Nicht Aufgeben!

  • Zurück in der Villa – einige Zeit später


    Verwirrt schreckte Anna hoch und schaut sich blinzelnd um. Anscheinend war sie ungewollt eingeschlafen. Die beginnende Abenddämmerung hatte den Kellerraum in ein diffuses Licht getaucht. Die Sportgeräte und das Eisengitter vor dem Fenster warfen bizarre Bilder an die Wand. Dann hörte sie wie ein Schlüssel ins Schlüsselloch gesteckt und umgedreht wurde. Die Tür wurde aufgeschlagen, so dass sie mit einem lauten Knall gegen die Wand krachte. Selbst Ben zuckte in seinem Zustand zusammen. Die Halogenlampen flammten auf und leuchteten den Raum aus. Geblendet kniff Anna die Augenlider zusammen und es dauerte einige Sekunden, bis sie sich an die grellen Lichtverhältnisse gewöhnt hatte. Vorsichtig löste sie sich von Ben und kroch unter der Decke hervor.


    Elena stand unter dem Türrahmen und blickte fragend in ihre Richtung. Ihr Begleiter, einer der für Anna unbekannten Zwillinge stand mit gezogener Waffe neben der zierlichen Russin. Als wenn ich eine Bedrohung darstellen würde, dachte die Ärztin ironisch bei sich, angesichts der Pistole. Durch die geöffnete Tür drang das Schreien und Wehklagen eines weiteren Mannes, wenn auch gedämpft, zu ihr durch. Anna konnte den Anflug eines Grinsens nicht unterdrücken. Ihr war klar, dass Remzi schon längst aus der Betäubung erwacht war und unter furchtbaren Schmerzen litt. Sie empfand nicht mal die Spur von Mitleid für den Serben. Im Gegenteil, sie gönnte ihm die Schmerzen von Herzen.


    „Hallo!“, murmelte sie Elena zu, die einen Korb in den Händen hielt und sich langsam auf die Ärztin zu bewegte. Die Russin stellte den Weidenkorb auf den Boden und griff hinein. In ihren Händen befand sich ein kleiner Kochtopf, aus dem ein appetitlicher Geruch strömte.

    „Essen!“, zusätzlich ermunterte sie mit Gesten, Anna ihr den Topf abzunehmen und reichte ihr anschließend einen Löffel.
    Daraufhin holte sie Verbandsmaterial, Kompressen und Wundauflagen, zwei Flaschen mit isotonischer Kochsalzlösung und eine Tube mit einer pflanzlichen Heilsalbe aus der Apotheke aus dem Korb. Mit einer Spur des Bedauerns flüsterte sie Anna zu:

    „Keine Tabletten! … Gabriela alles nehmen! … Leid tun!“
    „Schon gut, Elena! … Schon gut! … Du hast es ja wenigstens probiert!“, die Ärztin konnte den resignierenden Tonfall nicht unterdrücken.

    Kein Antibiotikum, kein Schmerzmittel für Ben, sie hatte schon damit gerechnet. Es war ein Teil dieses grotesken Spieles, welches die Kilic mit ihr trieb. Ohne weitere Worte verließen die beiden das Gefängnis, verschlossen die Tür und Anna war wieder allein mit Ben. Neben ihm ließ sich auf der Bodenmatte nieder. Sie seufzte abgrundtief auf, hob den Deckel vom Topf. Darin befand sich ein Eintopf. Sie hatte nach wie vor keinen Appetit und musste sich förmlich zum Essen zwingen. Auf einmal fühlte sie sich beobachtet. Ein Paar dunkle Augen schauten ihr beim Essen zu. Vor einigen Wochen hätte sie behauptet, der Geruch des Essens hat Ben geweckt. Doch ein Blick in seine Augen verriet ihr etwas anderes: Schmerz. Achtlos stellte sie den halbgeleerten Topf zu Seite und kümmerte sich zuerst einmal um ihren Patienten und versorgte ihn unter diesen primitiven Umständen so gut es ging. Am Ende bedeckte sie ihn mit einer leichten Wolldecke. Zärtlich strich Anna ihn mit ihren Fingerkuppen über seine Wangen.
    „Versuch ein wenig zu schlafen!“, wisperte sie ihm zu.


    Die Augen fielen ihm zu und sie hielt seine Hand umschlungen. Ihr Blick wanderte dabei von Ben zu dem geöffneten Fenster. Wehmut überfiel sie. Sie wünschte sich nichts sehnlichster, als das hinter den Gittern, die ihr den Weg in die Freiheit versperrten, das Gesicht von Semir auftauchte.


    Doch stattdessen löste die Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht endgültig das fahle Licht der Dämmerung ab. Das Zirpen der Grillen drang zu ihr herein. Das Laub der Bäume rauschte leise im Nachtwind. Selbst die stickige Luft im Zimmer kühlte etwas ab. Bens Fieber war nicht weiter gestiegen. So keimte in ihr ein winziger Hoffnungsfunke, dass die Ursache der erhöhten Temperatur vielleicht eine Folge der Operation war und keine sich ausbreitende Infektion.


    Anna lauschte der abgehackten Atmung von Ben. Nachdem sie das Licht im Raum gelöscht hatte, hatte sie sich hinter ihm auf die Matratze gelegt. Nach einigen Minuten kroch sie zu ihm unter die Decke und schmiegte sich so gut es ging an ihn heran. Liebevoll strich sie ihm immer wieder über die Wangen und seine Stirn. So sehr sie sich auch bemühte, ihre Augen offen zu halten, irgendwann konnte sie nicht mehr dagegen ankämpfen und ihr Körper nahm sich die Auszeit, die er dringend benötigte.


    *****
    Der nächste Morgen begann für Anna mit einem Schock. Ben glühte förmlich. Die Hitze seines Körpers versengte sie fast. Sie versuchte die Panik, die in ihr aufsteigen wollte, zu unterdrücken. Leise murmelte sie vor sich hin „Bleib ruhig, Mädchen! … Du musst stark bleiben, für Ben und das Baby!“


    Vorsichtig löste sie sich aus seiner Umarmung und erhob sich. Sein Gesicht war leichenblass. Im krassen Kontrast dazu standen die vom Fieber geröteten Wangen und sein dunkler Vollbart. Seine Stirn wurde von kleinen Schweißperlen überzogen. Besorgt kontrollierte sie seine Atmung und seinen Puls. In ihrer Arzttasche suchte sie nach dem Fieberthermometer. Seine Körpertemperatur lag mittlerweile bei 39,7 Grad. Sie zog die Zudecke weiter zurück und untersuchte seine Verletzungen. Mit ihren Fingern tastete sie über seine Bauchdecke. Der Alptraum war zur Wirklichkeit geworden, die Schussverletzung im Bauchraum hatte sich scheinbar entzündet. Die junge Frau biss sich auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen und ihren Emotionen freien Lauf zu lassen. Welche bescheidenen Möglichkeiten hatte sie denn noch um ihren Freund zu retten? Sollte sie die Einschussstelle nochmals öffnen, in der Hoffnung, dass die Infektion lokal begrenzt war und sie diese säubern könnte. Oder war doch der Schlimmste anzunehmende Fall eingetreten und der Darm war doch an einer anderen Stelle verletzt worden und sie hatte es bei den schlechten Lichtverhältnissen während der Operation einfach nicht erkannt. In Selbstgesprächen versuchte sie sich Mut zu machen, wog ihre Möglichkeiten ab.


    Anschließend schlich sie ins angrenzende Bad. Zum wiederholten Mal begann sie die verbliebenen Medikamente durchzuschauen, die sie heimlich zwischen den Badetüchern versteckt hatte. Eine letzte Ampulle blieb ihr, um zumindest den Kreislauf ihres Freundes weiter zu stabilisieren. Doch sehr sie auch suchte, es befand sich kein schmerzstillendes Mittel mehr darunter. Nachdem sie Ben das Medikament verabreicht hatte, strich sie ihm liebevoll über die Haare, tupfte mit einem feuchten Tuch den Schweiß von seiner Stirn. Ihr Blick ruhte dabei auf der Stelle, wo gestern noch der Notarztkoffer gelegen hatte. Sie grübelte nach und schob die Unterlippe etwas vor. Was wäre wenn?


    Anna ging auf die Knie. Sorgsam suchte sie den Boden, auch unter den Fitnessgeräten, nach Medikamentenampullen ab. In ihr keimte die Hoffnung vielleicht noch irgendwo ein lebensrettendes Glasfläschchen zu entdecken, das nicht der Zerstörungswut des Grauhaarigen am gestrigen Morgen zum Opfer gefallen war. Unter dem Laufband glitzerte es verdächtig. Anna legte sich flach auf den Boden, was mit ihrem kleinen Babybauch gar nicht so einfach war, streckte sich lang und versuchte mit ihren Fingern das kleine Fläschchen zu ertasten. Nach einigen Schwierigkeiten gelang es ihr den kleinen Glaskörper zu ergreifen und hervorzuholen. Überglücklich betrachte sie das Etikett auf der kleinen Ampulle. Es war ein Opiat. Zumindest ein bisschen konnte sie Bens Leiden lindern.


    „Wir schaffen das zusammen mein Schatz! … Halt einfach nur durch!“, beschwor sie ihn, während sie das Schmerzmittel spritzte. Anna war sich sicher, dass ihre Worte zu ihm durchdrangen.
    Nachdenklich durchsuchte sie den Inhalt ihrer Arzttasche, den sie auf die Bodenmatte geschüttet hatte und betrachtete ihre verbliebenen medizinischen Hilfsmittel. Ein Skalpell hatte sie noch, das steril verpackt war. Ihre letzte Option? … Inbrünstig wünschte sie sich, dass die Dosis des Opiats ausreichte und Ben so weit in seinem Dämmerzustand weggetreten war, um die notwendige Wundversorgung durchführen zu können. Sie löste vorsichtig den Verband der Schusswunde. Ben zuckte nicht einmal zusammen, als sie das Skalpell ansetzte, doch das änderte sich. . Mehr als einmal musste sie Ben mit ihren Händen fixieren und beruhigen, der sich bewusst oder unbewusst gegen die äußerst schmerzhafte Behandlung wehrte. Sie entfernte am Wundrand infektiöses Gewebe, säuberte die Wunde. Eine Flasche mit Kochsalzlösung opferte sie, um die Verletzung so gut es ging auszuspülen. Zum Schluss sorgte die Ärztin mit einer improvisierten Drainage dafür, dass das Wundsekret abfließen konnte.


    Anschließend widmete sie sich den Peitschenstriemen an der linken Schulter. Sorgsam reinigte sie auch hier die Wunden nochmals, versuchte das entzündete Gewebe zu entfernen. In ihrer Arzttasche hatte sie eine Packung Medizinischen Honigs gefunden, die ihr ein Pharma- Vertreter zu überlassen hatte. Der Typ hatte ihr und auch ihren anderen Arztkollegen das Produkt als wahres Wundermittel in der Heilung von infizierten Wunden angepriesen. „Dann beten wir mal um ein Wunder!“, flüsterte sie vor sich hin, als Anna auf den entzündeten Wunden im Rückenbereich auftrug. Die restlichen kleinen Verletzungen, die von Wundschorf bedeckt waren, bestrich sie mit der Heilsalbe.


    Sorgfältig deckte sie ihren Freund mit einem Bettlacken zu.

    „Das war es Ben! Mehr kann ich im Augenblick nicht mehr für dich tun!“, murmelte sie erschöpft und sank an der kühlen Betonwand in sich zusammen.

  • Zurück auf der PAST am gleichen Morgen


    Kim Krüger traf mit Semir erst am späten Vormittag auf der PAST ein, wo sie bereits von einem ungeduldigen Oberstaatsanwalt van den Bergh in ihrem Büro erwartet wurden.
    „Guten Morgen! Ich warte schon eine geschlagene Stunde auf dich und Herrn Gerkan. Du gehst nicht an dein Handy, nicht an deinen Funk. Ich hatte mir Sorgen gemacht, dass dir etwas passiert ist!“, begrüßte er Kim Krüger vorwurfsvoll.


    Semir, der seiner Chefin in ihr Büro gefolgt war, beachtete er nicht weiter. Der Türke blieb neben der Eingangstür stehen und zog es vor zu schweigen. Kim legte indessen ihre Schlüssel und ihre Handtasche auf den Schreibtisch und lehnte sich mit ihrem Gesäß gegen die Vorderkante ihres Schreibtisches. Demonstrativ verschränkte sie ihre Arme vor der Brust und auf ihrer Stirn bildeten sich kleine Zornesfalten.
    „Ich glaube nicht, dass ich dir Rechenschaft darüber ablegen muss, was ich in meiner Freizeit mache. Aber da es dich scheinbar so brennend interessiert, ich war heute Morgen mit Herrn Gerkan zur Nachuntersuchung im Krankenhaus. Da schaltet man normalerweise das Handy aus, wenn ich die Hinweisschilder am Eingang der Klinik richtig lesen kann. Mir war nicht bewusst, dass ich mich bei dir neuerdings an- oder abmelden muss, Hendrik.“, gab sie mit einem giftigen Tonfall zurück. „Was gibt es denn so dringendes?“


    Der Oberstaatsanwalt schluckte erst einmal seinen Zorn hinunter, bevor antwortete. Durch die Diskussionen der vergangenen Tage etwas schlauer geworden und wusste er, dass er gegen Kim den Kürzeren ziehen würde. In einem versöhnlichen Ton meinte er: „Wollen wir uns nicht setzen? … Ich glaube, ich habe gute Neuigkeiten.“


    Der Satz ließ nicht nur den Türken, sondern auch Frau Krüger hellhörig werden. Nachdem sich Hendrik van den Bergh und Semir sich auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch und Kim wie üblich hinter ihrem Schreibtisch niedergelassen hatten, verlor der Staatsanwalt keine Sekunde mehr und überbrachte die Nachricht des Tages.


    „Einer der erschossenen Attentäter, der am Überfall auf Herrn Gerkan am gestrigen Tag beteiligt war, konnte erfolgreich identifiziert werden.“ Er machte eine Pause und räusperte sich. „Der Mann war ein führendes Mitglied in Zladan Stojkoviczs Organisation und hieß Roman Zlech. Den Zeugenaussagen nach könnte noch ein weiteres Mitglied dieser Bande,“ der Staatsanwalt zog einen kleinen Notizzettel aus der Anzugtasche und schaute drauf, „ein Sascha Keller, ebenfalls am Überfall beteiligt gewesen sein. Der Zeuge wäre zu einer Gegenüberstellung bereit.“ Der Hendrik van den Bergh lehnte sich selbstzufrieden in seinen Stuhl zurück und fuhr mit seinen Ausführungen fort. „Dem zuständigen Richter am Landgericht Köln reichte das als Beweis aus, um für alle Häuser, Wohnungen und sonstigen Immobilien, die sich in Besitz von Zladan Stojkovicz befinden, einen Durchsuchungsbefehl auszustellen. Momentan sind Kräfte des SEKs und der Bereitschaftspolizei unter Federführung des LKAs Düsseldorf dabei, im Großraum Köln und Düsseldorf zeitgleich die betroffenen Räumlichkeiten zu durchsuchen, Unterlagen zu beschlagnahmen, um einen Hinweis auf den Verbleib von Herrn Jäger und Frau Dr. Becker zu finden.“
    So richtig mit stolz geschwellter Brust saß der Staatsanwalt da, als würde er auf Beifall von seiner Geliebten warten. Er fischte sein Handy aus der Anzugtasche.

    „Sobald es einen Anhaltspunkt gibt, werde ich sofort verständigt. Du und Herr Gerkan selbstverständlich auch. Ich werde mich nach diesem Gespräch hier ins LKA Düsseldorf begeben. Von dort werden alle Einsätze koordiniert und laufen Daten zusammen.“


    Der Staatsanwalt verschwieg allerdings, dass Konrad Jäger im Hintergrund seinen kompletten politischen Einfluss im Justiz- und Wirtschaftsministerium geltend gemacht hatte, damit sich die Herren am Landgericht bewegten. Hauptsächlich Bens Vater und dem energischen Auftreten des Anwalts Leon Vogel war es zu verdanken, dass die Leiche des Attentäters als ein Indiz bewertet wurde, dass Zladan Stojkovicz an dem Komplott und der Entführung von Ben Jäger beteiligt war. Konrad Jäger saß im Büro des Präsidenten des Landgerichts Düsseldorf, Dr. Staib und wartete auf das Ende der Hausdurchsuchungen.


    „Wird auch Zeit, dass die hohen Herren endlich einmal ihren Job machen!“, kommentierte Semir die Aussage des Staatsanwalts.


    Seine wahren Gedanken sprach er nicht aus, da er befürchtete, dass es zu einem erneuten Eklat zwischen ihm den Staatsanwalt kommen würde. Der Türke war überzeugt, dass hinter allem, was sich die letzten Tage und Wochen in Bezug auf Ben und dessen Familie sich ereignet hatte, Gabriela Kilic steckte. Auf der anderen Seite war er bereit, jeden noch so kleinen Strohhalm zu ergreifen, der ihn zu Bens und Annas Aufenthaltsort brachte. Hendrik van den Bergh wertete das Schweigen von Kim als Zustimmung und Anerkennung für seine Vorgehensweise. Selbstzufrieden grinste er vor sich hin.


    „Ach ja, bevor ich es vergesse! Ich habe dafür gesorgt, Herr Gerkan, dass sie bis auf weiteres in einer sicheren Wohnung des LKAs untergebracht werden. Selbstverständlich erhalten sie ab sofort Polizeischutz! Das gilt selbstverständlich auch für ihre Familie, sofern sie uns deren Aufenthaltsort mitteilen.“
    Semir schnaubte mehrmals deutlich durch. Sein Gesicht rötete sich leicht und seine Augenbrauen zogen sich ärgerlich zusammen. Für den Staatsanwalt völlig unerwartet erhob sich der Türke aus seinem Besuchersessel, was angesichts der Dosis Schmerzmittel, die man ihm im Krankenhaus verabreicht hatte, recht geschmeidig ging. Er baute sich regelrecht vor dem Staatsanwalt auf. Sein Körper bebte vor Erregung. Kim Krüger, die vorausahnte, was kommen würde, konnte ihren Kommissar nicht mehr rechtzeitig stoppen.


    Der Türke packte den Staatsanwalt an seinen Jackenaufschlägen und zog ihn leicht aus seinem Sessel hoch. „Wissen Sie noch, was Sie mir vor gut einer Woche hier in diesem Büro geantwortet hatten, als ich sie um Schutz für meine Familie anbettelte?“ – „Ja!“ hauchte der Staatsanwalt geschockt zurück. - „Das kostet den Steuerzahler zu viel Geld! Wissen Sie was, meine Familie ist in Sicherheit und ich werde den Teufel tun und ihnen oder jemand anderen deren Aufenthaltsort verraten.“ Er ließ van den Bergh wieder los, der erleichtert in seinen Sessel zurückfiel. Semir trat einen Schritt zurück und fixierte mit seinem Blick weiter den Staatsanwalt. „Ihre Großzügigkeit können Sie sich sonst wohin stecken, Herr Oberstaatsanwalt. Sie werden doch nicht ernsthaft glauben, dass ich mich wie eine Maus ängstlich in irgendein Loch verkrieche, während mein Partner und dessen Freundin in Lebensgefahr schweben!“


    Ohne ein weiteres Wort stampfte Semir aus dem Büro, die Glastür erbebte in ihren Grundfesten, als der Kommissar sie zuknallte. Ohne nach links oder rechts zu blicken und steuerte er die Teeküche der PAST an.
    Zurück blieben im Büro der Chefin ein betreten drein blickender Oberstaatsanwalt, der sichtlich um seine Fassung rang und nach den richtigen Worte suchte. „Kim, rede mit deinem Kommissar! Der Mann schwebt in akuter Lebensgefahr! Der ist eine wandelnde Zielscheibe, bis Herr Stojkovicz sich in Untersuchungshaft befindet!“, beschwor Hendrik van den Bergh die Chefin. „Und wir wissen ja beide, welche Möglichkeiten diese kriminellen Elemente selbst aus dem Gefängnis heraus haben!“


    Lange betrachtete Kim den Mann, der ihr Herz erobert hatte und schüttelte andeutungsweise ihren Kopf. „Du verstehst es immer noch nicht Hendrik!“, antwortete sie mit einem traurigen Unterton und biss sich leicht auf die Unterlippe bevor sie fortfuhr, „Die Freundschaft, die meine beiden Kommissare verbindet. Nie würde sich Herr Gerkhan in Sicherheit bringen, während sein Freund irgendwo da draußen in Not ist, auf ihn angewiesen ist. Niemals! Dazu die Entführung von Bens Freundin. Herr Gerkan fühlt sich, so wie ich auch, schuldig. Wir haben es nicht verhindert, obwohl wir alle gewusst hatten, dass sie das nächste Opfer sein könnte. Auch du Hendrik, auch du, bist mit schuld daran.“


    Der Staatsanwalt erbleichte und schwieg betroffen. Für einige Minuten herrschte Stille im Zimmer, man hätte das Fallen einer Stecknadel hören können. Nachdem er sich von dem Schock der Anschuldigung ein bisschen erholt hatte, tauschte er mit Kim Krüger noch einige Ermittlungsergebnisse aus und verschwand in Richtung Düsseldorf.


    Semir ließ sich nicht länger von Kim Krüger nicht länger auf der Dienststelle zurückhalten. In Begleitung von Jenny wollte er sich vor Ort bei den Einsatzkräften überzeugen, dass wirklich die Räumlichkeiten des albanischen Patriarchen in Köln und im Umland sorgfältig durchsucht wurden. Sein erstes Ziel galt dem Hauptquartier und der Villa von Zladan Stojkovicz.


    Auf der PAST brachen die Stunden des Wartens an. Jede Minute, die verging, fühlte sich irgendwann doppelt so lange an. Nicht nur Kim Krüger und ihre Mitarbeiter warteten auf der Dienststelle auf den erlösenden Anruf, dass man die beiden Vermissten gefunden hatte oder eine Hinweis, wo sie versteckt wurden, sondern auch in seiner Villa Konrad Jäger zusammen mit seiner Tochter Julia, die am gestrigen Nachmittag aus dem Krankenhaus entlassen worden war.

