Nicht Aufgeben!

  • Kurze Zusammenfassung … was bisher geschah:


    Teil 1


    Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände wurde Ben zusammen mit Andrea und Aida entführt. In dem Glauben, dass Ben Jäger Informationen verheimlichen würde, wurde der Kommissar von seinen Entführern grausam misshandelt. Allen widrigen Umständen zum Trotz gelingt den drei Gefangenen die Flucht. Bei dem Ausbruch aus dem Schuppen wurde der Bruder von Gabriela Kilic von Ben getötet.
    Obwohl der Polizist schwer verletzt ist, folgte er Andrea und ihrer Tochter auf dem Weg in die Freiheit durch ein unwegsames Waldgelände und stürzte tragischer Weise einen Abhang hinunter. Es kommt zu dramatischen Szenen bis letztendlich Ben im Krankenhaus die Liebe seines Lebens, Anna, kennenlernt und Gabriela Kilic von einem Gericht zu einigen Jahren Haft verurteilt wird.
    Im Gerichtssaal schwört die Kroatin dem verhassten Polizisten Ben Jäger grausame Rache.


    Teil 2
    Nach einem wunderschönen Urlaub mit seiner Freundin Anna Becker, beginnt für Hauptkommissar Ben Jäger der Arbeitsalltag. Doch die Freude, seinen Kollegen Semir Gerkhan wieder zu sehen, wird durch die Spannungen in dessen Ehe mit Andrea getrübt. In der Ehe kriselt es gewaltig, was auch Einfluss auf das freundschaftliche Verhältnis zwischen Ben und Semir hat.
    Privat schwebt Ben auf Wolke 7 mit seiner großen Liebe Anna, bis sich seltsame Vorfälle in seinem privaten Umfeld mehren. Es kommt durch Intrigen, zu Vorwürfen und zu guter Letzt gerät er unter Mordverdacht. Ben verliert seinen Job verliert und das Vertrauen seiner Arbeitskollegen. Sein einziger Halt in dieser Zeit ist seine Freundin Anna. Durch üble Machenschaften kommt es zu einem heftigen Streit zwischen Ben und Anna und die große Liebe steht vor dem endgültigen Aus. Am gleichen Abend verschwindet der junge Kommissar spurlos.
    Aufgerüttelt durch die Flucht von Gabriela Kilic, beginnt Semir intensiv eigene Untersuchungen anzustellen und die Taten, die seinem Freund und Partner zur Last gelegt worden waren, in einem anderen Licht zu betrachten. Bei ihm mehren sich die Zweifel und er hegt die Vermutung, dass diese Frau Ben entführen ließ. Allein der Gedanke daran, dass sein Freund und Partner sich in der Gewalt dieser Frau befand, trieb ihn an dem Rand des Wahnsinns.
    Als sich Gabriela Kilic, als diejenige outet, die die Fäden im Hintergrund gezogen hat, erkennt Ben Jäger, wer für seinen Alptraum der letzten Tage und Wochen verantwortlich ist. Für den Kommissar beginnt ein langer und schwerer Überlebungskampf. In den Tagen seiner Gefangenschaft bereitet Gabriela Kilic Ben die Hölle auf Erden. Mit allen Tricks versucht diese Frau ihr Opfer psychisch und physisch zu brechen, um ihn für den Tod ihres Bruders Luca und für ihren Gefängnisaufenthalt büßen zu lassen. Als sie ihm schließlich droht, vor seinen Augen Anna und Julia zu töten, trifft Ben eine schwere und einsame Entscheidung. Um das Leben seiner Liebsten zu retten, opfert er sich selbst.

    Doch sein Plan missglückt und schwer verletzt beginnt Ben Jäger seinen letzten Kampf.

  • Semir saß im Wartebereich vor dem OP-Saal und wartete auf Anna. Zusammen mit ihm schienen die Angehörigen des Patienten das Ende der Operation herbeizusehnen. Die beiden Frauen waren offensichtlich Mutter und Tochter, mutmaßte er auf Grund ihrer äußerlichen Ähnlichkeit. Während die ältere Weißhaarige ständig vor sich hin schluchzte, wurde sie von der jüngeren Frau liebevoll im Arm gehalten und getröstet. Der Eingriff sollte seit einer halben Stunde zu Ende sein. Eine OP-Schwester hatte Semir versprochen, die junge Ärztin sofort zu ihm zu schicken.


    Der Kommissar beachtete die beiden Frauen nicht weiter und hing selbst seinen trüben Gedanken hinterher. Zum einen war da Anna. Er bewunderte die junge Frau. War sie noch vor Tagen in Tränen aufgelöst gewesen, geplagt von ihren Schuldgefühlen zu keiner vernünftigen Handlung mehr fähig gewesen, hatte sie sich gewandelt. Dem Türken war klar, dass sie ihr wahres Gefühlsleben hinter einer Maske verbarg, aber das beherrschte sie meisterhaft. Zum anderen war da der Attentatsversuch auf Julia Jäger, der ihm zeigte, dass es hier nicht nur um Ben ging, sondern auch die wichtigsten Bezugspersonen in dessen Umfeld zu potentiellen Anschlagszielen von Gabriela Kilic zählten. Seiner Meinung nach befand sich auch Anna in größter Gefahr und sollte ebenso wie Julia Jäger Personenschutz bekommen. Leider sah dies der Staatsanwalt van den Bergh wieder einmal anders. Zwischen den beiden Männern war abermals ein hitziges Wortgefecht entbrannt, als dieser Semirs Vermutung als Hirngespinst verharmloste. Nie hätte Semir gedacht, dass er die Rückkehr von einer Frau Dr. Schrankmann herbeisehnen würde.


    Er hatte sein Gesicht in seinen Händen vergraben. Sein Kopf schmerzte. Dazu peinigte ihn die Ungewissheit über Bens Schicksal. Der Warteraum heizte sich durch die pralle Nachmittagssonne, die gnadenlos auf die Fensterfront brannte, langsam auf. Kleine Schweißperlen standen auf Semirs Stirn. Außerhalb des Gebäudes wurde die Luft durch die tropische Hitze und Schwüle nahezu unerträglich. Semir erhob sich von seinem Plastikstuhl, an dem er förmlich festzukleben schien. Der Schweiß hatte seine Kleidung durchtränkt. Durch das Fenster beobachtete er die menschenleeren Straßen. Wer konnte, blieb an solch einem Tag im kühlen Inneren eines Hauses oder suchte sich einen schattigen Platz an einem Badesee oder Freibad. Am Horizont türmten sich die ersten riesigen Wolken auf, die Vorboten der angekündigten Gewitterfront, die der tropischen Hitzewelle ein Ende setzen sollte. Im Hintergrund hörte er einen Arzt, der leise mit den Angehörigen des Patienten redete. Das Stimmengewirr hinter ihm nahm an Lautstärke zu.


    Eine der OP-Schwestern hatte Anna mitgeteilt, dass ein Polizist von der Autobahnpolizei im Warteraum vor dem OP-Bereich auf sie wartete. Während sie ihre OP-Kleidung abstreifte und in die dafür vorgesehenen Behälter warf, fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild. Nach wie vor zeichneten sich unter ihren Augen dunkle Ringe ab. In ihr glomm ein Funken Hoffnung auf, dass der Türke die erlösende Botschaft für sie hätte. Ben war gefunden worden. Gleichzeitig hämmerten die nagenden Zweifel auf sie ein. Seit einigen Tagen wohnte sie bei ihrer Freundin Anja. Die Ärztin hatte es einfach in ihrer Wohnung nicht mehr ausgehalten. Anja hatte extra ihre Schichten getauscht, um abends und nachts bei Anna zu sein. Die einfühlsamen Gespräche an den langen Abenden waren Balsam auf der geschundenen Seele der Ärztin gewesen. Sie rief sich das Gespräch des ersten Abends ins Gedächtnis zurück.


    Wieder einmal hatte ein Heulanfall sie in ihrer Verzweiflung übermannt. Anja hatte sich zu ihr auf das Sofa gesetzt, ihren Kopf auf ihren Schoss gebetet und war ihr beruhigend mit ihren Fingern über das Haar gestrichen.
    „Kindchen … Kindchen! So geht das mit dir nicht weiter!“, murmelte sie. Die erfahrene Intensivschwester hatte während ihres beruflichen Alltags schon viele menschliche Tragödien erlebt und wandte ihren ganzen Erfahrungsschatz an.

    „Ich verstehe dich ja, besser als du denkst!“, und ihre Stimme wurde auf einmal sehr ernst. „Das war ich dir jetzt sage, hört sich brutal an, aber es ist die Wahrheit. Egal wie viele Tränen du noch vergießen wirst, keine Einzige wird dir Ben zurückbringen, keine Einzige kann rückgängig machen, dass ihr euch im Streit getrennt habt. … Verstehst du! Keine!“ Sie umfasste dabei Annas Kinn, blickte ihr direkt in deren dunklen Augen und wischte mit ihrem Daumen ein paar Tränen von den Wangen. „Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du verzweifelst daran, verlierst dich in deinem Selbstmitleid und gehst daran zu Grunde und dein Herz zerbricht endgültig. Oder du beißt endlich die Zähne zusammen.“ Dann tippte sie mit ihrem Zeigefinger auf die linke Brusthälfte. „Ich weiß, der Schmerz, den du da drinnen im deinem Herzen empfindest, zerreißt dich. Nichts und niemand wird ihn lindern können, ja außer der Zeit. Mit der Zeit wirst du lernen, damit zu leben, denn die Zeit heilt alle Wunden. Du bist nicht der erste Mensch, den ein Schicksalsschlag gnadenlos trifft. Niemand kann dir vorhersagen, ob man Ben jemals finden wird. Niemand!“

    In Gedanken fügte sie hinzu, ob man ihn lebend finden würde. Dabei hatte Anja die Bilder des vergangenen Jahres, als der junge Polizist auf der Intensivstation um sein Leben kämpfte, noch im Kopf. Ihre Rechte wanderte tiefer zu Annas Unterbauch und strich zärtlich darüber.

