Nicht Aufgeben!

  • Zurück im Park …


    „Seid ihr fertig?“, zischte Ben in Richtung der beiden Frauen.


    Sein Blick wanderte wieder zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er glaubte dort in der Dunkelheit eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Nur vage konnte der Polizist die Umrisse einer menschlichen Gestalt erahnen, die auf sie zu gehumpelt kam. Mit jeder Minute, die verstrich, gewöhnten sich seine Augen besser an die vorherrschenden Lichtverhältnisse im Schatten der alten Baumriesen. Angespannt lauschte er mit allen Sinnen, da kaum ein Strahl des Mondlichtes den Boden des Parks erreichte. Da, das Knacken eines Astes, der unter der Last menschlicher Schritte zerbrach. Das Rascheln des Laubes, das welk und dürr unter den Bäumen lag. Ein Schauer durchrann seinen Körper, als er an der Gestalt den Verfolger erkannte. Sein Pulsschlag begann zu rasen. Remzi! Ben drückte sich noch näher an den Baumstamm heran, der ihm als Stütze diente und versuchte mit den Ästen der benachbarten Fichte zu verschmelzen. Die Fichtennadeln piksten seine nackte Haut an den Armen, doch das störte ihn überhaupt nicht.


    „Das habt ihr euch hübsch ausgedacht! Einfach so verschwinden!“, brummte die tiefe Stimme des Jägers mit einem drohenden Unterton, als er die Verfolgten erspähte.
    Remzi trat aus dem Schatten der Eiche mit ihren tiefhängenden Ästen heraus. Schwer atmend, auf seine Krücken gestützt, stand er da und lauerte wie ein Raubtier nach seiner Beute.


    Ben spürte, wie er zu zittern begann. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Die Angst nahm seinen Körper in Besitz, lähmte förmlich seine Muskeln. Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Blankes Entsetzen packte ihn, als er die Schusswaffe in der Hand des Grauhaarigen erkannte, in deren silbernen Lauf sich das Mondlicht spiegelte. Ben biss die Zähne zusammen. Er wollte keine Angst mehr vor diesem Monster in Menschengestalt haben. Er wollte nicht sterben, wollte nicht, dass Anna und Elena etwas passierte … Der pure Willen zum Überleben übernahm die Kontrolle seines Denkens und Handelns. Dennoch brachte seine Kehle nur ein heißeres Krächzen hervor.
    „Deckung! Geht in Deckung!“
    Fast gleichzeitig riss Ben seine Waffe hoch und brachte sie in den Anschlag, um den Abzugshahn durchzuziehen.


    Zu spät! … Seine Warnung kam zu spät! … Die Reaktion des Polizisten kam zu spät!


    Unter den Bäumen vor ihm blitzte das Mündungsfeuer aus Remzis Waffe diesen gewissen Sekundenbruchteil früher auf, auch wenn der Söldner im ersten Moment von dem Warnruf seitlich versetzt irritiert war.


    Einmal .. . zweimal … leuchtete das Mündungsfeuer der Waffe auf.


    Eine Frau schrie getroffen auf ….


    Bens Augen weiteten sich vor Entsetzen, seine Instinkte übernahmen sein Handeln. Wie wild feuerte der verletzte Polizist das komplette Magazin der Pistole in Richtung seines schlimmsten Feindes, dessen Gestalt er im Schein des Mondlichts nur erahnen konnte. Was Ben nicht erkennen konnte, die Einschläge der Kugeln rissen Remzi förmlich herum und der Söldner stieß einen markerschütternden Schrei aus, als er getroffen zu Boden sank.


    „Anna! … Anna!“, schrie Ben gequält auf und warf die leergeschossene Waffe achtlos zu Boden.
    Keine Antwort, nur ein schmerzvolles Stöhnen kam aus der Richtung der beiden Frauen. Panik erfasste den jungen Polizisten. Ein letzter Blick auf den leblosen Körper von Remzi, den er nur als Schattenriss wahrnahm und er mobilisierte seine letzten Energiereserven, löste sich vom Baumstamm und humpelte los. Die Sorge um seine Freundin trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. Warum antwortete sie nicht? Warum nur?

    „Anna … Anna, so antworte doch? … Was ist mit dir?“, rief er.


    Einzig dieses schmerzvolle Stöhnen bekam er zur Antwort. Obwohl die Distanz zwischen ihm und den beiden Frauen nur wenige Meter betrug, kam sie Ben endlos lange vor. Jeder Schritt war eine Quälerei. Die Angst und Sorge um Anna verdrängten die Schmerzen aus seinem Bewusstsein. Sein Atem ging keuchend. Zwei Schritte noch, motivierte er sich, als eine Wurzel für ihn zur Stolperfalle wurde. Irgendwie versuchte er mit seinen Händen den Sturz abzufangen und konnte es trotzdem nicht verhindern, dass er mit seiner lädierten linken Körperseite auf dem Boden landete. Der Schmerz, der beim Aufprall seinen Körper durchflutete, raubte dem Dunkelhaarigen nicht nur den Atem sondern auch für einige Sekunden die Besinnung.

  • Als das Sternenmeer vor seinen Augen sich verflüchtigte, biss Ben die Zähne zusammen und erstickte jeden Laut der Qual, der aus seiner Kehle kommen wollte, schon im Keim. Scharf sog er die Atemluft ein und versuchte den Wundschmerz zu verdrängen. Im Zeitlupentempo robbte er über den Unterarm den letzten Meter zu Anna und Elena und richtete langsam seinen Oberkörper auf. Sein Kreislauf fing an verrückt zu spielen. Ein Funkenregen tanzte vor seinem Augen. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, stützte er sich unwillkürlich am Rücken der Russin ab. Unter seiner Handfläche spürte er eine klebrige, warme Flüssigkeit. Der Schock saß, es war Blut.

    „Anna? Bitte antworte doch!“, nuschelte er flehentlich. Sein Herzschlag raste und ein neuer Dimension und ein Adrenalinschub schoss durch seine Blutbahnen.

    „Ich bin in Ordnung Ben!“, hauchte Anna, auf dem Waldboden liegend, „aber der Kerl hat Elena erwischt! Was ist mit diesem Schwein? Ist er tot?“ „Ich hoffe es!“, erwiderte der Polizist.


    Die Erleichterung in seinem Tonfall war unüberhörbar. Argwöhnisch ließ er seinen Blick in Richtung der Villa umherschweifen. Gab es noch weitere Verfolger? Wenn ja, so waren sie denen hilflos ausgeliefert. Am anderen Ende des Grundstücks brach ein wildes Feuergefecht aus. Das gab ihm zumindest die Gewissheit, Semir war noch am Leben. Die junge Russin schnaufte röchelnd und stöhnend vor sich hin. Vorsichtig zog er Elena von seiner Freundin herunter. Auf dem Waldboden sitzend, lehnte er sich gegen einen Baumstamm, der ihm Halt bot. Ben versuchte langsam und kontrolliert zu atmen. Das Rauschen in seinen Ohren verschwand nach und nach. Er bettete den Kopf der jungen Frau auf seinen Schoß, während Anna deren Oberkörper abtastete.


    „Fuck … fuck … fuck!“, entfuhr es der Ärztin gar nicht damenhaft und erklärend fügte sie für Ben hinzu, „die Kugel muss die Lunge getroffen haben. Ich muss Elena irgendwie helfen, sonst erstickt sie an ihren eigenen Blut!“

    Während Ben mit seinem nächsten Schwächeanfall kämpfte, hörte er wie seine Freundin den Boden nach ihrem Arztkoffer absuchte, den sie vor wenigen Minuten achtlos zu Boden hatte fallen lassen. Das warme Blut der Verletzten durchtränkte den Stoff seiner Hose. Er tastete nach der Wunde und drückte die Handfläche darauf. Beruhigend strich er der Verletzten mit der anderen Hand über ihr Haar und redete auf Elena ein. „Nur noch ein bisschen durchhalten Mädchen! … Du sagtest einmal, diese Villa steht in einem Wohngebiet. Die Schüsse werden von den Menschen, die in der Nachbarschaft wohnen, gehört!“, er richtete seinen Blick auf Anna. „Die Kollegen werden kommen! … Ganz sicher! … Wir müssen nur alle noch ein bisschen durchhalten!“


    Dem jungen Polizisten war klar, dass eine normale Streifenwagenbesatzung, hilflos sein würde. Wenn, dann müsste ein kompletter Trupp von SEK Beamten anrücken, um sie aus ihrem Gefängnis zu befreien. Und das konnte dauern. Für einen Moment schloss er die Augen und lauschte, wie Anna den Stoff von Elenas Shirt auftrennte und die Folienverpackung des Verbandsmaterials aufriss. Sie schob Bens Hand zur Seite und drückte die Wundkompressen auf die Einschussstelle.


    „Hilf mir bitte! Presse damit weiter fest auf die Wunde!“, forderte sie Ben auf. Anna kramte weiter in ihrer Arzttasche, die sie all die Tage wie ein Heiligtum gehütet hatte. „Na also!“, brummte sie zufrieden, als sie die kleine Taschenlampe und ihr Stethoskop in der Hand hielt. Die Ärztin drehte Elena ein bisschen, hörte ihre Atemgeräusche ab und leuchtete auf die Wunde. „Pfff!“, war ihr Kommentar. Im Lichtkegel konnte Ben erkennen, dass die Kugel seitlich rechts hinten unterhalb des Schulterblatts in den Brustkorb eingedrungen war. Der Lichtschein wanderte hoch zu Elenas Gesicht, die deutlich hörbar nach Luft schnappte.

    „Luft! … Luft!“, röchelte die Ärmste.

    Ihre Haut begann sich zu verfärben. Anna leuchtete die Fingerkuppen an, die sich leicht bläulich zu färbten. Wie wild suchte Anna nach Gegenständen in ihrer Tasche. „Ok!“, meinte seine Freundin. Deutlich hörbar atmete sie mehrmals durch. „Wir werden ein bisschen improvisieren müssen, aber darin bin ich ja mittlerweile geübt. Du musst mir mit der Taschenlampe leuchten und gleichzeitig Elena festhalten! Schaffst du das?“, fragte sie Ben schon beschwörend.


    „Wie stellst du dir das vor!“, entgegnete er resignierend, „ich habe nun mal nur zwei Hände!“


    Anna leuchtete ihrem Freund kurz ins Gesicht und erschrak. Sein Gesicht war aschfahl und auf der Stirn von einem dünnen Schweißfilm überzogen. Augenblicklich wurde ihr bewusst, dass Ben am Ende seiner Kräfte angelangt war und kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch stand. Ok, du musst stark bleiben, sprach Anna sich innerlich selbst Mut zu. Nichts anmerken lassen, jede Sekunde zählte.


    „Na einfach so!“, entgegnete sie und steckte ihm die Taschenlampe in den Mund. „Du darfst dich nur nicht bewegen und wenn du kein Blut sehen kannst, schließ einfach deine Augen!“
    Sie streifte sich ein Paar Handschuhe über, legte sich ein Skalpell bereit. Im schwachen Lichtschein der Taschenlampe sah sie seinen fragenden Blick. „Ich muss ihr so schnell wie möglich hiermit eine Thoraxdrainage legen!“ Dabei riss sie eine sterile Verpackung auf und holte ein Heimlichventil raus. „Halte Elena gut fest! … Ich habe nichts, um sie zu betäuben! Und ich werde ihr weh tun! … Höllische Schmerzen bereiten!“


    Geschickt desinfizierte sie die Hautpartie über den Rippen, an der sie das Skalpell ansetzen wollte. Ben beugte sich ein wenig vornüber, um mit seinem Körpergewicht Elena zu fixieren und schloss die Augen. Er hatte in den letzten Tagen und Wochen zu viel durchlebt, als das er die lebensrettende Maßnahme mitanschauen konnte. Für einen Moment bäumte sich Elena vor Schmerz auf, schrie ihre Qual hinaus und fiel bewusstlos in sich zusammen.


    „Geschafft!“, kam es voller Erleichterung wenig später von Anna.


    Ben war endgültig an seine körperliche Grenze angelangt. Kraftlos entfiel die Taschenlampe seinen Lippen. Der Boden, auf dem er saß, fing an zu schwanken und ihm wurde übel. So sehr er sich dagegen wehrte, er verlor den Kampf gegen die Schmerzen und seiner Schwäche. Dumpf und weit entfernt nahm er Annas Entsetzensschrei wahr, bevor er in sich zusammensank und endgültig abdriftete. Der Schleier der Dunkelheit nahm ihn auf.

  • Im Park …


    Unbemerkt von Ben oder Anna erlangte Remzi nach einigen Minuten das Bewusstsein wieder. Zwischen seinen Schläfen hämmerte sein Herzschlag in einem rasenden Takt. Der Grauhaarige fühlte die feuchten Grashalme an seiner Wange, roch den modrigen Geruch der feuchten Erde. Langsam kehrte die Erinnerung an das zurück, was vor wenigen Minuten geschehen war. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Die Finger seiner rechten Hand gingen an seinem Oberkörper auf Wanderschaft. Beinahe ungläubig fühlte er die warme Flüssigkeit zwischen seinen Fingern. Dennoch verspürte er keinen Schmerz, hatte das Gefühl zu schweben. Eine merkwürdige Kälte breitete sich von den Beinen her in seinem Körper aus. Der Söldner war erfahren genug, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. Die Kugeln des Polizisten hatten ihm tödliche Verletzungen zugefügt. Die Lebensuhr des Serben war so gut wie abgelaufen.

    Getrieben vom Wunsch nach Rache, bäumte sich dessen Körper ein letztes Mal auf. Mit seiner Rechten tastete er über den Waldboden auf der Suche nach seiner entfallenen Waffe ab. Als seine Fingerkuppen über das kühle Metall des Laufes glitten, versetzte es ihm einen Adrenalinschub. Sein Blick klärte sich, als er die Waffe in die Hand nahm und gestützt auf den Waldboden auf Anna zielte, deren Umrisse sich vor dem dunklen Hintergrund im Schein der Taschenlampe deutlich abzeichnete. Ein bösartiges Grinsen überzog sein Gesicht und er fletschte die Zähne wie ein wildes Raubtier. Seine ganze Konzentration lag auf seinem Zeigefinger, bereit den Abzug durchzuziehen, damit seine letzte tödliche Kugel, die er abfeuern konnte, den Lauf seiner Waffe verlassen konnte.


    Eine Explosion erschütterte die Umgebung, ließ den Waldboden unter ihm erzittern. Eine Staubwolke breitete sich aus und versperrte ihm die Sicht auf sein Opfer.


    ****
    Zurück beim Carport


    Das grelle Licht der Scheinwerfer blendete Semir. Er legte seinen Unterarm schützend vor die Augen und erkannte hinter der Windschutzscheibe, das zu einer entsetzten Fratze verzerrte Gesicht von Gabriela Kilic. Neben ihr auf dem Fahrersitz saß ein Kerl mit einem riesigen Schnauzbart, der schussbereit eine Waffe in der Hand hielt. Unbewusst rutschte Semir auf seinem Hosenboden rückwärts, als könnte er so der drohenden Gefahr entrinnen, dass ihn seine Gegner ins Kreuzfeuer nahmen. Er zögerte keine Sekunde, richtete die Mündung seiner MG in Richtung des Audis und eröffnete das Feuer. Das dumpfe Klatschen, als die Kugeln in das Metall des Audis eindrangen, waren unüberhörbar. Das Glas der Scheinwerfer zerplatzte und die Festbeleuchtung im Carport erlosch.


    Instinktiv hatten sich die Kroatin und ihr Fahrer geduckt. Beide suchten notdürftigen Schutz unter dem Armaturenbrett. Die Windschutzscheibe zerplatzte unter den einschlagenden Kugeln in tausend kleine Scherben, die auf die Insassen des Fahrzeugs herunterprasselten.
    „Wir sitzen in der Falle! … Raus hier!“, keuchte Camil im Auto und öffnete dabei die Fahrertür. „Krieche hinter mir vorbei und dann ab ins Haus! Ich gebe dir Feuerschutz!“
    Ohne darauf zu achten, ob die Kroatin dem Befehl Folge leistete, begann er zu schießen und zwang den Autobahnpolizisten in Deckung zu gehen. Seine Komplizen in der Villa hatten seine Absicht begriffen und ballerten ebenfalls wie wild darauf los.


    Die Einschläge waren verdammt nahe und Semir war gezwungen, bis an die Rückwand des Carports in Deckung zu robben. Im Vollsprint rannte Gabriela zum Eingang der Villa, dicht gefolgt von Camil, der sie mit seinem Körper schützte.


    „Verdammter Mist!“, fluchte der Kommissar, als seine Widersacherin und ihr Komplize unbehelligt im Haus verschwanden. „Letzte Chance“, murmelte er für sich selbst, dem drohenden Fiasko zu entkommen. In seiner Hosentasche suchte er nach dem Schlüssel für den PKW, den Elena ihn überreicht hatte. Er drückte den automatischen Türöffner und zu seiner Überraschung gehörte der Autoschlüssel zu keinem der Fahrzeuge im Carport, sondern zu einem Passat, der neben dem Hauseingang geparkt war. In seine Gedankengänge, wie er ungesehen den bewussten Kombi erreichen könnte, eröffneten seine Gegner aus ihrer sicheren Deckung heraus, erneut das Feuer und zwangen ihn, weiter im Carport Schutz zu suchen. Die Geschosse klatschten mit einem dumpfen Laut in die geparkten Fahrzeuge. Zischend entwich die Luft aus den getroffenen Reifen. Querschläger surrten bedrohlich nah an Semir vorbei. Es gab für ihn keine Möglichkeit das Fluchtfahrzeug zu erreichen.


    Seine Widersacher stellten sich äußerst geschickt an und nagelten ihn förmlich im Carport fest und nach wenigen Minuten durchschaute der Türke deren Absicht. Zumindest einer seiner Kontrahenten würde versuchen über die Rückfront des Hauses ins Freie zu gelangen und sich an ihn heranzuschleichen. Er hörte ihre hektischen Befehle, die sie einander zuriefen, sah ihre schemenhaften Bewegungen.
    „Da ihr verdammten Drecksäcke!“, brüllte der Kommissar und feuerte blindlings, was das Magazin seines Schnellfeuergewehres hergab. Ein hohles Klicken verriet ihm die erste Waffe war leergeschossen. Wutentbrannt warf er sie in Richtung des Audis Q7. Suchend blickte er sich nach einem Notausgang um.