  • Anna hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie vermochte nicht zu sagen, wieviel Minuten oder gar Stunden nach dem neuerlichen Eingriff bei Ben verstrichen waren, als Elena, gefolgt von Gabriela, den Kellerraum betrat. Ihr war nicht klar, welchen Anblick des Elends sie bot. Mit angezogenen Beinen saß die Dunkelhaarige am Boden, den Rücken an die kalte Außenwand gelehnt. Ihre Arme hatten ihre Knie umschlungen und mit einem Ausdruck von Hilflosigkeit betrachtete sie ihren Freund. Auf dem Boden vor der grauen Matte lagen wild verteilt mit Blut überzogene Instrumente, blutdurchtränkte Wundauflagen und Verbandsmaterial. Ihre Kleidung war ebenfalls mit Blutspuren überzogen. In der Luft lag der Geruch von Blut. Anna hob leicht den Kopf an. Ihr Blick wanderte in Richtung der geöffneten Tür und ging ins Leere.
    Aus dem Augenwinkel sah sie den Schatten, als Gabriela neben sie trat. Jedoch erst die Worte der Entführerin holten sie in die Realität zurück.


    „Ts … ts … ts … Schätzchen? … Scheinbar habe ich dich gestern zu früh gelobt!“, spottete die Kroatin, als sie Bens Zustand erkannte.

    Die kleine Russin, die am Fußende der Bodenmatte stand, hätte Gabriela für diese Bemerkung am liebsten ihre Faust ins Gesicht gesetzt.
    Aus zusammengekniffenen Augen sah Anna zu der Kroatin auf und erwiderte nichts darauf. Auch wenn sie äußerlich sehr gefasst wirkte, tobte in ihren Inneren ein wahrer Sturm von Gefühlen, die ihren eigenen Kampf ausfochten. Stark Bleiben und der Kroatin die Stirn bieten oder sich überwinden und um Hilfe für Ben betteln. Es dauerte nur Sekundenbruchteile bis sie eine Entscheidung getroffen hatte. Auf allen Vieren krabbelte sie zur ihrer Arzttasche, die einen knappen Meter von ihr entfernt am Boden stand. Mit ihren Fingern fischte sie aus einer Seitentasche einen blauen Rezeptblock heraus und notierte etwas darauf. Sie erhob sich vom Boden und reichte den Zettel mit den flehenden Worten weiter:

    „Das könnte helfen, Bens Leben zu retten! … Bitte!“


    Gabriela verzog die Mundwinkel und fing lauthals zu lachen an, als hätte sie den lustigsten Spruch eines Comedians gehört.

    „Schätzchen …. Schätzchen!“, sie schnappte hörbar nach Luft, „Wer sagt dir denn dass ich dies überhaupt will? … Sehe ich aus wie Mutter Theresa?“

    Sie zerknüllte das Rezept und warf es achtlos auf den Boden. Anna sah den selbstzufriedenen Ausdruck in Gabrielas Miene, der durch ihre Worte noch unterstrichen wurde.

    „Hast du es noch immer nicht kapiert? … Oder bist du wirklich so naiv Schätzchen?“ Die Kroatin leckte sich genüsslich über die Lippen. „Der Kerl soll ganz langsam verrecken. Wie ein wildes Tier im Wald …. Und ich will ihm zuschauen, wie er anfängt innerlich zu verfaulen!“ Wieder verfiel Gabriela in ihr diabolisches Lachen. „Wie sich sein Gestank im Zimmer verbreitet. Jede Sekunde seines Sterbens, will ich genießen!“


    So sehr sich Anna auch bemühte, ihre Emotionen zu verbergen, ihr Gesicht war ein Spiegelbild ihrer Angst und Verzweiflung. In ihrer Kehle würgte etwas. Mühsam unterdrückte sie ihre Tränen und biss sich auf die Lippen. Ihr Magen verwandelte sich in einen eisernen Klumpen. Auch der Kroatin entging ihr innerer Kampf nicht. Anna sah das triumphierende Aufblitzen in den grauen Augen ihrer Gegnerin und dennoch, sie war nicht bereit klein bei zu geben. Sie sprach sich selbst Mut zu. Noch lebte Ben … noch war es nicht vorbei.


    „Verrecken! - Das hörte sich vorgestern aber noch völlig anders an.“, widersprach sie energisch.

    Der Körper der zierlichen Frau bebte vor Entrüstung. Die Ärztin hatte sich vor Gabriela aufgebaut und ihre Hände in die Hüften gestemmt. Tief holte sie Luft, das Spiel ging in die nächste Runde. Entsprechend wütend fauchte sie Gabriela an:

    „Für dich Miststück ist das doch alles nur ein perverses Spiel, bei dem Bens Leben der Einsatz ist. Wie kann man nur so abartig und verkommen sein!“
    Gabriela klatschte mit ihren Händen Beifall. „Herzlichen Glückwunsch! … Du lernst schnell Schätzchen! Den barmherzigen Samariter habe ich irgendwo da draußen vergessen!“ Sie deutete zum geöffneten Fenster und richtete ihren Blick wieder auf Ben. „Falls DU es noch nicht kapiert hast, die Lebensuhr deines Lovers ist so gut wie abgelaufen. Hörst DU es … tick … tack … tick … tack!“

    Anna blieb keine Zeit darüber weiter nachzudenken.

    „Und jetzt beweg dich! Remzi braucht deine Hilfe!“, befahl die Kroatin.


    Die junge Ärztin setzte ein trotziges Gesicht auf, verschränkte ihre Arme vor der Brust und blieb stocksteif stehen.

    „Pfffff! – Vergiss es!“, knurrte die junge Frau zurück. Sie sah doch gar nicht ein, diesem widerlichen Schwein nochmals zu helfen.
    „Ts, ts, ts! …. Was soll das? …..Aufmüpfig werden? Du solltest aber wirklich langsam kapiert haben, wer hier das Sagen hat!“

    Innerhalb von Sekundenbruchteilen zog die Kilic aus einem Holster am Rücken ihren kleinen Trommelrevolver und zielte auf Ben.

    „Was braucht er nicht mehr? Seine Hände? … Seine Füße? Los sag mir, worauf soll ich zielen?“, meinte sie mit einem süffisanten Unterton.

    Annas Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie die Absicht der Kroatin erkannte. Die Mündung der Waffe war auf Bens Herz gerichtet, wanderte hin und her und sie brauchte nur noch den Abzug durchziehen. Nein … nein … nein, wollte die junge Frau schreien. Doch etwas schnürte ihre Kehle zu und kein Wort kam über ihre Lippen, sie wollte sich in Bewegung setzen, dem Befehl Folge leisten, doch ihr Körper war wie gelähmt.


    Ein Schuss fiel.


    Das verrückte Lachen der Kroatin riss Anna aus ihrer Leichenstarre. Die eisgrauen Augen von Gabriela funkelten die junge Frau wie irre an

    „Das war gut! …. Das war richtig gut! …. Das hat mir gefallen!“, feixte sie vor sich hin, gefolgt von einem diabolischen Lachanfall.

    Sie klopfte sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Es dauerte einige Minuten bis sie sich wieder beruhigt hatte. Die Mündung ihrer Waffe deutete in Richtung Ben. Die Dunkelhaarige wagte es, ihren Blick auf ihren Freund zu richten. Das Bleigeschoss war neben dem Fuß des Verletzten in die Matratze eingedrungen und hatte diese teilweise an der Einschussstelle zerfetzt. Grenzenlose Erleichterung machte sich in Bens Freundin breit und noch etwas, ihr Hass gegenüber Gabriela und deren Komplizen wuchs mit jeder Minute, den sie hier in Gefangenschaft verbrachte.


    „Und jetzt bewege Dich!“

    Ohnmächtig vor Wut und Zorn setzte sich Anna in Bewegung.

    „Na also, warum denn nicht gleich so!“, kommentierte Gabriela und genoss ihre Macht. Die Angst und der Angstschweiß ihres Opfers wirkten wie ein Schwall Endorphine auf sie.


    Auf dem langen Weg nach oben, fasste die Ärztin einen Vorsatz: Kämpfe gegen deine Angst an, auch im Angesicht des Todes! Zeige dieser Hexe nicht mehr, wie sie dich verletzen kann, dich erniedrigen kann. Gönne ihr nicht noch einmal diesen Triumpf. Du lässt DICH nicht besiegen! Nicht solange noch ein Hauch von Leben in dir und Ben ist. Durchhalten, Mädchen, du musst einfach durchhalten bis Semir euch findet!

  • Camil nahm die junge Frau mit einem fragenden Blick im Erdgeschoss in Empfang. Als er Gabrielas diabolisches Grinsen sah, verkniff er sich die Nachfrage, was im Kellerraum geschehen war. Er packte die Ärztin am Oberarm und brachte sie zu seinem Freund ins Obergeschoss. Anna nutzte die Gelegenheit und scannte mit ihren Blicken eingehend die Eingangshalle und das Treppenhaus nach einer Fluchtmöglichkeit. Ihr entgingen weder die Überwachungskameras, noch die Alarmanlage an der Haustür von denen Elena ihr erzählt hatte. Mittlerweile erreichten sie die Galerie im ersten Stock, von der aus ein langer Gang abzweigte. Das Obergeschoss hielt was die Ausstattung mit Stuckarbeiten an Wand und Decke betraf durchaus mit dem Erdgeschoss mit. Der Erbauer des Hauses oder vielmehr dessen Innenarchitekt hatte auch hier keine Kosten gescheut.


    Das Schlafzimmer des Söldners war im Vergleich zu den anderen Räumen der Villa geradezu spartanisch eingerichtet. Neben einen einfachen Kleiderschrank stand eine Holzkiste mit Metallbeschlägen. Was Anna nicht ahnte, darin befand sich die Waffensammlung des Söldners. Der Fußboden war im Gegensatz zum Flur mit rustikalen Natursteinfließen ausgelegt. Nach dem Betreten des Raumes musterte Anna ihren zukünftigen Patienten eingehend. Das opulent gepolsterte Doppelbett bildete den Mittelpunkt des Raumes, in dessen Mitte der grauhaarige Söldner mehr saß als lag. Sein verletztes Bein ruhte leicht erhöht auf einer Lage Kissen. Ihr Blick blieb an den unzähligen Tatoos und Narben auf seinem entblößten Oberkörper haften. So wie es schien, hatte er kein Fieber und scheinbar auch keine Schmerzen. Der Rest seines Unterkörpers wurde durch eine leichte Sommerdecke verdeckt.


    Statt einer Nachtkonsole stand ein kleiner Beistelltisch neben seinem Bett. Darauf befanden sich neben einer Flasche Wodka, die zur Hälfte ausgetrunken war und mehrere aufgerissene Tablettenschachteln. Als Anna erkannte, dass es sich dabei um eine Sammlung der verschiedensten Schmerzmittel handelte, erklärte das den Zustand des Grauhaarigen. Gleichzeitig weckten die kleinen weißen Pillen ungeahnte Begehrlichkeiten in ihr. Was würde sie darum geben, wenn es ihr gelang heimlich eine Blister Packung einzustecken. Vielleicht … ja vielleicht gab es die Möglichkeit in den nächsten Minuten. Krampfhaft versuchte sie ihre Absicht hinter einer aufgesetzten Miene zu verbergen. Camil blieb am Fußende des Bettes stehen und beobachtete sorgfältig jeden Handgriff, den die Ärztin ausführte.


    „Los sieh nach seiner Wunde und wechsle den Verband!“, befahl Camil ihr barsch und schuppste sie in Richtung des Bettes. Danach warf er ihr einen Verbandskasten aus einem der Autos zu. Die Augen des Grauhaarigen, der bisher geschwiegen hatte, funkelten sie schon wieder begehrlich an. Anna fühlte sich dadurch förmlich ausgezogen. Remzi richtete sich etwas im Bett auf. Die Matratze und das Bettzeug raschelten unter seiner Gewichtsverlagerung. Seine Hände gingen auf Wanderschaft in Richtung ihres Gesäßes. Obwohl er Anna noch nicht berührt hatte, konnte sie deren Nähe spüren. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie zwang sich ruhig zu bleiben. Anna legte das Verbandsmaterial am Fußende des Bettes ab und streifte sich ein Paar Einweghandschuhe aus dem Verbandskasten über. Sie wandte ihren Blick Remzi zu und zischte ihm leise für seinen Kumpel fast unhörbar zu:
    „Wenn du Schwein es wagst mich noch einmal anzufassen, bist du schneller tot, als du bis drei zählen kannst!“
    Sie hatte die Spitze der Schere an der Innenseite seines Oberschenkels angesetzt, um den Verband zu durchtrennen. Remzi verstand genau, was die Dunkelhaarige meinte und zog seine Hand zurück.
    „Sehr schön!“, kommentierte Anna seine Reaktion und begann den Verband zu durchtrennen. Die Wundauflage hatte sich mit den Wundrändern verklebt und ließ sich nicht einfach so lösen. Anna umrundete das Bett und griff nach der Wodkaflasche. Nur den Hauch eines Sekundenbruchteils zögerte sie und überlegte, wie sie in den Besitz einer dieser Blister-Verpackungen kommen könnte.


    „Wag es nicht Mädchen!“, ertönte im Hintergrund Gabrielas Stimme, die scheinbar ihre Absicht erahnte und von ihr unbemerkt den Raum betreten hatte.


    Anna warf einen kurzen Blick über ihre Schulter. Kaum hörbar atmete sie aus. Die Kroatin stand neben der Zimmertür an der Wand gelehnt und rauchte eine ihrer stinkenden Zigarillos. Annas Körper bebte, musste diese verdammte Bitch denn überall sein. Die Ärztin umrundete wieder das Bett und schraubte die Wodkaflasche auf. In Richtung Camil meinte sie so lapidar wie möglich:
    „Halt mal deinen Kumpel ein bisschen fest, das könnte ein wenig brennen und weh tun!“


    Rücksichtslos schüttete sie Wodka auf die verklebte Wundauflage. Remzi bäumte sich auf, schlug mit seinen Händen um sich und schrie gellend vor Wut und Schmerz auf. Nur Aufbieten seiner Kräfte gelang es Camil seinen Freund wieder runter auf die Matratze zu drücken. Der Schnauzbärtige belegte Anna mit einer Triade aus Schimpfworten, während sein Freund schreiend und jammernd unter ihm im Klammergriff lag.
    „Hast du oder dein Kumpel ein Problem? Ist ja schließlich nichts anderes da!“, bemerkte die Ärztin trocken, während sie an den Rändern zupfte. „Na wer sagt es denn!“, kommentierte Anna ihren Erfolg, als sich die Wundauflage löste und sie die Schussverletzung begutachtete, die überraschend gut aussah. Geschickt legte sie einen neuen Verband an und wurde von Camil aus dem Zimmer geführt, bevor sie nochmals Gelegenheit hatte, in die Nähe der Tablettenschachteln zu kommen.


    Remzis Gestöhne und Flüche verfolgten sie auf dem Weg ins Kellergeschoß. Auch wenn es Ben nicht half, ihr verschaffte es in diesem Moment ein wahnsinniges Gefühl der Genugtuung.

  • Nach dem gestrigen Unfall war Semirs BMW ein Fall für die Schrottpresse. Deswegen übernahm Jenny den Part als Fahrerin mit ihrem Dienstwagen. Zu Beginn ihrer Fahrt war die junge Frau sehr redselig gewesen. Sie plapperte munter darauf los, stellte Thesen zum aktuellen Stand der Ermittlungen und der Beteiligung von Zladan Stojkovicz auf. Semir hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, brummte hin und wieder mal eine Bemerkung. Mit geschlossenen Augen dachte er ebenfalls über die Entwicklung des Falles nach.
    Eine Frage beschäftigte ihn besonders: War Zladan Stojkovicz Auftraggeber seiner gestrigen Entführung gewesen oder in Form seiner Männer nur ein ausführendes Organ? In beiden Fällen war er ein Mitwisser, jemand der Angaben zum Verbleib von Ben und Anna machen konnte. Als Jenny mit ihrem Dienstwagen in die Bonner Landstraße einbog, trafen sie gleich auf die erste Polizeisperre. Dank ihrer Ausweise wurden die beiden Autobahnpolizisten von den Kollegen durchgelassen. Auf der Straße und der Zufahrt zur Villa wimmelte es von zivilen Einsatzfahrzeugen, zwischen denen etliche Streifenwagen parkten. Ein VW-Einsatzbus kam ihnen entgegen und Semir vermutete, dass darin die ersten Verdächtigen zum Verhör nach Düsseldorf abtransportiert wurden.


    Jenny parkte ihren Dienstwagen am Straßenrand und zusammen mit Semir schritt sie die lange Zufahrt zur Villa entlang. Der Türke hatte keinen Blick für den gepflegten Garten, in dem sich ein Landschaftsgärtner ausgetobt hatte. Zielstrebig schritt er auf die Eingangstür der Villa zu. Der Baustil des Anwesens wirkte auf den Betrachter ein wenig futuristisch. Der Türke fragte sich, wie man sich in solch einem eckigen Palast aus Glas und Beton nur wohl fühlen konnte. Drei Beamte in Zivilkleidung kamen ihnen auf der Treppe entgegen und trugen Kisten, die mit Aktenordnern vollgestopft waren, zu einem dunklen VW Bus. Bei ihnen erkundigte sich der Kommissar nach dem Einsatzleiter des LKAs, Jörg Bergman. Doch die Frage hätte er sich sparen können. Auf dem Podest angekommen, kam Semir Jörg Bergmann entgegen. Dicht gefolgt von Zladan Stojkovicz, dessen Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt waren. Der Albaner kochte vor Zorn. Neben ihn lief sein Rechtsanwalt Dr. Hinrichsen her, der ihn mit Worten beschwichtigte.

    „Herr Stojkovicz, sie machen keine Aussage, außer ich bin dabei. Ich werde mich sofort mit dem Haftrichter in Verbindung setzen und Beschwerde gegen diese Behandlung einlegen. Außerdem werde ich mir Klarheit darüber verschaffen, welche Beweise gegen Sie vorliegen. Sie werden sehen, spätestens heute Abend sind sie wieder im Kreise ihrer Familie.“
    In einem Monolog redete der Anwalt auf seinen Mandanten ein, der währenddessen von zwei Kripo-Beamten zu einem Streifenwagen gebracht wurde. Sieh an, dachte Semir bei sich, selbst Dr. Hinrichsen war mit all seinen Beziehungen nicht mehr in der Lage gewesen, den Haftbefehl gegen seinen Mandanten aufzuhalten. Neben ihm in der Eingangstür tauchte eine Frau auf, deren Alter sich erst bei näheren hin schauen genau schätzen ließ. Die Mimik ihres Gesichtes wirkte Dank Botox-Behandlung maskenhaft starr. Über ihre Wangen liefen Tränen, die sich mit dem üppig aufgetragenen Make-up vermischten. Sie lamentierte und jammerte in einem Atemzug und klopfte dabei einem grauhaarigen Mann ständig auf die Schulter. Der drehte sich um und blaffte die Frau an:

    „Entweder ziehen Sie sich in ihr Schlafzimmer zurück Frau Stojkovicz oder mein Kollege wird sie wegen Behinderung der Justiz ebenfalls verhaften und sie können ihren Mann im Gefängnis Gesellschaft leisten!“
    Die Ansage hatte gesessen. Semir konnte sehen, wie die Laute buchstäblich auf den Lippen der Frau erstarben. Laut schniefend machte sie eine Kehrtwendung stakste auf ihren High-Heels und in Richtung der Treppe. Ihre keifende Stimme verstummte und der Beamte amtete hörbar aus. Semir stellte sich und Jenny bei dem Einsatzleiter vor.

    „Kriminalrat Jörg Bergmann!“, machte sich der drahtige Mann, der Semir um Haupteslänge überragte bekannt. „Ich leite die komplette Durchsuchungsaktion gegen Herrn Stojkovicz.“

    Ohne Aufforderung Jenny betrat die Villa, suchte nach Hartmut und dessen Team und unterstützte ihre Kollegen der Spurensicherung, die im Inneren der Villa systematisch alle Räume durchsuchten, bei ihrer Arbeit.


    Mit knappen Worten informierte währenddessen der Kriminalrat Semir über den aktuellen Stand der Durchsuchungsaktion in den anderen Objekten. Die beiden Beamten standen dabei auf dem Podest. Von dort hatte man einen relativ guten Überblick über den vorderen Bereich des Grundstücks. Jörg Bergmann rauchte dabei eine Zigarette und lauschte anschließend dem Autobahnpolizisten, der ihn in Stichpunkten über die Entführung von Anna und Ben erzählte und die daraus resultierenden Zusammenhänge. Als ein eingesetzter Suchhund, der auf das Aufspüren von Menschen abgerichtet war, in einer der Garagen anschlug, beschleunigte sich der Herzschlag des Türken. Sollte er sich getäuscht haben und Zladan Stojkovicz steckte hinter der Entführung? Achtlos warf der Kriminalrat seine halbgerauchte Zigarette zur Seite und eilte zusammen mit Semir zur fraglichen Garage. Der Hundeführer lobte seinen Schäferhund und trat ein wenig zur Seite. In der Garage befand sich unter einem Mercedes 500 SL eine Werkstattgrube. Im Laufschritt holte ein Streifenbeamter den Fahrzeugschlüssel aus dem Haus und fuhr das dunkelblaue Fahrzeug heraus. Semir brachte kein Wort hervor. Am liebsten hätte er selbst mit zugepackt, um die Holzbohlen, die die Grube bedeckten, zur Seite zu räumen. Das Poltern hallte in der großzügigen Garage wie ein Echo wieder. Einer der Streifenbeamten sprang in die Grube und rief nach oben:

    „Hier gibt es eine Holztür! – Einschlagen oder Schlüssel suchen Chef?“ Die Frage galt Jörg Bergmann. „Einschlagen!“, lautete dessen Befehl.