    „Da drinnen wächst neues Leben heran. Es ist euer Kind. Bens Kind. Du hast die Verantwortung für dieses kleine Würmchen. Es deine Zukunft! Es ist eure Zukunft und sollte dir Hoffnung geben.“

    Anja zog Anna etwas höher an ihre Brust heran, so dass sie den Herzschlag der Älteren hören konnte. Das gleichmäßige Pochen hatte etwas Beruhigendes für sie gehabt, bedeutete es Leben.


    Langsam schritt Anna den langen Gang entlang bis zum Wartebereich. Schon von weitem erkannte sie den Türken, der auf dem Boden kauerte, seine Arme hatten seine Beine umschlungen und seine Stirn ruhte auf den Knien.


    „Semir?“, sprach sie ihn leise an und tippte ihm auf die Schulter. Der Türke blickte auf und erhob sich etwas schwerfällig aus seiner kauernden Haltung.
    Anna stand vor ihm und strahlte ihn hoffnungsvoll an.

    „Hast du Neuigkeiten von Ben? Hast du ihn gefunden?“

  • Auch ohne das er es aussprach, begriff sie, er hatte keine Spur von ihrem Freund.
    „Nein, tut mir leid Anna!“ Er seufzte. „Ich bin wegen Julia hier!“
    Mit wenigen Worten schilderte er der Ärztin, was sich am späten Vormittag auf der Privatstation zugetragen hatte. Blankes Entsetzen und ein Anflug von Panik erfassten Anna. Sie fing an zu zittern und ihre Knie wurden weich.


    „Ich stand seit zehn Uhr im OP. Dringender Notfall, deswegen musste sogar ich mit ran. Auf Grund von Komplikationen zog sich der Eingriff länger, als erwartet hin. Da drinnen kriegst du nichts mit, was außen herum passiert.“, meinte sie entschuldigend und schwieg einen Moment, dachte daran, dass es wohl für lange Zeit ihre letzte OP gewesen war. Ihr Chef hatte sie auch nur aus Personalnot heraus nochmals zur Unterstützung an den OP-Tisch gelassen.


    „Und was ist mit Julia und dem Kleinen? Geht es ihnen gut?“ hauchte sie tonlos. Automatisch ließ sich auf einen der Plastikstühle nieder, Semir stand auf. Er nahm einen der Plastikstühle und stellte ihn vor Anna hin. Darauf nahm er Platz und umschlang Annas Hände.
    „Alles gut! Die Aufregung hat Julia zugesetzt. Außerdem hatte sie heute Morgen eine heftige Auseinandersetzung mit Peter. Er hat durch seine Anweisungen verhindert, dass sowohl du als auch ich sie in den letzten Tagen besuchen konnten.“
    „Oh mein Gott!“, entfuhr es ihr und entsetzt schlug sie ihre Hände vor ihr Gesicht. „Ich habe es die ganze Zeit über geahnt, dass Peter dahintersteckt. Nur ihm traue ich so was zu. Was wird nur Julia von mir denken? Dass ich sie im Stich gelassen habe?“
    Von draußen war das erste dumpfe Grollen des Donners zu hören. Der Himmel fing an sich zu verdunkeln. Semir umfasste Annas Schultern.
    „Hey, Julia kennt die Wahrheit und ich glaube, sie könnte im Moment etwas moralische Unterstützung und eine gute Freundin gebrauchen.“
    „Ich muss auf Station noch dringenden Papierkram erledigen. Aber wenn ich mich nach Dienstende umgezogen habe, gehe ich sofort zu ihr!“
    „Halt Anna! Da ist noch etwas.“ Semir kniff die Lippen zusammen. „Ich denke, du bist ebenfalls in Gefahr!“
    „Ich?“, fiel sie ihm ins Wort „Wieso ich?“
    „Bitte Anna! Kannst du dir nicht ein paar Tage frei nehmen und zu deinen Eltern fahren? Ich würde mich wohler fühlen, wenn du dort in Sicherheit bist.“
    Die junge Frau überlegte, bevor sie antwortete: „Muss das wirklich sein? Ich bin doch schon seit Tagen bei Anja zur Untermiete eingezogen. Reicht das nicht aus? Ich will hier in Köln sein, wenn du Ben findest!“
    „Ehrlich?“ Er ließ die Frage für einige Atemzüge im Raum stehen, bevor er weiter sprach. „Mir wäre wohler, wenn du eine Zeit lang aus Köln verschwinden würdest. Ich könnte Ben niemals mehr in die Augen schauen, wenn dir etwas passiert. Bitte, denk noch mal drüber nach! Keine Angst, ich informiere dich sofort, wenn ich Neuigkeiten von Ben habe.“
    „Na gut!“ lenkte sie ein bisschen ein „Ich habe morgen früh noch einen wichtigen Arzttermin. Danach werde ich mit meinem Chef reden!“
    In Gedanken fügte sie hinzu, mit dem Schwangerschaftsattest ihrer Frauenärztin sollte eine Freistellung von der Arbeit kein Problem sein. Erleichtert atmete Semir auf. Er hatte mit mehr Widerstand gerechnet. Anna konnte genauso eigensinnig und dickköpfig sein wie Ben. Zum Abschied schärfte der Kommissar ihr nochmals ein „Bitte pass auf! Wenn dir irgendetwas komisch vorkommt, ruf mich an! Versprich es mir!“
    „Zu Befehl!“ sie salutierte dabei andeutungsweise „Papa Semir, mache ich!“
    Der Satz entlockte dem Türken ein Schmunzeln. Sie umarmten einander und verabschiedeten sich.


    ****


    Uni-Klinik Köln
    Draußen zog das Gewitter unaufhaltsam näher. Semir war zurück auf die PAST gefahren. Anna huschte durch die langen Gänge von den Umkleideräumen im Kellergeschoß zurück in Richtung des Treppenhauses. Hier unten waren die Temperaturen erträglich. Die Ärztin genoss die angenehme Kühle. Das Grollen des Donners kam näher. Auf der Privatstation angekommen, atmete die junge Ärztin erleichtert auf. Diese Krankenstation besaß das Privileg einer Klimaanlage. Freundlich wurde sie von ihren ehemaligen Kolleginnen begrüßt. Überall gab es noch hitzige Debatten wegen des Überfalls auf Julia Jäger am Vormittag. Doch Anna ließ sich nicht aufhalten, als eine der Schwestern versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. „Nicht jetzt Lisa, später vielleicht. Ich will erst mal zu Frau Jäger!“
    Vor der Zimmertür von Julia saßen ein älterer Polizist und ein Zwei-Meter-Typ, der definitiv einer Bodybuilder Fabrik entsprungen war. Zwischen dem Security und Anna entbrannte eine heftige Diskussion.


    „Tut mir leid, Frau Dr. Becker. Aber sie stehen nicht auf der Besucherliste und der Liste der behandelnden Ärzte, die mir Herr Kreuzer-Jäger übergeben hat.“


    „Hör mal zu Popey! Ich weiß ja nicht, aus welcher Mucki-Bude die dich raus gelassen haben. Vielleicht haben Sie dir ja auch ein bisschen was von deinem Spatzenhirn gelassen, denn entweder du lässt mich da rein zu Frau Jäger, auf deren ausdrücklichen Wunsch ich extra hier bin oder du hast so was von Ärger am Hals, wegen Freiheitsberaubung …!“, drohte Anna, „denn seit wann hat Peter Jäger zu bestimmen, wer seine Frau besuchen darf und wer nicht!“

    Diesmal ließ sich Anna nicht einschüchtern oder abwimmeln. Beeindruckt von dem couragierten Auftritt der Ärztin gab der Security Mann nach.

    „Ich frage mal vorsichtshalber bei Frau Jäger nach, wenn sie sich bitte einen Moment gedulden?“ Sprach es, drehte sich um und klopfte sachte an der Tür. Er steckte seinen Kopf in den Türspalt und murmelte „Entschuldigen Sie die Störung Frau Jäger! Hier ist eine Frau Dr. Becker, die zu ihnen möchte!“


    „Anna? … Anna ist hier! Warum lassen sie die nicht rein?“, forderte Bens Schwester „Popeye“ auf Anna durchzulassen. Er trat zur Seite und gab für Anna den Weg frei.

  • „Anna! … Anna, du bist wirklich gekommen! Oh mein Gott, Semir hat Wort gehalten!“
    Bereitwillig räumte die Hebamme ihren Platz und beobachtete, wie sich die beiden jungen Frauen zur Begrüßung in den Armen lagen.
    „Frau Jäger?“, versuchte Marianne kurzzeitig Julias Aufmerksamkeit zu gewinnen, „Frau Jäger, ich müsste noch ein paar Kleinigkeiten von der Entbindungsstation für das Baby holen.“

    Nach dem missglückten Attentat hatte man Julia in ein anderes Einzelzimmer verlegt, dessen Zugang leichter zu bewachen war. Dieses bedurfte allerdings noch einiger Ausstattungsgegenstände für die junge Mutter, um das Neugeborene optimal versorgen zu können. Die Hebamme hatte während des Nachmittags schon eine Wickelauflage, Windeln und Pflegeutensilien herbeigeschafft.

    Die frischgebackene Mutter antwortete: „Geht in Ordnung Marianne, ich habe ja Gesellschaft!“
    Die Hebamme hatte schon bei der Umarmung der beiden jungen Frauen bemerkt, dass die Ärztin die richtige Ablenkung für Julia Jäger sein würde. Beruhigt verließ sie das Zimmer und schärfte den beiden Wächtern vor der Tür ein: „Lasst die Zwei da drinnen nach Möglichkeit ungestört!“

    Julia forderte Anna auf, zu sich auf die Bettkante zu setzen. Sie umschlang mit ihren Händen die Hände ihrer Freundin. Gegenseitig schütteten sie ihr Herz aus. Anna berichtete von dem verhängnisvollen Morgen, der letztendlich zum Konflikt und Rauswurf von Ben führte.
    „Du musst mich verstehen Julia, da war diese billige S.chlampe, zeigte mir Fotos von diesem süßen kleinen Jungen und behauptete, dass Ben der Vater sei. Und während Ben mir ewige Liebe und Treue geschworen hatte, behauptete diese Frau, er hätte gleichzeitig ein Verhältnis mit diesem billigen Flittchen. Und … und …!“
    Verdammt … verdammt… nicht schon wieder ein hysterischer Heulanfall versuchte Anna sich zusammen zu reißen. Nicht jetzt. Dieses Brennen in ihrer Kehle breitete sich unaufhaltsam aus, sie schluckte und schluckte, versuchte mühevoll das Aufschluchzen zu unterdrücken. Doch ihr Hormonhaushalt und Gefühlswelt spielte verrückt, ihre Emotionen kochten hoch. Einzelne Tränen lösten sich und rannen die Wangen herunter.