    Es gab keinen.


    Er saß im Carport in der Falle, in einer tödlichen Falle. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er dieses Spiel verloren hatte. Doch etwas schwor er sich, er würde diesen Killern einen erbitterten Kampf bis zum Ende liefern.

  • In einem Wiesbadener Hotel – eine Stunde vor Mitternacht


    Kim erwachte vom Vibrieren ihres Handys, das auf der Nachtkonsole tanzte. Verschlafen griff sie danach und schaute auf das Display. „Jenny Dorn“ – stand darauf als Anrufer. Mit einem Schlag war die Chefin hellwach. Sie schob Hendriks Hand, die auf ihrer Hüfte lag, zur Seite und richtete sich im Bett auf, während sie das Gespräch annahm. „Krüger, hier! Ist etwas passiert Frau Dorn?“
    Aus dem Lautsprecher am Ohr erklang Jennys aufgeregte Stimme. „Semir, ähm Herr Gerkhan ist verschwunden!“


    Mit einem Schlag war alle Müdigkeit von Kim abgefallen. „Okay, immer schön der Reihe nach, Frau Dorn! … Beruhigen Sie sich erst einmal!“ Die Chefin hörte, wie Jenny mehrmals deutlich hörbar ein- und ausatmete. Ihr Blick fiel auf den Staatsanwalt, der indessen weiter leise vor sich hin schnarchte. Das letzte Glas Rotwein nach dem genialen Sex war wohl eines zu viel gewesen, dachte sie bei sich und widmete ihre volle Aufmerksamkeit Jennys Bericht. „und nun erzählen mir der Reihe nach, was passiert ist!“


    „Semir verfolgte ein paar heiße Spuren wegen dieser Gabriela Kilic. Am Abend rief er mich an und meinte, dass er sich noch einmal ein Anwesen in Merheim anschauen wollte und anschließend wollte er nach Hause fahren. Frau Krüger ich habe bis 21.00 h vor seiner Haustür auf ihn gewartet. Er ist nicht aufgetaucht. Auf der Dienststelle ist er auch nicht. Er hat sich nicht mehr gemeldet. Keiner der Kollegen weiß wo er sich befindet. Sein Handy ist ausgeschaltet. Zusammen mit Herrn Bonrath bin ich die fraglichen Straßen in Köln Merheim abgefahren und wir haben Bens Mercedes entdeckt, den Semir heute als Dienstwagen benutzt hatte. Der Wagen war am Rande einer Wohngegend geparkt. Wir haben bei allen angrenzenden Wohnhäusern geklingelt, aber keiner der Bewohner hat Semir gesehen oder mit ihm gesprochen. Frau Krüger … was sollen wir tun? Ich habe so ein richtig mieses Gefühl.“


    Deutlich hörbar entwich Kim ihre Atemluft und sie dachte einige Atemzüge lang nach. Nebenbei rüttelte sie den Staatsanwalt an der Schulter, um ihm wach zu kriegen. „Alarmieren Sie Susanne und die Kollegen! Außerdem soll Susanne dem SEK Teamleiter, Marius Peucker, Bescheid geben, auf dessen Kollegen die Anschläge verübt worden sind. Wir treffen uns in spätestens zwei Stunden auf der Dienststelle zur Lagebesprechung. Vielleicht schaffe ich es auch ein bisschen früher. Bevor ich es vergessen, informieren Sie außerdem Hartmut über das Verschwinden von Herrn Gerkhan!“
    „Sollen wir zwischenzeitlich keine Fahndung nach Semir rausgeben?“
    „Nein lassen Sie das! Frau Dorn, unternehmen Sie nichts, bis ich auf der Dienststelle eintreffe! Und vor allem, kein Wort an eine andere Dienststelle oder die Staatsanwaltschaft!“ Kim Krüger hatte inzwischen ihre Bemühungen, ihren Bettnachbarn zu wecken, verstärkt.
    Der Staatsanwalt grummelte mürrisch vor sich hin. „Lass mich doch weiter schlafen! Ich bin müde!“, schob Kims Hand zur Seite und drehte sich einfach auf die andere Seite und begann sein Schnarch-Konzert einige Tonlagen lauter von neuen.
    „Na dann eben nicht!“, kommentierte sie das Verhalten ihres Liebhabers.


    Sie schälte sich aus dem Bett, schlüpfte in ihre Kleidung. Das Packen des Koffers beanspruchte nur wenige Minuten. Hendrik hatte sich inzwischen ihr Kopfkissen geschnappt, es an sich herangezogen und mit seinen Armen umschlungen. Ungläubig schüttelte sie bei diesem Anblick den Kopf und murmelte: „Männer!“
    Sie hinterließ ihm auf dem kleinen Schreibtisch eine Nachricht, schnappte sich seinen Autoschlüssel und bat ihn die Hotelrechnung zu übernehmen.
    „Pech gehabt! Es gibt ja noch die Deutsche Bahn oder einen Leihwagen!“, meinte sie trocken, als sie die Zimmertür hinter sich ins Schloss zog.


    Über den Fahrstuhl erreichte sie die Tiefgarage, in welcher der BMW des Staatsanwalts am Abend geparkt worden war. Kaum war Kim auf die A66 in Richtung Köln aufgefahren, kam im Verkehrsfunk die Meldung: Die Vollsperrung der A3 in Fahrtrichtung Köln im Baustellenbereich bei Limburg dauert wegen eines LKW Unfalls noch an.
    „Scheiße … Scheiße!“
    Es folgten noch einige Schimpfwörter, die einer Dame nicht würdig waren, während sie mit Hilfe des Navis nach der schnellsten Ausweichroute suchte. Anschließend holte Kim Krüger alles aus dem Wagen des Staatsanwalts heraus und fuhr mit absoluter Höchstgeschwindigkeit den Umweg über die A61 über Koblenz zurück auf die A3 und dann in Richtung ihrer Dienststelle.


    Kim Krüger schaffte es in rekordverdächtiger Zeit, die Entfernung zwischen Wiesbaden und der Dienststelle zurückzulegen. In mehr als einer Radarkontrolle hatte es verräterisch aufgeblitzt. Doch dies war ihr egal, sollte sich der Oberstaatsanwalt später um die Strafzettel kümmern. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, jede Minute, die sie früher auf der Dienststelle ankam, war kostbar. Gegen 01.15 h nachts traf sie auf der PAST ein. Zwei dunkelblaue BMW, Einsatzfahrzeuge des SEKs Düsseldorf, standen auf dem Parkplatz im Hof. Die Fenster der Dienststelle waren taghell erleuchtet. Drinnen wimmelte es von Menschen.


    Von Semir gab es nach wie vor keine Spur, berichtete ihr Susanne beim Vorbeilaufen an ihrem Schreibtisch. In ihrem Büro wurde sie vom SEK Einsatzleiter, Marius Peucker und Harmut bereits sehnsüchtig erwartet. Der KTU-ler hatte seinen Laptop aufgebaut und einiges vorbereitet. Die Begrüßung fiel sehr kurz aus. Marius Peucker bat darum, dass sein Stellvertreter, der das zweite Einsatzfahrzeug steuerte, mit an der Besprechung teilnehmen konnte. Als er sah, wie Kim ihre Augenbraue nach oben zog, meinte er:
    „Keine Sorge Frau Krüger! Ich vertraue diesen acht Männern dort draußen blind mein Leben an. Keiner von denen ist ein Verräter. Das Leck, das für meine getöteten Kameraden verantwortlich ist, sitzt definitiv woanders!“
    „Über den Maulwurf und wie wir ihn auffliegen lassen, sollten wir uns später den Kopf zerbrechen! Wir sollten uns auf das konzentrieren, was vor uns liegt!“, stimmte sie dem Einsatzleiter zu. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und überlegte. „Na gut, holen Sie ihn rein.“


    Marius Peucker winkte seinem Kollegen Linus Walther, der Sekunden später das Büro betrat. Kim hatte sich währenddessen interessiert hinter Hartmut gestellt und über dessen Rücken hinweg auf den Bildschirm des Laptops gestarrt.


    „Haben Sie was für uns Hartmut?“ Ihre Linke stützte sie auf der Schreibtischplatte ab und beugte sich leicht vornüber, um besser den Ausführungen ihres Kriminaltechnikers folgen zu können. Als der KTU-ler in gewohnter Weise mit einem Fachvortrag beginnen wollte, wies ihn Kim in die Schranken. „Kurzfassung Herr Freund!“
    „Wie immer“, brummte Hartmut missmutig und legte den anwesenden Kollegen seine Erkenntnisse dar, die interessiert seinen Ausführungen folgten.


    Kim Krüger lies einen fragenden Blick in die Runde schweifen. „Herr Peucker, es bleibt bei unserer Absprache. Wir werden keinen unserer Vorgesetzten von diesem Einsatz unterrichten. Ihnen und ihren Männern dort draußen ist klar, dass es im Nachhinein Ärger geben könnte. Gewaltigen Ärger und wir im schlimmsten Fall unsere Jobs an den Nagel hängen können.“


    Der Einsatzleiter und sein Stellvertreter nickten zustimmend. Der Rest des Teams wurde hinzugeholt und das Briefing begann. Die Einsatzbesprechung dauerte knappe zehn Minuten. Die SEK Beamten begaben sich zu ihren Einsatzfahrzeugen, legten ihre Schutzkleidung an und bereiteten sich für den kommenden Einsatz vor.


    Kim Krüger stand in der Mitte des Großraumbüros und begutachtete ihre Rumpfmannschaft. Die Kollegen der Nachtschicht waren zu einer Massenkarambolage auf der A4 in Richtung Olpe gerufen worden. Letztendlich blieb nur noch die Kommissars-Anwärterin Jenny Dorn übrig, um sie zu begleiten.
    Während Kim ihre schusssichere Weste anlegte, die Jenny für sie bereithielt, erteilte sie knapp einige Instruktionen.

    „Susanne, du bleibst am Funk und hältst die Stellung. Herr Freund und Frau Dorn, sie fahren mit mir zusammen!“
    Viertel vor zwei Uhr nachts rollte Kims Fahrzeug, gefolgt von den SEK Dienstwagen, vom Hof der PAST.

  • In absoluter Höchstgeschwindigkeit, unter Einsatz von Sondersignal und Blaulicht, fuhr die Kolone auf der A3 in Richtung Köln. Hartmut, der neben seiner Chefin auf dem Beifahrersitz saß, war leichenblass. Krampfhaft hielt er sich am Haltegriff über der Beifahrertür fest.


    „Frau Krüger, ist das nicht ein bisschen zu schnell, wie sie fahren?“, meinte er kleinlaut, als Kim in einem waghalsigen Manöver einem Kleinwagen auswich, der plötzlich auf die Überholspur gewechselt war.
    „Wieso? … Haben Sie Angst?“, meinte sie mit einem Blick zu Seite. „Oder was haben sie an meinem Fahrstil auszusetzen? Im Gegensatz zu ihren Kollegen bleibt mein Dienstwagen heil!“
    „Naja, so war es nicht gemeint!“, druckste der Rothaarige ein bisschen herum.
    Von der Rücksitzbank meldete sich Jenny zu Wort, die durch den rasanten Fahrstil ebenfalls hin und hergeworfen wurde. „Wo fahren wir überhaupt hin?“
    „Gerkhan den A.rsch retten und mit viel Glück möglicherweise Herrn Jäger und Frau Becker finden, falls die beiden überhaupt noch am Leben sind!“
    Die Jungkommissarin beugte sich überrascht nach vorne zwischen die beiden Vordersitze. „Woher wollen Sie denn wissen wo Semir ist?“


    Vollbremsung, Hartmut hing in seinem Sicherheitsgurt und Jenny endgültig zwischen den Sitzen fest.


    „Vollidiot! Volltrottel, wer hat dir Vollpfosten denn den Führerschein geschenkt“, brüllte Frau Krüger wütend und betätigte mehrmals die Hupe, in der Hoffnung das vorausfahrende Fahrzeug würde endlich auf die rechte Spur wechseln. „Schon mal was von einem Blick in den Rückspiegel gehört!“, fauchte sie grimmig hinterher.


    Sie konnte nicht verstehen, wie man bei Dunkelheit das flackernde Blaulicht der sich nähernden Einsatzfahrzeuge übersehen konnte.


    In Richtung ihres Beifahrers brummte sie: „Erklären sie mal ihrer Freundin darüber auf Herr Freund, wie wir Gerkhan finden wollen. Heute Nacht sind nur Vollpfosten unterwegs. Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren, wenn wir ankommen wollen!“ In Kim war so ein untrügliches Gefühl, dass jede Minute zählte.
    Als sich die junge Frau mit Harmuts Hilfe aus ihrer misslichen Lage befreit hatte, drehte sich dieser ein wenig nach hinten und schaltete sein Tablet an, das auf seinem Schoss lag.


    „Semir trägt einen GPS Sender, über den ich ihn mit diesem Programm jederzeit orten kann.“ – „Einen GPS Sender?“, unterbrach ihn Jenny, „aber wie wollt ihr sicher sein, dass er bei einer Durchsuchung von seinen Entführern nicht gefunden wird?“
    „Vielleicht lässt du mich mal ausreden! Der Sender wurde ihm vor einigen Tagen im Krankenhaus unter die Haut implantiert! Semir hatte die Idee nach dem missglückten Anschlag auf ihn und gleichzeitig die Hoffnung, dass die mutmaßlichen Entführer nochmals zuschlagen werden. Durch den Sender hätte er uns direkt zu dem Versteck der Kidnapper geführt! … So wie es momentan aussieht, ist sein Plan heute Nacht erfolgreich aufgegangen.“


    „Keiner konnte ahnen, dass die Entführer nicht mehr zuschlagen würden. Beten wir, dass der Plan aufgeht und wir eine Chance haben, um alle rechtzeitig retten zu können!“, mischte sich Kim ins Gespräch ein.


    Nun wurde Jenny einiges klar, deswegen hatte ihr älterer Kollege jeglichen Polizeischutz abgelehnt. Er hatte sich praktisch als Lockvogel auf dem Präsentierteller angeboten. Danach herrschte Schweigen im Wagen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Jenny drückte sich auf der Rücksitzbank in die Ecke. Die junge Polizistin versuchte die düsteren Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, zu verdrängen. Gleich nach Semirs Anruf am Abend hatte sie so ein merkwürdiges Bauchgefühl gehabt. Hätte sie Frau Krüger früher informieren sollen? Hätte das etwas geändert? Ob es auf diese Frage jemals eine Antwort geben würde? Mit einem leeren Blick starrte Jenny aus dem Seitenfenster nach draußen. Zwischen den Lärmschutzwänden an der Seite leuchteten ab und an die Lichter der Großstadt Köln. Die rasante Fahrt ging auf der A3 bis Köln Heumar.


    Hier verließen die Einsatzkräfte der Autobahnpolizei, dicht gefolgt von den SEK Fahrzeugen, die Autobahn. Als Kim im Buchheimer Ring einbog, schaltete sie das Blaulicht und die Sirene aus. Über Funk erhielten die SEK Beamten die Anweisung, dies ebenfalls zu tun, um die mutmaßlichen Entführer nicht vorzeitig zu warnen.


    „Ok, Herr Freund! Jetzt kommt ihr Part. Wo genau steckt Gerkhan?“


    Im Kegel des Scheinwerferlichts tauchten an den Fahrbandrändern Grünflächen, Hecken und Bäume auf. Zwischendrin befanden sich Grundstücke. Im Schein des Mondlichtes zeichneten sich die Umrisse von Gebäuden ab. Die Straßenbeleuchtung war in diesen Straßenzügen aus Sparzwecken von der Stadt Köln zur späten Nachtstunde abgeschaltet worden. Auf einem Seitenstreifen hielt Kim an und knipste in Innenbeleuchtung an.


    „Gestörter GPS Empfang … Scheiße … Scheiße … Das kann ich überhaupt nicht gebrauchen!“, fluchte Hartmut vor sich hin.


    Auf einem Seitenstreifen hielt Kim an und knipste in Innenbeleuchtung an. Der Rotschopf öffnete die Beifahrertür und stieg aus, um einen besseren Empfang zu bekommen. Hektisch tippte er auf dem Bildschirm des Tablets herum. Nach einigen Sekunden entwich ihm erleichtert die Atemluft und er meinte in den Innenraum des Fahrzeugs: „Es muss irgendwo da vorne rechts sein. Höchstens drei- oder vierhundert Meter von unserem Standort entfernt!“


    Im Schein des Vollmondes zeichnete sich die Silhouette riesiger Bäume ab. „Da ist doch höchstens ein Wald! Da brauchen wir bei der Dunkelheit ewig, bis wir Semir finden!“, meinte Jenny mit einem verzweifelten Unterton.


    „Ruhe!“, herrschte sie Frau Krüger an, die zwischenzeitlich die Fahrertür geöffnet hatte und angespannt lauschte.

  • „Hören sie das auch Frau Krüger? Das sind Schüsse! Dort vorne in dem Waldstück wird eindeutig geschossen!“

    Jenny sprach aus, was sich Kim dachte.
    „Herr Freund einsteigen!“, befahl sie und ließ die Seitenscheibe herunterfahren.

    Aus dem Funk quäkte Marius Peuckers Stimme, dass er und seine Männer die Schüsse ebenfalls gehört hatten. Langsam ließ Kim ihren Wagen weiterrollen. Stille … Erneut hallte der Knall von abgeschossenen Kugeln durch die Nacht, gefolgt von dem Hämmern eines Maschinengewehrs.


    „Vorne rechts … in ca. hundert Metern ist eine Einfahrt Frau Krüger!“, kam es vom Beifahrersitz.


