.

    Er wusste selber nicht so genau, warum es ihn so ärgerte, dass die Typen entkommen waren. Aber das tat es und dagegen konnte er im Augenblick nichts tun.

    Anna überging den Einwand und ignorierte auch seinen Tonfall als sie unbeirrt weitersprach:


    „Sie haben, neben einer kleinen Menge Schmuck, auch Diamanten im Millionenwert erbeutet.“

    Ben pfiff anerkennend. „Das ist ordentlich!“


    „Allerdings! Und es gibt erste Hinweise, die darauf deuten, dass es nicht der erste Überfall der Bande dieser Art ist.“


    „Ach?“ Jetzt sah auch Semir sie aufmerksamer an. Anna schmunzelte und konnte sich eine kleine Spitze nicht verkneifen:


    „Während sie beiden… Im Dreck gespielt haben Semir, war ihre Verlobte schon recht fleißig und hat bei Europol eine Abfrage nach ähnlichen Vorgehensweisen laufen lassen. Wir müssen uns das selbstverständlich noch genauer anschauen, aber es scheint, als ob es in Frankreich, der Schweiz und Belgien bereits ganz ähnliche Überfälle gegeben hat. Drei Männer, die verkehrsgünstig gelegene Juweliere überfallen, bei denen vor allem ungeschliffene Diamanten lagern.“


    Jetzt war es Semir der die kleine Stichelei ignorierte und nachdenklich nickte. „Das könnte passen.“


    „Ich habe einen Teil der ermittelnden Behörden bereits kontaktiert und die entsprechenden Akten angefordert.“


    „Dann sollten Semir und ich uns vielleicht am Tatort umsehen und mit dem Inhaber und möglichen Zeugen sprechen.“ Schlug Ben vor.


    „Ja, machen sie das. Ich habe schon mit den zuständigen Kollegen vom Raubdezernat gesprochen. Die sind mal wieder unterbesetzt und um jede Hilfe dankbar. Aber wenn es dazu kommen sollte, Parken sie dieses Mal vielleicht wirklich lieber in einem Blumenfeld…“ Während Ben belustigt grinste, stand Semir genervt auf und stampfte aus dem Büro.


    ***


    „Was hat er denn? Müsste er nicht eigentlich bestens gelaunt sein?“ Anna war ehrlich verwirrt, das Gerkhan so empfindlich reagierte. Das tat er doch sonst auch nicht.


    „Bis uns die Kerle entkommen sind, war er das auch...“


    „Ja und? Das sind doch nicht die ersten Verbrecher, die ihm entkommen. Das passiert eben hin und wieder mal.“


    Ben wog nachdenklich den Kopf hin und her. „Das stimmt... Aber ich glaube, heute hat Semir seinen Endgegner gefunden. Wie Superman mit seinem Kryptonit... Batman im Joker... Oder die Titanic im Eisberg...“


    „Ben, ich habe sie schon beim ersten Mal verstanden.“


    „Ja... Ich wollte das nur verbildlichen... Also für eine bessere Vorstellung und so...“


    „Vielen Dank für die Bilder im Kopf, das ist sehr freundlich von ihnen. Sie hätten auch einfach sagen können, dass der Andere, der bessere Fahrer war und Semir ein wenig in seinem Stolz gekränkt ist...“ Ben grinste spitzbübisch.


    „Jaaaa... so könnte man das natürlich auch sagen. Aber das mit der Titanic und dem Eisberg fand ich auch gut... Sehr viel Poetischer!“


    „Nun, ‚Jack‘, dann schnappen sie sich mal ihre ‚Rose‘ und ab an die Arbeit! Aber fahren sie ihre Dienst-Titanic nicht gleich wieder vor den erstbesten Eisberg, ja? Ein im Acker versenktes Schiff reicht für heute...“ Anna schüttelte lachend den Kopf während Ben, ebenfalls lachend, aufstand.

    Bevor er das Büro jedoch verließ sagte er etwas ernster:


    „Der Fahrer des Fluchtwagens war wirklich gut! Und das heute war nicht seine erste Verfolgungsjagd! Das könnte vielleicht auch eine Spur sein. Möglicherweise ein Rennfahrer, oder ehemaliger Rennfahrer.“


    „Gut, dann bleiben sie da dran.“ Die Chefin nickte zustimmend.



    „Ben, kommst du?“ Semir steckte seinen Kopf zur Tür herein, während er sich seine noch nassen Schuhe anzog. „Gibt Arbeit!“

    Ben grinste jetzt wieder von einem Ohrläppchen bis zum anderen und schmetterte, während er seine eigenen Schuhe holte:


    You’re here, there is nothing, I fear! And I know that my heart will go on…!”


    „Was geht denn jetzt bitte bei dir ab?“ Semir sah leicht entsetzt zu seinem Partner, der auch vom Rest der Belegschaft etwas irritiert angesehen wurde.


    Nur die Chefin lachte wissend und äußerst amüsiert.