    „Oh mein Gott Anna! Bitte beruhige Dich doch! … Du brauchst dich nicht bei mir zu rechtfertigen. ... Zu entschuldigen ... Wohl jede Frau hätte im ersten Moment so wie DU reagiert!“
    Julia richtete sich etwas in ihrem Bett auf, zog Anna zu sich heran und umschlang sie mit ihren Armen.
    „Bitte, nicht weinen! Wir sind doch Freundinnen. Ich mache Dir keine Vorwürfe. Ich verstehe dich doch. Und du wirst sehen, wenn Ben die Wahrheit kennt, verzeiht er dir alles. … Mein Gott, mein Bruder liebt dich!“
    „Das ist es noch nicht alles! Ich bin schwanger Julia. An jenem Morgen hatte ich einen Schwangerschaftstest gemacht, weil meine Tage überfällig waren. Positiv! … Und dann … dann kam diese Bitch in meine Wohnung marschiert, grinste mich überheblich und siegessicher an …! Meine Zukunftspläne zerstört … meine große Liebe zerstört … ich …fix und fertig und einfach am Ende!“, stotterte Anna aufgelöst vor sich hin.
    „Hey, alles wird wieder gut Anna! Du wirst es sehen!“ Julia hielt Anna weiter im Arm und strich ihr liebevoll über den Rücken, während sie weiter sprach. „Aber du meintest doch noch vor wenigen Tagen, dass ihr euch mit Nachwuchs noch Zeit lassen wolltet. Ein Mitbringsel aus eurem Italienurlaub?“
    Statt einer Antwort, fing die junge Ärztin richtig an zu schluchzen.
    „Oh Anna, nicht weinen, sonst fange ich auch gleich an!“

    „Schon gut! … Schon gut!“, beschwichtigte die junge Ärztin ein bisschen tränenerstickt, „Es geht gleich wieder!“

    „Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. ... Ich freue mich für euch! ... Für dich! ... Für Ben! … Weiß Ben etwas davon, dass er Papa wird?“ Julia strahlte plötzlich über das Gesicht. Ihre Traurigkeit war wie weggewischt. „Du wirst sehen, mein Bruder wird ein wundervoller Vater werden.“

    Anna löste sich aus der Umarmung, griff nach einem der Kleenex-Tücher und schnaubte hinein. Dabei bewegte sie den Kopf hin und her. Ein trauriger Ausdruck huschte in ihre Augen.

    „Nein, er weiß nichts davon … ich …!“ Die junge Ärztin kämpfte darum, die Kontrolle über ihr Gefühlschaos zu bekommen. Nicht noch ein Heul-Anfall. Was sollte Julia nur von ihr denken?
    Draußen brach zur selben Zeit der Gewittersturm so richtig los. Der Starkregen trommelte unaufhörlich gegen die Fensterscheiben. Julia hatte die richtige Therapie für Anna.
    „Willst du mal Finn nehmen?“
    Sie hatte es noch nicht ausgesprochen, als sie das Neugeborene Anna in die Arme legte. Deren Augen bekamen einen leuchtenden Glanz. Sie wisperte ihrer Freundin zu: „Kannst du dir vorstellen, wie stolz und glücklich Ben gewesen wäre, wenn er sein Patenkind im Arm gehalten hätte!“
    Anna wiegte sanft das Neugeborene, strich ihm zärtlich über das Gesicht und war hin und weg, als das Baby mit seinen winzig kleinen Fingern ihren Zeigefinger umklammerte und versuchte daran zu nuckeln. Binnen weniger Minuten waren die beiden Frauen in einem Gespräch über Schwangerschaft und die Geburt vertieft.

    Marianne, die Hebamme, öffnete leise die Zimmertür und lauschte dem Gespräch der jungen Frauen. Ihre Annahme hatte sich bestätigt, der Besuch der jungen Ärztin war die beste Therapie für die junge Mutter.

    Irgendwann fiel Annas Blick auf die Uhr, die über der Tür hing. Erschrocken meinte sie: „Oh Gott, ich bin schon viel zu spät dran. Anja wartet schon auf mich!“
    Sie zückte ihr Handy aus der Handtasche und informierte ihre Freundin über die Verspätung.

    „Du wirst schon sehen Anna, alles wird wieder gut!“ meinte Julia optimistisch zum Abschied. „Ich kenne doch meinen Bruder. Egal was passiert ist, Ben lässt sich nicht unterkriegen! Der gibt nicht auf!“
    Mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen, gab Anna zur Antwort: „Ja du hast Recht Julia! Ben lebt noch! Ich weiß nicht wieso und warum, aber ich kann es spüren!“

    Die beiden Frauen umarmten sich zum Abschied nochmals innig und die Ärztin verließ das Zimmer. Als sie den Gang entlang in Richtung der Stationstür schritt, wurde diese geöffnet und ein Mann kam ihr entgegen.
    „Na Klasse, das hat mir heute noch zu meinem Glück gefehlt!“, entfuhr es ihr leise. Die Begegnung war unvermeidlich.

  • In Gedanken versunken betrat Konrad Jäger die Privatstation der Uni-Klinik, um nochmals seine Tochter und seinen Enkel zu besuchen. Er wollte sich vergewissern, dass auch alles in Ordnung ist. Die Sorge um seinen verschwundenen Sohn hatte ihn in den vergangenen Tagen altern lassen. Im Nachhinein betrachtet, hätte er sich selbst für sein Verhalten Ben und Anna gegenüber ohrfeigen können. Immer wieder hatte er sich in den vergangenen Tagen gefragt, wie hatte es nur so weit kommen können? Als er die Freundin seines Sohnes auf dem Krankenhausflur erkannte, war dies für ihn, wie ein Wink des Schicksals. Die Sorgen und Ängste der letzten Tage hatten auch bei der jungen Frau deutliche Zeichen hinterlassen. Sie sah müde aus und unter ihren Augen waren dunkle Schatten zu sehen. Ihr Gesicht war blass und ein bisschen schmal geworden. Es fiel ihm sogar leichter als erwartet die junge Frau anzusprechen.


    „Hallo Anna!“, begrüßte er sie und unterdrückte den Impuls, der plötzlich in ihm aufkam, sie einfach in den Arm zu nehmen und tröstend zu halten. „Hätte Sie ein paar Minuten Zeit für mich. Ich muss mit ihnen reden. Bitte … Ich war bereits bei ihnen zu Hause und …!“

    Überraschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie ihn unterbrach „Ist gerade ungünstig. Ich bin schon zu spät dran Herr Jäger!“

    Davon ließ sich Konrad nicht beirren. Er umfasste sanft ihre Arme.
    „Bitte! … Anna! Nur ein paar Minuten! … Bitte!“
    Sie seufzte auf und nickte. Mit ihrem Kopf deutete sie auf eine der Besucherecken, in denen gemütliche Sessel und bereitgestellte Getränke die Besucher und Patienten zum Verweilen außerhalb des Krankenzimmers einluden.
    „Setzen wir uns einen Moment dort drüben hin. Ich denke, da können wir ungestört reden!“


    Die beiden setzten sich gegenüber, nur ein kleiner Beistelltisch trennte sie. Wieder umschlang Konrad Annas Hände und blickte ihr direkt in die Augen, die ihn erwartungsvoll anschauten.
    „Ich muss mich bei ihnen und Ben entschuldigen!“ Seine Stimme klang merkwürdig heißer und er musste ein paar Mal schlucken, um diesen Kloß, der sich in seiner Kehle breit machte, hinunter zu würgen. „Ich weiß nicht, wie ich all meine Fehler wieder gut machen kann, die ich in den letzten Monaten begangen habe. Das Unrecht … an ihnen und vor allem an Ben!“ Für einen Augenblick schloss er die Augen und sammelte sich. „Vor allem an Ben! … Ich war ein Narr. Ein verblendeter Narr, der sein Leben lang nur dem Geld hinterher gerannt ist, der für ein gutes Geschäft seine Seele verkauft hätte und dabei habe ich das Wichtigste vergessen, was man im Leben besitzen kann: Meine Familie. Meinen Sohn!“ Er seufzte abgrundtief auf und fuhr sich mit seiner Rechten durch seine grauen Haarlocken, die wirr nach allen Seiten abstanden.

    „Ich war so ein hirnverbrannter Idiot gewesen! … Ihre Worte vor einigen Tagen in meinem Büro … Die haben wie ein Blitz bei mir eingeschlagen … mir die Augen geöffnet … und nun stehe ich da vor dem Scherbenhaufen.“ Wieder umschlang er Annas Hände und konnte das Zittern nicht unterdrücken. „Verstehen Sie? Ich liebe Ben …. Er ist mein Sohn … ich habe ihn immer geliebt und jetzt … jetzt …!“
    Das Würgen schnürte ihm die Kehle zu. Er konnte es nicht aussprechen, was er dachte. Jetzt … war es vielleicht zu spät, es ihm selbst zu sagen. „Ich war einfach blind … irgendwie blind und habe Peter vertraut. Ich weiß, dass entschuldigt nicht, wie ich mich ihnen gegenüber verhalten habe. Aber ich kann sie nur bitten … anflehen, mir zu verzeihen. Bitte, nennen sie mich Konrad, einfach Konrad und ich versuche, zumindest in Zukunft …!“ Seine Stimme versagte und er rang um seine Fassung. „Bitte Anna, bitte geben sie mir … Gib Du mir eine zweite Chance!“


    Er sah das ungläubige Staunen in ihren Augen, die weit aufgerissen waren. Konrad stand auf, zog sie an ihren Händen mit hoch und nahm sie einfach in den Arm.