    Kim bog in den befestigten Wirtschaftsweg ein, von dem eine Abzweigung direkt in den Wald zu führen schien. Die Dunkelheit des Waldes umfing das Fahrzeug. Das Licht des Mondes konnte den dichten Blätterwald der Bäume nicht bis zum Erdboden durchdringen. Eine Mauer mit einem riesigen Tor tauchte im Licht des Scheinwerferkegels auf und versperrte den Weg. Sie stoppte den Wagen und stieg aus. Ein gedämpfter Lichtschein war erkennbar und kein Zweifel! Dahinter kämpfte jemand um sein Leben. Zwischen den Schüssen, die aus Pistolen abgefeuert wurden, erklang das Stakkato eines Maschinengewehrs.
    Die SEK Beamten kamen einsatzbereit heran gestürmt. Auch sie hatten die Situation erfasst. Marius Peucker erteilte seine Befehle.


    „Aufsprengen! Gefahr in Verzug!“


    Zwei seiner Männer brachten die Sprengladungen am Tor an. Währenddessen brachte Kim ihr Fahrzeug aus dem Gefahrenbereich und parkte ihn neben den SEK Fahrzeugen auf dem Wirtschaftsweg. Über Funk unterrichtete sie Susanne über die Situation und befahl ihr weitere Polizeikräfte, Feuerwehr und den Rettungsdienst als Verstärkung zu alarmieren. Die Zeit der Geheimniskrämerei war vorbei.


    „Sie bleiben am Wagen Herr Freund! Sobald die Verstärkung eintrifft, weisen sie diese ein! … Frau Dorn, sie folgen mir! Einsatzleitung hat das SEK! Die stürmen auch zuerst auf das Grundstück!“

    Auf ihr Zeichen hin folgte Jenny ihrer Chefin. Hinter den SEK- Einsatzkräften gingen die beiden Frau in Deckung. Eine grelle Explosion erhellte die Nacht. Die Druckwelle ließ den Boden erbeben. Die SEK-Beamten hatten nicht mit Sprengstoff gespart. Staub, Dreck, Gesteinsbrocken flogen durch die Luft.
    Die Lichtkegel von Handscheinwerfern leuchteten das Gelände vor ihnen aus. Kim hielt sich schützend ihren Unterarm vor Mund und Nase, um nicht zu viele Staubpartikel einzuatmen. Ihre Ohren pfiffen. Gedämpft nahm sie den Einsatzbefehl über Funk war.

    „Wir stürmen zu Fuß!“
    Als sie sich aus ihrer Deckung aufrichtete, erkannte sie den Grund. Die Wucht der Explosion hatte das Tor aus der Verankerung gerissen. Gleich einer Barriere lag das schwere Metalltor quer und blockierte die Zufahrt zum dahinter liegenden Anwesen. Mit ihrem Fahrzeug hatten sie keine Chance dieses Hindernis zu überwinden.


    Die vermummten SEK Beamten rannten mit ihren Maschinengewehren im Anschlag an ihr vorbei auf das Grundstück. Wieder einmal bewunderte Kim ihre Kollegen, die sich lautlos und völlig geschmeidig bewegten.


    Zusammen mit Jenny schloss sie sich der Gruppe an und folgte dem letzten Beamten auf den Zufahrtsweg. Dort erleuchteten auf der linken Seite einige LED-Leuchten mit einem spärlichen Lichtkegel den Zufahrtsweg aus. Die Staubwolke der Explosion hing noch in der Luft und verschlechterte zusätzlich die Sicht. In ihren Ohrstöpsel erklang die Stimme vom Marius Peucker.

    „Wir teilen uns! Team Alpha und Charlie folgen mir. Team Bravo, zusammen mit Frau Krüger, bricht seitlich in die Büsche ein und schleicht sich von hinten ans Gebäude! Go!“


    In leicht gebückter Haltung stürmte die eine Gruppe den Zufahrtsweg hoch. In ihrer dunklen Kleidung verschmolzen die Beamten der zweiten Gruppe vor ihr regelrecht mit ihrer Umgebung, als sie in das Unterholz einbrachen. Morsche Äste zerbrachen unter der Last der Schritte. Tiefhängende Äste der Bäume und Sträucher strichen über Kims Gesicht. Jenny hielt sich eng hinter ihr. Vor ihnen tauchte aus der Dunkelheit die hell erleuchtete Villa auf. Die Dreier-Gruppe der SEK Beamten stoppte abrupt. Ihr Anführer Linus Walther war über eine aus Boden ragende Wurzel gestolpert. Lautlos fluchte der SEK-Beamte vor sich hin. Gleichzeitig nahm er aus dem Augenwinkel im Unterholz eine schemenhafte Bewegung wahr. Im Lichtkegel der Taschenlampen bot sich der Gruppe ein Anblick, der ihnen den Atem raubte.


    *****


    Pfeilschnell brachte sich Marius mit einem Hechtsprung bei Semir in die Deckung eines Fahrzeugs im Carport. Einige Kugeln, die durch die Nacht flogen, waren ihm gefährlich nahe gekommen.
    „Marius Peucker! SEK Einsatzleitung!“, stellte er sich nach Atem ringend vor, „Schöne Grüße von Frau Krüger. Mit wie vielen Gegnern haben wir es zu tun, Herr Gerkhan?“


    Er blickte dabei nach draußen in das Halbdunkel der Zufahrt, wo die anderen SEK Beamten hinter dem schwarzen Audi Q7und dem mächtigen Stamm einer Eiche Deckung gefunden hatten. Wie durch ein Wunder war bisher noch niemand durch den Kugelhagel verletzt worden.


    „Wenn ich richtig gezählt habe, sind es fünf Männer, wobei einer bereits das Zeitliche gesegnet hat!“ Semir deutete auf die Leiche die vor dem Kühler des Fahrzeugs lag. „Dazu kommt diese Gabriela Kilic! Ich vermute allerdings, dass einer der Männer meinen Partner und dessen Freundin durch den Park verfolgen.“
    „Keine Sorge! Wir finden sie!“, beruhigte ihn der Einsatzleiter und setzte prompt einen entsprechenden Funkspruch an seinen Kollegen Linus Walther ab.
    „Hätten Sie eine Pistole oder etwas Munition für mich?“

    Semir präsentierte sein leer geschossenes Magazin und lächelte, als ihm Marius eine geladene Glock 9 mm mit entsprechender Ersatzmunition in die Hand drückte. Seine SEK Kollegen bereiteten sich darauf vor, die Villa zu stürmen und warteten nur auf ein entsprechendes Zeichen ihres Einsatzleiters. Ungezählte Male hatten sie sich in ihren Trainingseinheiten auf solche Situationen vorbereitet.


    „Zugriff!“, kam sein knapper Befehl über Funk und die SEK Einheit rückte vor. „Ich schlage vor, sie bleiben hier in sicherer Deckung, während wir das Rattennest dort drüben ausheben!“, kam es von Marius Peucker.
    „Vergessen Sie das!“, zischte Semir zurück. „Ich habe mit diesem Teufelsweib dort drüben noch eine besondere Rechnung offen!“, sprach er, duckte sich tief und schlich hinter dem Einsatzleiter her.

  • Unverletzt konnte Gabriela die Eingangshalle der Villa erreichen. In ihr bohrte die Frage, war der Türke alleine gekommen oder bekam er Unterstützung durch andere Polizeikräfte. Eine heftige Explosion erschütterte das Zufahrtstor. Damit hatte sich die Antwort auf die Frage erübrigt, dachte sie ironisch. Sie fischte ihr Handy aus der Handtasche, in der sich ihr neuer Personalausweis, ein Reisepass, ausgestellt auf Lara Herzog und sonstige wichtige Dokumente befanden. Ein prüfender Blick auf das Display verriet ihr, ihr Freund bei der Polizei hatte sie nicht vorgewarnt.


    Gabriela fühlte sich elend, wie am Boden zerstört. Sie stand im ehemaligen Arbeitszimmer und drehte sich im Kreis. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg. Immer wieder murmelte sie wie eine Beschwörungsformel vor sich hin: „Die werden mich nicht lebend kriegen! … Ich gehe nicht zurück in den Knast! … Niemals!“ Dabei musterte sie die vorbereiteten Bomben, deren Fernzünder, die auf der Schreibtischplatte bereit zum Einsatz gegen ihre Feinde lagen.


    Im Hintergrund hörte die Kroatin das Fluchen ihrer Männer, als die Polizeieinsatzkräfte näher rückten. Iwan Kovac rief ihr in seiner Muttersprache wütend zu:

    „Schnapp dir endlich eine Knarre und hilf uns diese Typen platt zu machen!“ Dabei warf er ihr ein Maschinengewehr zu. „Hoffentlich kannst du damit noch umgehen!“, brüllte er hinterher und erteilte seinem Bruder und Sohn weitere Befehle. Handgranaten lagen einsatzbereit zu seinen Füßen und warteten nur darauf, ihre tödliche Sprengkraft zu entfalten.


    Gabriela kniete vor einem der Fenster im Arbeitszimmer, das ihr einen Blickwinkel auf die Zufahrt und das Carport gewährten nieder. Sie sah die vermummten SEK-Beamten und das Maschinengewehr in ihrer Hand fing an, eine Salve von Kugeln zu verteilen. Auf einmal geriet der Mann, den sie für alles verantwortlich machte, in ihr Blickfeld: Semir Gerkhan, der in der Nähe des schwarzen Passats Deckung suchte. Eine Welle aus Hass und Zorn überflutete sie und die Erkenntnis, dieser Mann durfte nicht entkommen.


    *****


    Der Angriff der SEK Beamten auf die Villa stieß auf eine heftige Gegenwehr. Entsprechend heftig hämmerten die Maschinengewehre der Bewohner drauf los und spuckten ihr tödliches Blei in Richtung der Polizisten aus. Einige der Kugeln prallten als Querschläger am Mauerwerk des Carports ab. Einer der SEK Leute schrie schmerzerfüllt auf, als eine Kugel in seinen Oberschenkel einschlug. Sofort zog ihn ein Kamerad in Deckung. Der Vorstoß auf die Villa geriet ins Stocken.


    „Für die Kerle dort drinnen sind wir perfekte Zielscheiben …!“, stieß Marius Peucker wütend hervor.

    Der Rest erstarb fluchend auf seinen Lippen.
    Es gab einen gewaltigen Knall, der den Boden unter den Füßen von Semir und dem Einsatzleiter erbeben ließ. Eine heftige Explosion hatte die Villa erschüttert und ließ diese bis in ihre Grundmauern erzittern. Der Kugelhagel verstummte augenblicklich und wurde von zwei weiteren Detonationen abgelöst, die in ihrer Wucht und Sprengkraft die vorherige um einiges übertraf. Das riesige Wohnhaus wurde förmlich in tausende von Einzelteilen zerrissen und fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Eine Druckwelle breitete sich aus und fegte über die SEK Beamten und den Autobahnpolizisten hinweg, gefolgt von einer gewaltigen Staubwolke. Aus dieser regnete es Gesteinsbrocken und brennende Teile auf die Beamten nieder, die verzweifelt Schutz suchten. Keiner wollte von einem dieser gefährlichen Splitter durchbohrt werden. Während Marius Peucker und zwei weitere Beamte in seiner Nähe Glück hatten und sich in den Schutz des Carports hechteten, sah es beim Türken nicht so gut aus.


    Semir, der sich seitlich an der Villa zur Hinterfront schleichen wollte, war dadurch der Druckwelle schutzlos ausgeliefert. Als diese ihn erfasste, merkte er wie er durch die Luft flog und gegen etwas Hartes prallte. Ihm entging auch nicht das ungesunde Knirschen seiner linken Flanke. Nicht gut, dachte er bei sich, überhaupt nicht gut. Pfeifend entwich die Atemluft seiner Lunge. Sein Hinterkopf schlug ebenfalls gegen die steinerne Außenmauer des Grundstücks. Bunte Sterne tanzten vor seinen Augen und in seinem Kopf dröhnte es. Mit blankem Entsetzen registrierte er, dass der schwarze Passat, der neben dem Eingangsportal geparkt war, sich in Sekundenbruchteilen in einen glühenden Feuerball verwandelte. Der Gluthauch der Hitze waberte zu ihm herüber, versengte seine Haare und brannte in seinen Lungen. So sehr er auch dagegen ankämpfte, die Dunkelheit einer Ohnmacht betäubte seine Sinne.

  • Einige Minuten vorher im Park der Villa
    Instinktiv warf sich die junge Ärztin schützend über Elena. Die Wucht der Explosion hat den Waldboden erbeben lassen. Das Knacken eines morschen Astes, der unter dem Gewicht eines Menschen brach, erregte ihre Aufmerksamkeit. Es raschelte seitlich von ihr aus Richtung der Mauer. Täuschte sie sich? Nein! In dem Gebüsch seitlich von ihr bewegten sich die Schatten von mehreren Menschen. Ein Lichtkegel schimmerte zwischen den dicht belaubten Sträuchern hindurch.


    Langsam drehte sie ihren Kopf in Richtung ihres Freundes. Bewegungslos lag er im hohen Gras neben ihr.
    „Ben! … Ben! … Wach doch auf!“, wisperte sie und stupste ihn leicht an der Schulter. „Da kommt jemand auf uns zu!“ Ihre Bemühungen wurden energischer. „Scheiße! Das ist der falsche Moment um ohnmächtig zu sein!“, entfuhr es ihr verzweifelt, als ein leises Stöhnen die einzige Antwort von ihm war.


    Sie tastete den Boden nach ihrer kleinen Taschenlampe ab, die sie vor Schreck hatte fallen lassen und knipste die Lampe aus. Anna war angesichts der aussichtslosen Situation kurz davor einen Heulkrampf zu bekommen. Reiß, dich zusammen. Das ist absolut das Letzte, was dir jetzt passieren sollte. In Panik geraten! Behalte einen kühlen Kopf. Wer auch immer da durchs Unterholz schlich, konnte auch ein Freund sein. Semir hatte ihr im Badezimmer von dem implantierten GPS-Sender erzählt. Eisern presste sie ihre Hand auf die Schusswunde von Elena und entschied sich dafür, sich so ruhig wie möglich zu verhalten.
    Jenny, die hinter Kim Krüger sich vorsichtig durch das verfilzte Gebüsch und das hohe Gras bewegte, entfuhr ein Entsetzensschrei, als sie die blutverschmierten Gestalten vor einem riesigen Holunderbusch im Lichtkegel der Lampen entdeckte. Der Regisseur eines Horrorfilmes hätte die Szene, die sich vor ihren Augen bot, nicht besser darstellen können. Anna Becker, deren Hände, Arme und Kleidung blutverschmiert waren, kniete vor einer bewusstlosen Frau auf dem Boden. Die Ärztin drückte mit einer Kompresse, die sie in der flachen Hand hielt, verzweifelt auf eine blutende Wunde am Rücken. Auf der anderen Seite lag im hohen Gras eine weitere Gestalt, die offensichtlich ohne Bewusstsein war.


    Bei näherem Hinschauen stellte Jenny fest, diese dunklen Haare, die Gestalt, die ihr vertraut vorkam, dass es sich bei dem Mann um ihren Freund und Kollegen Ben Jäger handelte.
    „Oh mein Gott!“, entfuhr es ihr voller Entsetzen. Unwillkürlich schossen ihr bei seinem Anblick die Tränen in die Augen. „Ben! … Ben!“, rief sie mit tränenerstickter Stimme. „Anna was ist mit ihm?“
    Ohne auf ihre eigene Sicherheit zu achten, rannte die junge Kommissarin, dicht gefolgt von Kim, auf den ohnmächtigen Mann zu. Vor ihm fiel sie auf die Knie, umfasste seinen Kopf mit ihren Händen, streichelte sanft über seine eingefallenen Wangen und bettete ihn auf ihren Schoß. Ihre Chefin hatte sich neben sie niedergekniet und leuchtete mit ihrer Taschenlampe die Szene aus. Täuschte sich Jenny, oder schimmerten da tatsächlich die Augenwinkel von Kim Krüger feucht.


    Linus Walther, der voranschritt, überblickte als erster die komplette Situation vor seinen Augen auf der kleinen Lichtung im Park. Beim Briefing auf der PAST hatte Frau Krüger ihnen Fotos der Entführten und der mutmaßlichen Verdächtigen gezeigt. Er stieß eine leise Verwünschung aus, als die beiden Frauen losstürmten und sich damit unbewusst mitten in Gefahr begeben hatten. Der Beamte hatte eine weitere Person, die verdeckt durch das hohe Gras auf dem Boden lag, entdeckt. Die Absicht des Mannes, der eine Waffe in der Hand hielt, schien eindeutig zu sein.
    „Polizei! … Waffe fallen lassen! … Sofort fallen lassen oder ich schieße!“, schickte er einen scharfen Warnruf in Richtung von Remzi Berisha, der den Abzug seiner Waffe durchziehen wollte. Der Serbe ließ sich nicht beeindrucken und hob mit letzter Kraft die Waffe an. Sein Blick war starr auf Annas Rücken fixiert. Er hatte nur noch ein Ziel vor Augen, bevor er aus dem Leben schied, diese Frau erschießen.
    Linus Walther blieb keine Wahl und er feuerte seinerseits den entscheidenden Rettungsschuss ab. Die Kugel traf den Serben in den Oberkörper, der sich für den Bruchteil von Sekunden aufbäumte und anschließend regungslos in sich zusammensank. Die Waffe entfiel der Hand des Getroffenen. Einer der Beamten rannte zu Remzi hin, kickte die Waffe endgültig außer dessen Reichweite und prüfte an der Halsschlagader, ob der Söldner noch lebte. „Exitus!“ war alles, was er sagte. Die übrigen SEK-Beamten sicherten das Gelände.