    Semir wollte ebenfalls in die Grube springen. Der Ältere hielt ihn am Oberarm fest. „Lassen Sie das Mal die Kollegen machen, Herr Gerkan. Für noch mehr Personen ist es da unten zu eng. Ich denke in den nächsten Minuten wissen wir, ob wir ihren Kollegen und dessen Freundin gefunden!“ Jörg Bergmann drehte sich um und wandte sich an einen der Streifenbeamten. „Sorgen Sie bitte dafür, dass die Sanitäter, die in Rufbereitschaft vor dem Anwesen parken hierher kommen.“


    Zuerst erwies sich die Holztür als stabiler als gedacht. Unter Ächzen und Knarzen gab sie schließlich den Axtschlägen nach und der Zugang zu dem unterirdischen Bau war möglich. „Hier ist sogar Licht!“, rief der Beamte, der den Gang als erster betrat. Ein Lichtschein fiel in die Grube. Semir stand am Rand und starrte hinunter. Innerlich zitterte er vor Anspannung und nur mit allergrößter Mühe gelang es ihm, sich zurückzuhalten. Unten wurde es unruhig. Eine Stimme murmelte monoton etwas Beruhigendes. Dann erschien im Blickfeld von Semir und den Umstehenden der junge Kommissar-Anwärter. Fassungslos beobachtete der Türke den jungen Mann, der auf seinen Armen eine zierliche schwarzhaarige Gestalt trug. Mit Hilfe seiner Kollegen entstieg er der Grube und Semir konnte die junge Frau und ihr Gesicht näher betrachten. Es verschlug ihm den Atem. Die Frau war ein Mädchen, offensichtlich südländischer Abstammung und bestimmt noch minderjährig, im Alter seiner ältesten Tochter Dana. Ihr Gesicht und ihr Körper waren, soweit es das kurze Sommerkleid einen Blick zuließ, gezeichnet von Spuren von Misshandlungen. Semir musste kein Prophet sein, um zu erahnen, was man dem Mädchen angetan hatte. In seiner Brust schlug das Herz eines Vaters und er bebte vor innerlich vor Wut. Unbewusst ballte er seine Faust.


    Als sich ein älterer Kollege näherte, um den jungen Mann die misshandelte Frau abzunehmen, schrie diese lauthals und hysterisch auf und klammerte sich noch mehr an den jungen Polizisten, der beruhigend auf die Unbekannte einredete. Mit gebührendem Abstand beobachteten die anwesenden Polizisten, wie eine Sanitäterin das Mädchen versorgte, die die Szene schon aus der Ferne beobachtet hatte. Ihr Kollege hielt sich wohlweislich im Hintergrund. Beruhigend sprach die Sanitäterin, die vom Alter her, locker die Mutter des Mädchens hätte sein können, auf ihre Patientin ein. Die Schwarzhaarige hielt dabei die Hand des Kommissar-Anwärters umklammert und dieser begleitete die junge Frau mit ins Krankenhaus.
    Nach der Abfahrt des Rettungswagens löste sich Semir von der Gruppe der Polizisten und ging in den Garten. Auf einer der Parkbänke ließ er sich nieder. Er brauchte einige Minuten für sich und das Gesehene zu verarbeiten und um nachzudenken. Wieder hatte sich eine Hoffnung zerschlagen. Für den Türken was er ein schwacher Trost, auch wenn sie das junge Mädchen retten konnten. Der Kommissar hörte auf seine innere Stimme und zückte sein Handy aus der Hosentasche. Entschlossen erhob er sich und wanderte im Garten umher. Sichernd blickte er sich um, damit er auch keine unerwünschten Zuhörer bei seinem kommenden Telefongespräch hatte. Als er dieses beendete, atmete er deutlich hörbar aus und ließ sich auf einer Steinbank nieder. Er lehnte sich mit dem Oberkörper nach vorne. Seine Ellbogen stützten sich auf seine Oberschenkel. Nachdenklich vergrub er sein Gesicht in seine Hände. Der Anblick des misshandelten Mädchens ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Immer wieder fragte er sich, wie würde er als Vater reagieren, wenn es seine Tochter gewesen wäre.


    Stunden später sollte sich an Hand der gefundenen DNA Spuren in dem Verlies herausstellen, dass nicht nur dieses Mädchen sondern noch einige andere im Laufe der Zeit dort unten eingesperrt gewesen waren. Dank des Vertrauens, dass das Mädchen namens Eva Vincente zu dem jungen Polizisten gefasst hatte, identifizierte sie Zladan Stojkovicz als Täter. Die Lawine, die nun auf den Albaner zurollte, konnte nicht einmal der Staranwalt Dr. Hinrichsen aufhalten.

  • Einige Zeit später fand Jenny ihren Kollegen in dieser regungslosen Haltung vor. Semir hatte nicht einmal gemerkt, dass sich seine Kollegin neben ihn niedergelassen hatte. Sie tippte ihn leicht an die Schulter und er blickte überrascht auf.
    „Komm! Wir sollen zurück zur Dienststelle kommen.“
    Mühsam erhob sich der Türke. Die Schmerzen der Prellungen kamen so langsam zurück. In seinem Schreibtisch lagen die Schmerztabletten, die ihm der Arzt heute Morgen verschrieben hatte und von denen er dringend eine nehmen sollte.


    *****
    Zurück in ihrem Verlies verbrachte Anna die nächsten Stunden neben Ben auf der Bodenmatte oder der Matratze. Mit einem feuchten Tuch tupfte sie die Schweißperlen von seiner Stirn. Krampfhaft überlegte sie, wie sie ihm noch helfen könnte. Ihr Freund war tief in seiner Bewusstlosigkeit versunken, reagiert kaum auf Schmerzreize und Anna befürchtete, dass sich sein Körper mit einer Art Koma selbst schützte. Seine Brust hob und senkte sich. Er atmete schwer und röchelnd. Auch ohne die Monitore, an die sonst Patienten im Krankenhaus auf der Intensivstation angeschlossen waren, erkannte sie, dass sich sein Zustand im Laufe des Tages zusehends verschlechterte. Trotz Wadenwickel ließ sich seine Körpertemperatur nicht senken. Mehrmals wusch Anna seinen fiebrigen Körper mit Wasser ab, in der Hoffnung das würde helfen, ihn ein wenig zu kühlen.


    Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es mittlerweile Nachmittag geworden. Erschöpft ließ sich Anna auf dem Fußboden seitlich unterhalb des geöffneten Fensters nieder. Von dort aus beobachtete sie ihren schwerverletzten Freund. Sie hatte ihre Beine angezogen und mit ihren Armen umschlungen. Ihr Kinn ruhte auf ihren Knien. Es war das eines der wenigen Privilegien, welche ihr die Kilic zugestand, frische Luft. Im Laufe der vergangenen Stunden war die Kroatin mehrmals im Kellerraum aufgetaucht und überzeugte sich, ob Ben Jäger noch am Leben war. Die junge Ärztin ertrug dabei widerspruchslos deren Spott und gehässigen Bemerkungen.


    Anna lauschte den Geräuschen, die von draußen zu ihr durchdrangen. Die Vögel zwitscherten. Die Blätter der Bäume rauschten im leichten Sommerwind, der mit einer sanften Brise über ihr Gesicht strich. Die Hitzewelle der letzten Tage war vorbei. Die Temperaturen pendelten sich tagsüber auf angenehme 25 Grad im Schatten ein. Sie schloss die Augen und träumte von den gemeinsamen Ausflügen in die Eifel und die angrenzenden Mittelgebirge, die sie mit Ben im Frühjahr auf dem Motorrad unternommen hatte.


    Das Geknirsche des Kieses auf der Zufahrt zum Haus durchbrach die Harmonie ihrer Traumwelt und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Von Neugierde angetrieben, richtete Anna sich auf und schob die Ruderbank näher ans Fenster heran. Sie kletterte hinauf, stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte über die Fensterbank hinaus. Ein schwarzer Audi Q7 mit Kölner Kennzeichen rollte in Schrittgeschwindigkeit über den Kiesweg zum Haupteingang, wo das Fahrzeug stoppte und der Motor abgestellt wurde. Eine Autotür wurde geöffnet und zugeschlagen. Anna erkannte zwei Beine, die in einer Anzughose steckten. Wer läuft bei solchen Temperaturen freiwillig in einem Anzug durch die Gegend, fragte sie sich. Weitere Schritte erklangen. Das Klappern von Absätzen auf Steinen.

    „Schön dich zu sehen, Hans-Heinrich!“, begrüßte die Kilic höchstpersönlich den Besucher.
    „Grüß dich Gabriela! … Wie ich sehe, ist alles gut gegangen!“, stellte der Anwalt nüchtern bei seiner Begrüßung fest. „Ein schönes Fleckchen hast du dir da mitten in Köln mit dieser Villa ausgesucht!“


    Die Antwort verstand Anna schon nicht mehr, da sich die beiden Personen ins Haus begeben hatten. Die Stimme des Mannes war Anna bekannt vorgekommen. Auch diesen ungewöhnlichen Vornamen hatte sie schon einmal gehört. Nur wo, wo hatte sie den schon einmal getroffen, diesen Namen gehört. Sie kletterte vom Sportgerät runter und stellte es wieder in seine ursprüngliche Position, um keinen Verdacht zu erregen. An der freien Wandfläche daneben rutschte sie zurück auf den Fußboden und grübelte nach. Auch wenn sie dagegen ankämpfte, die Müdigkeit übermannte sie und die junge Frau döste ein.


    *****


    Zurück auf der Dienststelle hatte Frau Krüger keine guten Neuigkeiten. Die Durchsuchung von Zladan Stojkovicz Anwesen, von seinen Nachtclubs und sonstigen Liegenschaften waren erfolglos verlaufen. Nirgends gab es eine Spur von den Entführten, einen Hinweis über deren Aufenthaltsort. Nur die Kollegen der Abteilungen, die die organisierte Kriminalität und Prostitution bekämpften, konnten sich über ihre Fahndungserfolge freuen. Neben der jungen Eva Vincente wurden noch weitere Minderjährigen in einem der Edelschuppen gefunden und befreit. Darüber hinaus fanden die Ermittler noch unzählige junge Frauen aus Osteuropa und Asien, die man ähnlich wie Elena mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt hatte und anschließend mit Gewalt oder unter dem Einsatz von Drogen zur Zwangsprostitution trieb. Die Ermittler hofften, dass Zladan Stojkovicz mit einigen seiner Handlanger für viele Jahre hinter Gefängnismauern verschwinden würde. Auch die Kollegen der Steuerfahndung rieben sich die Hände und standen schon bereit, um die beschlagnahmten Geschäftsunterlagen des Stojkovicz Clans zu sichten.
    Jenny steuerte ihren Schreibtisch an, stellte eine dampfende Tasse, in der ein Teebeutel hing, neben ihre Tastatur. Anschließend fuhr sie ihren Computer hoch und machte sich sogleich an die Arbeit. Von Hartmut hatte sie Unterlagen erhalten, mit deren Hilfe sie nochmals alle Gebäude durchging, die laut Grundbuchamt der Stadt Köln Zladan Stojkovicz oder einem seiner Komplizen gehörten. Akribisch hakte sie jede Anschrift ab, ob das Anwesen von den Kollegen durchsucht worden war oder nicht.


    Währenddessen saßen Kim Krüger und Semir in dessen Büro und sprachen über die Hausdurchsuchungen. Susanne kam nach einigen Minuten hinzu und präsentierte ihre Recherchen hinsichtlich der „Skorpione“. In ihrer Hand hielt sie die Fernbedienung mit deren Hilfe sie die Videowand steuern konnte. Zu ihren Ausführungen kamen Zeitungsberichte, Ermittlungsakten und Fahndungsfotos.


    „Ich habe mal ein paar Nachforschungen zu dieser Skorpion Einheit angestellt. Kennzeichen dieser Spezialeinheit ist dieses Tatoo auf der rechten Hand. Die Mitglieder dieser militärischen Einheit waren in der Regel Serben, die sich während des Kroatienkrieges zahlreicher Kriegsverbrechen schuldig gemacht hat.“
    Daraufhin zeigte sie Fotos von bekannten Mitgliedern dieser Gruppe. Darunter befand sich auch Remzi Berisha, dessen Lichtbild allerdings schon einige Jahre auf dem Buckel hatte. Ebenso war ein Foto von Camil Muszic dabei, welches ihn als jungen Mann ohne Schnurrbart zeigte.

    „Etliche Mitglieder dieser Einheit wurden vom Internationalen Gerichtshof angeklagt und wegen ihrer Gräueltaten zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Allerdings befand sich der Mann auf unser Fahndungsliste, dieser Remzi Berisha, nicht darunter. Auf die Akten des BKAs über diesen Serben habe ich leider keinen Zugriff. Vielleicht könntest du da nochmals intervenieren Kim? Fest steht, dass die Mitglieder dieser paramilitärischen Einheit seitdem diese Gruppe aufgelöst wurde, als Söldner weltweit unterwegs sind. Gegen entsprechende Geldzahlungen machen die alles. Die entsprechenden Unterlagen von Interpol liegen auf dem Server.“


    Diese nickte zustimmend. „Welche Ermittlungsansätze haben wir noch?“ Ihr Blick ging fragend in die Runde. „Herr Bonrath hat sich bei den Befragungen in diesem Hospiz, wo Boris Stojkovicz verstarb, sprichwörtlich die Zähne ausgebissen. Dort sollten Sie, Herr Gerkhan, auf jeden Fall nochmals nachbohren. Darüber hinaus haben wir zumindest eine ziemlich genaue Beschreibung des einen Täterfahrzeuges, das an ihrer beabsichtigen Entführung gestern beteiligt war. Die Zeugen sagten aus, dass es mit ziemlicher Sicherheit ein Kölner Kennzeichen war. Ihre beiden Chaos-Polizisten Turbo und Tacho sind sich sicher, dass das Kennzeichen K-00 7 war. Wenn dem so ist, ist es eine Fälschung. Laut Zulassungsstelle wurde dieses Kennzeichen nicht vergeben. Der Rest … !“ Sie zuckte die Schultern und machte eine wegwerfende Handbewegung. „reicht nicht aus um einen Halter oder was Ähnliches festzustellen. Herr Freund hat vorgeschlagen, nachdem der Überfall auf der A3 stattfand, alle Verkehrsüberwachungskameras im fraglichen Zeitraum im Umkreis zu überprüfen, ob irgendwo dieses Fahrzeug auftaucht. Denn davon können wir wohl ausgehen, die Täter hatten auf ihrer Flucht wohl kaum Zeit, dass gefälschte Kennzeichen zu tauschen.“


    „Frau Krüger!“, fiel ihr Semir fast schon entsetzt ins Wort, „wissen Sie, wie lange die Auswertung dieser Videoaufzeichnungen dauern wird?“
    „Haben Sie eine bessere Idee, Herr Gerkhan?“, gab sie zurück.
    Semir schüttelte den Kopf. „Nein! …“

    So gingen sie Punkt für Punkt alle Ermittlungsansätze durch. Der Türke musterte dabei eingehend die Magnetwand, auf denen Jenny die Kärtchen befestigt hatte. Er stand auf und las einen Namen nach dem anderen laut vor. Stück für Stück gingen die Drei alle Fakten zu genannten Personen durch und teilten die Arbeit unter sich auf. Mittlerweile war es später Nachmittag geworden und dem Türken war klar, es würde eine lange Nacht werden.

  • Anna war müde, einfach nur müde und wollte weiterschlafen. Unwillig brummte sie vor sich hin, als jemand ihre Schulter berührte und daran rüttelte. Irgendein Geflüster drang zu ihr durch.

    „Anna … Anna!“. Sie wollte nicht aufwachen, nicht zurück in die Wirklichkeit. „Anna … aufwachen! …. Ben!“ Mühselig öffnete die Ärztin die Augenlider und blickte in das aufgeregte Gesicht von Elena. „Ben … helfen!“
    In Sekundenbruchteilen war die junge Ärztin hellwach. Ihr Freund wimmerte lautstark vor sich hin. Seine Lippen bewegten sich … einzelne Wortfetzen … hallten im Raum. Elena wusste wie grausam man Ben gequält hatte. Seine Worte bestätigten jede Szene der Filmaufnahmen, die sie im Wohnzimmer unfreiwillig gesehen hatte. Anna eilte zu ihm und kniete vor ihm nieder. Unruhig wälzte er sich hin und her. Sein Oberkörper glänzte von einem dünnen Schweißfilm. Das Wimmern ging über in ein lautstarkes Stöhnen und endete in gequälten Schreien. Ben schrie ihren und Julias Namen, versuchte sich in seinem Fieberwahn aufzurichten, sich gegen ihre Berührungen zu wehren … schlug mit seinen Armen um sich und schrie in größter Not Annas Namen. Es zerriss ihr fast das Herz.


    *****


    Eine bizarre Finsternis hüllte Ben ein. Ein Dämon in der Gestalt des Grauhaarigen stand vor ihm. Das Gesicht war zu einer Fratze verzerrt, als er den Schockgeber immer und immer wieder auslöste. Bens Körper, er fühlte, wie er innerlich verbrannte, als wenn ein Strom glutheißer Lava durch ihn hindurchströmen würde. Sein Herz raste wie verrückt … Der Herzschlag hämmerte in seinen Schläfen. Der Schmerz in seinem Kopf brachte diesen fast zum Platzen. Dieses Druckgefühl machte ihn irre, er wollte all dem entfliehen. Rennen … Rennen … Er rannte durch einen dunklen Wald und stürzte in einen tiefen Abgrund.
    Er driftete ab und fand sich in einer anderen Realität wieder…. Auf einmal tauchten Anna und Julia auf, liefen Hand in Hand am Rheinufer spazieren … schoben beide einen Kinderwagen vor sich her … lachten miteinander … alberten ausgelassen wie zwei Teenager rum. Ein schwarzer Toyota raste über die Uferpromenade mit völlig überhöhter Geschwindigkeit heran. Sein Ziel waren die beiden jungen Frauen. Ben erkannte Gabriela Kilic hinter dem Lenkrad, sie grinste zu ihm hinüber, winkte ihm zu. Ihre Absicht war klar, sie wollte die beiden Frauen überfahren. … Er sah sich selbst, wie er an einem Eisstand, für sich und die beiden Mädels eine Portion Eis kaufen wollte. Er sah die Bedrohung auf die beiden Frauen zukommen, die ihm nach am wichtigsten in seinem Leben waren. Er schrie ihnen eine Warnung zu … Lauft weg … Lauft weg … sie hörten ihn nicht, waren in ihr Gespräch vertieft. Komm, lauf schneller Ben, renne! Rette die beiden, forderte seine innere Stimme ihn auf! In seiner Panik übersah er einen Treppenabsatz … er stolperte und stürzte unaufhaltsam die Treppe hinunter … auf einmal war da nur noch grenzenloser Schmerz, der sich über seine rechte Seite ausbreitete, jede Zelle seines Körpers durchdrang … Starr vor Entsetzen beobachtete er, wie unter dem Schreien der Menschen sowohl Annas, als auch Julias Körper durch die Luft gewirbelt wurden und vor ihm auf den Pflastersteinen blutüberströmt mit zerschmetterten Gliedern aufschlugen. Er schrie sein Entsetzen heraus, unfähig sich zu bewegen. …. Sein wirrer Geist gaukelte Ben Bilder vor, die so real waren und er befand sich mitten drinnen und konnte ihnen nicht entfliehen. Sie waren tot … tot … tot … Anna und Julia waren tot … er kroch mit gebrochenen Gliedern auf Anna zu … Sein Geist kannte kein Erbarmen mit ihm …


    Für einen Moment kam Ben aus seiner Schattenwelt zurück in die Wirklichkeit. Er bereute es augenblicklich. Der Schmerz, der in seinen Eingeweiden wütete, war übermächtig und schien auch in die letzte Zelle seines Körpers vorzudringen. Ihm war nicht bewusst, dass er laut vor sich hin stöhnte. Er versuchte seine Hände zu bewegen. Es ging nicht, sie wurden festgehalten. Der Schlachter war er wieder da, wollte er ihn schon wieder foltern? Er musste sich wehren, seine Augen öffnen, aber es ging nicht. Stimmen drangen wie durch dichte Nebelschwaden zu ihm durch. Für einen kurzen Augenblick war Ben richtig klar im Kopf und erkannte, dass Anna auf ihn einredete, ihn beruhigen wollte. Sie lebte, sie war bei ihm. Im nächsten Augenblick war sein Geist wieder in die Dunkelheit abgetaucht.


    In letzter Sekunde konnte Anna ihren Freund an den Schultern anfassen und zurück auf das Kissen drücken.

    „Schtt…. Scht … Ben beruhige dich! … Ich bin es Anna. …Alles wird gut! … Keiner tut dir was!“

    Sie ergriff seine Hand, hielt sie fest und streichelte ihm sanft über die Wangen. Ihre Stimme verfehlte nicht ihre beruhigende Wirkung auf ihm. Sein Körper entspannte sich. Sie trocknete mit einem Tuch seine Schweißperlen und umschlang mit der anderen Hand seine Hand.


    Fassungslos beobachtete Elena die beiden Verliebten. Welche Magie musste zwischen Ben und Anna herrschen, dass sie diesen Einfluss auf ihn haben konnte.


    Es gab noch weitere Beobachter der Szene: Gabriela und Camil, die unter der Tür standen.

    „Wie lange gibst du ihm noch?“, erkundigte sich die Kilic bei ihrem Begleiter.

    Der überlegte, schürzte kurz die Lippen und antwortete „Die Nacht noch … vielleicht noch den morgigen Tag, aber das war es dann! Ich kenne niemanden, der solch eine Schussverletzung ohne Krankenhaus länger überlebt hat.“ In Gedanken fügte er hinzu, der Kerl war ja schon halbtot durch die Folgen und Verletzungen der Folterungen.Mit einem selbstzufriedenen Grunzen nickte die Kroatin vor sich hin.

    „Gut! Dann sollte ich das Ableben von Ben Jäger ja noch live miterleben können. Du begleitest mich zum Treffen mit Hinrichsen und Brauer in Belgien und in Zürich.“

    Sie drehte sich um, um zurück ins Erdgeschoss zu gehen. Elena gab sie durch ein Fingerschnippen zu verstehen, ihr zu folgen. Der Schnauzbärtige, der ihr ebenfalls wortlos folgte, lauschte ihren weiteren Anweisungen.