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  • 05.April 2004


    Villa am Stadtrand von Köln, 12:50 Uhr



    „Tu as bien fait, Renard!“ Einer seiner zwei Komplizen, Alain Duvèrt, klopfte ihm lobend auf die Schulter. Ja, er wusste, dass er das gut gemacht hatte!

    Ohne ihn, wären die andren Zwei mit Sicherheit nicht entkommen. Die Bullen, die sie verfolgt hatten, waren erstaunlich hartnäckig gewesen und wussten zur Abwechslung mal was sie taten. Auf jeden Fall der Fahrer.

    Er war sich auch nicht sicher, ob sie entkommen wären, wäre der Trecker nicht aufgetaucht. Aber sie waren mit ihrer Beute entkommen und nur das zählte!


    Dennoch war ihm nicht nach Feiern zumute.


    Da ihn etwas anderes beschäftigte zog er sich in das ihm zur Verfügung gestellte, großzügige Zimmer im ersten Stock zurück.

    Immerhin war der Mann, für den er bereits seit über vier Jahren arbeitete, großzügig und sorgte dafür, dass sie anständig untergebracht waren.



    Im En Suite Badezimmer wusch er sich mit kaltem Wasser das Gesicht und starrte danach gedankenverloren im Spiegel über dem Waschbecken sein Spiegelbild an.

    Es hatten sich doch glatt die ersten, ganz vereinzelten, grauen Haare untere seine ansonsten dunkelblonden gemischt.

    Die blauen Augen, mit dem ganz leichten Grünstich, die ihm entgegenblickten, wirkten jedoch noch immer jugendlich und sprühten voller Energie. Gut, wirklich alt war man mit fast 40. ja auch noch nicht.


    Zwischendurch verspürte er, hin und wieder jedoch eine Müdigkeit, die seinem Alter nicht entsprach. Und das lag vor allem an den Umständen, unter denen er lebte.

    Und sein Job spielte darin nur eine kleine Rolle. Auch wenn es ihn zunehmend störte, was er momentan tat.

    Aber sein Chef steckte gehörig in der Klemme und er schuldet ihm etwas, das hatte er nicht vergessen und würde es auch nie vergessen. Also hieß es weiter Business as usual.

    Und sie mussten ja auch nur noch einen weiteren Coup durchziehen. Dann hätten sie alle Steine zusammen.


    Er griff nach einem Handtuch und trocknete sich das Gesicht ab. Das würde er jetzt auch noch durchstehen! Danach konnte er sich noch immer Gedanken machen, wie es mit seinem Leben weiter gehen sollte.

    Jetzt gerade, in diesem Moment, beschäftigte ihn vielmehr sein kurzer Aussetzer auf der Autobahn.

    Als er den silbernen BMW im Rückspiegel beobachtet hatte, kam ihm das Bild urplötzlich merkwürdig bekannt und vertraut vor.


    Es war dasselbe Gefühl, das er schon einige Mal gehabt hatte, seit sie hier nach Köln gekommen waren. Vielleicht war er ja schon mal hier gewesen. Die Möglichkeit bestand durchaus.

    Trotzdem schüttelte er den Kopf und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Dabei stellte er fest, dass er sich vielleicht mal wieder rasieren sollte. Aus dem Drei-Tage Bart war ein Fünf-Tage Bart geworden.






    05. April 2004


    PAST, 15:20 Uhr



    „Eine Videokamera in dem Juwelier hat den gesamten Überfall aufgezeichnet!“

    Verkündete Semir, während er und Ben die PAST wieder betraten und Jäger mit der CD winke, auf dem sie eine Kopie der Aufzeichnung mitgebracht hatten.


    „Ach?“ Die Chefin sah sie etwas überrascht an. Vielleicht waren die Täter doch nicht so professionell wie sie gedacht hatten.


    „Ja, wir haben Glück. Der Inhaber hatte eine zusätzliche, versteckte Kamera angebracht und nicht nur die sichtbaren, die die Versicherung vorschreibt.“ Erklärte Gerkhan, während sie gemeinsam in den Raum mit der Videotechnik gingen.


    Die Chefin musste ihre Vermutung von kurz davor recht schnell revidieren, als sie jetzt zusammen mit Ben und Semir auf Bildschirm blickte.

    Die Täter wussten genau was sie taten und es war pures Glück, das sie die versteckte Kamera nicht entdeckt hatten.

    Alle übrigen Kameras hatten sie binnen Sekunden funktionsuntüchtig gemacht. Sie bewegten sich schnell und präzise und es war deutlich, dass sie den Laden vorher ausgekundschaftet hatten.


    Zudem Trugen sie Overalls, die etwas zu groß waren und über massive Schulterpolster verfügten, das es unmöglich war, eine Statur zu erkennen. Hinzukamen Masken mit winzigen Schlitzen an den Augen und Handschuhe.

    Zusammengefasst war es unmöglich die zwei Täter zu erkennen geschweige denn zu identifizieren.