    Grenzenlose Erleichterung spiegelte sich auf Annas Gesicht wieder. Sie unterdrückte ein Aufschluchzen. „Ich kann …!“, stammelte die Ärztin und rang um ihre Fassung, konnte ihre Gefühle und Emotionen nicht in Worte fassen.
    „Schon gut! … Schon gut!“, gab Kim ebenso bewegt zurück. „Ich verstehe sie. … Wir hatten in den vergangenen Tagen die Hoffnung schon fast aufgegeben, sie und Herrn Jäger jemals lebend wieder zu finden!“
    „Wir brauchen dringend einen Notarzt und Rettungswagen für Elena, sonst stirbt sie mir unter den Händen weg!“, unterbrach Anna die Chefin.
    Die Aussage der Ärztin holte auch Kim wieder in die Realität zurück. „Sie haben Recht! … Was ist mit Ben?“
    „Wenn nicht eine seiner Verletzungen nicht wieder aufgebrochen ist, befindet er sich nicht in akuter Lebensgefahr!“, beruhigte sie Kim und Jenny.
    Die Chefin fischte daraufhin ihr Handy aus der Hosentasche und erkundigte sich nach dem Eintreffen der Rettungsfahrzeuge und dem angeforderten Notarzt. „Was noch fünfzehn Minuten? Hier liegt eine Frau im Sterben!“ Sie fing an, mit der Person in der Rettungsleitstelle über die Dringlichkeit des Notfalls zu diskutieren. Zum Schluss fauchte sie ins Telefon, „Es ist mir egal, ob es Massenkarambolage auf der A661 gegeben hat und die anderen verfügbaren Rettungskräfte der Gegend bei einem Großbrand in einem Mehrfamilienhaus in Hohlweide im Einsatz sind. Wir haben hier einige Schwerverletzte!“ Sie lauschte auf den Schusswechsel nahe der Villa. „Die dringend ärztliche Hilfe benötigen. Also machen sie ihren Job. Wenn die nächsten fünf Minuten hier kein Notarzt auftaucht, komme ich höchstpersönlich bei ihnen auf der Leitstelle vorbei und reiß ihnen den A.rsch auf! Es geht um Menschenleben und nicht irgendwelche Zahlen und Statistiken!“


    Ihr Blick richtete sich auf die am Boden liegenden Verletzten und Anna bestätigte es durch Kopfnicken. Im Schein der Taschenlampe erkannte Kim, wie sich der Brustkorb von Ben Jäger zaghaft hob und senkte. Sie betrachtete das ausgezehrte Gesicht ihres Kommissars. Erinnerungen wurden in ihr wach, furchtbare Erinnerungen an diesen einen Tag im Wald, die sie aus ihrem Bewusstsein lange Zeit verbannt hatte. Seine Augenlider begannen zu flattern und unvermittelt öffnete er die Augen und starrte etwas ungläubig auf Kim.
    „Chefin?“, hauchte er und versuchte sich aufzurichten. Schmerzhaft verzog er sein Gesicht und ließ sich stöhnend zurücksinken. Dabei bemerkte er, auf wessen Oberschenkel er lag. „Jenny? …Ihr seid da? … Ihr habt uns gefunden?“
    Kim wusste einfach nicht was sie darauf antworten sollte. Jennys Tränen tropften auf Bens Wangen hinunter. Sie strahlte und schluchzte in einem. Ben suchte Kontakt zu Kims Hand, die nach wie vor neben ihm im Gras kniete.
    „Tut mir ... leid Chefin, dass sie wegen mir ein wenig Stress hatten ... habe wohl wieder ein bisschen Mist gebaut. … Aber ich hätte nicht gedacht, dass ich mich jemals so freuen würde ... ihr Gesicht zu sehen!“
    Da fing auch Kim an mit ihrem Handrücken, die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln zu wischen. „Und ich hätte nie … gedacht, dass ich mich so freue, einen von ihren dummen Sprüchen zu hören.“
    Die Mimik des jungen Beamten verkrampfte sich wieder vor Schmerzen und leise stöhnte er vor sich hin. Jenny strich ihm beruhigend über die Stirn. Seine Kräfte verließen ihn erneut, er sackte in sich zusammen und schloss erschöpft die Augen.


    Kleine Äste zerbrachen unter dem Gewicht des SEK-Beamten, als er neben Kim Krüger trat und in die Hocke ging. Sanft klopfte er ihr auf die Schulter.
    „Frau Krüger, wir müssen weiter! Ich schlage vor, wir lassen Frau Dorn zum Schutz der Verletzten zurück! Der Einsatzleiter hat den Zugriff befohlen. Wir sollen die Kerle, die sich in der Villa verschanzt haben, von hinten in die Zange nehmen und denen einen möglichen Fluchtweg versperren. Ich denke, sie wollen mit dabei sein!“


    Kim nickte zustimmend. Linus wisperte etwas in sein Funksprechgerät und gab das Zeichen zum Aufbruch. Geduckt, den Schatten der Bäume ausnutzend, näherten sie sich der hell erleuchteten Terrasse an der Hinterfront der Villa an. Geschickt verteilten sich die drei SEK-Beamten. Kim blieb in der Nähe von Linus. Das Feuergefecht vor dem Eingangsbereich des Anwesens war im vollen Gange. In den Reihen der SEK Beamten hatte es bereits einen Verletzten gegeben, wie sie aus den Funksprüchen entnehmen konnte. Marius Peucker wollte jedoch nicht auf weitere Verstärkung warten. In dem Augenblick als Linus das Handzeichen zum Vorrücken gab, stürmte über die Terrasse ein Mann mit südländischen Aussehen und einem riesigen Schnauzbart im Gesicht. Als Camil Musik die SEK-Beamten mit ihren Waffen im Anschlag erblickte, riss er seine Hände nach oben, zum Zeichen, dass er sich ergeben wollte und schrie etwas in seiner Muttersprache.


    Kim erstarrte in ihrer Vorwärtsbewegung. Der Mann, der sich ergeben wollte, war offensichtlich in Panik vor etwas auf der Flucht und im gleichen Moment verstand sie warum. Eine gewaltige Detonation ertönte aus dem inneren der Villa. Die Ereignisse überschlugen sich. Geistesgegenwärtig riss Linus die erstarrte Chefin der PAST zu Boden und warf sich schützend über sie, als die Hölle losbrach.

  • Wie durch Watte gedämpft, bekam Ben alles mit, was um ihn herum geschah. Er lauschte den Anweisungen seiner Freundin und spürte wie Jenny seinen Herzschlag und die Atmung prüfte. Vorsichtig lupfte seine Kollegin den Saum seines T-Shirts und ein kalter Lufthauch drang auf seine nackte Haut. Ihre warmen Finger glitten sanft über seinen Oberkörper bis ihre Fingerkuppe auf eine warme und klebrige Flüssigkeit stießen.


    „Ich spüre keine offenen Verletzungen. Bis auf …!“ Sie verstummte und knipste ihre Taschenlampe an. Im Schein des Lichtkegels fand sie ihre Vermutung bestätigt. „Der Verband ist auf der linken Bauchhälfte von dunkelrotem Blut durchtränkt. Es ist nach unten durchgesickert. Kann ich irgendetwas tun Anna, um die Blutung zu stoppen?“


    „Lass gut sein Jenny!“, gab Anna mit einem besorgten Unterton zurück, „ich vermute, dass die Verletzung nur oberflächlich aufgebrochen ist. Der Verband sollte genügend Druck auf die Wunde ausüben, um die Blutung zum Stillstand zu bringen. Bitte bringe Ben in eine stabile Seitenlage und dann komm rüber zu mir. Ich brauche dich dringend bei Elena. Wo bleibt denn nur der verdammte Notarzt?“


    Ben stöhnt gequält auf, als Jenny ihn an der Schulter anfasste und versuchte ihn in eine stabile Seitenlage zu drehen. Mühselig schaffte er es seine Augenlider zu öffnen und blickte im Lichtschein der Taschenlampe in die besorgten Augen seiner Kollegin. Der Dunkelhaarige umfasste das Handgelenk der Polizistin und ächzte:
    „Nicht Jenny! … Nicht, ich bin wach! … Hilf lieber Anna!“
    Der Dunkelhaarige biss die Zähne zusammen und verfluchte seine körperliche Schwäche, die ihn zur Hilflosigkeit verdammte. Eisern versuchte er mit seinen letzten Energiereserven dagegen anzukämpfen. Mühsam richtete er sich über seine rechte Seite ein wenig auf und stützte sich auf den rechten Unterarm und schaute in Richtung seiner Freundin.
    „Mir geht es so weit gut! … Ich brauch einfach nur ein Bett und eine Mütze voll Schlaf!“, kommentierte er seinen Zustand.


    Die junge Polizistin erhob sich und ließ ihren Blick kurz in die Runde schweifen. „Ich glaube Hilfe naht!“ Sie deutete mit ihrer Taschenlampe in Richtung des Tores, wo sich flackerndes Blaulicht in den Wipfeln der Bäume widerspiegelte und sich der Hall von Sirenen deutlich hörbar annäherte.
    „Jenny! … In dem schwarzen Koffer befinden sich noch einige Kompressen. Gib Sie mir! … Danach musst du den Rettungskräften entgegengehen! Wir brauchen hier dringend den Notarzt mit voller Ausrüstung! … Führe sie hierher! ... Beeile dich!“


    Erleichtert ließ sich Ben zurück auf den feuchten Boden sinken, als Sekunden später eine Explosion den Boden unter ihn erschütterte, gefolgt von einer zweiten weit aus gewaltigeren Detonation, der kurz Zeit später noch eine Dritte folgte. Der Waldboden unter ihm schien zu beben.


    Sowohl Jenny, als auch Anna schrien im Duett erschrocken auf. „Oh mein Gott …. Oh mein Gott!“
    Was die beiden Frauen sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Fassungslos starrten sie in Richtung der Villa, um sich nur Sekundenbruchteile später auf den Boden zu werfen. Die Druckwelle der Explosion erreichte die kleine Gruppe im Park. Kleine Gesteinsbrocken und Trümmerteile regnete es von oben durch den Blätterwald der Bäume auf den Boden herab. Schützend legte Ben seine Arme und Hände über seinen Kopf. Rauchgeruch und Staubpartikel drangen in seine Nase und reizten seine Schleimhäute. Nur mühsam gelang es ihm, den aufkommenden Hustenreiz zu unterdrücken. Eine Welle aus Schmerz durchflutete seinen Körper. Auch wenn der dunkelhaarige Polizist sich felsenfest vornahm, nicht wieder schlapp zu machen, verfiel Ben für wenige Minuten wieder in eine Art Dämmerzustand.


    *****


    Wenige Minuten vorher in der Villa …
    Gabriela war regelrecht ins Obergeschoß geflüchtet. Der versprochene Anruf von Remzi, dass er die Flüchtigen gestellt hatte, blieb aus. Unruhig lief sie im ersten Stock von einem Schlafzimmer ins Nächste, die in Richtung des Parks lagen. Durch die Fenster scannte sie regelrecht die Umgebung, in der Hoffnung, dass ihr Söldnerfreund mit den Gefangenen auftauchen würde. Stattdessen erkannte sie die Schattenrisse von heranrückenden SEK-Beamten. Dies ließ nur eine Schlussfolgerung für sie zu: Remzi war entweder getötet worden oder schwer verletzt. Am Nachthimmel erkannte sie die flackernden Blaulichter von weiteren sich nähernden Einsatzkräften. Mit einem Schlag wurde der Kroatin klar, sie saß in der Falle und bei ihr brannten sprichwörtlich alle Sicherungen durch. Ein fast schon unmenschlicher Schrei entrang sich ihrer Kehle.


    Camil, der ihr gefolgt war, weil er glaubte, von hier aus eine bessere Schussposition zu haben, sah in ein vom Wahnsinn verzerrtes Gesicht. Die Worte, die sie vor sich hin stammelte, waren kaum verständlich. „Kommt nur! … Kommt nur ihr Drecksschweine! … Ihr kriegt mich nicht! … Niemand wird mich kriegen! … Ihr werdet alle mit mir untergehen! …. Alle!“


    Das Lachen, welches aus ihrer Kehle kam, hatte nichts mehr Menschliches an sich und jagte einem Schauer über den Rücken. Ihr Blick war wie gebannt nach draußen gerichtet.
    Dann erblickte er die Fernzünder in ihren Händen und ihre Absicht war klar. Doch er wollte so nicht enden und ergriff die Flucht.

  • In der Nähe des Carports
    Langsam erhoben sich die Männer des SEK Kommandos vom Boden und torkelten mehr als das sie liefen aus der Deckung des Carports hervor. Wild vor sich hin hustend, nach Atem ringend, standen die Männer fassungslos da und starrten wie gebannt auf die Stelle, wo bis vor wenigen Minuten einmal eine imposante Villa gestanden war. Die Polizisten rieben sich mit ihren Handflächen und Fingern ihre brennenden Augen.
    Eine riesige Wolke aus Grautönen, die aus einem Gemisch von Qualm und Staub bestand, zeichnete bizarre Muster in den Nachthimmel. Die Stichflammen, die aus dem Schutthaufen wie Fontänen in die Höhe züngelten, verstärkten noch diesen Effekt, in dem sie mit unterschiedlichen Rot- und Gelbtönen ein wenig Farbe ins Spiel brachten.


    Einige der Sträucher und eine der Tannen, die nahe an der Terrasse gestanden hatten, hatten ebenfalls Feuer gefangen. Gleich einer lodernden Fackel leuchtete die Tanne das umliegende Gelände gespenstisch aus. Ein leichter Wind fachte den Funkenflug noch an und die Flammen sprangen auf das nächste Nadelgehölz über. Eine weitere heftige Explosion erschütterte das zerstörte Gebäude und ein Feuerball stieg aus den Trümmern auf, gefolgt von einer dunklen Rauchsäule. Geistesgegenwärtig warfen sich die SEK-Kräfte auf den Boden, um sich Minuten später wieder zu erheben. In den Ohren der Einsatzkräfte pfiff und rauschte es nur noch.


    „Was zur Hölle war das?“, krächzte der SEK-Einsatzleiter in Richtung seiner Männer. „Räumt das Gelände! Bringt die Verletzten in Sicherheit! … Und haltet euch von dem Trümmerhaufen fern. Weiß der Teufel, wieviel Bomben und Sprengfallen noch darin versteckt sind und hochgehen!“, befahl Marius Peucker seinen Leuten.


    Sein Blick schweifte suchend umher, während er gleichzeitig die Lage sondierte. „Wo ist der Autobahnpolizist?“, fragte er einen seinen Leute, Patrick Nagel, der direkt neben ihm stand. Dieser zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung!“, murmelte dieser und der Rest seiner Worte erstarb in einem Hustenanfall.
    „Marius!“, brüllte ein weiterer Beamte, „dort drüben! Beim Haus … bei dem brennenden Fahrzeug … Richtung Außenmauer! … Da liegt jemand!“


    Marius Peucker zögerte nicht und handelte blitzschnell, ohne an seine eigene Sicherheit zu denken. So schnell es sein körperlicher Zustand erlaubte, rannte er zu dem bewusstlosen Mann vor der Mauer hin, den er im Feuerschein des brennenden Fahrzeugs als den vermissten Türken identifizierte. Die Hitze, die das brennende Fahrzeug und das Haus ausstrahlten, war unbeschreiblich. Der beißende Qualm brannte in den Lungen des SEK Einsatzleiters. Entschlossen kniete er hinter dem Bewusstlosen nieder, griff unter dessen Achseln hindurch dessen linken Unterarm und zog ihn so schnell es ging aus dem Gefahrenbereich. Patrick Nagel kam ihm entgegen und half ihm beim Tragen des bewusstlosen Kommissars. Die restlichen drei Männer des SEK Kommandos hatten gewartet. Humpelnd und fluchend, laut vor sich hin hustend, traten die Einsatzkräfte über die Zufahrt gemeinsam den Rückzug vor den Urgewalten des Feuers an, das sich mehr und mehr über das dürre Gras am Boden ausbreitete und weitere Büsche und Bäume in Brand setzte.
    Auf der anderen Seite der zerstörten Villa war die Lage nicht viel besser.


    Kim Krüger und Linus Walther erhoben sich langsam vom Waldboden und klopften den Staub aus ihrer Kleidung. Die Staubwolke lichtete sich langsam. Der Regen aus Gesteinsbrocken und umherfliegenden Trümmerteilen hörte auf. Dank des Schutzes des SEK Beamten war Kim bis auf einige Kratzer im Gesicht gut wie unverletzt geblieben. Einige blaue Flecken und Prellungen würden Linus Walther in den nächsten Tagen an den selbstlosen Einsatz erinnern. Den beiden bot sich der gleiche Anblick, wie Marius Peucker und seinen Männern.


    Die imposante Villa war verschwunden, zurückgeblieben war ein Bild der Zerstörung. Im Schein des Feuers zeichneten sich die Umrisse von menschlichen Gestalten ab, die sich stöhnend vor Schmerz im Gras bewegten. Einer der beiden SEK Beamten war von einem herabgestürzten Ast, der durch die Wucht der Explosion vom Baumstamm abgebrochen war, eingeklemmt worden. Sein Kamerad lag nur einige Meter entfernt und versuchte sich unter Ächzen und Stöhnen langsam aufzurichten. Auch ihn hatten herabstürzende Trümmerteile, trotz der Schutzkleidung verletzt. Seine Linke presste er auf eine stark blutende Wunde am rechten Oberarm, während er langsam auf Kim und ihren Beschützer zu humpelte. Am schlimmsten hatte es jedoch den Söldner Camil Musicz erwischt. Aus seinem Rücken ragte ein zersplittertes Holzstück, das vorher zum Gebälk der Villa gehört hatte. Als Kim Krüger bedächtig in Richtung des Söldners schritt, wurde ihr bewusst, wäre ihr Vorrücken in Richtung der Villa nicht durch das Auftauchen dieses Mannes unterbrochen worden, wären sie und die SEK Beamten in eine tödliche Falle gelaufen.

  • Zurück im Park bei Ben und Anna …
    Äste brachen, das Stampfen, wenn Menschen über den Boden rennen, ein hektisches Stimmengewirr brach aus und rissen ihn zurück in die Realität. Eine dunkle Bassstimme hob sich hervor und meinte ein wenig außer Atem: „Dr. Dietrich, Notarzt. Wir waren auf dem Weg zu einem Großbrand, als wir von der Leitstelle hierher umgeleitet wurden….Verdammt, was ist denn heute Nacht nur los? ... Ist inmitten von Köln der dritte Weltkrieg ausgebrochen?“


    Ben wurde zum stillen Zuhörer, wie die angekommenen Rettungskräfte zusammen mit Anna und dem Notarzt mit vereinten Kräften alles taten, um Elena das Leben zu retten. Der verletzte Polizist konnte nicht abschätzen, wieviel Zeit verstrichen war, bis ein leises gleichmäßiges Piep … piep … piep erklang.