    „Wir werden eventuell ein paar Tage weg sein. Sorge dafür, dass ausreichend Vorräte im Haus sind. Ich möchte nicht, dass die kleine Russin nochmals das Anwesen verlässt. Rede mit Remzi, der braucht noch einige Bauteile für die Bomben. Dragan soll sich darum kümmern, dass der Türke von ihm oder einen seiner Brüder beschattet wird. Die Zielobjekte müssen ausgekundschaftet werden.“

    Urplötzlich stoppte sie auf der obersten Treppenstufe. Ihr Blick war zuerst auf die Terrasse gerichtet, wo sich die Kovac Brüder mit Karten spielen, die Zeit vertrieben und wanderte zurück zu Camil.

    „Denkst du Remzi kommt mit den Kovac Brüdern klar und hält hier die Stellung?“

    „Ich denke, ich fahre selbst Elena nachher nochmals ins Einkaufszentrum, ich bin doch kein Hausmütterchen. Und nach Liste einkaufen, ist überhaupt nicht mein Ding. Vielleicht hat die Apotheke im Einkaufscenter auch Krücken oder wir fahren in ein Sanitätshaus. Wenn Remzi Krücken hat, sollte er mobil genug sein und dann sollte es funktionieren!“ – „Also gut! Meinetwegen nimm Elena mit, aber pass auf sie auf!“ – „Was sollen die Brüder mit Jägers Leiche machen? … Entsorgen!“


    In Gabrielas Augen blitzte es tückisch auf.


    „Entsorgen ist gut!“, sie kicherte wie irre vor sich hin, „legt die Leiche Gerkan vor die Haustüre oder in den Garten! Und weh, es gibt nicht ein paar gute Fotos oder ein Video von der Aktion!“

  • Anna war wieder alleine mit Ben. Seinen Kopf hatte sie auf ihren Schoß gebetet. Mit dem Rücken an der Wand gelehnt, streichelte sie ihm zärtlich mit ihren Fingerkuppen über die Wangen, redete auf ihn ein. Er war erneut in einen koma-ähnlichen Zustand gefallen. Keine Reaktion! Kein Stöhnen … nichts. Regungslos lag er da. Anna hatte furchtbare Angst, dass er daraus nicht mehr erwachen würde, die Nacht nicht überleben würde. Sie kämpfte gegen ihre Erschöpfung und Müdigkeit an und versuchte alles in ihrer Macht stehende um das Fieber zu senken. In den Minuten, in denen sie sich ein wenig Ruhe gönnte, sackte ihr Kopf auf die Brust, fielen ihr die Augenlider zu. Draußen hatte die Abenddämmerung einsetzt und tauchte den Kellerraum in ein schummriges Licht. Ein weiterer Tag war verstrichen ohne das Semir aufgetaucht war. Ihre Hoffnung auf Rettung schwand mit jeder Stunde, die sie hier in diesem Verlies verbrachte. Ben musste dringend in ein Krankenhaus gebracht werden, wenn es noch eine Chance auf Rettung geben sollte.
    Da war es wieder, dieses verhasste Klick … klick, wenn die Zimmertür aufgeschlossen wurde und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Die Deckenbeleuchtung flammte auf und Anna legte schützend ihren Unterarm vor die Augen. Vorsichtig krabbelte sie unter Ben hervor und richtete sich auf.


    Wie zuletzt, wurde Elena zuerst in den Raum geschickt, gefolgt von der Kilic. Ihr Hass und ihre Wut auf die grau-äugige Hexe und ihre Gehilfen verliehen Anna Kraft und eine innere Stärke. Furchtlos erwiderte sie den Blick von Gabriela. Der jungen Ärztin war klar, dass sich die Hexe nur an ihrem Leid und Bens Qualen amüsieren wollte. Doch diese Blöße würde sie sich nicht mehr geben, das hatte sie sich geschworen.
    Die junge Russin hatte ihren Blick nach unten gerichtet. Ihr weißes Top-Shirt und ihre Jeansshorts waren vorne mit Blutflecken übersät. Mit Essen und Getränken bepackt, schlich sie auf die Bodenmatte zu und stellte sie dort ab. Anna erschrak, als sie Elenas Gesicht näher betrachtete. Über deren linken Auge und auf der Wange waren ein Cut. Das linke Auge war blutunterlaufen und dick angeschwollen, ebenso wie die verletzte Wange und die Lippen. Jemand musste die junge Frau mit Schlägen fürchterlich verprügelt haben. Ohne auf Gabriela zu achten, nahm Anna die junge Frau mitfühlend in den Arm, die dabei schmerzverzerrt zusammenzuckte.


    „Oh mein Gott Elena, was haben die mit dir gemacht?“


    Anna spürte wie die Russin ihr, verdeckt durch ihren Körper, etwas in den Hosenbund schob. Ihre Miene wirkte dabei wie versteinert. Statt ihrer beantwortete Gabriela Annas Frage.
    „Die junge Dame war ungehorsam und wer nicht hören will, muss fühlen!“ Die Kilic trat näher heran und schaute Elena direkt in die Augen „Das nächste Mal stirbst du Miststück, verstanden!“ Die junge Russin nickte demütig und senkte ihren Blick schuldbewusst zu Boden. „Und jetzt schleich dich nach oben in die Küche! Die Männer haben Hunger!“
    Die Russin nahm wortlos die verschmutzte und durchschwitzte Wäsche sowie das gebrauchte Geschirr mit. Voll bepackt schlich sie an Gabriela vorbei aus dem Raum.


    Elena war regelrecht vor Gabriela zurück in ihre Küche geflüchtet. Sorgsam streifte ihr Blick im Raum umher, ob sie alle verräterischen Spuren beseitigt hatte. Aus dem Gefrierfach des Kühlschranks holte sie sich einen Kühl-Akku, wickelte ihn in ein Geschirrtuch, legte ihn auf die Schwellungen der linken Gesichtshälfte. Anschließend setzte sie sich auf einen der Barhocker, die vor der Anrichte standen. Der Braten schmorte im Ofen und verbreitete einen angenehmen Geruch. Mit geschlossenen Augen dachte sie über die vergangene Stunde nach.


    Im Nachhinein verfluchte die kleine Russin ihren bodenlosen Leichtsinn. Niemals hätte sie erwartet, dass Gabriela ihre Einkäufe kontrollieren würde. Als sie zwischen den Lebensmitteln die Faltpackung mit dem Antibiotikum entdeckt hatte, war die Kroatin regelrecht ausgerastet. Rücksichtslos hatte Gabriela auf die junge Frau eingeprügelt. Vor Schmerzen schreiend und wimmernd, war sie auf dem Fliesenboden in der Küche gelegen. Unaufhaltsam war ihr das Blut aus dem Mund und der Nase gelaufen. Wenn Camil nicht beherzt dazwischen gegangen wäre, da war sich Elena sicher, hätte die Kroatin sie in dem Moment totgeschlagen oder totgetreten. Der Schnauzbärtige hatte Gabriela an der Schulter gepackt und von ihrem Opfer weggerissen.
    „Verdammt es reicht jetzt. Ich denke Elena hat ihre Lektion gelernt!“, brüllte er die Kroatin an. Deren Augen loderten ihn hasserfüllt an. Doch diesmal ließ sich Camil nicht einschüchtern. Er hatte von seinem Freund Remzi einiges erfahren, wie die Kroatin tickte und wie man mit ihr umgehen musste. „Schon vergessen? … Wir haben einen Deal … Elena gehört mir!“


    Geifernd vor Wut hatte Gabriela von ihrem Opfer abgelassen. Camil blieb wie ein Schutzwall vor der jungen Russin stehen. Die Kroatin ließ ihren Blick auf den Boden umherschweifen und entdeckte die Tablettenschachtel. „Keine Tabletten für Jäger!“ Bei diesen Worten trat sie mit den Absätzen ihrer Stiefel auf die Tablettenschachtel ein, um sie anschließend in die Gästetoilette zu werfen und runterzuspülen. Danach kehrte sie in die Küche zurück, wo Camil im Begriff war der jungen Frau beim Aufstehen zu helfen.
    „Keiner hilft Jäger, wenn ich das nicht will! Noch mal so eine Einlage und du kannst deinem Schätzchen Rashid sofort folgen! Davor schützt dich nicht einmal mehr Camil!“, drohte ihr Gabriela, wobei sie sich zu ihr runterbückte und Elena brutal am Kinn anfasste. Diese hatte vor Schmerz aufgeschrien. Daraufhin war die Kroatin von der Küche aus auf die Terrasse zu den Kovac Brüdern gestürmt, die den Rest ihres Wutanfalls abbekamen.


    Camil war bei Elena in der Küche geblieben und hatte sich an den Türrahmen gelehnt. Er hatte sich eine Zigarette angezündet, an der er genussvoll sog. In seiner Hosentasche vibrierte sein Handy. Bereits am Klingenton erkannte die Russin, dass es sich um die Freundin des Serben handelte. Vertieft in sein Telefongespräch, achtete der Schnauzbärtige nicht mehr besonders auf Elena. Diese nutzte die Gunst der Stunde. Unter dem Vorwand sich das Blut aus dem Gesicht waschen zu wollen und ihre Verletzungen zu versorgen, war sie mit zwei Geschirrtüchern in der Hand in die Gästetoilette gehuscht. Die Tür ließ sie angelehnt. Während sie laut vor sich hin gestöhnt hatte, hatte sie beherzt in die Kloschüssel gegriffen. Ihre Hoffnung war nicht enttäuscht worden, die sperrige Tablettenpackung war in der Krümmung des Abflussrohres hängengeblieben. Misstrauisch über die Schulter blickend, holte sie die beschädigten Blister-Packungen aus dem aufgeweichten Karton und ließ die Pappschachtel wieder in der Toilette verschwinden. Die Blister-Packungen verschwanden in ihrem Hosenbund. Anschließend richtete sie sich auf, stellte sich vor den Spiegel und tupfte sich mit Toilettenpapier sich das Blut aus dem Gesicht. Die verwendeten Tücher warf sie achtlos in die Toilette und spülte sie hinunter. Als Camil die Tür aufstieß, um Elena zu kontrollieren, brummte er zufrieden. Die stand vor dem Spiegel und kühlte mit einem zusammengerollten Geschirrtuch die Verletzungen im Gesicht.


    Während der Zubereitung des Abendessens gelang es ihr, in unbeobachteten Momenten die Blister-Packungen nochmals abzuspülen, die Kunststoffverpackung zu trocknen und die beschädigten Tabletten über den Ausguss der Spüle verschwinden zu lassen.

  • Nachdem die Brünette den Raum verlassen hatte, widmete sich Gabriela Kilic wieder Anna und Ben. Genüsslich leckte sie sich mit ihrer Zungenspitze über die Lippen. Mit der Spitze ihrer Stiefel stupste sie den am Boden Liegenden an und schob die Zudecke zur Seite. Nachdenklich musterte sie den Verletzten, dessen Körper mit einem Schweißfilm überzogen war. Wieder trat sie Ben zielgerichtet mit der Spitze ihres Schuhes leicht in die linke Seite. Vom Verletzten kam keine Reaktion. Es schien, als wäre dieser schon in eine andere Welt ohne Schmerzen abgetaucht.


    „Ben … Ben ….!“, schrie Anna auf und brachte ihren Körper schützend zwischen ihm und Gabriela. „Wenn du Hexe es wagst, ihn noch einmal anzufassen, kratze ich dir die Augen aus!“, gab sie wütend fauchend von sich.
    „Oh, wow! … Das Löwenweibchen verteidigt ihr Junges!“, kam von der Kroatin amüsiert zurück. Wie Anna es erwartet hatte, zückte Gabriela ihre Pistole und zielte damit auf ihren Oberkörper.
    „Na los! Schieß doch!“, antwortete Anna herausfordernd und stellte sich furchtlos hin. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust. Ihr Herzschlag raste, ihre Handflächen schwitzten und ihre Nackenhärchen stellten sich vor Angst auf. Dennoch schaffte sie es, ihre Mimik im Griff zu behalten und die Kroatin konnte darin keine Spur von Angst erkennen. „Der grauhaarige Zombie im ersten Stock wird wohl wenig begeistert sein, wenn du mich einfach über den Haufen knallst, du Hexe!“
    Der Gesichtsausdruck von Gabriela verfinsterte sich. Mit dieser Reaktion der Ärztin hatte sie nicht gerechnet. Woher wusste dieses Miststück, dass sie Remzi als Beute versprochen war und sie an dieses Versprechen gebunden war. Entsprechend wütend brummte sie Anna an: „Treib es nicht zu weit Schätzchen sonst…!“
    „Was sonst?“, fragte diese herausfordernd.
    Gabrielas Kehle entwich ein undefinierbares Knurren. Sie trat einige Schritt zur Seite, weg von Ben, bückte sich und hob den Rettungsrucksack auf.
    „Keine Sorge, ich lass dir noch ein bisschen das Vergnügen ihn abkratzen zu sehen! Kümmere dich mal schön weiter um ihn!“ Sie hielt Anna den Rucksack entgegen. Als diese zugreifen wollte, zog sie ihn zurück. „Den Rucksack und das Zeug darin, wirst du wohl ab sofort nicht mehr brauchen, so wie der Kerl aussieht.“
    Daraufhin stapfte Gabriela in Richtung Tür. Bevor sie diese verschloss, wandte sie sich nochmals Anna zu, die wie angewurzelt neben Ben auf der Bodenmatte stand.
    „Angenehme Nachtruhe, Schätzchen!“, verspottete sie Bens Freundin und verschloss den Raum sorgfältig.


    Wieder allein im Zimmer ließ sich Anna neben Ben auf die Bodenmatte sinken. Sie war sich nicht sicher, wer diese Runde in dem merkwürdigen Spiel zwischen ihr und Gabriela gewonnen hatte. Ben hatte von alle dem nichts mitbekommen. Die Schattenwelt hielt ihn gefangen. Sorgsam deckte ihn die Dunkelhaarige ihn wieder zu und tastete nach dem Gegenstand, den die junge Russin ihr in den Hosenbund geschoben hatte. Anna glaubte zu träumen, als sie zwei Blister-Packungen eines Antibiotikums in der Hand hielt. Es war exakt jenes Medikament, das sie heute Morgen auf dem Rezept notiert hatte. Sie blickte sich suchend im Raum um. Der zerknüllte Zettel war verschwunden. Anna glaubte zu wissen, wofür die junge Frau die Prügel kassiert hatte. Es glich einem Geschenk des Himmels für das Elena scheinbar verdammt viel riskiert hatte, ihr Leben riskiert hatte. Anna versuchte dieses Wissen aus ihrem Verstand zu verdrängen. Fast die Hälfte der Tabletten fehlte, waren aus der Blister-Packung gedrückt worden. Sie zählte die verbliebene Stückzahl durch, achtzehn kleine Pillen um Bens Leben zu retten. Die Ärztin in ihr kam wieder zum Vorschein. Fast schon routiniert zerkleinerte sie zwei der gelben Pillen, löste sie in Flüssigkeit auf und zog sie in eine der Einwegspritzen, die ihr geblieben waren. Anschließend bettete sie Bens Kopf auf ihrem Schoß. Sanft legte sie ihren Zeigefinger und Ringfinger auf seinen Kehlkopf und fühlte wie sich sein Kehlkopf bewegte. Völlig unerwartet schlug er dabei seine Augen auf. Doch sein Blick ging ins Leere irgendwie an ihr vorbei.


    „Ben! … Ben!“, sprach sie ihn an. Sein Blick begann sie zu fixieren. „Du musst schlucken! Hörst du!“ Anna schüttelte die Einwegspritze und führte deren Spitze in den Mundwinkel ein. Langsam drückte sie ein wenig Flüssigkeit in seinen Mund, strich über den Kehlkopf und wartete bis er geschluckt hatte.
    „Sehr gut mein Schatz!“, lobte sie ihn „Komm … den Rest auch noch!“


    Geduldig flößte sie ihm das Medikament ein und noch ein wenig Flüssigkeit hinterher. Erschöpft fielen ihm wieder die Augen zu. Wie schon viele Male vorher tauchte sie das Gästehandtuch in eine Schüssel mit kaltem Wasser. Zärtlich tupfte sie den Schweiß von seiner Stirn, wusch seinen Körper damit ab und redete dabei in einem endlosen Monolog auf ihn ein.


    „Ich kenne jeden Zentimeter deiner Haut … habe jede deiner Wunden gesehen … weiß was man dir angetan hat … doch hörst du mich … du musst kämpfen. So lange du nur einen Atemzug noch machst, werde auch ich um dein Leben kämpfen … Du darfst nicht aufgeben.“

  • Elena putzte die Küche und bereitete das Essen für die Söldner und Gefangenen für den kommenden Tag vor. Die Kovac Brüder hatten sich in ihre Schlafräume über der Garage zurückgezogen. Camil saß im Wohnzimmer vor dem überdimensionierten Fernseher und lauschte den Lokalnachrichten, während er sie durch die geöffnete Tür beobachtete. Sobald sie mit ihrer Arbeit fertig war, würden sie sich in sein Zimmer zurückziehen.


    Ihre Finger griffen in die Hosentaschen ihrer Shorts und spielten mit dem Stückchen Papier, das sich darin befand. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Auf dem Notizzettel hatte ihr Anna am Vormittag die Handynummer von Semir Gerkhan notiert und ihr klar gemacht, sie müsse nur diese Nummer anrufen und dem Türken erklären, dass sie wüsste wo Ben und Anna sich aufhalten. Den Rest, so war die Hoffnung der Ärztin, würde der Autobahnpolizist mittels Handyortung erledigen. Elenas Problem war, sie kam an kein Handy ran. Selbst als sie die vergangene Nacht bei Camil verbracht hatte, war ihr Versuch fehlgeschlagen. Das Display des kleinen Smartphones war durch Fingerabdruckscan abgesichert gewesen.


    Lautstarkes Gebrüll aus dem oberen Stockwerk riss Elena aus ihren Gedanken. Zwischen Gabriela und Remzi war ein heftiger Streit in Kroatisch entbrannt. Anfangs verstand sie nicht, um was es dabei genau ging. Einzelne Gesprächsfetzen drangen bis zu ihr in die Küche. Da waren die unverständlichen Worte des Grauhaarigen, die die Kroatin in einer schrillen sich überschlagenden Tonlage beantwortete. „Kein 5-Sterne Hotel …. Ich allein bestimme, was mit den Gefangenen geschehen soll! …. Keiner … Du spinnst wohl! … Hirnverbrannte Idee … !“ In der Lautstärke um einige Dezibel lauter, brüllte Remzi zurück „Unzählige Treppenstufen …. Krücken … Wie soll das funktionieren?“


    Mit einem donnernden Knall flog die Türe zu Remzis Schlafzimmer zu. Gedämpft und für die anderen Bewohner des Hauses nicht hörbar, ging der Streit zwischen Gabriela und Remzi in die nächste Runde.


    *****
    Es wurde eine Höllennacht für Anna. Das Fieber wütete in Bens Körper. Mit jeder Stunde schwand das Leben mehr und mehr aus seinem Körper. Ihr war klar, dass er dabei war auf die andere Seite abzudriften. Sie hatte ihm die maximale Dosis des Antibiotikums verabreicht.


    „Nimm es an Ben! Bitte nimm das Medikament an!“, appellierte sie verzweifelt und wusste doch, es blieb ihr nichts anderes übrig als abzuwarten.


    Löffelweise flößte sie ihm Flüssigkeit ein, Tee, Wasser, Brühe, immer in der Hoffnung, er möge sich nicht verschlucken. Zwischendrin kühlte sie seine Stirn, trocknete die Schweißperlen, legte ihm neue Wadenwinkel. Doch das Fieber sank nicht. In der einen Minute betete sie um das Leben ihres Liebsten, in der nächsten Minute begann sie haltlos zu fluchen und vor Hilflosigkeit vor sich hinzuschluchzen. Die Dunkelhaarige war nicht bereit aufzugeben, so lange noch ein Funken Leben in ihrem Geliebten war.
    Irgendwann war der Punkt erreicht, wo ihre Grenze der Belastbarkeit überschritten war. Sie konnte einfach nicht mehr, war am Ende ihrer Kräfte angelangt. Völlig erschöpft schmiegte sich an ihn heran. Sie wusste einfach nicht mehr weiter und wollte Ben so nahe wie möglich sein, wenn es zu Ende ging. Sein Herzschlag raste in ungeahnten Dimensionen, sie konnte es deutlich unter ihrer Hand spüren, die auf seinem Oberkörper ruhte. Sie hatte wie vor zwei Tagen, seinen Kopf auf ihren Arm und so nahe an ihrer Brust gebetet, dass er ihren Herzschlag hören konnte. Ihre Finger strichen durch das schweißnasse Haar, während sie, wie beschwörend auf ihn einsprach. Sie versuchte seinen Geist in die Realität zurückzuholen. Tränen rannen ihr unaufhaltsam über ihre Wangen. Zärtliche Küsse hauchte sie auf sein Gesicht.


    „Ich möchte dich nicht verlieren, hörst du? … Denk an unser Kind! … Denk an unsere gemeinsame Zukunft … unsere Pläne … du kannst mich doch nicht im Stich lassen!“


    Diese und andere Worte sprach sie in einem endlosen Monolog auf ihn ein. Es würde ihr das Herz brechen, wenn Ben hier und jetzt in ihren Armen starb.


    *****
    Bilder tauchten in seiner Erinnerung auf, diese Augenblicke der Qual und Pein in der Folterkammer, verbunden mit diesen unendlichen Schmerzen. Der Schmerz wütete in jeder Faser seines Körpers, einfach überall, ließ ihn nicht los. Es kam ihm vor, als würde sein Körper in einem wahren Höllenfeuer schmoren. Ben wollte dem ganzen entrinnen … fliehen … weg einfach nur weg … irgendwo hin.