    „Ich meine es ehrlich … Anna!“

    Er hörte ihr unterdrücktes Schluchzen und es war ihm egal, ob ihre Tränen sein teures Hemd benetzten, liefen ihm doch selbst stille Tränen über die Wangen.
    „Sie … ähm … du … liebst ja Ben wirklich!“, murmelte sie mehrmals vor sich hin.


    Als Konrad Bens Freundin mit seinen Armen umschlang und an seine Brust gedrückt hielt, fragte er sich zum wiederholten Male, wie hatte es so weit kommen können, dass er solche Fehler in seinem Leben gemacht hatte. Erst in den vergangenen Tagen hatte er erkannt, welche Intrigen sein Schwiegersohn Peter gesponnen hatte, welche Märchen und Halbwahrheiten dieser über seinen Sohn Ben und Anna ihm erzählt hatte, die arme Krankenschwester, die es nur auf den reichen Millionenerben abgesehen hatte. Und er, der alte Narr hatte sie geglaubt, in sich aufgesogen, wie ein ausgetrockneter Schwamm die Feuchtigkeit. Warum nur hatte er Ben nicht vertraut? Warum nur? Sich mit seinem Sohn ausgesprochen, er verstand es selbst nicht. Annas Besuch und die darauffolgenden Ereignisse in der Firma hatten ihm die Augen geöffnet, hatten Peter plötzlich in einem anderen Licht dastehen lassen. Über die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, wollte er sich momentan nicht den Kopf zerbrechen. Alles was zählte, war Ben. Sein Sohn. Was hatte er in den letzten Tagen darum gebetet, dass Ben noch am Leben war, zurückkommen würde, er sich mit ihm aussprechen könnte, er sich mit ihm aussöhnen könnte. Vielleicht würde auch wieder diese alte Vertrautheit zwischen ihnen aufkommen, die es zwischen ihnen gegeben hatte, bis er seine berufliche Laufbahn als Polizist eingeschlagen hatte. Mittlerweile verstand er die Handlungsweise seines Sohnes. Jeder musste den für ihn vorbestimmten Weg gehen.
    Anna hatte sich wieder etwas beruhigt, löste sich von ihm und schaute ihn aus ihren rot unterlaufenen Augen an. Auch bei ihm waren die Tränen versiegt, deren er sich nicht schämte. Seine Stimme klang merkwürdig belegt.


    „Anna, ich schwöre es, ich mach alles wieder gut. Egal was die Polizei und dieser Staatsanwalt mir heute Nachmittag erzählt haben! Ben wird … nein! … Ben muss einfach wieder zurückkommen. Ich kann …!“ Er schüttelte sein Haupt, „Nein! … Ich will die Hoffnung einfach nicht aufgeben. Ben ist ein Kämpfer. Ja, mein Sohn ist ein Kämpfer, der gibt nicht auf. Und ich könnte mir keine größere Ehre vorstellen, als das er um deine Hand anhalten würde und du meine Schwiegertochter wirst.“
    Verzweifelt versuchte sie ihre Tränen zu unterdrücken, nickte ihm zu und murmelte, „Ich gebe die Hoffnung auch nicht auf. Tief da drinnen spüre ich, dass Ben noch am Leben ist!“ Dabei klopfte sie mit ihrer Rechten auf die linke Brusthälfte. „Doch ich muss gehen. Meine Freundin wartet auf mich und ich möchte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen macht.“


    Zum Abschied drückte Konrad sie nochmals innig und sagte: „Pass auf dich auf Anna!“


    Er schaute ihr hinterher, bis sie auf den Krankenhausfluren verschwunden war. Wieder schalt er sich einen Narren, der sein Hirn ausgeschaltet hatte. Wie hatte er diese junge Frau, die mit so viel Herzblut seinen Sohn liebte, verkennen können.

  • Im Nirgendwo … einige Zeit vorher
    Remzi kam ziemlich angepisst die Treppe heruntergestürmt. Lauthals stieß er eine unbekannte Anzahl von Flüchen in seiner Heimatsprache aus. Seine Laune war nach dem fehlgeschlagenen Anschlag und dem Streit mit Gabriela auf dem absoluten Nullpunkt angelangt. Am liebsten hätte er seine Sachen gepackt und wäre schon vor Einbruch der Nacht aus Köln verschwunden gewesen. Zwei Gründe hielten ihn davon ab: Er war Gabriela gegenüber verpflichtet. Mehr als einmal hatte sie ihm bei ihren früheren gemeinsamen Unternehmungen das Leben gerettet und das liebe Geld. Die Bezahlung für seine Dienste war fürstlich und er war wie so oft in der Vergangenheit pleite.


    Camil erwartete ihn am Treppenaufgang.

    „Hey, rauch erst einmal eine Kippe!“, meinte er und hielt seinem Freund eine Packung Zigaretten hin. „Hebt zwar nicht die Stimmung an, aber beruhigt die Nerven!“
    Die beiden Söldner begaben sich zum Eingangsbereich der Villa, der im Schatten lag. Draußen auf der Zufahrt flimmerte die Luft in der Hitze. Die Schwüle trieb den beiden Freunden den Schweiß auf die Stirn. Während sie den Rauch der Zigaretten tief inhalierten, informierte der Ältere seinen Freund über das Gespräch mit Gabriela und das Ultimatum, welches er ihr gesetzt hatte. Nach der dritten Kippe meinte Remzi, „Egal wie sich Gabriela entscheidet, wir müssen die verräterischen Spuren beseitigen und die Leiche des Albaners verschwinden lassen. Komm mit in den Keller!“


    Die nächsten Stunden verbrachten Camil und Remzi damit, den Partyraum zu säubern. Als sie ihre Arbeit beendet hatten, deutete nichts mehr darauf hin, welches Drama sich in diesem Zimmer noch vor ein paar Stunden hier abgespielt hatte und Ben tagelang gefoltert worden war. Selbst die Folterinstrumente waren verschwunden. Die Leiche des Albaners war in einem Grab, welches der Grauhaarige im weitläufigen Park ausgehoben hatte, verscharrt worden.


    Nach getaner Arbeit brachte selbst eine kalte Dusche nicht die gewünschte Abkühlung. Völlig verschwitzt saßen die beiden Söldner mit entblößtem Oberkörper in einem schattigen Platz auf der Terrasse. Der Tag war so drückend heiß und schwül geworden, wie es der Wetterbericht angekündigt hatte. In ihrer Hand hielten sie eine Flasche gekühltes Bier. Die nackten Füße standen in einer Wanne mit kaltem Wasser. Darin lagerte noch ein ansehnlicher Vorrat an Bier. Die beiden Freunde nutzten die ruhigen Minuten, um über längst vergangene Zeit zu sprechen, über ihre Zukunftspläne und über ihren Job hier in Köln. Im Haus herrschte eine merkwürdige Stille.


    Im Laufe des späten Nachmittags waren am Horizont die ersten dunklen Wolken aufgezogen, die die herannahende Gewitterfront ankündigten. Das dumpfe Grollen des Donners, das die Vorboten begleitete, kam näher und näher. Der Wind frischte auf und verwandelte sich kurze Zeit später in die ersten Sturmböen.


    Remzi und Camil traten den Rückzug vor den Urgewalten der Natur an. In Minutenschnelle hatten sie die Terrasse leer geräumt. Orkanböen fegten über das Anwesen hinweg. Bei einigen Bäumen im Park brachen unter den Windstößen morsche Äste und fielen zu Boden. Die herannahende Wolkenwand hatte den Himmel verdunkelt. Gleisende Blitze erhellten für Sekundenbruchteile die Umgebung, gefolgt vom Grollen des Donners. Vereinzelte große Regentropfen klatschten auf die Terrasse und verwandelten sich innerhalb kürzester Zeit in Starkregen. Die Natur dampfte, dankte für die ersehnte Abkühlung. Für einige Minuten standen die beiden Söldner an der großen Terrassentür und beobachteten das Schauspiel der Naturgewalten.


    *****
    Für einen flüchtigen Augenblick erlangte Ben das Bewusstsein zurück und bereute es augenblicklich. Sein Körper bestand einfach nur noch aus Schmerz, einem übermächtigen Schmerz, der bis in die letzte Zelle seines geschundenen Körpers gedrungen war. Stöhnend lag er auf der Bodenmatte und presste seine Hände gegen die Schussverletzung am Bauch. Der Geschmack von Blut breitete sich in seinem Mund aus. Er hatte sich seine Unterlippe vor Schmerzen blutig gebissen. Sein Magen zog sich zusammen und rebellierte gegen den eisenhaltigen Geschmack in seinem Mund. Er fing an zu würgen … und würgte … und würgte bis nichts mehr raus kam. Krampfhaft rang er nach Atem. Neue Schmerzenswellen durchfluteten seinen Körper, als er versuchte, seinen Kopf und seinen Körper aus der Lache von Erbrochenen weg zu robben. Er konnte förmlich spüren, wie sich durch die leichte Bewegung seine Eingeweide verkrampften. Er brüllte seine Qualen und Not in die Stille des Raumes hinaus. Die schlimmste Folter der vergangenen Tage war verglichen mit dem, was er momentan durchlebte ein Nichts. Er krümmte sich am Boden, wand sich unter den Feuerlohen, die ihn durchfluteten.
    Warum lebte er noch?
    Warum hatte dieser albanische Narr nur so daneben gezielt und damit sein Leid und seine Qualen noch vergrößert? Warum war das Schicksal so grausam zu ihm?

    Ihm war kalt … einfach nur kalt. Sein Körper zitterte. Seine Hände zitterten. Sein Herzschlag raste in ungeahnte Dimensionen. Er war am Ende. Ben schloss die Augen, in der Hoffnung nie wieder zu erwachen. Er konnte und wollte nicht länger um sein Leben kämpfen. Der Dunkelhaarige wollte nur noch eines … Abtauchen in die Tiefen einer Bewusstlosigkeit, dem Schmerz entfliehen und eigentlich wollte er nur noch sterben … sterben, das war sein sehnlichster Wunsch.