    „Wir müssen los!“, brummte die Bassstimme, „Kommen sie klar Frau Kollegin? Den Ulmer Koffer aus dem RTW kann ich ihnen für die Erstversorgung der anderen Patienten da lassen. Ich werde dafür Sorge tragen, dass Sie so schnell wie möglich Unterstützung bekommen!“, verabschiedete sich Dr. Dietrich. „Los geht’s Jungs. Jede Minute zählt!“ Dann rückte das Rettungsteam mit Elena ab.


    Die Wärme einer Hand strich ihm sanft über seine Wange. „Ben … Ben! … Schau mich an!“, forderte Anna ihn auf, die Augen zu öffnen. Sie kniete neben ihm. Er fühlte etwas Kaltes an seinem linken Arm dem ein kleiner Einstich folgte.

    „Ben! … Ich lege dir einen Zugang und dir anschließend zuerst etwas gegen die Schmerzen! … Hörst du mich!“
    Der Verletzte nickte und merkte, wie sich eine wohlige Wärme in ihm ausbreitete und der Schmerz langsam schwand.

    „Gleich geht es dir besser!“

    Er beobachtete sie einfach stumm, wie sie den Zugang fertig verklebte und einen Infusionsschlauch daran anschloss. Jenny hatte seinen Körper auf Annas Anweisung hin, in eine Rettungsfolie gehüllt. Danach bettete sie seinen Kopf auf ihren Schoss und hielt einen Infusionsbeutel in die Höhe. Anna umschlang seine rechte Hand und strich ihm über die Stirn.

    „Scht! … Nicht sprechen! …Spar dir deine Kräfte! Gleich kommt ein weiterer RTW und bringt dich ins Krankenhaus!“

    Über ihr Gesicht huschte ein glückliches Lächeln.
    „Nicht ohne dich, mein Schatz!“, hauchte Ben. - „Ich bleib bei dir! Keine Angst!“ – „Das ist gut … das ist gut!“, murmelte er vor sich hin und schloss erschöpft die Augen. Er gab sich der Wirkung des Schmerzmittels hin, das ihn einlullte und langsam schwanden ihm die Sinne. Wie aus weiter Ferne drang eine aufgeregte Männerstimme zu ihm durch.


    „Frau Dr. Becker … schnell … wir brauchen Sie! Dort hinten gibt es einen schwer Verletzten und zwei meiner Kollegen, die ebenfalls ärztliche Hilfe benötigen.“


    ****
    Nach und nach trafen weitere Rettungskräfte, Feuerwehr und Polizeikräfte am Buchheimer Ring ein. Die Verletzten wurden geborgen und zur Erstversorgung durch medizinisches Personal auf eine Wiese am Waldrand gebracht. Dort hatte eine Einheit der alarmierten Sanitätsbereitschaft Zelte für die Erstversorgung aufgebaut. Das Flammenmeer breitete sich über den Waldboden des Parks aus und zwang den Einsatzkräften der Feuerwehr das Äußerste ab.


    Semir erlangte das Bewusstsein wieder, während ihn Marius Peucker, auf seinen Schultern tragend, durch die kleine Zufahrtsstraße im Wald zurück auf den Buchheimer Ring brachte. Vorsichtig ließ der SEK Beamte den Türken zurück auf den Boden gleiten.


    „Können Sie alleine stehen?“, erkundigte er sich fürsorglich.
    Leicht benommen wollte Semir nicken, als ihn ein heftiger Hustenanfall überfiel und den Atem raubte. In seinem Kopf hämmerte es und ihm war schwindlig. Die rechte Hand in die Uniform des SEK Einsatzleiters geklammert, versuchte er sein Gleichgewicht zu finden. Seine Beine waren weich wie Pudding.
    „Ich sehe schon, das wird nichts!“, meinte Marius und ergriff Semirs rechte Hand, legte sie um seine Schulter und umfasste mit der anderen die Flanke des Autobahnpolizisten, was diesem ein Aufstöhnen entlockte.
    Semir krächzte ein heißeres „Danke!“, als sie den düsteren Waldweg hinter sich gelassen hatten.

    Die Einsatzfahrzeuge der SEK Beamten und der Autobahnpolizei waren zwischenzeitlich entfernt worden, um der Feuerwehr eine Zufahrt zum Grundstück von Gabriela Kilic zu ermöglichen. Am Rande des Waldes hielt Marius Peucker einen Moment an und sondierte mit seinen Blicken die Lage. Auf dem ersten Blick herrschte auf den angrenzenden Wiesen und der Hauptstraße das Chaos. Die flackernden Blaulichter der Einsatzfahrzeuge verliehen dem Ganzen eine gespenstische Szenerie. Zwischendrin rannten Menschen aufgeregt umher. Links von ihm parkten am Straßenrand drei Rettungswagen und ein Notarztwagen. Direkt daneben hatte eine Sanitätseinheit ein großes Zelt zur Erstversorgung der Verletzten aufgebaut. Eine Batterie von Scheinwerfern flammte auf und leuchtete den Platz fast taghell aus.

    „Ich schlage vor, wir gehen erst einmal zu den Sanis rüber!“, meinte er über die Schulter blickend zu seinen Männern, die ja ebenfalls einige Blessuren davongetragen hatten.


    Auf halber Strecke kam ihm einer der Sanitäter entgegen. Der Typ war nicht viel größer als der Autobahnpolizist, jedoch genauso lang wie breit. Bei jedem seiner Schritte wabbelte der ausladende Bauch des Mannes unter seinem leuchtend weißen T-Shirt. In einer Hand trug er eine Taschenlampe und mit der ruderte er in der Luft herum, als würde er sie benötigen, um auf dem unebenen Untergrund sein Gleichgewicht zu halten. Im Lichtkegel der Taschenlampe musterte er mit einem kritischen Blick durch seine randlose Brille die angekommene Gruppe Männer. Die SEK Beamten schickte er zum Versorgungszelt weiter. Der Mittvierziger wurde bei der Untersuchung von Semir immer ernster. Er stellte ihm verschiedene Fragen wie zu seinen Personalien und wie er zu seinen Verletzungen gekommen war, die der Türke unter heftigen Hustenattacken, krächzend und zeitlich etwas verzögert beantwortete. Dann drehte sich der Sanitäter um und brüllte in Richtung des ersten Rettungswagens:

    „Matze, das ist was für euch. Ich schick dir auch sofort einen Arzt.“ Anschließend wandte er sich wieder Marius Peucker und dem Verletzten zu. „Bringen Sie Herrn Gerkhan rüber zum RTW. Der Arzt kommt sofort!“


    Der angesprochene Sanitäter warf seine Zigarette, an der er gerade zweimal gezogen hatte, ins Gras und trat die Kippe aus. Während er auf Marius und Semir zuging, rief er seiner Kollegin zu: „Maritta, kannst die Ausrüstung gleich im Wagen lassen. Wir haben schon einen Patienten, den wir im RTW versorgen.“


    Bevor Semir sich versah, lag er auf der Trage im Rettungswagen. Die Rettungsassistentin hatte seinen Oberkörper entblößt und darauf Elektroden geklebt. Über eine Maske bekam er Sauerstoff verabreicht. Gefühlvoll wusch man ihm die Augen aus, als der Wagen kurz schaukelte und eine weitere Person ihn über die seitliche Schiebetür betrat. „Dr. Becker, was haben wir?" Vor Überraschung verstummte Anna eine Sekunde. "Semir?“

  • Binnen weniger Sekunden hatte Anna den Schock beim Anblick des Türken verdaut, begann professionell ihren Patienten zu untersuchen und erteilte dem Sanitäter und der Rettungsassistentin Anweisungen.
    Zwischendrin erklärte sie ihrem Freund, dass Ben im nächsten Rettungswagen lag, sein Zustand soweit stabil sei und er so schnell wie möglich in eine Klinik transportiert werden würde. Daraufhin richtete sich Semir auf und griff nach den Elektroden, um diese von der Brust zu lösen.


    „Das trifft sich doch gut, dann kann ich ihm einen Besuch abstatten!“, murmelte er unter der Sauerstoffmaske.
    „Vergiss es Semir! Du bleibst mal schön liegen und machst zusammen mit Ben einen Ausflug ins Krankenhaus.“ Energisch drückte die Ärztin ihn an den Schultern zurück auf die Liege.
    „Krankenhaus? …. Spinnst du jetzt Anna? … Wegen so ein bisschen Rauch, lege ich mich doch nicht in ein Krankenhausbett. …. Andrea und die Kinder warten auf mich …. Ich will in die Türkei fliegen …!“ Seine Rede wurde immer wieder von Hustenattacken unterbrochen und er litt unter Atemnot.
    „Männer! Seid ihr denn alle gleich? Du hustest wie ein Weltmeister, deine Lunge pfeift aus dem letzten Loch, dass es einen Angst werden kann. An den Armen und im Gesicht hast du leichte Verbrennungen erlitten, deine Rippen haben was abgekriegt!“ Dabei tastete sie seinen rechten Rippenbogen ab und der Türke konnte ein schmerzvolles Aufstöhnen nicht mehr unterdrücken. „Das muss geröntgt werden … die Wunden versorgt werden! Kapiert?“, blaffte sie ihn an und erreichtet damit die gewünschte Wirkung. Der Türke gab seinen Widerstand auf.


    Anna wollte ihren Patienten nicht beunruhigen, der auch eindeutig unter einem Schock stand. Sie verschwieg ihm, dass seine Fingerkuppen eine bläuliche Verfärbung angenommen hatten, er leichte Verbrennungen und Rußablagerungen in den Nasenlöchern hatte. Alles Anzeichen, die Anna auf das Äußerste beunruhigten. Sie gab dem Sanitäter die Anweisung ihr Hydroxycobalamin aufzuziehen und verabreichte es ihrem Patienten. Zurück blieb die bittere Erkenntnis, mehr konnte sie im Moment nicht für Semir tun.


    „Sorgen Sie dafür, dass er liegen bleibt, ich bin gleich wieder da.“, wies sie Matze Keller an.


    Über die Seitentür verließ sie den RTW und wandte sich der Rettungsassistentin zu. „Wie sieht es aus Frau Richter? Hat die Leitstelle ein Bett auf einer Intensivstation für uns frei?“ Die junge Frau schüttelte resignierend den Kopf. „Die Notaufnahmen und Intensivstationen im näheren Umkreis haben alle einen Aufnahmestopp wegen Überlastung.“


    „Geben Sie mir ihr Handy!“, forderte Anna energisch die Rettungsassistentin auf. „Dann helfen wir uns eben selbst!“


    Die Telefonnummer des Bereitschaftsarztes in der Notaufnahme der Uni-Klinik Köln kannte sie im Schlaf auswendig. Schon nach dem dritten Klingelzeichen ging am anderen Ende der Leitung jemand ran und meldete sich.
    „Dr. Uwe Meuschel, Uni-Klinik Notaufnahme!“
    „Anna Becker hier!“
    „Anna, bist du das wirklich oder eine Halluzination?“
    Innerlich atmete Anna auf, als die Stimme des erfahrenen Oberarztes am Ende der Leitung vernahm.
    „Uwe, ja ich bin es wirklich. Nur bin ich nicht gerade zum Scherzen aufgelegt! … Ich erzähle dir alles später. Hör mir gut zu!“ Sie blickte über die Schulter ins Innere des RTWs nach ihrem Patienten, der ruhig da lag und entfernte sich einige Meter vom Rettungswagen. „Ich habe hier einen Patienten mit Rauchgasinhalation mit dem begründeten Verdacht, dass auch Giftgase eingeatmet wurden, dazu Verbrennungen ersten Grades im Gesicht und an den Armen.“
    Nacheinander rasselte die junge Ärztin ihre Untersuchungsergebnisse telefonisch runter, nannte die verabreichten Medikamente und kündigte ebenso die Einlieferung von Ben an.
    Ernst und konzentriert lauschte Uwe Meuschel am anderen Ende der Leitung den Angaben seiner Kollegin und machte sich Notizen. Der Oberarzt gab Anna noch einige Ratschläge zur Behandlung ihres Patienten mit der Rauchgasvergiftung, falls es zu Komplikationen während des Transports in die Klinik kommen sollte und verabschiedete sich mit den Worten: „Keine Sorge, wenn ihr in einer halben Stunde hier ankommt, ist ein Intensivbett frei und die Behandlungsräume in der Notaufnahme sind für die beiden Patienten vorbereitet.“


    Ohne große Worte wurde das Gespräch beendet und Anna drückte Maritta Weber ihr Handy in die Hand.
    „Danke! Informieren Sie bitte über Funk die Leitstelle, dass wir die Uni-Klinik anfahren und dann nichts wie los.“

  • Im zweiten RTW am Buchheimer Ring


    Als Ben das nächste Mal erwachte und seine Sinne ihre Arbeit aufnahmen, hatte sich alles verändert. Zuerst nahm er ein gleichmäßiges Piepen war, das er nach einer Weile als seinen Herzschlag identifizierte. Er lauschte in seinen Körper hinein und stellte überrascht fest, dass ihn keine Schmerzen quälten. Scheinbar hatte er einige Zeit geschlafen. Zumindest hatte er den Eindruck sich ein bisschen erholt zu haben.
    Ihm wurde bewusst, er lag nicht mehr auf dem Waldboden. Krankenhaus, war der nächste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss. Ein Krankenhausbett? Nein, das fühlte sich komplett anders an. Seine Finger gingen auf Wanderschaft und ertasteten den Untergrund. Er lag auf der Krankentrage eines Rettungswagens, war seine Schlussfolgerung. Zu dem gleichmäßigen Piepen gesellten sich weitere Geräusche. Das Sirenengeheul eines Einsatzfahrzeuges, das sich entfernte, ein heiseres Husten und eine männliche Stimme, die einen beruhigenden Tonfall hatte. Ben riss seine Augen auf und ließ seinen Blick umherschweifen. Tatsächlich er befand sich in einem Rettungswagen, dessen Hecktüren weit geöffnet waren. Er blickte an sich herunter. Sein gebrochenes Bein war fachmännisch geschient worden. In seinem rechten Arm steckte ein Zugang, über dessen Nadel gleichmäßig eine Infusionsflüssigkeit in seine Adern floss. Auf seinem Zeigefinger steckte ein Oximeter.


    Sein Blick wanderte nach draußen. Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt. Der Himmel leuchtete in allen Rottönen. Am Horizont kündigte die aufgehende Sonne, die einem glühenden Feuerball glich, den neuen Tag an. Ihre ersten Strahlen erhellten die Umgebung. Der Platz oder sollte er besser sagen die Straße mit der angrenzenden Wiese, waren überfüllt mit Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr, des Technischen Hilfswerkes, des Rettungsdienstes und seinen Kollegen von der Polizei. Die Blaulichter flackerten und spiegelten sich am Waldrand wieder. Es wimmelte von Einsatzkräften. Er richtete seinen Oberkörper etwas auf und suchte mit seinen Blicken nach Anna. Wo war sie nur abgeblieben? Er konnte sie nicht sehen und spürte auch nicht ihre Nähe. Mit einem Schlag überflutete ihn die Angst, seiner Freundin könnte etwas geschehen sein, sein Denken und seine Atmung wurde hektischer, sein Herzschlag beschleunigte sich. In seinen Fingern und Händen fing es an zu kribbeln. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Panik kam in ihm auf. Sein Blick verschwamm, die ganze Welt um ihn herum verschwamm und tauchte ein in diesen Strudel der Angst. Der Gedanke, Anna zu finden, übernahm sein komplettes Denken. Ben versuchte sich aufzurichten und die Infusion aus dem Arm zu reißen. Ein paar energische Hände umschlangen seine Schultern und drückten ihn zurück auf die Liege. „Herr Jäger! Beruhigen Sie sich! Sie sind in Sicherheit!“, sprach ihn eine männliche Stimme in einem beruhigenden Tonfall an. „Schauen sie mich an. Sie atmen zu schnell. Langsamer!“ Der Schatten, der sich über ihn gebeugt hatte, bekam langsam eine Kontur und er blickte in die blauen Augen eines Rettungssanitäters. „Sehr gut!“, meinte dieser, als er erkannte, dass sich Bens Blick klärte und seine hektische Atmung beruhigte. Der junge Mann, dessen schulterlange Haare zu einem Zopf zusammengebunden waren, musterte seinen Patienten durch seine schwarze Hornbrille.


    „Wie fühlen Sie sich Herr Jäger? Haben Sie noch Schmerzen?“ – „Alles gut!“ - „Wir klären momentan über die Leitstelle ab, in welches Krankenhaus wir sie einliefern sollen. In dieser Ecke von Köln sind heute Nacht alle Notaufnahmen überlastet.“


    „Wo ist Anna? - Ich gehe in kein Krankenhaus, solange ich nicht weiß, was mit meiner Freundin ist und wo sie ist!“, protestierte Ben und versuchte sich erneut gegen den Widerstand des Rettungssanitäters aufzurichten. Dieser rollte genervt seine Augen.


    „Okay, okay … Da draußen sitzt eine Polizistin. Vielleicht weiß ihre Kollegin ja, wo ihre Anna ist.“, lenkte der Sanitäter ein wenig ein. „Sie bleiben liegen und ich hole die junge Frau her! Verstanden!“


    Wenige Minuten später erschien Jenny in Bens Sichtfeld. Sie klopfte sich mit den Händen den Staub aus ihrer Kleidung und kletterte über die seitliche Schiebetür in den RTW.
    „Hey!“, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln im Gesicht, „kaum bist du wach und schon machst du Stress Großer!“ Sie klappte den Begleitsitz neben der Liege runter, setzte sich und umschlang die Linke ihres Kollegen. „Du siehst eindeutig besser aus, als noch vor einer Stunde.“
    „Hey!“, gab er mit dem Gefühl der Erleichterung zurück, weil er einen vertrauten Menschen neben sich wusste. „Weißt du wo Anna und Semir sind?“
    „Anna geht es gut. Scheinbar herrscht in diesem Teil vom Großraum Köln wegen mehrerer Großeinsätze ein akuter Mangel an Notärzten. Deine Freundin hilft die Verletzten zu versorgen. Ärztin aus Leidenschaft, sage ich da nur, also kein Grund zur Sorge!“


    Er sah den Schatten der über Jennys Gesicht huschte und wie sie krampfhaft versuchte Ruhe auszustrahlen.