    Doch da war noch etwas anderes. Diese STIMME! Ihre Stimme, die vertraute Stimme seiner Freundin ANNA, in der ein Zauber lag, der ihn magisch anzog … sie lockte ihn, vermittelte seiner Phantasie den Wunschtraum nach einer kleinen Familie … nach einem Kind … nach seinem Baby, das er in seinen Händen trug, sanft in seinen Armen wiegte, … nach einem kleinen Jungen, mit dem er am Strand Sandburgen baute … auf dem Spielplatz herumtollte, der Traum von seinem eigenen KIND.


    Bens Geist wanderte zwischen der düsteren Halbwelt voller Schmerz und Qual, seinem Wunschtraum nach einer eigenen Familie und dem hellen Punkt in der Ferne, der die Illusion von Freiheit und Erlösung von allem versprach, hin und her.

  • In den frühen Morgenstunden, die Dämmerung kündigte den neuen Tag an, übermannte ihre Müdigkeit Anna endgültig. Die Augenlider fielen ihr zu und sie schlief ein. Jemand stieß ihr unsanft in die Seite.
    „Schätzchen, Zeit zum Aufwachen!“


    Aus übermüdeten Augen blinzelte Anna nach oben, nachdem sie sich von Ben gelöst hatte. Gabriela stand wie ein Racheengel über ihr und blickte sie aus ihren kalten grauen Augen an, in der eine gewisse Fassungslosigkeit stand, dass dieser verhasste Mann noch atmete.


    „Ich kann es einfach nicht glauben, der Kerl lebt immer noch!“
    Die Kroatin lief um den Verletzten herum, bückte sich herunter und zog die verschwitzte Zudecke mit zwei Fingern weg. Angewidert ließ sie diese zu Boden fallen. Eingehend begutachtete sie den nackten Polizisten, wie ein Stück Vieh, das auf einer Auktion zum Verkauf angeboten wurde.


    Anna hatte sich von Ben gelöst, sich aufgerichtet und stand Gabriela gegenüber. Jedoch fiel ihr Blick voller Mitgefühl und Sorge auf ihren Freund. Dessen Gesicht, mit all seinen Schwellungen und Blutergüssen, glich mehr der Maske eines Zombies aus einem Horrorfilm, als die eines Menschen. Die Wangen waren durch das Fieber leicht gerötet. Der Rest seiner Gesichtszüge war aschfahl. Sein einstmals muskulöser Körper war abgemagert. Die Rippen zeichneten sich unter der Haut ab. Hämatome, die in allen Farbtönen von blau-rot bis hin zu gelb-grün schillerten, überzogen zusammen mit unzähligen Verletzungen seinen Körper.
    „Lass ihn in Frieden!“ fauchte Anna ihre Widersacherin an, schnappte sich die Zudecke und bedeckte Bens Blöße. Die quittierte die aufmüpfige Antwort mit einem gehässigen Lachen.


    „Auf geht‘s! Verbandswechsel bei Remzi steht an und diesmal ohne Sondereinlage von DIR!“, befahl sie der Ärztin.
    Um ihren Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, zog sie dabei ihre Pistole aus dem Holster am Rücken. Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen trug Gabriela heute eine hautenge schwarze Jeans und ein eng anliegendes Top. Außerdem hatte sie darauf verzichtet, ihren verkrüppelten Arm durch eine Jacke zu kaschieren.


    Auf dem Weg ins Obergeschoß versuchte Anna irgendwo ein Lebenszeichen von Elena zu erhaschen. Als sie das Schlafzimmer des Grauhaarigen betraten, verschloss Gabriela die Tür und blieb wachsam am Türblatt angelehnt stehen. Argwöhnisch beobachtete sie jeden von Annas Handgriffen. Auf dem Beistelltisch lag die volle Ausrüstung für eine optimale Wundversorgung bereit. Zu gedröhnt von Alkohol und Schmerztabletten ließ Remzi die Prozedur des Verbandswechsels und der Wundversorgung über sich ergehen.


    Anna ging dabei nicht sehr zartfühlend vor, im vollen Bewusstsein, dass sie dem Verletzten mehr Schmerzen zu fügte, als unbedingt notwendig war. Jedes Mal wenn Gabrielas Folterknecht das Gesicht verzog, stöhnte, zischend die Atemluft ausstieß, verschaffte es der Ärztin abermals ein Gefühl der Zufriedenheit.


    Die Kroatin begleitete Anna zurück in das Kellerverlies. Dort wurden sie von Camil an der Tür erwartet, die nur angelehnt war. Der Schnauzbärtige nickte der Kroatin zu. Als Anna den Fitnessraum betrat und galt ihr erster Blick Ben. Stocksteif, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen, blieb sie stehen. Der Platz, auf dem ihr Freund gelegen hatte, war leer. Ihr Entsetzensschrei blieb ihr fast in der Kehle stecken.


    „Beeeeeeeeeeenn!“


    Ihr Magen krampfte sich zusammen, während ihr Pulsschlag zwischen ihren Schläfen hämmerte. Zurückgeblieben war auf der Bodenmatte eine Matratze, deren Stoffbezug mit Flecken von getrockneten Blut und menschlichen Ausscheidungen überzogen war. Die Zudecke lag am Fußende. Hinter ihr klang das diabolische Lachen von Gabriela auf.


    „Was habt ihr mit ihm gemacht? … Wo ist Ben?“, Annas Stimme überschlug sich fast. Die Angst um Ben raubte ihr in diesem Augenblick fast den Verstand. Sie drehte sich auf dem Absatz zum und gebärdete sich wie eine wildgewordene Furie. Mit ihren Fäusten hämmerte sie auf den Schnauzbärtigen ein und schrie ihn dabei immer wieder an: „Wo ist Ben?“

  • Irgendwann gelang es Camil, Annas Handgelenke zu umfassen und diese festzuhalten. „Verdammt, Weib! Beruhige dich!“, blaffte er sie mehrmals an.
    Die junge Frau spürte in dem Moment keinen Schmerz und rief nur einen Namen: „Ben!“
    „Ich bringe dich gleich zu ihm. Wir haben deinem halbtoten Bullenschwein nichts getan.“
    Es dauerte einige Sekunden bis Anna den Sinn der Worte begriff, die der Schnauzbärtige ihr ins Gesicht gebrüllt hatte. Langsam beruhigten sich ihr keuchender Atem und ihr Herzschlag.


    „Ihm ist wirklich nichts passiert?“, fragte die Ärztin vorsichtshalber nach und meinte so was, wie eine Spur von Mitleid in Camils Augen erkennen zu können, als dieser sie anwies: „Ja, keiner hat deinem Bullen was getan. … Sammle deine Sachen ein, ihr zieht in ein neues Etablissement um!“


    „Ich habe in diesem Raum außer meiner Arzttasche, ein bisschen Verbandsmaterial und ein paar Sachen nichts rumliegen.“, murmelte Anna, während sie sich von dem Söldner abwandte. Geschickt hob sie vom Boden ihre paar medizinischen Ausrüstungsgegenstände auf und stopfte sie in die schwarze Arzttasche. Anschließend huschte sie ins angrenzende Badezimmer, suchte auf die Schnelle die versteckten Medikamentenampullen zwischen den Badetüchern und ließ sie ebenfalls in der schwarzen Tasche verschwinden. Dabei ging ihr immer wieder durch den Kopf, was bezweckten ihre Entführer mit dieser Maßnahme? Welche neue Teufelei hatte diese Hexe, die lässig am Türrahmen lehnte und ihre grässliche Zigarillo rauchte, sich ausgedacht? Würden sie in den Weinkeller umquartiert werden, von dem ihr Ben erzählt hatte? Das wäre das sichere Todesurteil für ihren schwer kranken Freund. Nachdem die Ärztin das Badezimmer verlassen hatte, hielt sie für einige Augenblicke inne und ließ sie ihren Blick im Fitnessraum umherschweifen, in dem sie in den letzten Tagen so viele dramatische Stunden verbracht hatte. Mittlerweile hatte sie sich wieder beruhigt und ihre Emotionen wieder voll im Griff.


    Als sie an Gabriela vorbeiging, die hämisch vor sich hin kicherte, zischte Anna ihr wütend zu: „Du elendes Miststück! Das hast du nicht umsonst gemacht. Glaube mir, der Tag der Rache wird kommen! … Schneller als du glaubst!“


    Gabriela verfiel in einen diabolischen Lachanfall angesichts dieser in ihren Augen leeren Drohung. Wenn die Kleine wüsste, was ihr in den nächsten Tagen noch blühen würde. Die Ärztin hatte es schon richtig erkannt, sie war Remzis Beutestück. Camil umfasste Annas Arm und schob sie neben sich her in Richtung der Treppe. Die Kroatin folgte den beiden ins Erdgeschoß und machte einen Abstecher in die Küche, in der Elena das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine verstaute. Die junge Russin fuhr erschrocken zusammen, als die Stimme von Gabriela hinter ihr erklang.
    „Wenn du mit der Küche fertig bist, bewege dich in den Keller! Bis zum Mittagessen hat der Fitnessraum blitz sauber zu sein verstanden!“
    Elena nickte eingeschüchtert und atmete erleichtert auf, als sich die Dunkelhaarige entfernte.


    Zu ihrer Verwunderung wurde Anna von Camil wieder zurück ins Obergeschoß gebracht, wo sich nach ihrem Wissen die Schlafzimmer der Villa befanden. Ihr Weg führte ans andere Ende der Galerie, die Zimmertür lag genau gegenüber von Remzis Schlafgemach.


    „Na los, geh schon rein!“, forderte der Serbe sie auf, an ihm vorbei ins Zimmer zu gehen.
    Er gab ihr einen leichten Schubs, schloss die Tür und drehte den Schlüssel um. Tatsächlich, gegenüber von der Tür stand ein Doppelbett aus Schmiedeeisen, welches weiß lackiert. Auf der Matratze lag Ben. Man hatte ihn in dem Bettlaken, auf dem Anna ihn zusammen mit Elena vor zwei Tagen gebettet hatte, einfach nach oben getragen. Rechts und links vom Bett befanden sich raumhohe Fenster, die teilweise brusthoch durch Gitter abgesichert waren. Die Gardinen waren mit roher Gewalt entfernt worden. Vereinzelte Fetzen hingen noch in der Leiste.


    Ihr Blick schweifte kurz im Raum umher. Links von der Zugangstür stand eine kleine Kommode mit drei Schubladen, das helle Birkenholz passte farblich zu dem Bett. Die leere, halb aus der Wand gerissene Halterung darüber verriet Anna, dass sich dort scheinbar einmal ein Fernsehgerät befunden hatte. Links an der Wand stand großzügig dimensionierter Kleiderschrank mit Schiebetüren, der aus dem gleichen Holz gefertigt worden war. Auf den Türen selbst waren Spiegel angebracht worden, die den Raum noch optisch vergrößerten, bis auf einen, der in unzählige Teile zersprungen war. Auf der rechten Seite war der Zugang zum Badezimmer. Die Tür zum angrenzenden Badezimmer stand einladend offen. In der Ecke hinter der Tür stand ein Schaukelstuhl aus hellem Rattan.


    Anna verstand die Welt nicht mehr. Wieso hatte man sie und Ben hier in dieses Zimmer gebracht, bei dem es sich offensichtlich um eines der früheren Gästezimmer handelte. Sie vermutete dahinter eine erneute Riesenschweinerei der Kroatin oder steckte dieser erbarmungslose Söldner Remzi dahinter? Ihr Blick wanderte wieder zurück zu Ben. Schwach hob und senkte sich sein Brustkorb. Sie eilte zum ihm hin. Ihr Freund lag auf der bloßen Matratze, nur mit diesem dünnen Lacken bedeckt. Kein Kissen, keine wärmende Zudecke. Sie kniete vor dem Bett nieder. Seine Augenlider flatterten. Unvermittelt schlug er die Augen auf. Anfangs schien sein Blick durch sie hindurch zu gehen und irrte im Raum umher. Sie umschlang seine Hand und er begann sie zu fixieren. Er starrte sie an und zu ihrer Überraschung veränderte sich der Ausdruck Augen, sein Blick wurde klarer. Anna hatte das Gefühl, als würde er sie erkennen.


    „Anna!“, hauchte er. Sie strich Ben über die Wangen, küsste ihn voller Freude zärtlich auf seine Lippen. „Ja mein Schatz! Wie fühlst du dich?“ – „Mir ist kalt! Furchtbar kalt!“ – Sein Körper bebte und fing an zu zittern. „Warte ich suche schnell nach einer Decke!“ Anna schob die Schranktüren auf, in der Hoffnung darin etwas Brauchbares zu finden und wurde bitterlich enttäuscht. Der Schrank war bis auf paar T-Shirts, die achtlos auf einem der Einlegeböden lagen, leer. Eilig zog sie die Schubladen der Kommoden heraus. In der Obersten befanden sich verschiedene Kleidungsstücke, die Anna nicht näher in Augenschein nahm. In der unteren Schublade wurde sie fündig. Darin lagen fein säuberlich zusammengefaltet einige Wolldecken und Bettlacken. Achtlos zog sie zwei Decken heraus und breitete sie über Bens Körper aus. Zusätzlich schlüpfte sie darunter, zog ihren Freund an sich und versuchte ihn mit ihrer Körperwärme zu wärmen.


    „Wird es besser!“ – Durch halb geschlossene Lider sah er sie an. Der fiebrige Glanz seiner Augen war unübersehbar. „Ich liebe dich Anna!“, murmelte er kaum hörbar und sie konnte nicht mehr feststellen, ob er noch bei Bewusstsein war oder wieder in seine Schattenwelt seiner Fieberträume abgetaucht. Leise sprach sie auf ihn ein, um ihn das Gefühl zu vermitteln, nicht alleine zu sein.

  • Plötzlich waren auf dem Gang vor der Tür Schritte und ein Gemurmel zu vernehmen. Da war noch ein Geräusch, das Anna nicht zuordnen konnte. Ein merkwürdiges tack … tack … tack. Der Schlüssel wurde im Schloss umgedreht und die Tür geöffnet. Unter der Tür stand Remzi, schwer atmend, auf Krücken gestützt, dahinter sein schnauzbärtiger Kumpel.


    Das Gesicht des Grauhaarigen hatte einen ungläubigen Ausdruck angenommen. „Der Kerl lebt ja tatsächlich noch!“ Er humpelte zwei Schritte in den Raum und betrachtete nachdenklich den Verletzten und Anna, drehte seinen Kopf über die Schulter. „Elena!“ brüllte er lautstark ins Treppenhaus, „beweg deinen Hintern hierher!“ Camil blickte seinen Kumpel fragend an. „Nehmt ihnen die Decken weg!“, er deutete mit einer Krücke Richtung der Fenster, „Oder du kannst der kleinen Wildkatze gleich eine Leiter an die Mauer zur Flucht hinstellen!“


    In der Zwischenzeit war Anna unter den Decken hervorgekrochen. Schützend stellte sie sich breitbeinig mit verschränkten Armen seitlich am Bett vor ihren Freund. Insgeheim bewunderte sie in diesem Moment den Grauhaarigen, der eine Bärenkonstitution haben musste. Wie hatte er es nach dem erlittenen Blutverlust geschafft, von seinem Bett bis hierher zu laufen, wenn auch mit Hilfe von Krücken. Kleine Schweißperlen lagen auf dessen Stirn. Mehr als einmal musste ihn sein Kumpel Camil stützen, als Remzi leicht wankte, weil der Kreislauf Probleme machte.


    Erleichterung machte sich in der Ärztin breit, als hinter Camil tatsächlich die zierliche Russin auftauchte. Sie lebte also noch. Ihre linke Oberlippe war dick angeschwollen und das linke Auge blutunterlaufen, dessen Schwellung so heftig war, dass sie nicht daraus schauen konnte. Ansonsten konnte sie so rein äußerlich keine weiteren Verletzungen an Elena entdecken. Der Schnauzbärtige erteilte der Russin einige Befehle, die Anna nicht richtig verstand, weil Remzi gleichzeitig zwei Schritte auf sie zu humpelte. Sie wich keinen Zentimeter zurück. In ihren Augen spiegelte sich ein trotziger und widerspenstiger Ausdruck, mit dem sie seinen gierigen Blicken standhielt. Es war ein Machtspiel ohne Worte. Unwillig brummte der Grauhaarige. „Falls du auf die Idee kommen solltest Schätzchen, über das Fenster abzuhauen, ist dein Lover tot. Verstanden! … Mach dir keine Hoffnungen! Ich warne dich nur einmal! Das Grundstück wird von einer hohen Mauer umgeben. Überall sind Bewegungssensoren eingebaut! Du hast keine Chance.“


    Anna glaubte ihm aufs Wort, denn auch Elena hatte ihr das Grundstück und die Alarmanlagen, mit denen es gegen unerwünschte Besucher abgesichert wurde, beschrieben. Eine Flucht durch das Überklettern der mächtigen Außenmauer war schier unmöglich. Remzi drehte sich um, mühselig auf seine Krücken gestützt, verließ er das Zimmer und steuerte sein eigenes Schlafzimmer an. Auf dem Korridor begegnete ihm Elena, die ihm alle Gegenstände, die für Ben und Anna bestimmt waren, einzeln zeigen musste. Camil stand unter der Tür und beobachtete die Szene wortlos. Die Russin brachte eine Daunendecke, zwei Kopfkissen und einige frische Kleidungsstücke für Anna.


    Zusammen zogen die Frauen das verschmutzte Laken unter Ben hervor, wobei sie äußerst behutsam vorgingen. Elena verschwand mit dem Laken und den Decken aus dem Zimmer und kehrte einige Minuten später, wie so oft in den letzten Tagen mit einem Korb vollgepackt mit Essen und Trinken zurück. Camil warf einen flüchtigen Blick auf die mitgebrachten Dinge und verließ zusammen mit der Russin das Zimmer. Sorgfältig wurde die Tür versperrt und Anna war wieder mit Ben allein.


    *****


    Zur gleichen Zeit auf der PAST
    Mit einem lauten Knall legte Semir den Telefonhörer zurück auf die Gabel. Susanne war neben ihm gestanden, während Frau Krüger an der Zugangstür zu Semirs Büro stehen geblieben war. Beide Frauen hatten dem Gespräch, das Semir über Lautsprecher geführt hatte, aufmerksam gelauscht. Der Kommissar hatte gerade mit Thomas Hauptmann vom LKA Düsseldorf, Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität, ein langes Gespräch geführt. Bis in die frühen Morgenstunden sind die verhafteten Mitglieder des Stojkovics Clans von Verhörspeziallisten des LKAs vernommen worden.
    Das Ergebnis war gleich Null.
    Keiner der Bandenmitglieder wusste etwas über die Entführung und den Verbleib von Ben und Anna. Der Kopf des Clans, Zladan Stojkovicz und einige seiner engsten Mitarbeiter hüllten sich in Schweigen. Dessen Frau war es gelungen, sich zusammen mit ihrer Tochter ins Ausland abzusetzen.


    Der Oberstaatsanwalt und die ranghohen Politiker der Stadt Köln brüsteten sich während des Vormittags in einer Pressekonferenz mit ihrem Fahndungserfolg und der erneuten Zerschlagung eines Mafiaclans. Kim Krüger, die ebenfalls zur Teilnahme eingeladen worden war, hatte dankend abgelehnt. Semir verfolgte die große Show des Hendrik van den Bergh und des Polizeipräsidenten live am Bildschirm mit. Susanne stand hinter ihm.


    „Diese Idioten stellen sich hin und schwärmen von ihren Fahndungserfolgen und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, was sie für tolle Kerle sind. Dabei haben wir nichts … absolut nichts in den Händen!“ Semirs Gesicht färbte sich vor Zorn dunkelrot. Wild gestikulierte er vor sich hin. „Wir haben nicht den blassesten Schimmer, wo Ben und Anna gefangen gehalten werden. Ob die beiden noch am Leben sind? Oder wo diese Kilic steckt! Und dieser Hinrichsen … unsere einzige Spur genießt den Schutz des Innenministers! … Des Innenministers – das muss man sich mal geben. Der hohe Herr Minister kann sich seine Drohung in den Allerwertesten stecken, wenn wir den verehrten Rechtsanwalt nicht in Ruhe lassen, können wir uns einen neuen Job suchen. Der kann mich mal … Der kann mich mal!“, brüllte der Türke wild herum und gleichzeitig tigerte er wie eine gefangene Raubkatze in einem Käfig in seinem Büro umher.
    Akten stapelten sich auf seinem Schreibtisch. Mit einem hilflosen Blick musterte er die ausgedruckten E-Mails, Telefaxe und Verhörprotokolle, die wild durcheinander auf seinem Schreibtisch dalagen. Wie oft hatte er diese in den vergangenen Stunden studiert? Immer und immer wieder, in der Hoffnung noch einen entscheidenden Hinweis zu entdecken. Seine Hilflosigkeit schlug um in Wut, grenzenlose Wut. Semir schrie: „Verdammt … Verdammt Ben! Anna! Wo seid ihr?“ Er stützte sich leicht vornübergebeugt mit seinen Handflächen auf der Schreibtischplatte ab. Sein Blick fiel auf die oberste aufgeschlagene Akte, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Er schrie erneut auf und wischte mit einer Handbewegung alles von seinem Schreibtisch herunter. Mit einem lauten Aufklatschen landeten die Akten und Blätter auf dem Fußboden.


    „Verdammt Gerkan, ich will Jäger und Frau Dr. Becker auch finden!“, meinte Kim Krüger in einem beruhigenden Tonfall. Er wendete den Kopf und blickte über seine Schulter. Die Chefin trat einen Schritt näher heran und umfasste die Schultern ihres Kommissars und drückte ihn sanft auf seinen Bürostuhl. „Nur wenn Sie durchdrehen, hilft das keinem. Am allerwenigsten den beiden Vermissten. Wir können diesem aalglatten Rechtsanwalt einfach nichts nachweisen. Susanne ist alle Anrufprotokolle der Physio-Praxis und der Kanzlei in der fraglichen Zeit durchgegangen. Es gibt nur eine Handy-Nummer, die zu einem Pre-Paid-Handy gehört, die regelmäßig während der Therapiestunden von Gabriela Kilic bei der Anwaltskanzlei angerufen hat. Der Name des Handy-Besitzers ist nicht zu ermitteln.“ Kim ließ den Türken los, trat einen Schritt zurück und verschränkte ihre Arme vor der Brust und schloss für einen Augenblick nachdenklich die Augen. Semir erhob sich aus seinem Drehstuhl, kniete sich auf den Fußboden und fing zwischenzeitlich mit Susannes Hilfe an, die verstreuten Akten und Papiere vom Boden aufzulesen.