  • Remzi stand neben seinem Kumpel am großen Terrassenfenster. Im Gegensatz zu dem Schnauzbärtigen, der hinaus starrte und verfolgte, wie das Unwetter langsam abzog, galt die Aufmerksamkeit des Grauhaarigen alleine Elena, die in der Küche das Abendessen zubereitete. Genüsslich leckte sich der Söldner über seine Lippen und malte sich in seinen Gedanken aus, was er in der kommenden Nacht alles mit der jungen Frau anstellen würde. Ein wohliges Grunzen entfuhr seiner Kehle.


    Von ihnen unbemerkt war Gabriela die Treppe heruntergekommen. Sie trug ein luftiges Sommerkleid und lief barfuß.
    „Lebt Jäger noch?“, fragte sie in einem ruhigen Tonfall. Die beiden Männer drehten sich überrascht um. Camil strich sich mehrmals nervös über seinen Schnauzbart und zog es vor zu schweigen.
    „Ich war vor einer knappen Stunde bei ihm unten. … Ja, da lebte er noch!“, gab Remzi zurück. Er nippte an seiner Bierflasche, die er noch in der Hand hielt und studierte die Mimik der Kroatin. Die schien sich tatsächlich wieder beruhigt zu haben.
    „Wie soll es weitergehen? Hast du dir darüber Gedanken gemacht?“
    Gabriela nickte. Aus der Küche hörte man das Brutzeln von Fleisch in der Pfanne und das Geklapper von Geschirr. Der angenehme Geruch von Essen verbreitete sich.


    „Kommt!“, forderte sie die beiden Söldner auf ihr zur folgen. Sie bewegte sich in Richtung der Terrassentür und öffnete diese. Der Gewitterregen war abgeebbt. Nur noch einzelne Regentropfen fielen auf die Terrasse nieder. Tief sog Gabriela die frische Luft in ihre Lungen ein. Die Natur atmete auf. Der Duft von feuchter Erde und Gras zog in das Wohnzimmer ein und vertrieb die Schwüle und Hitze der letzten Tage. In der Mitte der Terrasse drehte sie sich zu den beiden Männern um.


    „Ich habe einige Telefongespräche geführt, unter anderem mit Brauer vom BKA. Es wird einige Tage dauern, bis er neue Ausweispapiere für mich fertig hat. Er wird mir eine neue Identität im Zeugenschutzprogramm des BKAs verschaffen. Der Preis, den er dafür verlangt, ist entsprechend horrend, jedoch kein Polizist der Welt wird mich später jemals finden können. Die Übergabe ist für kommende Woche am Donnerstag oder Freitag geplant. So lange sitze ich hier in Köln auf jeden Fall noch fest!“ stellte sie fest. Ihr Blick richtete sich auf Remzi und er erkannte diese alte Entschlossenheit darin. „Welche Erkenntnis gewinnen wir daraus, mein Freund? Wir bringen es zu Ende. Danach wird mich Köln oder Deutschland niemals mehr wiedersehen.“ Sie hielt inne und ein diabolisches Grinsen huschte über ihr Gesicht. „Allerdings werden wir so was von einem bleibenden Eindruck bei gewissen Herrschaften hinterlassen, mit denen ich noch eine Rechnung offen habe.“ Sie lachte lauthals auf. „Denn so ein bisschen Spaß will ich in den kommenden Tagen noch haben! Dennoch unsere Sicherheit geht vor Remzi! Versprochen!“ Sie lachte teuflisch auf. „Holt mir den Türken Remzi! … Egal wie, ich will ihn so schnell wie möglich lebend haben! Wenn du Unterstützung brauchst, nimm dir meinetwegen die Albaner! Wird bestimmt lustig, wenn der große Beschützer von Ben Jäger mit anschauen muss, wie sein Kumpel langsam abkratzt.“ Ihre Stimme klang dabei amüsiert und ihre Augen leuchteten voller Freude. „Doch vorher habe ich noch eine andere Aufgabe für euch!“


    Mit knappen Sätzen erläuterte sie den beiden Söldnern ihre Pläne. Da war er wieder, ihr gewisser Hang zur Genialität, den Remzi so an dieser Frau bewunderte. Jedes Detail war vorausschauend geplant und auch in ihm kam eine gewisse Vorfreude auf die kommenden Tage auf, waren doch Gabrielas Absichten voll nach seinem Geschmack. Sie schloss das Gespräch mit der Aufforderung ab, dass der Grauhaarige noch einige Weggefährten aus dem Kosovo-Krieg anheuern sollte, zuverlässige Leute, die keine Hemmungen hatten und so schnell wie möglich in Köln eintreffen sollten.


    Ohne Skrupel empfahl Remzi ihr die lästigen Mitwisser, die aus den Kreisen um Zladan und Boris Stojkovic stammten, nach dem Eintreffen der Serben mundtot zu machen und anschließend in einer Schrottpresse spurlos zu entsorgen. Keine lästigen Zeugen, keine verräterischen Spuren.


    Als hätte man einen Schalter in ihren Kopf umgelegt, fing Gabriela daraufhin wie irre an zu kichern.
    „Deine Ideen sind gut … wirklich gut Remzi!“
    Auf einmal begann sie an ein Kinderlied aus ihrer Heimat vor sich hinzusummen, ging dazu über, den Text zu trällern und auf der feuchten Terrasse zu tanzen, als wäre sie zurückversetzt in eine längst vergangene Zeit auf dem Hof ihrer Eltern.

  • Im Haus von Kim Krüger
    Henrik lag auf der Seite, auf den Ellbogen abgestützt, schmiegte sich sein Kopf in seine Handfläche. Mit der anderen Hand strich er zärtlich über Kims Wangen, ergriff eine ihrer Haarsträhnen und spielte damit.
    „Was ist los mit dir mein Engel? War es nicht schön?“, raunte er.
    Kim lag neben ihm auf dem Rücken. Ihr glückliches Lächeln war einem ernsten Gesichtsausdruck gewichen.
    „Doch … doch es war wundervoll. Du bist ein so einfühlsamer Liebhaber!“
    Um ihre Worte zu bekräftigen, schlang sie ihren Arm um seinen Nacken und zog seinen Kopf zu sich herunter. Ihre Lippen suchten sich und fanden einander. Zärtlich begann er ihren Kuss zu erwidern. Seine Zunge suchte die ihre. Sofort gingen seine Hände auf ihrem Oberkörper auf Wanderschaft, strichen zärtlich darüber und versuchten sie erneut zu erregen.


    „Hör auf!“, flüsterte sie unvermittelt und versuchte seinen Zärtlichkeiten zu entfliehen. „Nein … nein, ich will nicht!“ Kim schloss die Augen und schüttelte mit dem Kopf, „bitte Hendrik! … Ich kann nicht mehr!“ Sie sah seinen enttäuschten und fast schon beleidigten Ausdruck in seinen Augen. „Das hat auch nichts mit dir zu tun!“, erklärte sie.


    „Na dann!“, grinste er und startete den nächsten Versuch ihre Leidenschaft zu entfachen.
    „Nein!“, fauchte Kim „Ich will nicht! Was ist daran so schwer zu verstehen!“
    Die dunkelhaarige Frau richtete sich ein wenig auf und drückte ihren Liebhaber energisch von sich weg zur anderen Betthälfte.
    „Dann erkläre mir bitte, was dein Verhalten bedeuten soll!“, brummte er ungehalten und gekränkt. Er hatte sich auf eine heiße Nacht mit Kim Krüger gefreut. Nun sollte schon vor Einbruch der Dämmerung alles zu Ende sein. Verärgert drehte er sich zur Seite und schenkte sich sein Sektglas voll und trank es in einem Zug leer.


    „Ich kann mich nicht mit dir hier stundenlang im Bett amüsieren, wenn zeitgleich ….!“
    Sie brach ab. Der verzweifelte Unterton ließ den Oberstaatsanwalt aufhorchen. Er spürte, wie ihr Körper neben ihm anfing zu versteifen.
    „Erkläre es mir bitte Kim, damit ich dich verstehen kann“, wiederholte er seine Aufforderung und leerte das nächste Sektglas. Kim saß mittlerweile im Bett, hatte die Knie angezogen und strich sich mit ihren Händen über das Gesicht.


    „Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, ob du überhaupt weißt, mich momentan beschäftigt. … Mir keine Ruhe lässt!“ In ihren Augenwinkel schimmerte es feucht. „Es geht um Ben Jäger!“
    Unwillig schüttelte er den Kopf und schnaubte: „Was hat Ben Jäger damit zu tun, dass wir hier Sex haben!“
    „Du kapierst es nicht Hendrik! Oder? … Ich liege hier mit dir in meinem Bett und vergnüge mich, während dort draußen einer meiner Männer vermisst wird, sich vielleicht in Lebensgefahr befindet. … Vielleicht um sein Leben kämpft? Ich mache mir Vorwürfe, ob meine Beziehung mit dir mich zu sehr von meiner Arbeit als Chefin der PAST abgelenkt hat, ob ich etwas übersehen habe. Hätte ich das Attentat auf Julia Jäger heute Vormittag verhindern können.“ Sie biss sich auf die Lippen und versuchte die erneut aufkommende Feuchtigkeit in ihren Augen weg zu blinzeln. „Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich Ben Jäger nicht vertraut habe. Verdammt, ich habe ihn im Stich gelassen, als er mich als seine Chefin am meisten gebraucht hätte? Verstehst du das! … Und … und … bei den anschließenden Ermittlungen … ich zweifle an mir …. An meinen Fähigkeiten … Diese Anschuldigungen gegen ihn, diese Mordanklage, begreifst du das nicht?! Ich kenne meine Männer und hätte es wissen müssen, dass er zu solch einer Tat nicht fähig ist.“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Ich hätte es besser wissen müssen!“


    Hendrik zog Kim zu sich heran und nahm sie in den Arm. Ihr Körper bebte vor Erregung. Beruhigend strich er über ihren nackten Rücken, fuhr mit seinen Fingern durch ihr langes Haar. Sie schniefte kurz.
    „Mein Gott Hendrik, weißt du, wie sich das anfühlt, wenn man glaubt, den größten Fehlers seines Lebens gemacht zu haben. Der vielleicht jemanden das Leben kosten kann? Ich … ich habe anderen Menschen mehr geglaubt und vertraut, als einen meiner besten Mitarbeiter, dem ich bei einem Einsatz jederzeit mein Leben anvertrauen würde … anvertraut habe. Erst als auf Grund von Gerkans Ermittlungen die ersten Zweifel aufkamen, ob diese Streifenpolizisten die Wahrheit gesagt haben, habe ich versucht einen anderen Blickwinkel auf die Indizien zu bekommen. Ich fühle mich so schuldig. … So furchtbar schuldig und schlecht!“


    „Es hat sich doch alles geklärt! Seine Unschuld steht fest und die beiden Polizisten sitzen in Untersuchungshaft. Kommissar Kramer ist wegen seiner Spiel- und Alkoholsucht bis auf weiteres suspendiert.“, meinte er trocken, völlig emotionslos.