    „Und Semir? Wo ist Semir? Ist ihm was passiert.“, bohrte er weiter nach. Ben konnte förmlich spüren, dass seine junge Kollegin ihm etwas verschwieg. Das Piepsen des Monitors wurde hektischer. Jenny seufzte resignierend auf und nuschelte: „Anna versorgt momentan Semir im RTW nebenan.“
    Entsetzt fuhr Ben in die Höhe, schrie vor Schmerz auf und griff sich an seine linke Seite. Sowohl Jenny, als auch der Sanitäter drückten den Verletzten zurück auf die Liege. Es dauerte einen Moment, bis der Dunkelhaarige sich und den Schmerz wieder unter Kontrolle hatte.
    „Wurde er angeschossen?“, presste er undeutlich hervor. „Ist er schwer verletzt?“
    „Oh, verdammt Ben! Beruhige dich doch!“, herrschte ihn Jenny an. „Nein, Semir wurde nicht angeschossen. Er hat nur bei der Explosion des Hauses etwas viel Rauch eingeatmet und hustet nun wie ein Weltmeister. … Nichts Schlimmes!“


    Langsam entspannte sich der verletzte Polizist. Allmählich sickerte in sein Bewusstsein ein, dass Anna und er, die Menschen, die ihm wichtig waren, in Sicherheit waren. Er atmete mehrmals tief durch.
    „Bitte, erzähle mir was in der letzten Stunde passiert war. Seit ich im Park umgekippt bin, kann ich mich nur noch an Bruchstücke erinnern.“


    Jenny nahm kurz Blickkontakt mit dem Sanitäter, Andi Bauer, auf, der am Heck des Wagens stand und zustimmend nickte. Der Sanitäter verschloss die Hecktüren des RTWs und meinte in Richtung von der jungen Polizistin, „Wir fahren gleich los zur Uniklinik. Wenn sie möchten, können Sie mit mir im hinteren Bereich Herrn Jäger begleiten.“


    Die Abfahrt zog sich noch einige Minuten hin. Peinlichst drauf bedacht, ihren verletzten Kollegen nicht wieder aufzuregen, berichtete Jenny ihm von der Rettungsaktion der Chefin und der Explosion der Villa.

  • Schaukelnd setzte sich der Rettungswagen langsam in Bewegung. Nachdem der RTW die asphaltierte Straße erreichte, stellte Anna überrascht fest, dass die junge Frau am Steuer zwar noch einige praktische Erfahrungen im Rettungsdienst sammeln musste, aber über ihr fahrerisches Können gab es keine Zweifel. Geschickt lenkte sie den Rettungswagen durch die Kölner Innenstadt. Das Martinshorn hallte, das Blaulicht flackerte und die anderen Verkehrsteilnehmer räumten den beiden Rettungswagen vorbildlich Vorfahrt ein. Anna hatte den Begleitsitz runtergeklappt und darauf Platz genommen, von dort konnte sie den zweiten Rettungswagen, in dem Ben transportiert wurde, beobachten.


    Beruhigend redete sie auf ihren Patienten ein. Geschickt lenkte sie das Gespräch auf Andrea und die Kinder, den zukünftigen Hauskauf und versprach unter anderem dem Türken, seine Frau zu informieren.


    Unmittelbar vor der Severinsbrücke ächzte Semir: „Oh Gott Anna! … mir wird auf einmal so komisch!“


    Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, verdrehte er die Augen nach oben und fing an zu krampfen. Seine Muskeln versteiften sich und seine Arme und Beine fingen an unkontrolliert zu zucken. Speichel lief ihn aus den Mundwinkeln. Anna schnallte sich ab und schnellte in die Höhe. Die Ärztin in ihr übernahm ihr Handeln.


    „Verdammt, der Anfall löst sich nicht. Schnell! … 10 mg Diazepam!“, befahl sie dem anwesenden Sanitäter. In Richtung der Fahrerin rief sie: „Anhalten! … Wir gehen auf Nummer sicher und intubieren!“


    Anna nannte Matze Spiegel eine Reihe von Medikamenten. Die beiden arbeiteten Hand in Hand und erst als sie ihren Patienten stabilisiert hatten, setzte der RTW seine Fahrt zur Uni-Klinik fort. Über die Leitstelle wurde die Notaufnahme der Uni-Klinik über den kritischen Zustand des Patienten informiert. An der Zufahrtsrampe wurde der RTW bereits von Dr. Uwe Meuschel und seinem Team der Notaufnahme erwartet. Auf dem Weg zum Schockraum informierte Anna ihren Kollegen über die aufgetretenen Komplikationen, die Medikamente, die während des Transports verabreicht geworden sind und ihre Diagnose Giftgasintoxikation und ein beginnendes Lungenödem.


    Als sich die Schiebetür des Schockraumes, in dem Semir behandelt wurde, hinter ihr schloss, fiel ein wenig die Anspannung von der dunkelhaarigen Ärztin ab. Anna wusste, dass Semir beim Oberarzt, ihren Kollegen und Kolleginnen in den besten Händen war. Mit ihrem Rücken lehnte sie sich gegen die kalte Metalltür und atmete mehrmals tief durch. Erschöpft strich sie sich mit ihrer Hand über das Gesicht und rieb sich mit den Fingerkuppen über ihre brennenden Augen. Ihre nächste Sorge galt Ben. Wie hatte er den Transport überstanden?


    „Anna!“, rief eine Frauenstimme erfreut ihren Namen, „Ich konnte es gar nicht glauben, als es vorhin hieß, man hat euch gefunden….!“


    Der Redeschwall verstummte abrupt und Anna öffnete die Augen und blickte in die besorgte Miene von Inge, eine Krankenschwester in ihrem Alter. „Du siehst aus, wie eine wandelnde Leiche!“, stellte diese mit einem trockenen Kommentar fest. Sie umfasste die Oberarme der Ärztin. „Komme mit, trinke erst einmal ein Glas Wasser und setze dich einen Moment hin, bevor du mir auf dem Gang noch umkippst!“


    „Geht schon wieder! Das war eine lange Nacht und mir fehlt nur ein bisschen Schlaf!“, wiegelte die Ärztin ab.


    Sie streifte die Hände ihrer ehemaligen Kollegin ab und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. Obwohl ihr noch ein wenig schwindlig war, löste sie sich von der stützenden Tür und setzte sich in Richtung Behandlungsraum Nummer zwei in Bewegung.

    „Ben liegt da drinnen. Der braucht mich!“, erklärte die Ärztin eigensinnig und stapfte unsicher auf die geschlossene Tür zu.
    „Mensch Anna! Nimm doch Vernunft an! … In dem Zustand bist du für niemanden eine Hilfe!“ Inge folgte der Dunkelhaarigen und brummte vor sich hin: „Noch genauso dickköpfig wie früher als Krankenschwester!“


    ****
    Einige Minuten vorher ….
    Der andere Rettungswagen, in dem Ben transportiert worden war, hatte seine Fahrt während der Notfallbehandlung von Semir nicht unterbrochen, sondern war weiter in Richtung Uni Klinik gefahren.
    Die beiden Sanitäter schoben den dunkelhaarigen Polizisten auf der Rollliege an der Anmeldung vorbei in Richtung des vorbereiteten Behandlungsraumes. Dort erwartete den Patienten ein Notfallteam, welches von Doktor Raza Ahmadi geleitet wurde. Der Arzt, dessen Eltern zu Beginn der neunziger Jahre wegen ihres christlichen Glaubens in Pakistan verfolgt worden waren, war damals als Kleinkind mit seinen Geschwistern und Eltern nach Europa geflüchtet. In Wien hatte die Familie eine neue Heimat gefunden. Raza war dort zur Schule gegangen und hatte an der dortigen Universität Medizin studiert. Seit fünf Jahren wohnte und arbeitete er mittlerweile der Liebe wegen in Köln. Jedoch war der Wiener Dialekt in seiner Sprache erhalten geblieben und seine Original Wiener Sprüche sorgten des Öfteren in der Notaufnahme für Heiterkeitsausbrüche.


    Dr. Raza Ahmadi kannte Anna Becker persönlich, die während ihres Studiums einige Wochen in der Notaufnahme mit ihm zusammen gearbeitet hatte. Ihr Schicksal hatte ihn tief betroffen gemacht. Darüber hinaus war die Entführung der jungen Ärztin, das Verschwinden ihres Freundes und der Diebstahl der Notfallausrüstung mit den entsprechenden polizeilichen Ermittlungen tagelang Gesprächsthema Nummer eins nicht nur unter dem Personal der Notaufnahme gewesen.


    Gewissenhaft hatte der dunkelhäutige Arzt zusammen mit einer jungen Kollegin während der Wartezeit auf die Ankunft des ersten RTWs den Angaben seines Oberarztes über seinen zukünftigen Patienten gelauscht und nun folgte er dem Rettungsteam in den Schockraum zwei. Dr. Meuschel eilte unterdessen mit seinem Team zur Rampe, nachdem er über die Leitstelle über die Komplikationen auf dem Transport informiert wurde.

  • Anfangs lauschte Ben noch aufmerksam den Worten seiner jungen Kollegin. Jennys Stimme wirkte beruhigend auf ihn und es gelang ihm, sich mehr und mehr zu entspannen. Erschöpft schloss er seine Lider und sein Zeitgefühl verlor sich. Er hatte keinen Plan, wie lange die Fahrt mit dem Rettungswagen durch die Kölner Innenstadt dauerte. Langsam driftete der Dunkelhaarige wieder in die Halbwelt zwischen Schlaf und Erwachen ab.


    Ein Rumpeln und Rütteln an der Trage, auf der er lag, riss Ben förmlich zurück in die Gegenwart. Als erstes vermisste er die warme Hand von Jenny. Ein wenig verwirrt, öffnete er blinzelnd die Augen und versuchte die Benommenheit loszuwerden. Die Beleuchtung des Ganges und die Umrisse von Menschen nahm er nur schemenhaft wahr. Ihre Stimmen drangen wie durch Watte gedämpft zu ihm durch. Ben erkannte die Stimme des Sanitäters, der ihn im Fond des RTWs begleitet hatte. Nach und nach erfasste er den Sinn der Worte. Der Mann von Rettungsdienst berichtete jemanden etwas über seine Verletzungen und seinem gesundheitlichen Zustand. Mit einem Mal kehrten die Erinnerungen zurück. Dank Semirs Hilfe hatten Anna und er zusammen mit Elena aus der Villa fliehen können und ihm wurde schlagartig klar, er befand sich im Krankenhaus. Die Liege, auf der er lag, wurde von den Sanitätern in einen Behandlungsraum geschoben.
    Mit seinen Blicken suchte er nach Anna und Jenny. In seinem Gesichtsfeld erschien ein Mann mit einem dunklen Teint, schwarzen Haaren und korrekt gestutzten Schnurrbart, der sich über ihn beugte.


    „Guten Morgen, Herr Jäger, können sie mich verstehen? … Sie befinden sich in der Uni-Klinik. Ich bin Dr. Ahmadi!“, stellte sich der Arzt vor, dem der suchende Blick und auch der Anflug von Panik seines Patienten nicht entgangen war. Möglichst beruhigend sprach er weiter auf ihn ein. „Keine Sorge, mein Team und ich werden uns um sie kümmern. Sobald sie auf der Behandlungsliege sind, werde ich sie erst einmal gründlich untersuchen. Ihre junge Kollegin, die sie während des Transports begleitet hatte, wartet übrigens draußen vor der Tür.“


    Zustimmend nickte Ben und nahm im Unterbewusstsein den leichten Wiener Akzent in der Sprache des Arztes wahr, der so gar nicht zu dessen Erscheinungsbild passte, ebenso wie die himmelblauen Augen, die ihn tiefgründig und forschend anblickten. Bevor sich Ben versah, war die Krankentrage von mehreren Menschen umringt, die ihn auf die Behandlungsliege hoben. Das Schmerzmittel, welches ihm Anna verabreicht hatte, verlor langsam seine Wirkung und er konnte ein schmerzhaftes Aufstöhnen nicht unterdrücken. Mitfühlend sprach ihn eine Krankenschwester, auf deren Namensschild Isolde stand, an.
    Ben schloss einfach wieder die Augen, während die Schwester und ein Pfleger sich um ihn kümmerten. Seine Kleidung wurde aufgeschnitten, an seinem Körper herum manipuliert und obwohl die beiden Pflegekräfte sich bemühten sanft und behutsam vorzugehen, entwich seinen Lippen ab und an ein jämmerlicher Ton. Sein geschundener Körper revanchierte sich für die Strapazen der Flucht. Jede Bewegung bedeutete einfach nur Schmerz. Unbewusst nahm er die Geräusche um sich herum wahr, die Sanitäter, die dem Notfallmediziner ihre letzten Informationen über die verabreichten Medikamente zukommen ließen, Anweisungen an das medizinische Personal durch den Wiener Arzt, das Surren des Elektromotors, als die Schiebetür zum Schockraum sich automatisch öffnete.


    Der ältere Sanitäter entdeckte Anna an der Zugangstür und meinte: „Dr. Ahmadi, ich denke ihre Kollegin, Frau Dr. Becker, wird ihnen mehr über den Zustand von Herrn Jäger berichten können.“


    Bei diesen Worten öffnete Ben langsam seine Augen und blickte in Richtung der Tür und trotz der Schmerzen huschte ein glückliches Lächeln über sein Gesicht, als er seine Freundin erkannte.


    Anna betrat den Behandlungsraum. Zufrieden registrierte sie, dass Ben bereits auf die Behandlungsliege umgebettet und verkabelt worden war. Mit einem geübten Blick erfasste sie die Vitalparameter ihres Freundes. Ein Assistenzarzt, den sie nicht kannte, bereitete gerade eine Blutabnahme vor. Neben den Sanitäter, die ihren Monitor und sonstige Ausrüstungsgegenstände auf der Transportliege zusammengepackt hatten, um den Behandlungsraum zu verlassen, stand Dr. Ahmadi, den die junge Ärztin wegen seiner fachlichen Fähigkeiten sehr schätzte. Mit müden Schritten schlurfte Anna auf den dunkelhäutigen Arzt zu. Sie ignorierte auch weiterhin die Warnsignale ihres Körpers, das Schwindelgefühl in ihrem Kopf, ihr Herzschlag, der sich beschleunigte und der kalte Schweiß, der aus allen Poren zu strömen schien. Stattdessen fixierte sie einen imaginären Punkt an der Wand hinter dem Notfallmediziner. Routiniert, wie sie es in ihrem Studium gelernt hatte, gab sie ihrem verantwortlichen Kollegen einen Überblick, in welchem Zustand sie Ben in der Villa vorgefunden hatte, ihre gestellten Diagnosen, die vorgenommenen medizinischen Eingriffe, als ihre Stimme auf einmal leiser und leiser wurde. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen und sie merkte nur noch wie ihre Beine nachgaben und sich die Dunkelheit wie ein Schleier über sie herabsenkte.


    Was in der darauffolgenden Minute geschah, ereignete sich fast zeitgleich.


    Inge, die das Unglück vorausgesehen hatte und der widerspenstigen Ärztin gefolgt war konnte den Sturz von Anna gerade noch abfangen. Sanft ließ die Krankenschwester Anna auf den Linoleumboden gleiten.
    „Jessasmarantjosef!“, entfuhr es Dr. Ahmadi voller Überraschung, „Was schaut ihr alles so deppat drein! … Los! …!“ In Richtung der offenen Zugangstür brüllte er: „Wir brauchen hier drinnen noch ein weiteres Notfallteam!“

  • Während der junge Assistenzarzt, wie versteinert neben Ben stand und nicht wusste, was er zuerst tun sollte, unterstützte einer der erfahrenen Pflegekräfte Dr. Ahmadi und Schwester Inge, die neben Anna am Boden knieten. Der Arzt prüfte routiniert die Vitalfunktionen der Ohnmächtigen und dabei murmelte:

    „War wohl a‘ bisserl viel für des Maderl!“


    Ben wurde in diesem Moment, als Anna ohnmächtig wurde, von seinen Gefühlen überrollt. Jähes Entsetzen wich Panik und Angst. Das Adrenalin pulsierte nur so in seine Adern hinein. Der Überwachungsmonitor gab ein Alarmsignal nach dem anderen von sich. All das blendete der junge Polizist aus und folgte seinem ersten Impuls. Bevor der junge Assistenzarzt reagieren konnte, hatte er sich unter Aufstöhnen aufgerichtet und seine Beine von der Liege geschwungen. Den frisch gelegten Zugang, der noch nicht verklebt war, riss er sich dabei aus dem Arm und sofort bahnte sich ein Rinnsal aus Blut seinen Weg. Doch dies bemerkte der Dunkelhaarige nicht einmal. Bens Denken wurde nur noch von einer Sache beherrscht: Angst! … Angst um seine Freundin und das ungeborene Kind. Verzweifelt ächzte er:
    „Anna? … Anna, was ist mit ihr? … Sie ist schwanger!“


    Kaum hatten seine Füße den Fußboden berührt, protestierte Bens Kreislauf gegen diese hastige Bewegung und in seiner Wahrnehmung fing der Boden an zu schwanken und vor seinen Augen verschwamm alles.
    Es war Schwester Isolde, die laut dem Oberarzt ja schon fast zum Inventar der Notaufnahme gehörte, die mit ihrem entschlossenen Eingreifen, einen Sturz von Ben verhinderte. Sie fasste ihn beherzt an den Schultern an und drückte ihn energisch auf die Behandlungsliege zurück. Da sie dabei nicht gerade zimperlich vorging, konnte Ben ein schmerzhaftes Aufstöhnen nicht unterdrücken. Trotz seiner Schmerzen versuchte er sich erneut aufzurichten.