    „Herr Gerkhan, lassen Sie das Susanne machen. Schnappen Sie sich Frau Dorn und fahren nochmals zu diesem Hospiz. Keine Krankenakte verschwindet einfach so. Nehmen Sie die Klinikleitung in die Mangel! Diese Krankenschwester, die regelmäßig Kontakt mit Rashid Stojkovicz hatte. Diese Frau weiß mehr als sie zugibt, da ist sich Herr Bonrath sicher. Bringen Sie diese Schwester Jutta Klotzbach wenn möglich zum Verhör mit auf die Dienststelle. Wir kommen noch dahinter, welche Leiche diese Frau im Keller begraben hat! Ich kümmere mich bei unserem lieben Staatsanwalt darum, dass wir für die Dame einen Haftbefehl wegen Verdunklungsgefahr bekommen.“


    Die Chefin schnappte sich den Telefonhörer des Telefons, das auf Semirs Schreibtisch stand, und hielt mit im Tippen der Rufnummer inne. „Scheiße!“, entfuhr ihr, „Das hat mir gerade noch gefehlt!“

  • Draußen auf dem Besucherparkplatz stieg Konrad Jäger aus seinem schwarzen Audi A8 aus und schaute sich suchend um, als würde er jemanden erwarten. Während sie Bens Vater weiter beobachtete, führte sie das beabsichtige Gespräch mit der Staatsanwaltschaft.


    „Das ist mir egal, was Du als Begründung in den Haftbefehl schreibst, wenn dir Verdunklungsgefahr zu wenig ist! …. Denke dir was aus! …“
    Kim Krüger ließ nicht eher locker, bis ihr Hendrik van den Bergh versicherte, sich selbst um einen Haftbefehl für Jutta Klotzbach beim zuständigen Amtsrichter zu kümmern.


    Neben dem schwarzen Audi hielt ein weißer Mercedes Kombi, dem ein Mann in Konrad Jägers Alter entstieg. Das schlohweiße schulterlange Haar rahmte das braungebrannte Gesicht des Mannes wie eine Mähne ein. Die beiden Männer begrüßten sich reserviert per Handschlag. Während Konrad Jäger, wie üblich einen eleganten taubenblauen Sommeranzug trug, trug sein gegenüber eine helle Jeans und ein kurzärmliges Baumwollhemd mit einer ärmellosen Weste darüber. Als die beiden gleich großen Männer die Eingangstür der PAST ansteuerten, wurde Kim bewusst, dass Konrad Jägers Begleiter für sein Alter eine athletische und muskulöse Figur hatte. Ihr war klar, wem der Besuch der beiden Männer galt, ihr. Deshalb zog sie sich in ihr Büro zurück. Durch die geöffnete Tür hörte sie, wie Herr Jäger Susanne begrüßte und zielstrebig in Richtung ihres Büros stapfte. Nach einmal klopfen, betraten die beiden Männer Kims Büro.
    Kim war schon gespannt, wen Bens Vater diesmal im Schlepptau hatte. Zum Glück war es diesmal nicht dieser rot-blonde Riese von einem Rechtsanwalt. Der ihr unbekannte Mann hatte ein sympathisches männlich geschnittenes Gesicht, was durch seinen sorgfältig gestutzten Kinn- und Schnurrbart noch unterstrichen wurde. Gleich seiner Haarfarbe war auch der Bart schlohweiß.


    „Guten Tag! Ich nehme an Sie sind Frau Krüger. Mein Name ist Johannes Becker, der Vater von Anna Becker. Ich denke, wir beide haben gestern miteinander telefoniert!“
    Kim erhob sich, nickte zustimmend und begrüßte die beiden Männer, die anschließend auf den Besuchersesseln Platz nahmen. Wie selbstverständlich übernahm Bens Vater die Gesprächsführung. Kim hatte ihre Hände auf der Schreibtischplatte abgelegt und die Finger ineinander verschlungen, während sie geduldig die Fragen von Konrad Jäger nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen und Suche der Entführten beantwortete. Hin und wieder warf Johannes Becker eine Bemerkung oder Frage zwischen rein. Man konnte ihm deutlich seine Verärgerung anmerken, weil seine Tochter trotz der offensichtlichen Bedrohung keinen Personenschutz durch die Polizei erhalten hatte.


    „Das wird ein Nachspiel haben Frau Krüger, seien Sie sich dessen sicher!“ Er erhob sich aus dem Stuhl, nestelte an seiner Hemdtasche herum und zog eine Visitenkarte heraus, die er an Kim weiterreichte. „Über meine Handynummer bin ich jederzeit erreichbar. Ich werde mir ein Hotel suchen und hier in Köln bleiben, bis meine Tochter gefunden wurde.“
    „Ich kann Sie ja verstehen, Herr Becker!“, versuchte Kim den verärgerten Mann etwas zu beschwichtigen. „Bitte glauben Sie mir und auch Sie Herr Jäger, wir unternehmen momentan alles Menschenmögliche um die beiden Vermissten zu finden!“


    Konrad Jäger stand ebenfalls auf und schickte sich an zu gehen. Nach einer kurzen Verabschiedung verließen die beiden Männer die PAST. Auf dem Parkplatz sprach Konrad Jäger Annas Vater an.
    „Herr Becker? Einen Moment noch!“ Der Weißhaarige, der bereits im Begriff war in sein Fahrzeug zu steigen, hielt einen Moment inne und blickte interessiert über das Wagendach hinweg zu Konrad Jäger.
    „Es tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennengelernt haben. Ich möchte ihnen gerne den Vorschlag unterbreiten, mein Gast zu sein und nicht in einem Hotel zu schlafen. Mein Haus ist groß genug …. Und … zu zweit lässt sich vielleicht diese Ungewissheit über das Schicksal unserer Kinder leichter ertragen!“
    „Gerne Herr Jäger! Doch zuerst möchte ich mir diesen Oberstaatsanwalt einmal zur Brust nehmen. Werden Sie mich begleiten?“
    „Selbstverständlich! Der Herr soll sich mal warm anziehen!“


    Die beiden Männer unterhielten sich noch kurz um die weitere Vorgehensweise abzustimmen. Man beschloss zuerst zu Konrad Jägers Anwesen zu fahren und anschließend mit einem Fahrzeug zur Kölner Staatsanwaltschaft.


    ****
    Zurück in der Villa … irgendwo
    Anna runzelte die Stirn. In düsteren Gedanken versunken, starrte sie die Zimmertüre an, als könne diese ihr eine Antwort auf diese eine Frage geben.
    Warum?
    Warum hatte man sie in dieses Zimmer gebracht?
    Die Ungewissheit schürte ihre Ängste. Sie fühlte sich elendig und schutzlos dieser hinterlistigen Schlange Gabriela ausgeliefert, die für die Ärztin die dämonische Verkörperung des Bösen war.


    Sie wischte mit ihren Händen über das Gesicht und versuchte diese zu vertreiben. Es wurde Zeit, dass sie sich um Ben kümmerte. Beim Umbetten hatte sie vor ein paar Minuten entdeckt, dass sich Teile des Verbandes, der die Bauchwunde bedeckte, sich durch frisches Blut rot gefärbt hatte. Behutsam löste sie die Bandage und atmete erleichtert auf, als sie erkannte, dass es sich hauptsächlich um Wundsekret handelte, das aus der Drainage gesickert war. Sie erneuerte die Wundauflage und den Verband. Anschließend versorgte sie die unzähligen anderen kleinen und großen Verletzungen, die man ihm zugefügt hatte. Mit Wehmut betrachtete sie den kümmerlichen Rest von Verbandsmaterial, der ihr noch zur Verfügung stand. Sorgfältig deckte sie Ben zu und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn, die sich heiß anfühlte. Ihr Freund hatte nach wie vor hohes Fieber. Sein Brustkorb hob und senkte sich in einem schnellen Atemrhythmus. Immer wieder erwachte er in den kommenden Stunden aus seiner Bewusstlosigkeit. Aber es war kein wirkliches Erwachen. Seine Augen glänzten fiebrig und seine Blicke schienen durch Anna hindurchzugehen. Ben schien sie überhaupt nicht richtig wahrzunehmen. Er redete wirr und zusammenhanglos vor sich hin und durchlebte mehr als einmal diese grausamen Stunden der Folterungen. Sein Körper bäumte sich schmerzhaft auf und fiel wieder in sich zusammen.

    Zwischendrin gab es Momente, wo er ein bisschen wacher und ansprechbar war, die Anna nutzte, um ihm Flüssigkeit und das Antibiotikum einzuflößen. Trotzdem hatte Anna das Gefühl, dass das Fieber im Vergleich zum gestrigen Tag nicht weiter angestiegen war. Sie hatte sich den Schaukelstuhl neben das Bett geschoben und hielt Bens Hand umschlungen. Nachdenklich betrachtete sie sein Handgelenk. Auf der Wunde hatte sich dicker Schorf gebildet. Um Verbandsmaterial zu sparen, hatte sie nur ein wenig Salbe aufgetragen. Zwischendurch erhob sie sich, um im angrenzenden Bad im Waschbecken das kleine Gästehandtuch im kühlen Wasser auszuwaschen. Beharrlich tupfte sie ihm anschließend den Schweiß von der Stirn und dem Oberkörper.


    Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen drangen durch die geschlossene Tür Geräusche der anderen Bewohner des Hauses zu ihr durch. Zimmertüren wurden mit einem lauten Knall zugeschlagen, Gabrielas schrille Stimme erklang im Treppenhaus, sie schien sich mit einem der Männer zu lauthals zu streiten. Eine weitere Männerstimme mischte sich in das Gespräch ein. Leider verstand Anna kein Wort, weil sich die Streithähne in einer fremden Sprache anbrüllten. Also doch nicht alles Eitelkeit und Sonnenschein unter den Herrschaften, dachte sie bei sich.


    „Anna!“, sagte Ben leise. – „Mein Schatz!“ – Seine dunkelbraunen Augen blickten durch sie hindurch. „Hörst du es auch?“ – „Was?“ – „Die Brandung! … Die Wellen, wie sie gegen die Felsen schlagen. Ist es nicht herrlich hier am Meer? …. Der Sand ist so himmlisch weich … so warm … Komm lass uns baden gehen!“


    Es versetzte Anna einen Stich mitten ins Herz, unwillkürlich schossen ihr die Tränen in die Augen. In ihr kehrten die Erinnerungen an diesen unvergesslichen Urlaub zurück. Zwei Tage waren sie nicht aus dem gemieteten Landhaus gekommen, hatten sich hemmungslos und wild geliebt. Sie betrachtete versonnen Bens Fingerspitzen, seine Hände, seine Lippen. Welche Wonnen hatten diese auf ihren Körper gezaubert. Für einen Moment schloss sie die Augen und glaubte Bens zärtliche Hände auf ihrem Körper zu spüren. Ihre Mitte fing bei der Vorstellung erregt an zu pochen. Sie hätte sich keinen schöneren Zeitpunkt oder Ort als diesen Traumurlaub in der Toscana vorstellen können, um ein Kind mit Ben zu zeugen. Mittlerweile wusste sie ja, dass sie schon damals schwanger war.


    Sie rutschte aus dem Schaukelstuhl und kniete sich auf den Fußboden vor dem Bett hin. Voller Hingebung begann Anna die Fingerkuppen von Bens Hand zu küssen, begann sehnsuchtsvoll seinen Körper mit Liebkosungen zu überschütten.


    „Oh mein Gott Ben! Werden wir das hier überleben? … Wie wird es weiter gehen? Wirst du all das, was man DIR angetan hat, überwinden können … vergessen können? … Wie wird das alles enden?“


    Ben murmelte leise vor sich hin. Die Laute, die er von sich gab waren undeutlich. Hatte er irgendetwas von dem verstanden, was sie zu ihm gesagt hatte?

  • Zurück auf der PAST – Nachmittag - am gleichen Tag


    Jenny und Semir saßen Frau Krüger in deren Büro gegenüber. Erwartungsvoll blickte die Chefin ihre beiden Mitarbeiter an. „Nun, haben ihre Recherchen in dem Hospiz etwas Neues gebracht? Die Krankenakte oder die Handy-Nummer?“


    „Nichts, Frau Krüger! Absolut nichts! Keiner der Verantwortlichen kann sich erklären, wo die fragliche Krankenakte von Boris Stojkovicz geblieben ist oder warum die fraglichen Datensätze aus dem Computer gelöscht worden sind. Die einzig wirklich interessante Aussage kam vom Verwaltungschef des Hospizes. Alle Rechnungen wurden einen Tag nach dem Ableben von Boris Stojkovicz über die Rechtsanwaltskanzlei von unserem alten Freund Dr. Hans-Heinrich Hinrichsen beglichen. Na, klingelt es bei ihnen auch Chefin?“


    „Das passt hervorragend zu dem was mir der Oberstaatsanwalt mitgeteilt hat. Der Haftbefehl gegen diese Krankenschwester wurde nicht erteilt. Kein begründeter Tatverdacht! Halten Sie sich fest, der Rechtsbeistand von unserer lieben Krankenschwester ist Herr Dr. Hinrichsen.“


    „Pfffffffff“, entwich sowohl Semir als auch Jenny die Atemluft.


    „Der Richter hat uns ausrichten lassen, im Zweifel für die Angeklagte. Die Aussage der Dame, sie könne sich keine Handy Nummern merken, muss als gegeben hingenommen werden.“ Kim seufzte auf, „Wir stehen also vor dem NICHTS.“ Sie lehnte sich in ihren Bürosessel zurück und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Die Ratlosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Im Raum herrschte Totenstille.


    „Frau Krüger! Wir geben nicht auf! Irgendwo da draußen werden Ben und Anna von dieser Kilic gefangen gehalten und warten darauf, dass wir sie finden! Was ist denn mit diesem alten verfallenen Objekt in Düsseldorf rausgekommen? Hat Susanne über den Eigentümer etwas erfahren können?“


    Jenny hatte einen Geistesblitz und sie unterbrach den Türken in seinem Redefluss. „Chefin, warum können wir denn nicht den Rufnummernnachweis für das komplette Hospiz bekommen. Oder zumindest für den fraglichen Zeitraum vor und nach Boris Stojkovicz Ablebens. Das Heim muss ja einen nahen Angehörigen verständigt haben! Oder vielleicht sogar für das Handy von dieser Krankenschwester?“, meinte die angehende Kommissarin.


    „Hervorragende Idee, Frau Dorn! Warum sind wir noch nicht früher darauf gekommen! Ich kümmere mich sofort darum, dass wir eine entsprechende richterliche Anordnung bekommen! Falls der Herr Richter Dengel sich diesmal wieder quer stellt, hetze ich ihm die Herren Jäger und Becker auf den Hals. Herr Becker hat mir zu verstehen gegeben, dass er der private Weinlieferant unseres Herrn Landesjustizministers ist und mit diesem auch befreundet. Bei Bedarf spielen wir diesen Trumpf aus.“


    Bei dieser Gelegenheit informierte Kim ihre beiden Mitarbeiter über einige weitere wichtige Details des Gesprächs, das sie am Morgen mit Bens und Annas Vater geführt hatte. Zum Ende der Besprechung tauchte Hartmut, um seine Kollegen über das Ergebnis der Verkehrsüberwachung zu informieren.
    „Die Auswertung der Verkehrsüberwachung ist abgeschlossen. Der schwarze Toyota ist auf der A1 auf Höhe des Leverkusener Kreuzes und in der Nähe von Boklemünd aufgetaucht. Dann verliert sich seine Spur. Aber ich bleibe weiter dran. Mit größter Wahrscheinlichkeit hat der Fahrer den Wagen doch gestoppt die Kennzeichen getauscht, um im Großraum Köln unterzutauchen.“


    Sie philosophierten an Hand der Straßenkarte noch ein wenig herum. Hartmut erklärte dabei, welche Verkehrsüberwachungspunkte ausgewertet wurden. Nachdem die Besprechung im Büro der Chefin beendet war, wäre eigentlich Feierabend gewesen. Doch keiner der Beiden dachte daran nach Hause zu fahren. Jenny unterstützte Susanne bei ihren Nachforschungen, die ebenfalls freiwillig länger arbeitete und Semir wollte sich Vorort nochmals mit einem Verdächtigen beschäftigen.


    *****
    24 Stunden später …
    Anna lehnte am Fenstersims und blickte zwischen den Lamellen des Sonnenschutzes sehnsuchtsvoll nach draußen. Von ihrem Standort aus konnte sie einen großen Teil des Grundstücks, das einer Parklandschaft ähnelte, überblicken. Links unterhalb von ihr befand sich ein riesiger Swimmingpool ohne Wasser. Zwischen den Terrakottaplatten, die den Pool einfassten, wucherte das Unkraut. Über einige Treppenstufen konnte man die großzügig angelegte Terrasse erreichen. Die komplette Gartenanlage mit ihren Pflanzen erinnerte sie sehr an das Landhaus in der Toskana mit dem daran angrenzenden Garten, in dem sie mit Ben ihren Urlaub verbracht hatte.


    Auch bei diesem Anwesen grenzte an die Terrasse und die Poolanlage ein Park, dessen alter Baumbestand Anna gefiel. Die alten Baumriesen hatten weit ausladende Äste, in denen Vögel brüteten und mit ihrem Gesang die Luft erfüllten. In den Lücken, wo die Sonnenstrahlen die Erde erreichten, hatte der Landschaftsgärtner, der diesen Park angelegt hatte, gezielt blühende Sträucher gepflanzt. Dazwischen wucherten Buchspflanzen, deren fachmännischer Formschnitt früher einmal geometrische Figuren dargestellt hatte. Hier hatte schon lange kein Gärtner mehr Hand angelegt. Überall konnte man erkennen, wie sich Mutter Natur Stück für Stück dieses Fleckchen Erde zurück eroberte. Der ehemalige Rasen war zu einer Wildblumenwiese mutiert. Zwischen den wild wuchernden Gräsern leuchteten einige Rosenblüten heraus und ließen die ehemaligen Blumenbeete, die als Blickfang gedacht waren, nur erahnen. Nach den düsteren Tagen in dem Kellerraum genoss Anna diesen Anblick der Natur. Warum auch immer, er vermittelte ihr Hoffnung, strotze nur so von Leben.


    Ab und an biss sie in den Apfel, den sie in ihrer Hand hielt. Elena hatte ihr diesmal einiges an frischem Obst in den Korb gepackt. Anna glaubte im ersten Moment zu träumen, als sie zwischen den Weintrauben versteckt, einige Schmerztabletten entdeckt hatte. Sie bewunderte die junge Frau für ihren Mut und ihre Kreativität. Zwischen dem Verschluss der Thermosflasche und des Edelstahlbechers fand die Ärztin eine kleine Tablettendose, in dem sich das homöopathische Mittel mit dem Arnika Wirkstoff befand, der die Wundheilung bei Ben unterstützen sollte. Anna fragte sich, wie sie jemals für diese Hilfe erkenntlich zeigen könnte.


    Ein leises Surren riss sie aus ihren Gedanken. Die elektrischen Rollläden, die am Haus für den Sonnen- und Sichtschutz angebracht worden waren, fuhren in ihrem Schienensystem wieder zurück in die Ausgangsstellung am Mauerwerk und gaben die komplette Fensterfläche frei. Die Sonne verschwand langsam hinter den Bäumen. Die einströmende Luft war sommerlich warm. Das schmiedeeiserne Fenstergitter, das einen Sturz nach draußen verhindern sollte, endete bei Anna auf Brusthöhe. Sie lehnte sich mit ihren Unterarmen darauf und schaute an der Hauswand entlang nach unten. Ein schmaler Sims, der das Haus umlief, teilte das Erdgeschoss optisch vom Obergeschoss. Wie hätte sie denn hier fliehen sollen? Sie hätte schon ein Akrobat sein müssen, um darauf entlang zu balancieren. Der Serbe hatte schon richtig erkannt, nur durch Abseilen über verknotete Decken und Bettlaken wäre für Anna eine Flucht möglich gewesen. Doch diese hatte man ihr vorerst genommen.


    „Über was brütest du denn gerade nach Schätzchen? Flucht? Schlag dir das gleich mal aus dem Kopf!“
    Anna fuhr beim ersten Wort erschrocken herum.

  • Unbemerkt hatte Gabriela das Zimmer betreten. Auf den ersten Blick hätte sie ihre Widersacherin fast nicht wiedererkannt, so hatte diese ihr Äußeres verändert. Die Haare waren haselnussbraun gefärbt und von kleinen blonden Strähnen durchzogen, straff nach hinten gekämmt und zu einem Dutt zusammengefasst. Ihr Gesicht wurde von einem Makeup kaschiert, das ihre Züge weicher und ein bisschen älter aussehen ließen. Dazu trug sie noch eine dunkle moderne Hornbrille. Ihre eisgrauen Augen hatten eine neue Farbe: tiefblau, dank farbiger Kontaktlinsen. Ihr Kleidungsstil hatte sich auch völlig verändert. Zum ersten Mal sah Anna die Kroatin in einem Rock. Das weichgegerbte graue Leder passte sich perfekt ihrer Körperform an. Ein leichter Sommerblazer in Nadelstreifenoptik, darunter ein cremefarbenes Top, eine dezente Perlenkette, passende Ohrstecker und graue High Heels vervollständigten ihr Outfit. Wäre Anna dieser Frau irgendwo in der Kölner Innenstadt begegnet, hätte sie in ihr eine erfolgreiche Geschäftsfrau oder Managerin vermutet, aber niemals eine skrupellose Bestie.