    „Das machte es aber nicht ungeschehen!“, unterbrach sie ihn energisch, „Du hast ja auch nicht seinen verzweifelten Gesichtsausdruck gesehen, als ich ihm seine Dienstwaffe und seinen Ausweis abgenommen habe.“ Sie löste sich von ihm und betrachtete ihn. „Kannst du mir einen Gefallen tun?“
    „Für dich doch immer mein Engel!“, nuschelte er und blickte sie erwartungsvoll an.
    „Sorge dafür das Anna Becker, Ben Jägers Freundin, so schnell wie möglich in einer sicheren Wohnung untergebracht und beschützt wird. Ich gebe Herrn Gerkan Recht, sie befindet sich in größter Gefahr. Erst Ben … seine Schwester … Wer weiß, auf wen es die Kerle noch abgesehen haben!“
    „Wenn es dich beruhigt, kümmere ich mich morgen früh sofort darum.“, versprach er ihr, „du wirst sehen, es wird alles wieder gut werden!“ und hauchte einen Kuss in ihr Haar.


    Sie kuschelte sich an ihn heran. Wenig später vernahm sie seine gleichmäßigen Atemzüge, während ihre Gedanken sie wach hielten.

  • Zurück auf der PAST
    Semir saß an seinem Schreibtisch und las hoch konzentriert die ersten Berichte der Spurensicherung über den Mordanschlag auf Julia Jäger. Die Leiche des Attentäters war an Hand seiner Fingerabdrücke identifiziert worden. Der Tote hieß Michael Krämer, war ein in Köln geboren. Der Kerl war ein polizeibekannter Krimineller, der als Rausschmeißer für diverse Nachtclubs gearbeitet hatte. Wegen seiner Brutalität, die er dabei angewandt hatte, war er in der Vergangenheit schon mehrfach mit dem Gesetz im Konflikt geraten und hatte unter anderem wegen schwerer Körperverletzung zwei Jahre im Gefängnis gesessen. Der Obduktionsbericht der Gerichtsmedizin und auch Hartmuts ballistischer Bericht zur Kugel, die das Opfer getötet hatten, standen noch aus. Am Rand des Berichts war noch ein kleiner Post-It von Susanne angebracht worden. Sie hatte recherchiert, dass alle Nachtclubs, in denen der Tote gearbeitet hatte, von der Familie Stojkovicz betrieben wurden. Volltreffer, dachte er bei sich. Sollte Zladan Stojkovicz nochmals behaupten, er wasche seine Hände in Unschuld, würde er ihn, Semir Gerkan, einmal richtig kennenlernen.
    Das Klingeln des Telefons zog Semirs Aufmerksamkeit auf sich. Er warf einen kurzen Blick auf das Display und nahm das Gespräch an.


    „Guten Abend, Einstein! Hast du was Interessantes für mich?“ … Der Rothaarige druckste am anderen Ende der Leitung etwas herum bis Semir ihn ungeduldig an maulte, „Komm zur Sache Hartmut! Was ist los“


    „Es geht um Julia Jäger. … Ähm …. Also nicht wegen des Mordversuchs heute Morgen.“ Der Kommissar hörte seinen Kollegen von der KTU mehrmals durchschnaufen. Zuerst ein bisschen stotternd fing Hartmut an zu berichten. „Also Ben bat mich doch nach dem Unfall Julias ausgebrannten Wagen auf Manipulationen zu untersuchen. Naja, die ganze Zeit war so viel los und …. Ach vergiss es! Nach dem Vorfall heute Morgen habe ich mir den Mercedes nochmals gründlich angeschaut.“ Fast schon gewohnheitsgemäß verfiel der Rothaarige in einem Fachvortrag über seine Untersuchungsmethoden und deren Ergebnisse.
    Energisch unterbrach Semir den Redefluss seines Gesprächspartners. „Stopp … Stopp Hartmut. Komm zur Sache! … In Kurzform und verständlich!“
    „Ben hatte Recht gehabt. Ich hätte es auch fast übersehen. Jemand hatte nachgeholfen! Das Computersystem des Mercedes war manipuliert worden und hatte dabei die Servolenkung blockiert. Absolute Profiarbeit! Fast nicht nachweisbar. Das war kein Unfall sondern ein Mordversuch!“

    Mit seiner Aussage bestätigte KTU‘ler, was für Semir bereits eine Tatsache war. Nachdenklich fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und lauschte weiter den Ausführungen seines Kollegen. „Außerdem bat mich Ben, dass ich mich mal in seiner Wohnung umschaue. Er hatte den Verdacht gehabt, dass jemand sich dort unerlaubt aufgehalten hatte. Und als ich die Manipulation an Julias Wagen entdeckt hatte, bin ich sofort hin gefahren. Ich habe in Bens Wohnung drei Wanzen gefunden. Aber nicht so einfache Dinger, sondern richtig schönes Hightech Material, das nur Militär oder Nachrichtendienste verwenden. Außerdem hatte jemand an seinem Telefon rum manipuliert. Semir? Semir, hätte es etwas gebracht, wenn ich diese Untersuchungen früher gemacht hätte? Ich …. !“
    „Ich weiß es nicht Hartmut, ich weiß es nicht!“ Semirs Stimme klang resignierend.

    Er verabschiedete sich von seinem Kollegen und bat ihn, so schnell als möglich einen Untersuchungsbericht an Frau Krüger zu mailen. Der Türke stützte seine Ellbogen auf der Schreibtischplatte ab und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Krampfhaft versuchte er die neu gewonnen Informationen und die letzten Ereignisse in seinem Kopf zu sortieren. Ein Schauer rann ihm über den Körper und ein warnendes Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Anna! Der Türke konnte die Gefahr, in der Bens Freundin schwebte, fast körperlich spüren. Kurz entschlossen rief er bei Julia im Krankenhaus an, um sich zu erkundigen, ob Anna noch dort war. Sie sollte auf ihn warten. Julias Antwort war eine Enttäuschung.

    „Semir, Anna ist vor einigen Minuten gegangen! Versuche sie doch auf ihrem Handy zu erreichen!“


    Der Türke fischte sein Handy aus der Hosentasche und suchte Annas Nummer. Doch anstelle des Freizeichens erklang eine mechanische Frauenstimme, die den Kommissar darüber informierte, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei.

    „Fuck!“ fluchte er vor sich hin. Ok, noch kein Grund zum Durchdrehen. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass es auf dem Gelände der Uni-Klinik einige Stellen mit schlechtem oder gar keinem Handy Empfang gab. Entschlossen schnappte er sich seine Autoschlüssel, warf den Kollegen der Nachtschicht noch einen Abschiedsgruß zu und sprintete zu seinem silbernen BMW.


    *****
    Gelände der Uni-Klinik Köln
    Völlig in Gedanken versunken, war Anna durch die unterirdischen Katakomben bis zum Ausgang getrottet, der zu dem Personalparkplatz führte, wo sie ihren schwarzen Golf geparkt hatte. Während das Gespräch mit Julia der reinste Balsam für ihre verzweifelte Seele gewesen war, hatte sie die Begegnung mit Konrad Jäger innerlich völlig aufgewühlt. Mit allem hätte sie gerechnet aber nicht damit, dass Bens Vater menschliche Züge zeigte. Er war erschöpft gewesen, die Anspannung der letzten Tage hatten ihn gezeichnet. In seinen Augen hatte sie es lesen können, seine Sorgen und Ängste um seinen Sohn waren echt gewesen. Die Worte, die er an sie gerichtet hatte, waren ehrlich gemeint. Und sie gestand sich ein, nie hätte sie erwartet, dass er diese menschliche Größe zeigen würde, seine Fehler einzugestehen. So unglaublich es sich für sie anfühlte, sie hegte Sympathien für den Menschen Konrad Jäger. Anna trat ins Freie und ließ ihren Blick prüfend über das Gelände schweifen, genauso wie es Semir ihr geraten hatte.


    Nach der Abkühlung durch den Gewitterregen war die Luft angenehm frisch. Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt und zauberte mit Hilfe der untergehenden Sonne ein unglaubliches Farbenspiel an den abendlichen Himmel. Dafür hatte die junge Ärztin weder ein Auge noch den Kopf. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, sie war verdammt spät dran und wahrscheinlich würde sich Anja, trotz ihres Anrufes Sorgen machen, wo sie blieb.


    Im Dämmerlicht war es unter den Bäumen düster, da die Außenbeleuchtung des Parkplatzes noch nicht eingeschaltet worden war. Wie ein Schatten verfolgte ein großgewachsener Mann die junge Ärztin. Sie hatte ihren Golf unter einer großen Rotbuche, mit weit ausladenden Ästen geparkt. Als Anna in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel kramte, vibrierte ihr Handy. Auf dem Display stand Semirs Name. In dem Augenblick, als sie das Gespräch annehmen wollte, schlug der Unbekannte zu.