    Dr. Ahmadi, dem die Reaktion seines Patienten ebenfalls nicht entgangen war, blaffte ihn vom Boden aus auf: „Kruzzifix noamoi! ….. Reiß di zam, Bursch! … „Willst di Eadöpfen von unt auschaun? … So hilfst deim Maderl net!“


    Die Worte des Arztes bewirkten, dass Ben seine Gegenwehr aufgab und sich endgültig hinlegte. Dabei murmelte er mit von Angst geweiteten Augen vor sich hin: „Anna? … Was ist mit ihr?“


    Von einer Sekunde zur anderen wechselte der Tonfall des Notfallmediziners. Beruhigend sprach er auf seinen Patienten ein, erklärte ihm, was mit der jungen Ärztin seiner Ansicht nach geschehen war und erteilte dem jungen Assistenzarzt und den anwesenden Pflegekräften Anweisungen. Anna begann sich zu regen. Ein leises Seufzen kam aus ihren Mund.


    In Richtung Ben meinte der Wiener Arzt: „Schauen’s! Dr. Becker zeigt schon wieder Lebensgeister. Glaub‘n S‘ mir, es wird alles wieder gut!“


    Als das angeforderte Notfallteam, das sich um Anna kümmern sollte, den Behandlungsraum betrat, wurde auf dem breiten Krankenhausflur ein Pflegebett mit einem intubierten Patienten vorbeigeschoben. Trotz aller Monitore, Infusionen und Personen, die das Bett umgaben, erkannte Ben innerhalb von dem Bruchteil einer Sekunde, dass es sich bei dem offensichtlich schwer verletzten Patienten um Semir handelte. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schock. In seiner Kehle bildete sich ein Kloß, den er einfach nicht runterschlucken konnte. In seinem Kopf begann sich ein Gedankenkarussell zu drehen, … Anna … Semir … verletzt, wegen ihm … seine Gedanken überschlugen sich, ihm wurde übel. Ben bekam überhaupt nicht mehr mit, wie das Überwachungsgerät an dem er angeschlossen war, Alarm schlug, seine Freundin auf die Trage gebettet wurde und in einen weiteren Behandlungsraum geschoben wurde. Vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen und ineinander über zu fließen.

  • Anna konnte sich nicht mehr an die vergangenen Minuten erinnern, als sie den Schockraum, in dem Ben behandelt wurde, betreten hatte. Sie wusste nur noch, ihre Beine hatten nachgegeben und sie war zusammengebrochen. Bens entsetzter Aufschrei hallte in ihrem Kopf nach. Das nächste was sie bewusst wahrnahm, als sie wieder zu sich kam, war der Druck der Blutdruckmanschette an ihrem Oberarm und die Stimmen von Menschen. Anna öffnete die Augen und sah durch ihren verschleierten Blick in das Gesicht eines jungen Arztes, der sie mit einem wahren Sonnenscheingrinsen anschaute.


    „Wie fühlen Sie sich, Frau Dr. Becker? … Sie haben den Kollegen einen schönen Schrecken eingejagt!“


    Oh Gott, dachte Anna bei sich, warum grinst mich dieser Kerl nur so dämlich an. Ihr Blick wanderte im Raum umher und sie stellte fest, dass sie langgestreckt auf einer Liege in einem der Behandlungsräume in der Notfall-Ambulanz lag. In ihrem rechten Arm steckte eine Kanüle, über ihr hängte an einem Ständer eine Infusionsflasche und langsam tropfte über einen Kunststoffschlauch Flüssigkeit in ihren Körper. Unwillig brummte sie vor sich hin und versuchte sich aufzurichten. Mit Gewalt wurde sie von einer weiteren Person, Schwester Inge, auf die Liege zurückgedrückt.


    „Was soll das?“, protestierte Anna und wollte sich glatt die Infusionsnadel aus dem Arm ziehen. „Mir geht es gut. Ich leide höchstens unter ein wenig Schlafentzug!“ und startete den nächsten Versuch sich in die Höhe zu stemmen. Ihr Kollege, der sich redlich bemühte eine Diagnose zu stellen, sollte sie mit seinen dämlichen Fragen einfach in Ruhe lassen. Sie wollte einfach nur zu Ben und sich vergewissern, dass es ihm gut geht und er die Strapazen der Flucht ohne Schäden überstanden hatte, konnte das dieser Typ nicht verstehen. Statt der gewünschten Antworten über ihr Befinden, brummte Anna in Richtung des Arztes: „Ich will in kein Krankenbett. … Ich will zu Ben!“


    Ihre Stimme hörte sich an, wie die eines quengelnden Mädchens, das seinen Dickkopf durchsetzen will. Das Sonnenscheingrinsen verschwand langsam aus dem Gesicht des Arztes und er runzelte verärgert die Stirn, als er Anna zum dritten Mal auf die Behandlungsliege zurückdrückte und auf eine Beantwortung seiner Fragen wartete.


    Dann wurde der Arzt zur Seite geschoben und Inge erschien in Annas Blickfeld. Sie stützte sich mit ihren Handflächen seitlich an der Behandlungsliege ab und ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Ohne dass die Krankenschwester es aussprach, konnte Anna es darin ablesen: Du-hast-sie-wohl-nicht-mehr alle!
    Entsprechend energisch brummte ihre ehemalige Kollegin sie an: „Verdammt noch mal, Anna! … In deiner Verfassung bist du für niemand eine Hilfe! Im Gegenteil! … Das solltest doch du selbst am besten wissen!“ Für einen Moment herrschte Stille im Raum und die Krankenschwester fuhr fort: „Wenn du schon keine Rücksicht auf dich und deinen Körper nimmst, dann sei so vernünftig und denke an dein Baby!“


    Diese Worte wirkten wie ein Keulenschlag auf Anna. Ihre linke Hand fuhr intuitiv zu der leichten Wölbung ihres Unterbauches. Vor lauter Sorge um Ben und Semir hatte sie den kleinen Menschen, welcher in ihr heranwuchs, völlig vergessen. Schlagartig fiel die Anspannung ein wenig von ihr ab und sie begriff, was mit ihr geschehen war. In den letzten Stunden nach der Flucht aus der Villa, während sie die Verletzten mitversorgt hatte, hatte sie einfach nur noch funktioniert. Doch mittlerweile waren alle ihre Kraftreserven aufgebraucht. Sie fühlte sich nur noch müde … unendlich müde. Ihr Körper und ihr Geist glichen einer leeren und ausgebrannten Hülle, die dringend Ruhe brauchte um wieder Kraft schöpfen zu können.
    Ohne Widerspruch ließ sie die weitere Erstversorgung durch ihren Kollegen und der Krankenschwester über sich ergehen, um nur wenige Minuten später auf die gynäkologische Abteilung verlegt zu werden.


    Anna lag auf der Patientenliege im Untersuchungszimmer der gynäkologischen Abteilung. Neben ihr auf dem Rollhocker saß die Oberärztin Carina Weber, die sie aus übermüdeten Augen anblickte. Dr. Weber hatte eine lange Nacht mit einem Notkaiserschnitt und einer weiteren schwierigen Entbindung auf natürlichem Wege hinter sich. Das schulterlange Haar der Mitvierzigerin war kirschrot gefärbt und zu einem Dutt zusammengebunden. Anna konnte aus ihrer liegenden Position erkennen, dass der Haaransatz von grauen Haarsträhnen durchsetzt war. Der Schwangeren war bei der Tastuntersuchung ihrer Kollegin nicht entgangen, wie diese sie nachdenklich musterte. Unruhig rutschte sie auf der Behandlungsliege herum, während Dr. Weber das Ultraschallgerät heranzog und für seinen Einsatz bereitmachte. Annas Pulsschlag beschleunigte sich, warum sagte die Gynäkologin nichts. Die Anspannung nagte an ihrem angekratzten Nervenkostüm und in einem entsprechenden Tonfall fauchte sie die Frauenärztin an:
    „Was ist los? … Ich sehe es ihnen doch an! …. Irgendetwas stimmt nicht mit meinem Kind!“


    Anna hatte auch schon längst bei ihren eigenen Tastuntersuchungen bemerkt, dass das Wachstum ihrer Gebärmutter nicht mit dem möglichen Termin des Beginns der Schwangerschaft zusammenpasste. Während der vergangenen Tage zwischen Bens Verschwinden und ihrer Gefangenschaft hatte sie jeden Gedanken daran, dass etwas mit dem Ungeborenen sein könnte, verdrängt. Dr. Weber schob Annas Shirt nach oben und den Bund der Jogginghose nach unten.

    „Vorsicht kalt!“, kam es und schon verteilte sie das Gleitgel auf dem Unterbauch und fügte erklärend hinzu: „Ihre Angabe zur letzten Periode stimmen nicht mit dem Wachstum der Gebärmutter überein!“ Sie blickte ihrer Patientin aufmunternd in die Augen, ergriff den Schallkopf und setzte ihn auf der Haut an. „Sie sind selbst Ärztin und sollten wissen, das kann alles oder nichts bedeuten. Deshalb schauen wir uns mal den kleinen Racker da drinnen an!“


    Der Bildschirm des Ultraschallgeräts war so ausgerichtet, dass die Gynäkologin eine gute Sicht darauf hatte. Fachmännisch begann sie den Kopf des Ultraschallgerätes hin und her zu bewegen. Anna konnte nur schemenhaft etwas erkennen. Auf dem Bildschirm erschienen wabernde schwarz-weiße Bilder und Anna meinte mehr als einmal die Umrisse eines Babykopfes gesehen zu haben. Die Ärztin drehte den Bildschirm ein wenig in Annas Blickrichtung und fing an zu erklären:

    „Das ist das Köpfchen … das Herz …die Arme…!“

    Und nun erkannte sie es auch. Das Baby veranstaltete gerade eine Turnstunde in der Fruchtblase. Ein wahres Glücksgefühl durchströmte Anna und ihr Pulsschlag beschleunigte sich diesmal vor Freude. Überwältigt von ihren Gefühlen blinzelte sie die Feuchtigkeit in ihren Augenwinkeln weg.


    Als die Frauenärztin vor sich hinmurmelte: „Ohh! … Hmm … Hmm…. Was ist das denn?“, schlug das Glücksgefühl jäh in Angst um. Annas Blick war auf den Monitor fixiert. Sie merkte wie sie sich verspannte und als die Rothaarige mit einem Anflug von einem Lächeln um den Mundwinkel meinte: „Damit hätte ich nicht gerechnet!“, hätte die Schwangere sie in diesem Augenblick am liebsten gekillt. Die Sekunden bis die Frauenärztin den Bildschirm in ihrer Richtung drehte, glichen einer Ewigkeit. Wie gebannt, starrte Anna darauf und erkannte es selbst.


    „Da schlägt ein zweites Herzchen!“ Erneut setzte Dr. Weber den Schallkopf an. „Ts … ts … ts! Da hat jemand aber wirklich was dagegen, dass wir neugierig sind und versteckt sich hinter seinem Geschwisterchen vor uns. Aber soweit ich erkennen kann … geht es auch dem zweiten Baby gut!“

    Carina Weber machte noch einige Ausdrucke und Notizen und beendete die Untersuchung.

    „Herzlichen Glückwunsch, Frau Dr. Becker. Sie und ihr Freund werden Eltern von Zwillingen.“

  • Mit einigen Zellstofftüchern wischte sie das Gleitgel von Annas Bauch und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und begann mit ihren Fingern die Tastatur zu bearbeiten, um ihren Untersuchungen in der Patientenakte zu dokumentieren.


    Anna zog den Hosenbund hoch und schob ihr T-Shirt nach unten. Anschließend richtete sie sich auf und machte Anstalten sich von der Liege zu erheben. Sie wollte nur noch zu Ben und ihm die freudige Nachricht überbringen und die Ultraschall-Bilder zeigen. Fast schien es so, als könnte die Oberärztin ihre Gedanken lesen.


    „Für die nächsten zwölf Stunden verordne ich Ihnen strickte Bettruhe. Schwester Waltraud wird sie auf ihr Zimmer begleiten, sie können sich gerne ein wenig frisch machen und anschließend sollten sie einfach nur schlafen.“


    „Aber …!“, fiel ihr Anna ins Wort.


    „Kein Aber!“, gab Dr. Weber zurück. „Nach den Strapazen der vergangenen Tage braucht ihr Körper dringend Ruhe. Entweder sie legen sich freiwillig ins Bett und schlafen oder wir verpassen ihnen einen Dosis Valium!“ Auch die Oberärztin war über das Drama der letzten Tage eingehend von ihrem Kollegen der Notaufnahme informiert worden.


    Unwillig brummte Anna vor sich hin „Hmpf! …. Kein Valium! Ich will keine Medikamente!“


    „Frau Dr. Becker, ich weiß, wir Ärzte sind die schlimmsten Patienten. Dennoch sie brauchen Ruhe und Schlaf. Ich denke, sie werden dem werdenden Vater die frohe Botschaft, dass sie Zwillinge erwarten und er einmal um das Vergnügen gebracht worden ist, noch früh genug überbringen können.“ Sie nahm nochmals auf dem Rollhocker Platz und umschlang Annas Hand. „Ich weiß, dass sie sich Sorgen um Herrn Jäger machen. Doch gerade sie sollten wissen, dass Herr Jäger bei den Kollegen, die sich um ihn kümmern, in den besten Händen ist. Dr. Ahmadi lässt ihnen ausrichten, dass Herr Jäger stabil ist und aktuell ist er beim Röntgen. Also Tabuzone für Sie!“ Dr. Weber erhob sich wieder, drückte Anna mehrere Ausdrucke von Ultraschallbildern in die Hand. „Kommen Sie! … Schwester Waltraud bringt sie jetzt auf ihr Zimmer. Denken Sie einfach an die Zukunft … an die beiden kleinen Menschen in ihrem Bauch und versuchen Sie das erlebte ein wenig zu vergessen.“


    Die Krankenschwester, die sich während der Untersuchung dezent im Hintergrund gehalten hatte, half Anna sich in den bereitstehenden Rollstuhl zu setzen.


    Die Frauenärztin reichte Anna zu Abschied die Hand. „Den Rest besprechen wir morgen früh, wenn ich wieder im Dienst bin. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich veranlassen, dass unsere Klinik-Psychologin, Frau Dr. Ulrich, sich heute Nachmittag ein wenig mit ihnen unterhält. Ich glaube, das wird ihnen gut tun.“
    Anna nickte zustimmend und wurde von Schwester Waltraud in ein Einzelzimmer geschoben. Nachdem sie sich geduscht hatte, vom Frühdienst mit einer großen Tasse Tee und ein wenig Toast mit Butter und Marmelade versorgt worden war, schloss sich die Zimmertür hinter der Krankenschwester, die sich mit den Worten verabschiedete: „Wenn etwas ist Frau Dr. Becker, läuten sie einfach!“, und auf einmal war sie alleine im Zimmer. Nur das monotone Brummen des Infusionsautomaten war zu hören. Durch die Ritzen der Jalousien drang ein wenig Tageslicht in den Raum. Tausend Gedanken schwirrten Anna durch den Kopf und ließen sie nicht zur Ruhe kommen, obwohl sie sich so unendlich müde fühlte. Der Frühdienst begann auf der Station mit seiner Arbeit. Es waren die vertrauten Geräusche des Klinikalltags, die Anna letztendlich einschlafen ließen.


    Als sie Stunden später erwachte, war sie nicht mehr alleine. Neben ihrem Bett saß jemand und hielt ihre Hand umschlungen. Anna öffnete ihre Augen und meinte völlig überrascht, als sie erkannte, wer da neben ihrem Bett saß: „Du bist da?“

  • Es war das grelle Licht in seinen Augen, was Ben als nächstes wahrnahm und ihn fürchterlich störte. Unbewusst versuchte er es mit seiner Hand wegzuwischen. Er blinzelte den Schleier vor seinen Augen weg und erkannte den Wiener Arzt, der sich über ihn beugte und mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht meinte:
    „Sie haben uns gerade aber einen schönen Schrecken eingejagt. Und bevor sie vor Sorge vergehen, Frau Dr. Becker ist bei einer Kollegin in guten Händen. Sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind, bekommen sie eine Information, wie es ihrer Freundin und dem Baby geht. Also bitte, keine Ausflüge und Extratouren mehr.“
    „Und Semir? … Was ist mit meinem Freund?“, fragte Ben leise. Statt einer Antwort runzelte Dr. Ahmadi verwirrt die Stirn und Ben fügte hinzu: „Der Patient, der im Raum gegenüber versorgt wurde!“
    „Tut mir Leid, aber da kann ich ihnen keine Auskunft geben.“, erklärte ihm der Arzt mit einem echten Bedauern in der Stimme. „Bei all ihrer Sorge um ihren Freund und ihrer Freundin, sollten wir uns zuerst einmal auf sie konzentrieren, Herr Jäger.“ In seine Augen trat ein mitfühlender Blick, als er Bens geschundenen Oberkörper betrachtete. „Ich werde sie systematisch von oben nach unten untersuchen und sie sagen mir, wo sie Schmerzen haben.“


    Dr. Ahmadi bemühte sich so feinfühlig wie möglich Bens Körper abzutasten. Mehr als einmal konnte er fühlen, wie sein Patient unter den Berührungen zusammenzuckte, die Lippen zusammenkniff und mehr als einmal entwich dem jungen Mann ein Stöhnen. Mit einer Schere durchschnitt er den stabilen Verband um Bens Oberkörper, der am Unterbauch blutdurchtränkt war. Beim Lösen des Verbandes verkrampfte sich Ben und schrie vor Schmerzen auf. Sofort hielt der Arzt mit seiner Untersuchung inne und verabreichte seinem Patienten großzügig ein Schmerzmittel. Beruhigend redete er auf ihn ein und wartete bis das Medikament wirkte. Unweigerlich fragte sich der Arzt, wie solche Verletzungen zu Stande kommen konnten und schüttelte den Gedanken daran vor Grauen ab.