    Gabriela stakste auf ihren grauen High Heels näher an Ben heran. Fast schon mechanisch lupfte sie die Zudecke und betrachtete ihr Opfer.
    „Unfassbar! Wie viele Leben hat der Kerl? Sieben, wie eine Katze oder mehr?“ achtlos ließ sie die Daunendecke fallen. Ihr Blick wanderte zu Anna. „Was hast du gemacht Schätzchen? Kannst du hexen … zaubern? Oder bist du wirklich so gut in deinem Job?“
    Der Kroatin war nicht entgangen, dass die oberflächlichen Verletzungen des Polizisten anfingen abzuheilen. Die unzähligen Blutergüsse schimmerten in allen Regenbogenfarben.


    Anna zog es vor die Fragen unbeantwortet im Raum stehen zu lassen. Wie eine Skulptur stand sie weiter regungslos am Fenstersims. Ihr Herzschlag beschleunigte sich leicht. Hoffentlich kam diese Hexe nicht auf die Idee ihre Arzttasche zu durchsuchen, in der die Ärztin ihren heimlichen Medikamentenvorrat versteckt hatte. Erleichtert atmete sie durch als diese an der schwarzen Tasche vorbeischritt. Zielgerichtet bewegte Gabriela sich auf sie zu, drückte sie leicht zur Seite und blickte selbst zum Fenster hinaus. Auf der Terrasse vertrieben sich die Kovac Brüder ihre Zeit mit Kartenspielen und ein paar Flaschen Bier. Sie wandte sich wieder Anna zu.


    Auge in Auge standen sich die ungleichen Frauen gegenüber. Unbeeindruckt hielt die Ärztin dem Blick der Kroatin bei deren kommenden Worten stand. Kein Zucken des Gesichtsmuskels, keine Gestik verriet, was in ihr vorging.


    „Du wunderst dich über mein Outfit, ich sehe es dir doch an. Ich bin ein paar Tage weg. Geschäfte erledigen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du dort unten in dem Kellerloch weiter mit deinem Lover schmoren können. Doch Remzi meinte, dir und der kleinen Russin könnte man nicht trauen, euch auf keinen Fall alleine lassen. Ihr gehört unter seiner Aufsicht gestellt! Zum Schluss verschwindet ihr aus dem Keller und keiner hat es gemerkt!“ Gabriela kicherte albern auf, wurde jedoch sofort wieder ernst und ihr Tonfall nahm an Schärfe zu. „Egal was mit deinem Lover wird, Schätzchen, du gehörst Remzi. Er betrachtet dich als sein Eigentum, seine Trophäe. Also keine Angst, die Idioten dort unten auf der Terrasse werden es nicht wagen dich anzufassen oder dir ein Haar zu krümmen.“ Abschätzig blickte sie zu Ben hinüber „Was mit deinem Lover geschieht, entscheide ich nach meiner Rückkehr, wenn das große Finale meines Rachefeldzuges stattfindet! Vielleicht binde ich ihm eine Bombe um den Bauch und schicke ihn damit zu seinem türkischen Freund und seinen Bullenfreunden auf der Autobahndienststelle. Wäre doch cool! Kannst gerne zu schauen, wenn dort alles in die Luft fliegt!“


    Da lag so ein gewisser Unterton in Gabrielas Sätzen, der Anna verriet, dies war keine leere Drohung, sondern deren bitterer Ernst.


    „Du hast noch nicht gewonnen Kilic! Solange Semir einen Atemzug machen kann, solltest du dich vor ihm in Acht nehmen! Er wird dich kriegen, so wahr ich Anna Becker heiße!“, gab sie drohend zurück.
    „Warten wir mal ab Schätzchen, wer Recht behält!“, zischelte sie wie eine Giftschlange zurück. „Genieße deine letzten Tage mit deinem Lover!“


    „Genieße du deine letzten Tage in Freiheit!“, konterte Anna zurück. „Semir wirst DU nicht entkommen!“


    Zwischen den beiden Frauen hatte sich aus dem perversen Spiel, das die Kroatin mit der Ärztin getrieben hatte, in den vergangenen Tagen eine Art Krieg entwickelt. Anna hatte ihre bitteren Lektionen gelernt, erkannt, dass sie sich nur mit stumpfen Waffen wehren konnte. Bei diesem Aufeinandertreffen fühlte sie sich als Siegerin. Diesmal hatte sie es geschafft, an ihren Vorsatz zu denken, ihn zum Mittelpunkt ihres Handelns zu machen. Der Erfolg zeigte sich. Ihre Antwort ließ die Kroatin erblassen und verstummen.
    Eine Mischung aus einem wütenden Fauchen und einen Jaulen entrang sich ihrer Kehle, während sie versuchte, Anna mit ihren Blicken einzuschüchtern. Doch die Ärztin reagierte darauf nicht. Das Schweigen im Zimmer war unheimlich. Nervös öffnete und schloss Gabriela ihre linke Hand. An ihrer Mimik, an jeder Geste erkannte Anna, wie diese Hexe eine Möglichkeit suchte, um ihr Angst einzuflößen. Wütend stampfte sie mit einem ihrer Füße auf und drehte sich auf den Absatz um und stakste zur Tür. Mit einem lauten Knall flog diese ins Schloss und der Schlüssel wurde umgedreht. Draußen keifte Gabriela lauthals los: „Remzi! …. Remzi! …!“ Die restlichen Sätze verstand Anna nicht, da die Kroatin ihre Muttersprache benutzte. Nur etwas hörte sie deutlich aus der sich überschlagenden schrillen Tonlage heraus: Die Kroatin war nahe daran ihre Beherrschung zu verlieren. Das laute, schnelle tack, tack, tack verriet Anna, dass sie über den Gang in das Schlafzimmer des Grauhaarigen hetzte.


    Was die junge Frau nicht ahnte, mit ihrer Drohung hatte sie den empfindlichsten Punkt der Kroatin getroffen. Den Menschen Ben Jäger hasste Gabriela abgrundtief dafür, dass er ihren Bruder und Cousin getötet hatte, wollte ihn mit seiner Familie auslöschen. Doch Semir Gerkhan war ihre Achillesferse. Der Kommissar hatte sie im Krankenhaus vor einem Jahr überwältigt, vor wenigen Tagen ihren perfiden Mordplan gegenüber Julia Jäger zu Nichte gemacht. Auch wenn die Kroatin es nie zugegeben würde, empfand sie eine unheimliche Angst vor dem Türken. In ihren Alpträumen verfolgte sie diese Furcht wie ein Dämon. Es glich einer düsteren Vorahnung, dass Semir Gerkan dazu berufen sei sie, Gabriela Kilic, eines Tages zur Strecke bringen würde.


    Anna setzte sich wieder zurück in den Schaukelstuhl und hielt Krankenwache an Bens Seite. Vorher hatte sie seinen Puls und seine Atmung geprüft, an den noch nässenden Wunden die Wundauflage und den Salbenverband erneuert und die Medikamentendosis für den Abend verabreicht. Von ihrem Sitzplatz aus konnte sie durch das geöffnete Fenster den glutroten Sonnenball beobachten, wie er langsam am Horizont verschwand. Der Himmel hatte die gleiche Färbung übernommen. Sie genoss dieses Schauspiel der Natur, vermittelte es ihr die Hoffnung auf Leben. Unbewusst streichelte sie dabei über ihren kleinen Babybauch.

  • Früh morgens am darauffolgenden Tag
    Ben hatte dieses unbeschreibliche Gefühl zu schweben … zu fliegen … getragen von weißen Wolken einfach dahin. Seine Empfindungen veränderten sich nach und nach. Seine Sinne begannen langsam zu arbeiten. Vogelgezwitscher drang an sein Ohr, übertönt von dem Gurren einer Taube. Er lauschte weiter. Da war noch mehr, die gleichmäßigen Atemzüge eines Menschen. Ihm wurde bewusst, er lag mit dem Rücken auf etwas Weichem, er lag in einem Bett.

    Seinem Bett?

    Doch nicht alleine! Er spürte die Wärme eines menschlichen Körpers, der sich an seine rechte Seite heranschmiegt. Ein Arm lag über seiner Brust. Haare kitzelten seine Nase. Alles wirkte so friedlich und vertraut, wenn da nicht wie feurige Blitze Bruchstücke von Erinnerungsfetzen in seinem Gehirn zuckten. Gabriela … die Folterungen im Keller … der Grauhaarige … Anna …
    Mit einem Schlag waren die Erinnerungen an die vergangenen Tage und Wochen wieder vollständig da. Ben kämpfte gegen die Schwere seiner Augenlider an. Er wollte Gewissheit haben. Mühselig öffnete er seine Augen. Sein Blick war verschleiert, er blinzelte mehrmals, bis seine Umgebung langsam Konturen annahm. Leicht drehte er seinen Kopf und sein Blick schweifte verwundert im Raum umher. Dieses Zimmer war weder sein eigenes noch das Schlafzimmer seiner Freundin.

    Krankenhaus?

    Hatte man sie doch gerettet und er hatte es in seiner Bewusstlosigkeit und seinem Fieberwahn einfach nicht bemerkt? Nein, das war keine Krankenzimmer, stellte er fest. Irgendetwas passte nicht. Ben schaute an sich herunter. An seiner rechten Seite lag eng angeschmiegt Anna. Ihr dunkles Haar hatte sich fächerförmig auf der Zudecke und seiner Brust verteilt. Die Zudecke war nicht mit Bettwäsche bezogen. Seine Finger fuhren über die Matratze. Hier fehlte das Bettlaken. Wo waren sie nur?


    Ben lauschte in seinen Körper hinein. Die fürchterlichen Schmerzen, die seine Eingeweide innerlich geradezu zerrissen hatten, ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten, waren verschwunden. Zurückgeblieben war ein gleichmäßiges Ziehen und Pochen. Der stechende Schmerz beim Atmen, war einem erträglichen Ziehen gewichen. Die Feuerlohen auf seinem Rücken verschwunden. Mit seinen Fingerspitzen tastete er vorsichtig über seine linke Brusthälfte hinunter zu seiner Bauchseite. Er spürte die Ränder von Wundpflastern, den weichen Mull des Verbandes um seinen Bauch und die grobe Struktur des Schorfs von heilenden Wunden.


    Seine sachten Bewegungen hatten Anna aufgeweckt. Wie in Zeitlupentempo richtete sie sich auf, gähnte und schaute ihn aus völlig übermüdeten Augen an. Die Müdigkeit wich einem überglücklichen Strahlen, das durch ihr Lächeln noch unterstrichen wurde.

    „Ben! Oh mein Gott! Du bist wach!“, hauchte sie. Zärtlich umfasste Anna den Kopf ihres Freundes und überschüttete ihn mit Küssen auf der Stirn, den Wangen und den Lippen. „Ich kann es einfach nicht glauben. Du fühlst dich überhaupt nicht mehr heiß an! … Oh Gott Ben, wir haben die Infektion und den Fieber besiegt!“

    Wieder küsste sie ihn auf die Lippen. Als sie sich von ihm löste und die Freudentränen mit dem Handrücken von ihren Wangen wischte, setzte Ben mehrmals zum Sprechen an. Er räusperte sich, doch aus seiner ausgetrockneten Kehle wollte einfach kein Ton kommen. Unglaublich schnell huschte Anna, nur bekleidet mit einem viel zu weiten T-Shirt, aus dem Bett, griff nach der Wasserflasche, die auf der Nachtkonsole bereit stand. Vorsichtig schob sie ihre linke Hand unter seinem Kopf, um ihn zu stützen und leicht anzuheben. Mit der anderen schraubte sie die Flasche auf und hielt die Öffnung an Bens Lippen und ließ ein wenig Flüssigkeit hineinrinnen. Erst als sie sich sicher war, dass er sich nicht verschlucken würde, hob sie die Flasche weiter an und er trank in gierigen Schlucken.
    Als sein Durst gestillt war, probierte Ben erneut, ob ein Laut aus seiner Kehle kam. War das wirklich seine Stimme, es glich mehr einem Krächzen einer rostigen Gießkanne, was da für Töne schwach und leise über seine Lippen kamen.

    „Wie lange war ich weggetreten?“ Sein Blick wanderte um Zimmer umher „Das ist aber nicht das Ritz! …. Wo sind wir? “
    Anna stellte die Flasche zurück und setzte sich seitlich auf den Bettrand. Sie umschlang Bens Hand.

    „Du warst über drei Tage im Fieberwahn gefangen. Zu deiner zweiten Frage: Wir befinden uns noch immer in der Gewalt dieser Wahnsinnigen. Dieses Zimmer liegt im Obergeschoss der Villa!“
    Für einen Augenblick senkte Ben seine Augenlider und schien nachzudenken. „Anna?“, murmelte er leise fragend, „Das mit dem Baby … unserem Baby? … Habe ich das nur geträumt oder ist es wahr?“
    „Es ist wahr, Ben!“ Wie vor einigen Tagen nahm sie seine Hand, schob sie unter das Shirt und führte sie zu ihrem Unterbauch. „Hier wächst unser Baby heran.“ Langsam zeichnete sie mit seinen Fingerspitzen die Umrisse der Gebärmutter nach. „Spürst du es?“

    Seine tiefbraunen Augen suchten Kontakt zu den ihren. Unendliche Liebe und Zuneigung spiegelten sich darin wieder. Ein Lächeln zeichnete sich in seinen Mundwinkeln ab. Anna beugte sich zu ihm herunter, ihre Lippen fanden sich und verschmolzen zu einem Kuss.
    Als sie sich von ihm gelöst hatte, richtete sie sich auf und fragte Ben, „Wie fühlst du dich? … Schlimme Schmerzen?“
    „Auszuhalten! Ich darf nur nicht tief Luft holen oder mich groß bewegen.“, spielte er seinen Zustand etwas herunter. „Hast du noch etwas anderes außer Wasser? … Ich … habe … Hunger!“
    Anna lachte auf „Ja, ich habe noch etwas Fleischbrühe!“ Sie eilte erneut aus dem Bett zur der Kommode, auf der ihre bescheidenen Vorräte standen und goss den Trinkbecher der Thermoskanne voll mit Brühe. Vorsichtig schob sie ihren Arm unter seinen Kopf und hob ihn leicht an, ausgehungert trank er Schluck für Schluck den Becher leer.
    „Das war schon alles!“, meinte er sichtlich enttäuscht. „Ich könnte noch etwas vertragen.“

    Die junge Frau wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Die Tage vorher hatte sie Stunden gebraucht um ihrem Freund solche eine Menge Flüssigkeit einzuflößen. Und jetzt, trank er die Tasse innerhalb weniger Minuten leer.
    „Tut mir furchtbar leid, es ist nichts mehr da, was ich dir geben kann!“, erwiderte sie. „Ich hoffe, dass Elena in der nächsten Zeit auftaucht und das Frühstück bringt.“

    Anschließend kümmerte Anna sich um seine restlichen körperlichen Bedürfnisse und versorgte seine Wunden. Zufrieden lag er auf dem Bett und lächelte sie an. Er wollte diesen schönen Moment nicht zerstören. Dennoch eine Frage brannte ihn auf der Seele.

    „Wo ist Gabriela? Und vor allem warum sind wir auf einmal in einem Schlafzimmer gefangen?“
    Anna kroch zu ihm zurück ins Bett und schmiegte sich an Ben heran. Sie lagen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Anfangs hatte Ben noch die Augen geöffnet, als sie mit ihrer Erzählung begann. Wenig später fielen ihm die Augenlider zu und seine gleichmäßige Atmung verriet ihr, dass er eingeschlafen war.

  • Kurz nachdem Ben wieder eingeschlafen war, schälte sich Anna aus dem Bett und begab sich ins angrenzende Bad. Sie hatte die lüsternen Blicke des neuen Aufpassers am gestrigen Abend nicht vergessen. Nach einer schnellen Dusche schlüpfte sie in frische Kleidung und flocht die handtuchtrockenen Haare zu einem Zopf. Der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht und sie beeilte sich, zurück ins Schlafzimmer zu kommen. Erleichtert stellte sie fest, dass Ben noch auf seiner rechten Seite in Bauchlage zum Schlafen im Bett lag. Somit war für ihre Aufpasser nicht gleich ersichtlich, dass er auf dem Weg der Besserung war.


    Wie am gestrigen Abend wurde Elena von dem Jüngsten des Kovac Clans begleitet. Anna schätzte den jungen Mann auf höchstens zwanzig Jahre. Seine schwarzen Haare waren modisch geschnitten, an den Seiten sehr kurz und oben lang. Der sommerlichen Jahreszeit angepasst trug er knielange Bermuda Shorts, die bunt kariert waren und dazu farblich passend ein T-Shirt. An den Füßen trug er Flip-Flops. Eigentlich ein hübsches Kerlchen hatte Anna gedacht, wenn da nicht seine tiefblauen Augen gewesen wären, mit denen er sie gestern kalt abschätzend wie eine Beute gemustert hatte. Sie wirkten eiskalt und ihnen fehlte jegliches menschliche Gefühl. Elena hatte ihr zugeflüstert, dass der junge Mann der Sohn des Glatzkopfs sei und Aleksandar hieß. Anna fiel dazu nur ein, der Apfel fällt nicht weit vom Baumstamm.


    Aleksandar Kovac war unter der Tür stehen geblieben und lehnte sich lässig an den Türrahmen. Der aufmerksamen Russin war nicht entgangen, dass sich Bens Zustand im Vergleich zum Vortag sichtlich gebessert hatte, als sie das Tablett auf der Kommode abstellte. Ihr fragender Blick ruhte auf Anna. Aleksandar war indessen mehr damit beschäftigt, auf seinem Smartphone herumzuspielen und Nachrichten zu versenden, als seiner Aufgabe nachzukommen, die beiden jungen Frauen im Auge zu behalten.
    Anna half der Russin das verschmutzte Geschirr, die leeren Flaschen auf das Tablett zu stapeln und die verschmutzte Wäsche einzusammeln. Von ihrem Aufpasser unbemerkt, wisperten sich die beiden Frauen dabei gegenseitig einige Informationen zu. Unter anderem verschwanden die beiden Frauen auch im Badezimmer.


    Verstohlen flüsterte Anna, „Ben ist aufgewacht. Ich brauche Essen für ihn. Leichte Kost und noch ein paar Schmerztabletten, wenn du diese, ohne dich in Gefahr zu begeben, besorgen kannst!“
    Elena nickte nur leicht als Antwort.
    „Kilic … vier Tage weg sein! … Vielleicht ein Tag mehr!“, nuschelte die Russin der Ärztin als Information zurück und blickte verstohlen über die Schulter, was der Aufpasser machte. Elena hatte diese Information aufgeschnappt, als sie am frühen Morgen bei Remzi Berisha den Verband gewechselt hatte. Dieser hatte zu diesem Zeitpunkt mit Gabriela telefoniert. Leise fuhr sie fort: „Nichts Semir erreichen! … Kein Handy!“
    Die junge Ärztin versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen. So sehr hatte sie darauf gehofft, dass Elena für einige Minuten eines der Handys entwenden könnte und sich mit Semir in Verbindung setzen könnte. Im Hintergrund brüllte Remzi, der die meiste Zeit des Tages in seinem Bett verbrachte. Aleksandar Kovac gab ihm aufmüpfig und in der gleichen Lautstärke eine Antwort zurück. Entsprechend ungehalten brüllte er die Russin in seiner Muttersprache an, sie solle sich gefälligst beeilen. Anna entging nicht dessen lüsterner Blick, der über die Figur der jungen Frau wanderte. Als die Tür sich schloss, wurde es draußen im Treppenhaus richtig laut. Die dunkle Stimme des Grauhaarigen war unüberhörbar. Die Ärztin hätte einiges dafür gegeben, wenn sie den Inhalt des Gespräches hätte verfolgen können.


    Eine Stunde später tauchte Elena erneut in Begleitung des dunkelhaarigen Serben auf. In der einen Hand trug sie einen Weidenkorb, befüllt mit Lebensmittel und in der anderen Hand einen Stapel frischer Wäsche. Diesmal achtete der junge Mann peinlich genau darauf, was die Russin aus dem Korb holte und auf der Kommode abstellte. Anna schloss daraus, dass er von Remzi wegen seiner Nachlässigkeit wohl gewaltig zusammengestaucht worden war. Und trotzdem, die beiden Frauen kommunizierten auch lautlos ohne Worte nur mit ihren Blicken, ihrer Mimik und mit kleinen Gesten.


    Durch die geöffnete Tür erklang das Tack, tack, wenn Remzi mit Krücken über den Gang lief. Anna merkte, wie sich bei dem Geräusch ihr Magen zusammenzog. Unter der Tür blieb der Grauhaarige auf den Krücken gestützt stehen. Die Ärztin in ihr hatte registriert, dass er nach wie vor das verletzte Bein nicht belastete. Argwöhnisch musterte er Ben, der zum Glück völlig regungslos in Bauchlage dalag.
    „Wie geht es ihm?“, blaffte er Anna an. Dabei hob er eine der Krücken an und deutete auf den Kranken.
    „Er lebt!“, lautete ihre knappe Antwort.
    Hoffentlich kommt er nicht auf die Idee sich von Bens Zustand selbst zu überzeugen, dachte sie bei sich. Denn sie wusste nicht, was dann geschehen würde. Welche Teufelei der grauhaarige Sadist sich ausdenken würde? Sie von Ben trennen? Ihn zurück in das Kellerloch bringen? Remzi humpelte zwei Schritte weiter ins Zimmer und betrachtete die Vorräte auf der Kommode. In dem Augenblick war sich Anna sicher, jetzt würde alles auffliegen. Ihr Pulsschlag hämmerte zwischen ihren Schläfen. Ihre Handflächen wurden feucht. Mit der Spitze der Krücken deutete er auf die drei Thermoskannen.
    „Was soll das?“
    Die Frage ging in Richtung der Russin, die ihn trotzig anblickte. Die Spuren von Gabrielas Schlägen hatten ihr Gesicht gezeichnet. Das linke Auge war ebenso wie die Wange dick angeschwollen. Die Blutergüsse schillerten von lila bis dunkelrot. Im Augenbereich wanderte das Hämatom rüber zum rechten Auge. Elena wusste, dass der Grauhaarige genauso brutal und rücksichtslos sein konnte wie Gabriela. Deshalb beeilte sie sich zu antworten. Trotz ihrer Angst gelang es der jungen Frau ihrer Stimme einen festen Tonfall zu verleihen: „Du sagen… Frau gut versorgen! … Tee … Kaffee … Ich nicht wissen, was trinken wollen! Essen wollen! … Auswahl gemacht!“
    Anna bewunderte sie insgeheim für diese kreative Antwort, die ihr bestimmt nicht so schnell eingefallen wäre.