    „Sie haben nicht mit den Angestellten oder dem Inhaber gesprochen. Ein ganz knapper, leiser Wortwechsel zwischen ihnen hat wohl stattgefunden, aber der Angestellten, der das belauscht hat, kann nur mit Sicherheit sagen das es kein Deutsch war, was sie gesprochen haben. Französisch ist möglich, aber er ist sich nicht sicher. Es könnte auch spanisch gewesen sein. Oder italienisch.“ Erklärte Ben.


    „Ja, und einer von ihnen könnte eventuell farbig sein. Aber auch das ist nicht sicher.“ Fügte Semir hinzu, nachdem die Aufnahme durchgelaufen war.


    Das war nicht viel, aber besser als Nichts.


    „Ich habe bereits die ersten Akten von den französischen Kollegen aus Nantes gemailt bekommen und ausgedruckt. Sie liegen bei mir im Büro.“ Anna sah zu Semir. „Außerdem haben die Kollegen aus unserer Werkstatt, wo ihr Dienstwagen steht, mir die Aufnahmen ihrer Verfolgungsjagd zukommen lassen.“


    „Ah, das ist sehr gut! Die wollte ich mir auf jeden Fall nochmal anschauen!“ Der kleine Polizist ging mit schnellen Schritten voraus, während die Chefin und Ben einen leicht skeptischen Blick austauschten.


    „Das wird seine Art der Niederlagen Bewältigung sein...“ sagte Jäger schließlich.


    „Konfrontationstherapie?“ Anna schmunzelte.


    „Genau das wird es sein!“ Auch Ben schmunzelte und sie folgten Gerkhan, der schon im Büro der Chefin war und auch schon einen Blick in eine der Akten, die auf ihrem Schreibtisch lagen, geworfen.

    Etwas irritiert sah er aber schon kurz darauf auf.


    „Das ist ja alles in französisch!“


    „Oui, bien sûr! Qu'as-tu pensé? En allemand?“ Semir sah seine Vorgesetzte komplett verständnislos an und motzte: „Das versteht doch dann kein Mensch! Die hätten das schon in englisch schicken können...“


    „Schreiben sie ihre Berichte auf englisch, Semir?“


    „Ja... Ne... Aber...“ Er zuckte mit den Schultern „Was sollen wir denn jetzt mit den Akten machen?“


    „Lesen, Semir. Lesen!“ Lachte Ben im Hintergrund.


    „Wie? Du sprichst auch französisch?“


    „Oui, Oui! Ist zwar schon ein bisschen eingerostet, aber es wird schon gehen.“ Auch Andrea trat jetzt in das Büro und verkündete das soeben auch eine Akte aus Belgien angekommen war. Und natürlich war auch die auf französisch.


    „Soll ich mir das schon mal anschauen?“ fragte die Sekretärin an Anna gewandt.


    „Ja, machen sie das!“ Die Chefin nickte zustimmend während Semir grummelte:


    „Warum kann hier eigentlich jeder französisch...?“


    „Weil es wahnsinnig süße Französinnen gibt und es quasi erwiesen ist, dass man eine Sprache am besten im Bett lernt...“ gab Ben äußerst unbedacht zum Besten. „Und Franzosen sollen ja bekanntlich auch ganz passable Liebhaber sein...“ er stockte und begriff erst jetzt was er da soeben angedeutet hatte.


    „Also ich will hier natürlich niemandem irgendetwas unterstellen oder so... Ganz sicher nicht!“ beeilte er sich hinzuzufügen und sah unauffällig zwischen Andrea und seiner Chefin hin und her. Die hielten sich jedoch beide erstaunlich bedächtig zurück und vermieden jeglichen Kommentar.


    „Ah... Aha?! Jetzt wird es interessant...“ Semir sah mit Hochgezogenen Augenbrauen zu seiner Zukünftigen, die jetzt unschuldig mit den Schultern zuckte.


    „Ich habe keine Ahnung wovon dein junger Kollege spricht Semir... Mein französische habe ich in der Schule gelernt... 7. bis 12. Klasse.“


    „Ja ne, is klar!“ Ben grinste süffisant, was ihm von Semir einen Schlag in den Nacken einbrachte.


    ***


    Während die, die der französischen Sprache mächtig waren, für den Rest des Nachmittags damit beschäftigt waren die Akten zu lesen, schrieb Semir zusammen was sie bis jetzt wussten. Im Anschluss daran, sah er sich mehrmals das Video der Verfolgungsjagt vom Morgen an.


    Semir wusste nicht genau was es war, aber irgendetwas hatte ihn schon von Anfang an gestört, beziehungsweise war ihm komisch vorgekommen.


    Wobei auch komisch nicht die treffende Bezeichnung war. Das was er da sah, wie der Chrysler gesteuert wurde, kam ihm von irgendwoher bekannt vor.

    War ihm auf eine merkwürdige Art vertraut, so, als hätte er den Fahrer schon einmal verfolgt, ihn aber zu mindestens schon einmal fahren sehen.


    Er sah sich die Aufnahmen wieder und wieder an, kam aber einfach nicht weiter.



    I dance in tune with what I fear,

    To do adrenaline!

    Cause' it's overrated how we underrate!

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