  • Blitzschnell hielt er ihr mit der flachen Hand den Mund zu, dass sie kaum noch atmen konnte. Mit der anderen Hand drückte er ihr die Mündung einer Waffe an den Hals und wisperte ihr ins Ohr: „Denke nicht mal dran das Gespräch anzunehmen Schätzchen!“
    Anna nahm ihre Finger von dem Display.
    „Sehr schön! Keine falsche Bewegung! Kein Laut, sonst stirbst du!“
    Die Drohung war unmissverständlich. Sie bewegte ihren Kopf vorsichtig auf und ab und hoffte, dass der Mann hinter ihr verstand.
    „Gut!“ flüsterte er, „ich nehme jetzt meine Hand von deinem Mund weg!“
    Selbst wenn sie gewollt hätte, kein Laut wäre über Annas Lippen gekommen. Ihr Herz raste und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie hörte es rascheln. Der Mann hinter ihr hielt ihr ein kleines Kettchen vor die Augen.
    „Na erkennst du das wieder?“
    Es war die bewusste Kette, die zum Streit mit Ben geführt hatte. Er hatte sie an jenem Abend mit Tränen in den Augen vom Boden aufgehoben und in seine Hosentasche eingesteckt.
    „Ben!“ ,war alles, was sie hauchen konnte. Die kalte Mündung der Waffe klebte noch immer an ihrem Hals.
    „Ich sehe schon, wir beide verstehen uns. Dein Freund braucht ein bisschen medizinische Hilfe!“, gab ihr die tiefe Stimme zu verstehen. „Was brauchst du?“ Bei jedem Atemzug des Mannes hinter ihr, umnebelte sie seine Knoblauchfahne.


    Tausend Gedanken jagten durch ihren Kopf, was mit Ben geschehen sein konnte. War er tatsächlich auf die schiefe Bahn geraten? Warum war er verletzt worden? Warum meldete er sich nicht bei ihr direkt, so wie beim letzten Mal? Ihr Versuch sich umzudrehen und den Unbekannten anzuschauen, wurde unterbunden. Stattdessen verstärkte sich der Druck der Waffenmündung.


    „Die Arzttasche in meinem Kofferraum und Medikamente, Infusionen, sterile Instrumente, Verbandsmaterial...“ beantwortete sie seine Frage krächzend.
    „Reichen die aus einem Notarzt- oder Rettungswagen aus?“, lautete die nächste präzise Frage. Anna nickte, was sollte sie auch anders tun. Sie konnte ja schlecht in die Notaufnahme marschieren und ein komplettes Notfallset mit allen Drum und Dran mitnehmen. Seine nächsten Anweisungen erklangen in einer fremden Sprache und galten einer dritten Person, die Anna nicht sehen konnte. Eilige Schritte entfernten sich.


    Ehe Anna sich versah, hatte der Entführer ihr einen Sack über den Kopf gestülpt, ihr die Handtasche aus den Händen gerissen und diese mit Kabelbinder vor dem Körper gefesselt. „Wenn du schreist, schlage ich dich k.o.! Verstanden!“, drohte er ihr erneut.


    Wie eine Feder nahm er sie auf den Arm und trug sie ein Stück weit. Die Schiebetür eines Autos wurde geöffnet und Anna wurde unsanft hineinbefördert, auf einen Autositz gesetzt und mit einem Gurt angeschnallt. Die junge Frau verlor jedes Gefühl für Zeit. Im Auto herrschte eine brütende Hitze, die ihr noch zusätzlich den Schweiß auf die Stirn trieb. Sie konnte das Pulsieren ihres Herzschlags an ihren Schläfen spüren. Der Druck, der sich in ihren Kopf aufbaute, heizte ihre Gedankengänge noch zusätzlich an. Irgendwann tauchte der zweite Entführer wieder auf, warf einige Gegenstände in den Innenraum des Wagens. Die Autotüren wurden zugeschlagen und der Motor gestartet. Während der Fahrt unterhielten sich die beiden Männer in der fremden Sprache. Anna verstand kein Wort.


    „Was ist mit Ben geschehen?“, fragte sie in einer Gesprächspause ihre Entführer.
    Die tiefe Stimme blaffte sie an „Halt’s Maul Schätzchen. Oder ich verpasse dir ein Klebeband!“


    Die Drohung wirkte und Anna zog es vor zu schweigen. Fragen über Fragen schwirrten gleich einem Bienenschwarm im Bienenstock in ihrem Kopf umher, ohne dass es darauf eine Antwort gab.
    Wieder einmal hatte Semir mit seiner These, dass sie sich ebenfalls in Gefahr befand, richtig gelegen. Im Grund genommen, war es ihr auch in diesem Augenblick egal. Entgegen jeder Vernunft empfand sie eine Art Glücksgefühl, was sich in ihr breit machte. Die Freude darüber Ben nach so vielen Tagen der Tränen und Verzweiflung wieder zu sehen, ließ all ihre Ängste in den Hintergrund treten. Sie wollte den dunkelhaarigen Polizisten nur noch um Verzeihung bitten, für das was sie ihm angetan hatte. Ihre Vorwürfe, den Rausschmiss aus der Wohnung, ihr durchgedrehtes Handeln an jenem Abend. In den letzten Tagen hatte sie sich nichts sehnlichster gewünscht, als ihn wieder zu sehen, seine Stimme zu hören … die Berührung seiner Hände auf ihren Körper zu spüren. Ob er ihr verzeihen würde? Sie liebte ihn mehr, als sie sich es hatte vorstellen können. Nicht nur weil sie sein Kind unter ihrem Herzen trug, nein, er war ein Teil von ihr. Ben war die Liebe ihres Lebens. Er war ihr zweites ICH. In ihren Träumen lebte nur noch er. Noch einmal könnte sie es nicht ertragen, ihn zu verlieren.

  • Verzweifelt hatte Semir während der Fahrt in die Kölner Innenstadt mehrmals versucht Anna auf ihrem Handy zu erreichen. Erfolglos. Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Innerlich hoffte er, dass sich die junge Ärztin endlich melden würde. Über die Freisprecheinrichtung nahm er das Gespräch an.


    „Semir Gerkahn hier!“ …
    „Ok, ganz ruhig Basti! Ich bin bereits bei der Ausfahrt Köln Nord. In ein paar Minuten bin ich bei dir!“ ….
    „Nein, nichts anrühren!“ …


    Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. In ihm schlich eine böse Ahnung hoch, er fluchte vor sich hin. „Verdammt! Verdammt! Ich habe es gewusst!“ Wütend schlug er mit der Handfläche gegen das Lenkrad. Unzählige Flüche kamen ihm in den nächsten Minuten über seine Lippen. Aber es änderte nichts mehr an den Tatsachen. Der kleine Türke holte alles aus dem silbernen BMW heraus. Mit Blaulicht und Sirene bahnte er sich seinen Weg durch den abendlichen Verkehr in Richtung Kölner Innenstadt zur Uni-Klinik.


    Der Parkplatz für das Personal der Uni-Klinik wurde durch eine Schranke, die man nur mit Berechtigungsausweis passieren konnte, abgesperrt. Semir parkte seinen BMW im Halteverbot auf dem Gehsteig. Das flackernde Blaulicht hinter der Windschutzscheibe warf gespenstische Schatten auf die Umgebung.
    Mit ausgreifenden Schritten rannte der Autobahnpolizist quer über den Parkplatz bis er etwas außer Atem den blonden Krankenpfleger erreichte, der ihn an Annas schwarzen Golf erwartete. Im Lichtschein der Straßenlaternen konnte der Kommissar deutlich die Sorge sehen, die dem Sebastian ins Gesicht geschrieben stand.
    „Sie ist weg Semir … verschwunden! … Ich habe alles abgesucht. Seit dem Besuch bei Bens Schwester auf der Privatstation hat sie niemand mehr gesehen.“
    Der Blonde fischte sein Handy aus der Hosentasche und wählte Annas Handy Nummer. Nach kurzer Zeit bimmelte es aus dem Kofferraum. Nun wurde auch der Türke kreidebleich. Etwas schnürte förmlich seine Kehle zu und er versucht die schlimmsten Befürchtungen, die in ihm hochstiegen, zu verdrängen. Er räusperte sich und schob Sebastian zur Seite.
    „Lass da mal einen Profi ran!“
    Aus seiner Hosentasche zog er ein kleines Werkzeugset, wählte ein Teil aus und hatte mit etwas Geschick innerhalb von ein paar Sekunden das Kofferraumschloss geknackt. Semir hielt die Luft an, während er den Kofferraumdeckel nach oben drückte. Neben ihm schnaufte auch Sebastian deutlich hörbar aus, als sie darin nur Annas Handtasche in der kümmerlichen Beleuchtung entdeckten. Der Krankenpfleger wollte danach greifen, als ihn Semir am Ärmel packte und zurückhielt.
    „Ich glaube, das ist ein Fall für unsere Spurensicherung! Fass nichts an!“


    Über sein Handy informierte er seine Kollegen von der Spurensicherung und auch Frau Krüger. Innerlich schalt er sich einen Narren und zerging vor Selbstvorwürfen. Warum hatte er nur nachgeben? Er hätte darauf bestehen sollen, dass man Anna unter Polizeischutz stellte. Dieser Idiot von einem Oberstaatsanwalt van den Bergh hatte die drohende Gefahr völlig unterschätzt. Und er selbst? Warum war er nur zur PAST gefahren, anstelle bei Anna zu bleiben. Diese eine Nacht hätte sie bei ihm zu Hause im Gästezimmer schlafen können! Warum nur? Der Türke ließ seinen Blick in die Runde schweifen und suchte nach verräterischen Spuren, die einen Hinweis auf die Entführer liefern könnte. Da war nichts, einfach nichts. Gedankenverloren starrte Semir vor sich hin. Sebastian tippte ihn an der Schulter an und zog die Aufmerksamkeit des Türken auf sich.