    Widerwillig brummte Remzi vor sich hin und gab sich erst einmal mit der Erklärung zufrieden. Bevor er das Zimmer verließ, warf er nochmals einen misstrauischen Blick auf Ben, ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen und schüttelte kurz den Kopf. Knapp befahl er: „Raus hier!“
    Nachdem die Tür geschlossen war, lehnte sich Anna mit dem Rücken gegen das Türblatt. Erleichtert atmete sie aus, das war noch einmal gut gegangen. Aber ihr war auch klar, lange würde sich der Grauhaarige über Bens Zustand nicht täuschen lassen. Sie lauschte mit ihrem Ohr, ob sich die Schritte entfernten.


    „Ist er weg?“, kam die Frage vom Bett her.
    Mit einem leisen Stöhnen drehte sich Ben zurück auf den Rücken und schaute zu Anna. Er entdeckte die Thermoskannen und die Lebensmittel auf der Kommode und meinte: „Ist da was zu essen für mich dabei? Ich habe Hunger!“


    Die Anspannung fiel von Anna ab und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Das war der Ben, den sie kannte, immer hungrig. Sie ging zur Kommode und sondierte, was Elena so alles mitgebracht hatte. In einer Tüte befanden sich frische Brötchen und ein paar Scheiben Toast. Dazu gab es Marmelade und Schmelzkäse. Nacheinander öffnete sie die Thermoskannen, roch daran und sondierte deren Inhalt. In einer befand sich eine pürierte Gemüsesuppe, in der anderen einfach nur eine Fleischbrühe und in der letzten Kanne war Früchtetee. Zu ihrer Überraschung hatte Elena zwischen dem Trinkbecher und dem Verschluss der Thermoskanne mit Tee einige Schmerztabletten versteckt. Sie überlegte kurz und goss einen Trinkbecher voll mit Gemüsebrühe. Auf der Nachtkonsole stellte sie den Becher und Löffel ab und holte aus dem Bad ein Handtuch. Das Kopfkissen richtete sie so, dass es Ben als Stütze diente. Als sie sich neben ihm auf der Bettkante niederließ, war das Grummeln seines Magens zu hören. Das Handtuch legte sie einem Lätzchen gleich auf seine Brust. Er war zu schwach, um mit dem Löffel selbst zu essen, deshalb begann sie ihn zu füttern.


    „Wie ein Baby?“, meinte er mit einem schelmischen Grinsen zwischen zwei gefüllten Löffeln und tastete voller Zärtlichkeit nach ihrem Bauch. Im Laufe des Tages wachte Ben noch mehrmals auf. Jedes Mal jammerte der Dunkelhaarige, dass er am Verhungern sei. Laut protestierte er, als ihm seine Freundin zum dritten Mal einen Becher Suppe einflößte.


    „Ich habe Hunger! … Wie soll ich denn mit solch einer dünnen Brühe satt werden?“ Er hatte dabei eine beleidigte Schnute gezogen, dass Anna lauthals auflachen musste. Klipp und klar erklärte ihm die junge Ärztin, dass sein Magen und Darm nach den Verletzungen noch keine andere Nahrung vertragen würde.
    „Schön langsam mein Schatz! … Kleine Portionen … und wenn du das gut verträgst, bekommst du etwas anderes!“ – „Du quälst mich!“, gab er gespielt eingeschnappt zurück und war gleich nach dem Essen wieder eingeschlafen.


    Anna schmunzelte vor sich hin, als sie ihn ein bisschen Körperpflege angedeihen ließ. Das war ihr Ben und sein Appetit und Verhalten das beste Zeichen, dass es gesundheitlich aufwärts ging.

  • Der Morgen dämmerte, als das heftige Schlagen der Fensterflügel Anna aus ihrem Schlaf weckte. In weiter Ferne war das Grollen des Donners zu hören. Ein Gewitter war im Anmarsch. Die nächste Windböe ließ die Fensterflügel erneut gegen die Wand knallen. Seufzend stand die junge Frau auf und verschloss das Fenster sorgfältig. Nachdenklich betrachtete sie den Nachthimmel. Blitze zuckten am Horizont auf, erhellten für Sekundenbruchteile die Nacht und tauchten das unter ihr liegende Grundstück in ein gespenstisches Licht.


    Sie schlüpfte wieder unter die Zudecke und schmiegte sich eng an Bens Rücken heran. Das Trommeln des Regens gegen die Fensterscheiben und der Donnerhall hielten sie wach. Anna lauschte den gleichmäßigen Atemzügen ihres Freundes, die ab und an von einem leichten Schnarchen unterbrochen wurden. Ein unbeschreibliches Gefühl der Freude durchströmte sie, wenn sie daran dachte, dass Ben das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Gleichzeitig betrachtete sie die Wunden, die die Peitschenstriemen hinterlassen hatten. Bei einigen der Striemen fiel der Wundschorf ab und rote Haut schimmerte darunter hervor. Selbst die entzündeten Verletzungen heilten langsam ab. Doch Ben würde sein Leben lang durch die Narben gezeichnet sein. Sie schloss die Augen. Wilde Gedanken spukten durch ihren Kopf, als sie die vergangenen Tage und Nächte Revue passieren ließ.


    Dieser Tag verlief so ereignislos wie der vorherige. Die Abenddämmerung brach heran. Anna hatte es sich im Schaukelstuhl, der neben dem Bett stand, gemütlich gemacht. Aufmerksam beobachtete sie ihren schlafenden Freund. Versonnen streichelte sie über ihren Bauch und hielt in Gedanken Zwiesprache mit ihrem ungeborenen Kind. „Sag Würmchen, weißt du wie es weiter gehen soll?“, murmelte Anna leise vor sich hin. „Wieder ist ein Tag vergangen und Semir ist nicht aufgetaucht.“ Sie kniff ihre Lippen zusammen und hielt einen Moment mit den Bewegungen inne. „Weißt du, ob es noch Hoffnung auf Rettung gibt?“ Ihr Kinn ruhte auf ihrer Brust.


    Denn mit jeder Stunde, die sie hier zusammen mit Ben in diesem Schlafzimmer eingesperrt war, schwand ihr Glaube an eine Rettung und einem guten Ausgang der Entführung. Da war dieses Wissen, das irgendwann Gabriela durch diese Tür marschieren würde und ihre Zukunftspläne zu Nichte machen würde. Eine einsame Träne kullerte über ihre Wange.
    „Schatz! … Nicht weinen!“
    Sie blickte hoch und direkt in Bens tiefgründigen braunen Augen. „Ich weiß, an was du gerade denkst! … Verdränge es! … Wir leben!“
    Bevor es Anna verhindern konnte, hatte er sich auf den rechten Unterarm gestützt und mit dem Oberkörper leicht aufgerichtet. Seine linke Hand tastete nach der ihren und umschlang diese.
    „Hilf mir hoch! Ich möchte mich aufsetzen!“
    „Du bist verrückt! Deine Verletzungen könnten wieder aufbrechen!“, protestierte sie.
    Ben ignorierte ihre Warnung und stemmte seinen Oberkörper weiter in die Höhe. Das Bett fing scheinbar an zu schaukeln, wie ein Boot bei starkem Wellengang. Vor seinen Augen blitzten die Sterne und sein Pulsschlag hämmerte zwischen seinen Schläfen. Annas Stimme hörte sich wie aus weiter Ferne an. Ein stechender Schmerz durchfuhr seine Eingeweide, die Rippen rebellierten, es zippte und zwickte überall. Trotzdem gab er nicht auf, schob seine Beine unter der Zudecke hervor und setzte seine Füße auf den Boden.
    „Du bist verrückt! Was machst du da!“, rief sie empört. „Dafür habe ich dir nicht die Schmerztabletten gegeben, damit du solche Experimente machst!“
    Gleichzeitig war sie aus dem Schaukelstuhl aufgestanden und hatte sich vor ihm hingestellt. An seinen Schultern hielt sie ihn fest und wartete.


    Ben wurde ein kleines bisschen Übel. Er drückte links und rechts seine Hände als Stütze auf die Matratze, um noch zusätzlichen Halt zu finden. Leicht schüttelte er seinen Kopf um den Schwindel zu vertreiben und konzentrierte sich auf seine Atmung. Schön langsam und gleichmäßig atmen, nahm er sich vor. Dann vergehen die Schmerzen von alleine und der Rest gelingt. Weiche Hände umfassten seine Schultern und verliehen ihm zusätzlich Stabilität. Seine verschwommene Sicht wurde langsam klarer.
    „Nimm den Kopf hoch und schaue mich an Ben!“, befahl Anna.
    Sie konnte es nicht fassen, dass ihr Freund es in seinem geschwächten Zustand tatsächlich geschafft hatte, sich alleine aufzurichten. Ihr besorgter Blick galt dem Verband, der die Schusswunde am Bauch bedeckte. War die Wunde unter der Belastung wieder aufgebrochen?
    „Ok, du sturer Bock! Du willst das wirklich durchziehen und aufstehen!“
    Etwas gepresst antwortete er ihr: „Du hast es erkannt. Im Krankenhaus jagt ihr die Patienten schließlich auch so schnell wie möglich aus dem Bett.“ - „Im Krankenhaus gibt es Schmerzmittel! Hilfsmittel! … und wenn es sein muss einen kräftigen Pfleger!“ Da saß er vor ihr, mit nacktem Oberkörper, bleich, abgemagert und sein Körper übersät von den Wunden, die man ihm zugefügt hatte.
    „Hilf mir einfach hoch!“, befahl er ihr.
    Ben schaute Anna direkt in die Augen. Sie konnte darin seine wilde Entschlossenheit erkennen. Irgendwie verstand sie ihn ja. Professionell übernahm sie die Führung und erteilte ihm Anweisungen, die er befolgte. Nach wenigen Minuten stand er tatsächlich nach über einer Woche auf seinen Beinen, wobei er das angebrochene rechte kaum belastete. Er zitterte vor Anstrengung und ein dünner Schweißfilm bildete sich auf seiner Stirn. Durch seine zusammengebissenen Zähne entwich ihm deutlich hörbar die Atemluft und schon nach wenigen Sekunden sank er zurück aufs Bett. Mit Annas Hilfe legte er sich wieder hin und ein triumphierendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
    „Der Anfang ist gemacht!“, nuschelte er.
    Sie deckte ihn sorgsam zu und schon Minuten später war er eingeschlafen. Im Laufe der Nacht stand er noch mehrmals auf. Jedes Mal gelang es ihm ein wenig besser, brachte er es fertig, länger auf seinen Beinen zu stehen.


    Auch am darauffolgenden Morgen und im Laufe des Tages gelang die Täuschung von Aleksandar Kovac. Elena hatte maßgeblichen Anteil daran. Geschickt setzte die Russin ihre körperlichen Reize ein, um den jungen Serben abzulenken, wenn sie den Gefangenen Essen brachte. Remzi erschien nur einmal um die Mittagszeit und warf einen prüfenden Blick ins Zimmer der Gefangenen. Ben schlief die meiste Zeit des Tages. Anna war verblüfft, wie gut sich ihr Freund Stunde um Stunde erholte, seit das Fieber aus seinem Körper verschwunden war. Seine Wunden heilten und er war beim Frühstück bereits in der Lage gewesen, ohne ihre Hilfe zu essen. Nur zweimal wagte es Ben während des Tages das Bett zu verlassen, zu groß war die Angst vor einer Entdeckung.

  • Ben lag auf seiner rechten Seite und schlief tief und fest vor Erschöpfung, als Elena in Begleitung von Aleksandar Kovac das Abendessen brachte. Wie üblich lehnte sich der Serbe lässig gegen den Türrahmen und beobachtete von dieser Position aus Anna und Elena. Für Ben hatte er nur einen flüchtigen Blick übrig.
    Die Russin warf Anna einen fragenden Blick zu und ihre Kinnspitze ging in Richtung des Patienten. Kaum merklich nickte die Ärztin mit dem Anflug eines Lächelns im Mundwinkel. Wie so oft in den vergangenen Tagen tauschten die beiden Frauen das Geschirr aus. Anna stapelte die frischen Teller und Tassen zusammen mit den Essensvorräten auf die Kommode. Aus dem Kochtopf drang ein verlockender Essensduft. Argwöhnisch behielt sie dabei den jungen Serben im Auge und raunte der Russin zu:

    „Hast du Neuigkeiten? … Semir?“ Anstelle einer Antwort drückte Elena der Dunkelhaarigen einen Zettel in die Hand und stellte das überfüllte Tablett auf die Kommode.


    Ungeduldig blaffte Aleksandar sie an: „Beeile dich gefälligst! … Ich habe keine Lust hier zu übernachten!“ Gierig glitt dabei sein Blick über den Körper der jungen Frau, was Anna nicht entging. Am liebsten hätte sie dem Kerl vor Verachtung in das Gesicht gespuckt. Elena schien ihre Gedanken zu erahnen.
    „Pssst! … Nichts tun!“, ermahnte sie die Ärztin und legte eine Hand beschwichtigend auf deren Unterarm. „Ich weiß, was gemacht habe … Im Bordell war es schlimmer!“, wisperte sie und drückte Anna eine Stofftasche mit Verbandsmaterial und frischer Kleidung in die Hand. Entgegen seiner Gewohnheit betrat Aleksandar das Zimmer. Prüfend wanderte sein Blick im Schlafraum und im angrenzenden Badezimmer umher. Als er scheinbar zufrieden war, brummte er vor sich hin und drängte Elena aus dem Zimmer. Die Tür fiel ins Schloss und wurde sorgfältig verschlossen.


    Wie betäubt, stützte sich Anna mit ihren Händen am Rand der Kommode ab. Der letzte Satz von Elena löste gemischte Gefühle in ihr aus. Zum einen machte sie sich Sorgen um die junge Frau und gleichzeitig verspürte sie eine unendliche Dankbarkeit gegenüber Elena, die alles riskierte und in den letzten Tagen riskiert hatte, um ihr und Ben zu helfen. Sie kannte auch Elenas Motiv, die ihr von Gabrielas Mordabsicht erzählt hatte. Zwischen ihren Fingern spürte sie den kleinen Papierschnipsel. Langsam faltete sie ihn auf und las die wenigen Worte, die Elena in Englisch aufgeschrieben hatte.


    ‚No chance to get in contact with Semir‘


    Anna merkte, wie sie bei diesem Satz die Verzweiflung zu übermannen drohte. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht lauthals loszubrüllen. In diesem Moment schien alles hoffnungslos, keine Aussicht auf Rettung. Es fühlte sich für die junge Frau an, als würde sich ein riesiger Abgrund auf tun, ein schwarzes Loch, aus dem es kein Entrinnen gab.


    Eine Bewegung und eine leises Stöhnen von Ben unterbrachen ihre düsteren Gedanken. Sie wendete sich zu ihm um. Mit geöffneten Augen, auf den Rücken liegend, blickte er sie an. Sein Kopf hob sich leicht an und schnüffelnd reckte er seine Nase in die Luft.


    „Hmmm, lecker! Es riecht nach Essen. …. Ich habe einen Bärenhunger!“, meinte er mit einem verzückten Lächeln im Mundwinkel. Allerdings entging ihm nicht der feuchte Schimmer in den Augen seiner Freundin. Besorgt fragte er nach: „Was ist passiert?“


    „Nichts! … Ähm … naja!“, druckste Anna herum.


    „Was jetzt?“, gab er ungeduldig zurück und richtete sich ein wenig im Bett auf. Anna reichte ihm den Zettel und er murmelte leise: „Das habe ich befürchtet!“ Er ging nicht näher darauf ein, sondern wechselte einfach das Thema. „Das ändert nichts daran, dass ich vor Hunger sterbe!“


    Nun konnte Anna einfach nicht anders und lachte auf. „Du Vielfraß!“ Sie stopfte ihm das Kopfkissen hinter den Rücken, legte ihm ein Handtuch über die Brust und versorgte ihn mit einem vollen Teller Eintopf. Zu ihrer Verwunderung aß er langsam und bedächtig. Sie setzte sich neben ihn in den Schaukelstuhl. Obwohl der Eintopf, der hauptsächlich aus Kartoffeln und Gemüse der Saison bestand, vorzüglich schmeckte, löffelte Anna lustlos. Sie musste sich förmlich zum Essen zwingen. Ben beobachtete seine Freundin beim Essen und ahnte, was sie bedrückte. Als sie die Teller zurück auf die Kommode stellte, dachte er nochmals kurz nach und beschloss seine Absicht in die Tat umzusetzen. Normalerweise kamen die Entführer so spät am Abend nicht mehr ins Zimmer ihrer Gefangenen. Unten auf der Terrasse herrschte eine ausgelassene Stimmung. Das Gelächter und Stimmengewirr drang durch das offene Fenster ins Zimmer herein. Die Bande nahm dort ebenfalls ihr Abendessen ein.


    Ben richtete sich im Zeitlupentempo auf, schob seine Füße unter der Bettdecke hervor und schaffte es sich alleine an den Bettrand zu setzen. Mehrmals atmete er deutlich hörbar ein und aus.


    „Hilf mir Anna! … Ich will diesmal nicht nur aufstehen, ich will ins Bad!“, kündigte Ben sein nächstes Vorhaben an.
    Anna stellte die leeren Teller mit einem lauten Knall zurück auf die Kommode und wandte sich ihrem Freund zu. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und fing an energisch zu protestieren.
    „Spinnst du jetzt völlig? … Das klappt nie in deinem geschwächten Zustand!“
    Ben schüttelte eigenwillig den Kopf. „Nein! … Vergiss es! … Ich will da rein!“ und er deutete mit seinem Zeigefinger in Richtung Badezimmertür. Anna startete einen letzten Versuch. „Aber wenn du so dringend musst, dafür habe ich doch das Teilchen hier!“ Sie hielt ihm ihre provisorische Pinkelente hin, die sie aus einer Plastikflasche bestand, wo Anna Teile des Flaschenhalses abgeschnitten hatte und meinte trotzig, „Mit dem angebrochenen Bein schaffst du das niemals! Denk an die Schmerzen! … Du Dickkopf!“
    „Schmerzen?“, er lachte ironisch auf, „Erzähle mir nichts von Schmerzen! … Ich habe einmal durch die Hölle und zurück hinter mir. Schon vergessen? Da werde ich diesen kleinen Spaziergang auch noch überstehen. Es geht um etwas völlig anderes!“ Er richtete sich weiter auf und setzte sich an die Bettkante. Mit seinen Händen umfasste er ihre Unterarme. „Anna! Ich muss nicht nur pinkeln … ich muss mehr! Bitte lass mir noch ein bisschen meine Würde! … Ja?“ Anna blickte ihn an und nickte verstehend. Aber er war noch nicht fertig mit seinen Ausführungen. Seine Miene war ernst und nachdenklich. „Wie lange bist du schon zusammen mit mir in dieser Villa gefangen? …Hmmm?“ Fragend blickte er sie an. „Wieviel Tage sind es? ... Acht oder mehr?“


    Wieder bewegte sie den Kopf schweigend auf und ab und legte unbewusst eine Hand wie zum Schutz auf ihren Bauch. Leise murmelte sie: „Ich habe aufgehört zu zählen!“


    Zärtlich strich er mit seinen Daumen über ihren Unterarm. In einem beschwörenden Tonfall fuhr er fort.
    „Machen wir uns nichts vor, mein Engel! Kein Schwein weiß wo wir sind! … Semir wird nicht kommen. Begraben wir diese Hoffnung einfach. Wir können ihm keine Nachricht zukommen lassen, … ihn informieren, wo wir sind.“


    Ben ließ seine Worte auf seine Freundin wirken, sah wie sie schluckte und schluckte, ihr Kehlkopf auf und ab hüpfte. Anna kniff ihre Augen zusammen und trotzdem sah er, wie es in ihren Augenwinkel feucht schimmerte, sah ihre Angst. Ihre Reaktion versetzte ihm einen Stich ins Herz.
    „Ich liebe dich Anna, dich und unser ungeborenes Kind. … Solange es in meiner Macht steht, werde ich nicht zulassen, dass dir und unserem Kind etwas passiert.“, versicherte er ihr.


    Anna schaute ihren dunkelhaarigen Freund an, der körperlich ein Schatten seiner selbst war, schaute in die Abgründe seiner dunkelbraunen Augen und lass darin, wie in einem Buch. Seine Liebe und Zuneigung zu ihr und auch seine Angst und Verzweiflung, dass ihr etwas geschehen könnte. Sie wollte ihm widersprechen, ihn auf seine Schwäche aufmerksam machen. Doch er schien es zu erahnen. Ben legte einen Finger auf ihre Lippen.
    „Nicht! … Sag es nicht!“ …
    Er legte seine Hände um ihre Wangen und zog sie sanft zu sich heran. Mit all seiner Liebe und Zuneigung, die er für sie empfand, küsste Ben seine Freundin und sie erwiderte den Kuss mit der gleichen Intensität. Als sie sich voneinander lösten, meinte er fast schon beschwörend:
    „Wir sind auf uns alleine gestellt, höchstens Elena kann und wird uns helfen, weil sie so wie wir aus diesem Gefängnis entkommen will. Gabriela, dieses rachsüchtige Weibsstück wird wieder zurückkommen!“ Er wandte seinen Kopf in Richtung der Zimmertür, „Durch diese Tür marschieren und du weißt, was dann passieren wird! Niemand wird sie dann aufhalten können.“ Er atmete mehrmals tief durch. „Ich lass mich von der nicht mehr wie ein Lamm zur Schlachtbank führen …!“ Ein Schauder durchlief seinen Körper und Anna konnte seine Gänsehaut unter ihren Fingerkuppen spüren. Eindringlich blickte er sie an. „Hör mir genau zu. Ich habe in den letzten Stunden nachgedacht. Wir haben keine andere Wahl, uns bleibt nur die Flucht!“

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