    Zum Abschluss erfolgte eine Untersuchung des Bauchraums und des Rückens mit dem Ultraschallgerät. Nachdenklich wischte Dr. Ahmadi mit einem Zellstofftuch das Gel von der Haut ab und drehte mit Unterstützung von Schwester Isolde, seinen Patienten wieder vorsichtig zurück auf den Rücken. Die Schwester deckte Ben mit einer wärmenden Decke zu.
    „Herr Jäger, ich hege den gleichen Verdacht, wie Frau Dr. Becker, dass mindestens zwei Rippen gebrochen und weitere Rippen geprellt sind. Um Gewissheit zu haben, werden wir noch ein paar Röntgenaufnahmen von ihrem gebrochenen Bein und ihrem Oberkörper anfertigen. Anschließend kommen Sie wieder zu mir in den Schockraum zurück. Ich denke bis zu diesem Zeitpunkt liegen auch ihre Laborwerte vor und wir entscheiden dann, wie wir Sie weiter behandeln.“
    Ben nickte verstehend. Dank der Infusionen und verabreichten Medikamente fühlte er sich mittlerweile ein wenig besser.


    Dr. Ahmadi war nicht entgangen, dass sein Patient zu der älteren Krankenschwester ein wenig Vertrauen gefasst hatte. Deshalb wies er Schwester Isolde an, den Patienten neben dem Assistenzarzt zu begleiten und bei ihm zu bleiben. Die verschiedenen Aufnahmen seines gebrochenen Beines und seines Oberkörpers waren für Ben eine einzigartige Tortur. Wäre nicht Schwester Isolde bei ihm gewesen, die es immer wieder schaffte, den verstörten Patienten zu beruhigen und ihm gut zuzureden, wäre er wohl endgültig ausgeflippt. Als man Ben zurück in den Schockraum schob, war er an einem Punkt angelangt, wo er sich wünschte, man ließe ihn endlich in Frieden. Er war mental durch und ihm wurde einfach alles zu viel.


    Die Schiebetür öffnete sich und neben Dr. Ahmadi stand der Oberarzt Dr. Meuschel im Schockraum. Die beiden Ärzte studierten an einem Bildschirm aufmerksam Röntgenaufnahmen und diskutierten leise miteinander. Ben erkannte in dem Oberarzt, den Arzt wieder, der scheinbar Semir mit versorgt hatte.
    „Herr Doktor! … Bitte? … Wie geht es Anna und Herrn Gerkhan?“
    Der Oberarzt trat neben die Behandlungsliege und betrachtete das ausgemergelte Gesicht des Patienten. Aus den Gesprächen mit Anna kannte Dr. Meuschel die Zusammenhänge und welche Freundschaft Ben und Semir verband. Bereitwillig gab er deswegen Auskunft.
    „Ihr Freund und hat eine Rauchgasintoxikation erlitten. Er wird beatmet und liegt auf der Intensivstation. Sein Zustand ist momentan stabil. Wir müssen einfach die nächsten Stunden abwarten, wie die Medikamente anschlagen und darauf hoffen, dass es zu keinen weiteren Komplikationen kommt. Mehr kann ich ihnen leider nicht sagen Herr Jäger.“


    Für einige Atemzüge schloss Ben die Augen. „Und Anna? … Wissen Sie was mit Frau Dr. Becker ist?“
    Dr. Ahmadi hatte seinem Chef davon berichtet, wie überschießend Ben auf Aufregungen reagierte. Also wog Dr. Meuschel gedanklich ab, ob es sinnvoll wäre, dem Patienten zu erzählen, dass seine Freundin Zwillinge erwartete. Er wählte einen diplomatischen Mittelweg.
    „Frau Dr. Becker braucht dringend Ruhe und liegt auf der gynäkologischen Abteilung und schläft. Ihr und dem Nachwuchs geht es in Anbetracht der Umstände gut. Ich denke, sobald es ihr die Frauenärztin erlaubt, wird Anna sie besuchen kommen.“


    Nach dieser Information ließ die Anspannung in Ben ein wenig nach. Jedoch hatte der Oberarzt noch eine weitere Herkulesaufgabe vor sich. Wie bringt man einem schwer traumatisierten Patienten, der gefoltert wurde, das Ausmaß seiner Verletzungen nahe. Nun war es an Dr. Meuschel für ein paar Atemzüge die Augen zu schließen. Er packte seinen ganzen Erfahrungsschatz und sein Fingerspitzengefühl aus und stellte Blickkontakt mit seinem Patienten her. Mit Bedacht wählte er seine Worte und brachte dem Patienten die Diagnosen und Laborbefunde nahe, die letztendlich eine Bestätigung von Annas Diagnosen waren, nahe.


    „So dann kommen wir zu ihrem rechten Schienbein, Herr Jäger!“ Er klopfte mit seinen Fingern leicht gegen die Gipsschiene. „Die werden sie mindestens noch drei Wochen tragen müssen.“ Er erhob sich und beugte sich leicht über Bens rechtes Schienbein und zeichnete, beginnend drei Zentimeter über dem Knöchel, ungefähr auf zehn Zentimeter Länge eine Art Strich. „Auf den Röntgenbildern kann am gut erkennen, dass sie in diesem Bereich des Schienbeinknochens einen Haarriss haben. Ihr Ausflug vergangene Nacht hat dem Bruch nicht geschadet. Ein operativer Eingriff macht keinen Sinn. Aber es wird einfach dauern, bis sich ihr Knochen wieder stabilisiert und sie das Bein wieder belasten können.“ Dr. Meuschel ließ sich wieder auf dem Rollhocker nieder. „Auf dem Ultraschallbild sieht man freie Flüssigkeit … an ihrer linken Flanke im Bereich der Niere!“ Der Arzt strich mit seinen Fingern sanft über die entsprechende Körperstelle, bei der sich unter der Haut ein dunkelblau bis ins lila hineingehende Färbung abzeichnete. „Sprich … es handelt sich dabei um Blutungen ins Gewebe. Dr. Ahmadi hat mir erklärt, wie sie zu dieser neuerlichen Verletzung gekommen sind. Aus meiner Sicht können wir erst einmal diese inneren Verletzungen konservativ, sprich mit Bettruhe behandeln.“ Als Ben bei dieser Aussage erschrocken die Augen aufriss, beschloss der Oberarzt das Gespräch abzukürzen. „Wir werden Sie für die nächsten Stunden zur Überwachung auf die Intensivstation verlegen. Kommen Sie einfach ein wenig zur Ruhe!“
    Er fügte noch ein paar beruhigende Worte hinzu und verabschiedete sich von Ben. Dr. Ahmadi trat hinzu und verabreichte dem Patienten in Abstimmung mit seinem Oberarzt nicht nur ein Schmerzmittel sondern auch eine Dosis Valium.


    Ben spürte, wie er müde und schläfrig wurde. Bereitwillig schloss er seine Augen und dämmerte weg. Er merkte nicht mehr, wie er auf die Intensivstation verlegt wurde.

  • Zurück am Buchheimer Ring …


    Der dunkle Mercedes von Kim Krüger stand am Rande des Feldweges geparkt. Völlig übermüdet und erschöpft, lehnte Kim an der Motorhaube ihres Wagens und hielt einen Becher heißen Kaffee in der Hand. Während sie pustete und vorsichtig daran schlürfte, beobachtete sie das Geschehen um sich herum und ließ die letzten Stunden dieses verhängnisvollen Einsatzes Revue passieren.


    Die ersten Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr rückten ab. Bis auf einige Glutnester war der Brand auf dem Schlupfwinkel von Gabriela Kilic gelöscht worden. Zurückgeblieben war ein gespenstischer Anblick wie auf einem Kriegsschauplatz. Von der einst so mächtigen Villa war nur noch ein riesiger qualmender Schutthaufen übrig und das Gelände darum glich einer Trümmerlandschaft, an das sich die Männer der Spurensicherung vorsichtig heranwagten. Im Hinterkopf blieb immer die Angst, dass ein weiterer Sprengsatz explodieren könnte. Die Experten der Kriminaltechnik und des Bombenkommandos, das vorsorglich auch angerückt war, waren sich einig, dass kein Mensch die Explosion im Inneren der Villa überlebt haben könnte. Somit galten Gabriela Kilic und die Kovac Brüder als verstorben. Die Leichen von Remzi Berisha und Dragan Kovac waren auf dem Weg in die Gerichtsmedizin. Die Verletzten waren alle medizinisch versorgt und auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt worden. Die Sanitätseinheit brach einen Teil ihrer Versorgungszelte ab und nur noch eine Eingreifreserve mit einer kleinen Feldküche würde vor Ort bleiben, bis auch der letzte Feuerwehrmann abgerückt war.


    Einige Übertragungswagen der lokalen Fernsehsender parkten außerhalb der polizeilichen Absperrung. Neugierige Reporter huschten mit Kameras, Mikrofonen und Notizblöcken umher und versuchten den Einsatzkräften Informationen über das Geschehen in der vergangenen Nacht zu entlocken.
    Der nächtliche Einsatz hatte für eine Menge Aufsehen und Aufregung nicht nur im Polizeipräsidium Köln, sondern auch beim Innenministerium in Düsseldorf gesorgt. Vor einer Stunde war der Oberstaatsanwalt van den Bergh am Tatort eingetroffen. Irgendwie war Kim erleichtert gewesen, als Hendrik van den Bergh es übernahm, die Vorgesetzten zu beschwichtigen und ihnen Rede und Antwort zu stehen.
    Als ein Justin von Cronau aus dem Innenministerium auf Kims Handy anrief, die Chefin wegen des Alleingangs scharf zu Recht wies und ihr dienstliche Konsequenzen androhte, fackelte er nicht lange rum. Er entriss Kim ihr Handy und blaffte zu ihrer Überraschung den Staatssekretär an: „Jetzt kommen Sie mal wieder runter? … Wenn Ihnen was nicht passt, dann wenden Sie sich an mich, denn ich habe den Einsatzbefehl gegeben. …Denn wie können Sie auf ihrem Bürostuhl in Düsseldorf beurteilen, wann Gefahr in Verzug ist und wann nicht? … Ohne das schnelle Eingreifen der SEK Einheit und dem entschlossenen Handeln der Kollegen von der Autobahnpolizei wären die Geisel Frau Dr. Becker und Herr Jäger wohl nicht mehr am Leben?“


    Am anderen Ende der Leitung herrschte für einige Atemzüge Schweigen. „Pfff …. Wir sprechen uns noch Herr Oberstaatsanwalt!“ Damit beendete der Staatssekretär das Telefongespräch.
    „So ein arrogantes A...!“, entfuhr es van den Bergh ziemlich aufgebracht. Er atmete mehrmals tief durch und hatte seine Gefühlswelt wieder im Griff. „Mach dir um den Kerl keine Sorgen! Um diesen Wichtigtuer im Innenministerium kümmere ich mich schon.“


    Dabei hatte er im Hinterkopf, diese Aussage des Staatssekretärs Johannes Becker und Konrad Jäger zukommen zu lassen. Mal schauen, wer am längeren Hebel sitzt Herr Staatssekretär, dachte er für sich. Hendrik van den Berghs beruflicher Werdegang, sein Handeln waren bisher davon geprägt gewesen, alles für seinen Aufstieg auf der Karriereleiter zu tun. Während der Ermittlungen im Fall Gabriela Kilic und Ben Jäger hatte er eine andere Fassette der Justiz kennengelernt, Vertuschung und Verschleierung von Fakten, um hochrangige Persönlichkeiten oder auch kriminelle Personen zu schützen. Besonders der gestrige Besuch beim BKA blieb ihm im Gedächtnis haften. Die Art und Weise wie Peter Brauer aufgetreten war, Zeit geschunden hatte, um ihnen die Einsicht auf die Ermittlungsakte hinauszuzögern hatte einen sehr unangenehmen Beigeschmack hinterlassen. Auf der Fahrt von Wiesbaden nach Köln hatte ihn Kim Krüger telefonisch über die Umstände und den Ausgang des Zugriffes in Köln Merheim unterrichtet. In dieser Nacht hatte er die Wahl: Weiter dieses Spiel um Intrigen und Macht mitzuspielen oder der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen, wie es Semir Gerkhan ausdrückte. Hendrik van den Bergh hatte sich entschieden.
    Der Oberstaatsanwalt streifte sich mit einer müden Geste über das Gesicht und musterte Kim danach von oben bis unten. Ihre Kleidung war verstaubt und dreckig. Sie roch nach kaltem Rauch. Die kleinen Risswunden im Gesicht und an der Hand waren von den Sanitätern gereinigt und mit Pflaster versorgt worden. „Du siehst verdammt müde und fertig aus Kim. Was hältst du davon, wenn du nach Hause fährst, dir eine Dusche gönnst und dich ein paar Stunden hinlegst.“


    Ablehnend schüttelte sie den Kopf, schaute kurz zu Boden, scharrte mit ihrer Fußspitze in der Erde hin und her, als suchte sie dort etwas und nahm wieder Blickkontakt mit Hendrik auf.

    „Nein! … Keine Chance! … Ich will erst wissen, was mit meinen Männern ist.“
    Sie drückte einem der Sanitäter, der vorbeikam, mit einem Lächeln und einem „Danke“ die leergetrunkene Kaffeetasse in die Hand. Anschließend ging ein Ruck durch ihren Körper. Kim seufzte einmal leise vor sich hin, löste sich von der Motorhaube und kramte in ihrer Jackentasche nach dem Zündschlüssel des Wagens.


    „Außerdem, die Dusche und eine Mütze voll Schlaf werden wohl aus einem anderen Grund noch ein wenig warten müssen. Schon vergessen? Wir sind um neun Uhr zur offiziellen Pressekonferenz ins Polizeipräsidium beordert worden.“ Sie schaute an sich herunter, schürzte ihre Lippen und meinte in einem ironischen Tonfall: „Ich sehe doch gar nicht ein, dass ich mich hübsch mache und rausputze, wenn unsere Herrn Vorgesetzten von der Ferne aus meinen, der Einsatz sei ein wenig überzogen gewesen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete sie die Autotür und stieg ein. Bevor Kim diese endgültig zuzog und sagte sie in Richtung des Staatsanwaltes: „Ich schlage vor, wir treffen uns fünf vor neun vor dem Eingang des Polizeipräsidiums. Bis dahin will ich noch einen Abstecher in die Uniklinik machen!“


    Im gleichen Atemzug startete sie den Motor, knallte die Autotür zu und ließ den Wagen anrollen. An der ersten Kreuzung las sie ein Hinweisschild für das Krankenhaus in Köln Merheim und änderte ihre Pläne. Sie dachte an die junge Frau, die Ben und Anna bei der Flucht geholfen hatte. Der Anblick wie sie schwer verletzt am Waldboden lag, war zum Greifen nah vor ihrem inneren Auge. Telefonisch hatte sie vom Krankenhaus keine Auskunft über den Zustand der Verletzten erhalten. Vielleicht würde ein Polizeiausweis ein bisschen mehr helfen, den Ärzten einige Informationen zu entlocken. Außerdem war da noch der schwer verletzte Entführer.


    Nachdem der zuständige Richter bereits gegen Camil Musicz einen Haftbefehl erlassen hatte, traf zusammen mit Kim Krüger eine Polizeistreife am Krankenhaus ein, die den Gefangenen bewachen sollten. Dieser Umstand erleichterte es Kim ungemein, die gewünschten Informationen über den Gesundheitszustand der Verletzten zu bekommen.


    Camil Musicz war in der Nacht operiert worden und lag noch sediert auf der Intensivstation des Krankenhauses in Köln Merheim. Das Trümmerteil, welches sich in seinen Rücken gebohrt hatte, hatte die Wirbelsäule verletzt und die darin befindlichen Nervenstränge durchtrennt. Wenn kein Wunder geschah und daran glaubten die behandelnden Ärzte nicht, würde der Serbe ab der Körpermitte abwärts für den Rest seines Lebens gelähmt bleiben. Von einer Verlegung ins Gefängnishospital rieten die behandelnden Ärzte jedoch vorerst ab.


    Elena hatte ihre Notoperation, bei der ein kleines Stück der Lunge entfernt werden musste, ebenfalls gut überstanden. Für die nächsten vierundzwanzig Stunden lag auch sie auf der Intensivstation und galt nach Angaben der Ärzte als nicht vernehmungsfähig. Die behandelnde Oberärztin, Frau Dr. Kellermann, bat Kim Krüger darum, sie in ihr Arztzimmer zu begleiten. Dort eröffnete ihr die Ärztin, dass neben der Schussverletzung Elena Olimov noch weitere schwerwiegende Verletzungen erlitten hatte. Der Körper der Patientin war übersät mit schweren Prellungen und Blutergüssen, die eindeutig die Folge von körperlichen Misshandlungen waren. Darüber hinaus gab es klare Hinweise für sexuelle Gewalt. Kim schluckte schwer als sie dies hörte und es gab ihr gleichzeitig eine gewisse Vorstellung davon, was wohl Ben Jäger und auch Anna Becker in der Gewalt ihrer Entführer durchlebt hatten. Beim Verlassen des Krankenhauses nahm sich Kim vor, persönlich darum zu kümmern, dass Elena Opferschutz bekommen würde.


    Ein Blick auf die Uhr im Display ihres Fahrzeugs mahnte sie zur Eile, wenn sie vor der Pressekonferenz etwas über das Schicksal ihrer Männer erfahren wollte. Die Auskunft, die Kim in der Uni-Klinik bekam, war alles andere als zufriedenstellend für sie. Aus verständlichen Datenschutzgründen hielten sich die Ärzte sehr bedeckt. Sie bekam lediglich die Information, dass der Zustand ihrer Mitarbeiter aktuell stabil sei und beide auf der Intensivstation versorgt werden würden. Trotz ihres energischen Drängens blieben die Ärzte standhaft und so musste sie unverrichteter Dinge wieder abziehen. Während der Fahrt durch die Innenstadt bereitete sie sich innerlich auf die bevorstehende Pressekonferenz vor.

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