    „Ich weiß ja nicht, ob das wichtig ist Semir, aber vor einer knappen halben Stunde, fast zeitgleich mit Annas Verschwinden, wurden aus einem der Rettungswagen und Notarztwagen, die vor der Notaufnahme standen, Ausrüstungsgegenstände gestohlen. Das Rettungsteam hatte einen heiklen Notfallpatienten und ließ die Türen des RTWs offen stehen. Deine Kollegen, die den Diebstahl aufgenommen hatten, dachten, dass Drogenjunkies die Notfalltaschen geraubt haben. Ist in der Vergangenheit schon das eine oder andere Mal passiert, dass Süchtige, die scharf auf Betäubungsmittel oder andere Medikamente gewesen sind, mit Tricks versucht haben an den Medikamentenkoffer zu gelangen. Aber jetzt? … Glaubst du, das hat was mit Annas Verschwinden zu tun?“
    Semir streifte sich mit seiner Hand nachdenklich über das Gesicht, bevor er die Frage beantwortete. „Ich befürchte ja Basti!“ Den Rest seiner Befürchtungen sprach er nicht aus. Semir fühlte sich endgültig wieder in einem Alptraum gefangen.


    Nacheinander trafen die Kollegen der KTU unter Hartmuts Leitung, die Spurensicherung, Jenny und Frau Krüger ein, die Oberstaatsanwalt van den Bergh im Schlepptau hatte. Semir musste sich so zusammenreißen, dass er sich nicht sofort mit diesem aalglatten Typen an die Gurgel ging, als dieser bei seiner Ankunft verkündete, „Die Ermittlungen leite ab sofort ich, Herr Gerkhan!“
    „Ermittlungen, Ermittlungen!“, äffte Semir seinen arroganten Unterton nach, „Vielleicht sollten sie endlich mal drüber nachdenken, dass hier keine Ermittlungen notwendig wären, wenn sie ihre Hausaufgaben gemacht hätten!“, und packte den Staatsanwalt an seinen Jackenaufschlägen. Der Türke kochte vor Wut. Selbst im Dämmerlicht waren die Zornesfalten unübersehbar.
    „Gerkhan, reißen sie sich zusammen!“, fiel ihm Frau Krüger aufgebracht ins Wort.
    „Chefin!“, brüllte er zurück und ließ den Oberstaatsanwalt los, „Wenn dieser Paragraphenreiter nur einmal seinen Gehirnkasten zum Denken nutzen würde und nicht …!“
    „Verdammt noch mal es reicht!“ In der Lautstärke nicht minder leise, unterbrach Kim ihren Kommissar, bevor noch ein Unglück geschah. „Wir sollten uns professionell verhalten. Denn nur so können wir Frau Becker und Ben finden!“


    Als er gegen diese Ansage aufbegehren wollte, erntete er einen vernichtenden Blick von Kim Krüger und zog es vor den Rückzug anzutreten. Semir hatte seine eigenen Pläne, wie er Ben und seine Freundin finden wollte. Mit Sebastians Hilfe wollte er sich die Überwachungsvideos, die den Einlieferungsbereich der Notaufnahme aufzeichneten, und der Parkplatzüberwachung besorgen. Um Mitternacht gestaltete sich dieses Vorhaben selbst in einer Uni-Klinik schwieriger als gedacht.

  • Ein qualvoller Hustenreiz holte Ben zurück ins Leben. Ein wahres Höllenfeuer wurde auf seinen Lippen entfacht, breitete sich über seinen Mund aus und rann seiner Kehle hinab. Der Geschmack von Wodka überlagerte den eisenhaltigen Geschmack des Blutes in seinem Mund. Er schnappte nach Atem und versuchte das Husten zu unterdrücken, es tat weh, so höllisch weh, das es jedes Mal eine feurige Lohe von Schmerzen durch seinen Körper jagte. Dann hörte er es, dieses teuflische und gehässige Lachen. Gabriela.


    Ben presste die Lippen aufeinander und versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Wieder war da ihr Gekicher, unterbrochen von Worten, deren Sinn der Dunkelhaarige so nach und nach erfasste.


    „Hallo Jägerlein!“ Sie tätschelte seine Wange, „Noch ein Schlückchen Wodka. Das Teufelszeug weckt Tote auf, behauptet zumindest Remzi immer!“ Sie kicherte wieder und er hörte, wie sie die Flasche ansetzte und selbst einen kräftigen Schluck nahm. „Los, mach die Augen auf! Ich weiß, dass da noch ein Fünkchen Leben in dir steckt. Weißt du, mir ist gerade langweilig und ich muss mir die Zeit ein wenig vertreiben.“


    Die Drohung wirkte. Ben öffnete mühselig die Augen und blickte zur Seite, woher die Stimme kam. Er blinzelte, um den Sternennebel der davor hing, verschwinden zu lassen. Langsam erkannte er ihre Umrisse, die wieder verschwammen. Sie saß neben ihm auf der Bodenmatte. Ihm war überhaupt nicht bewusst, dass er vor Schmerz vor sich hin keuchte und stöhnte.


    „Was hast du dir nur dabei gedacht? Lässt sich einfach von diesem albanischen Weichei über den Haufen knallen und hofft so meiner Rache zu entgehen. Du warst wirklich ein unartiger Junge, Jägerlein. Nun siehst du, was du davon hast, ein hässliches Loch in deinem Bauch! Tut es sehr weg?“, fragte sie mit einem vor Ironie triefenden Unterton und drückte dabei auf die Schusswunde.

    Ben stieß markerschütternde Schmerzensschreie aus. Eine wahre Flutwelle auf Schmerzen überrollte ihn und raubte ihn fast wieder die Besinnung.
    „Hey! … Hey! … Nicht wieder bewusstlos werden. So haben wir nicht gewettet. Ich muss dir doch noch einiges erzählen!“

    Sie setzte die Wodkaflasche an seine Lippen an. Gierig trank Ben einige Schlucke, in der Hoffnung der Alkohol würde zumindest einen Teil der Qualen betäuben. Gabriela gönnte ihn ein paar Minuten Erholungszeit, bevor sie in einem Plauderton zu erzählen begann, als würde sie über das Wetter reden und nicht über ihre weiteren Pläne.


    „Ich habe schon einige Männer im Krieg an solchen Schusswunden verrecken sehen. Die Kugel hat da drinnen wahrscheinlich einiges zerrissen. Ist kein schöner Anblick Jägerlein, wenn dir so in zwei oder drei Tagen der Eiter aus dem Bauch quillt. Aber wenn es dich tröstet, du musst das nicht alleine durchstehen. Ich habe eine Überraschung für dich. Ich habe beschlossen, dir jemanden als Sterbebegleiter zur Seite zu stellen. Deinen großen Beschützer Semir Gerkhan!“


    Ungewollt riss Ben vor Entsetzen seine Augen weit auf und wollte etwas erwidern, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Panik machte sich in ihm breit.


    „Ah ich sehe schon, du freust dich drauf. Keine Angst, ich werde diesen türkischen Giftzwerg nicht umbringen. Sondern ihm nur einfach alles wegnehmen, was ihm im Leben wichtig ist. Seinen besten Freund … seine Arbeit. Denn ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Krüppel bei der Polizei noch eine Anstellung findet.“

    Sie lachte wieder teuflisch auf und verzog ihr Gesicht zu einer ärgerlichen Grimasse.

    „Ach da wäre noch seine Familie, denn ich habe da so ein Problem. Ich kann den Bälgern einfach nichts antun.“ Sie zuckte wie hilflos mit den Schultern und grinste ihn hämisch an. „Ist so ein blöder Tick von mir. Dafür war ja früher mein Bruder zuständig. Aber seine Frau … seine Frau!“ Sie kicherte wieder wild drauf los, „Auf die wird er wohl in Zukunft verzichten müssen!“


    Voller Bestürzung wollte Ben sich aufrichten, was ihm sein Körper völlig übel nahm und so sehr auch dagegen ankämpfte, mit einem Schlag kam die Dunkelheit, die ihn mit ihrem Klammergriff mit sich riss, begleitet vom gehässigen Lachen der Kroatin.


    Als Gabriela erkannte, dass selbst der Wodka den verletzten Polizisten nicht mehr zurück ins Bewusstsein holen würde, erhob sie sich. Mit einem leisen Bedauern in der Stimme meinte sie: „Schade Jägerlein! Ich hätte dir zu gerne noch erzählt, was für eine besondere Überraschung ich noch für dich habe!“ Mit der Spitze ihres Schuhes trat sie Ben leicht in die Seite. Doch von dem kam keine Regung mehr. „Echt schade, deine hübsche Freundin trifft in einigen Minuten hier ein!“
    Gabriela hoffte nur, dass auch die Albaner ihren Auftrag erfüllen würden und die Entführung des Türken ebenfalls glücken würde.

  • Währenddessen … irgendwo in Köln
    Das Fahrzeug wurde am Ziel ihrer unfreiwilligen Autofahrt gestoppt. Die Schiebetür wurde geöffnet und man zerrte Anna unsanft aus dem Auto. Ihre Knie waren ein bisschen weich und sie kämpfte gegen das aufkommende Schwindelgefühl an, als sie auf ihren eigenen Füßen stand. Jemand zog ihr den Sack vom Kopf. Ihre verschwitzten Haare klebten an der Stirn. Gierig sog sie die frische Luft in ihre Lungen. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich ihre Augen an die diffusen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Die Abenddämmerung wich langsam den Schatten der Nacht.


    Blinzelnd blickte sich die junge Ärztin um. Sie befand sich auf der Zufahrt vor einer riesigen Villa. Seitlich von der Auffahrt stiegen feuchte Nebel aus dem Rasen, der mehr einer verwilderten Unkrautwiese ähnelte. Schemenhaft waren dahinter im Dunkel der Nacht die Umrisse einiger Baumriesen zu erkennen, die Anna einen Eindruck über die Dimension des Grundstücks gaben. Die nächsten Nachbarn wohnten wohl einige hundert Meter weit entfernt. Die Zufahrt selbst war asphaltiert, der Parkplatz vor der Villa war mit feinem Kies bedeckt, der unter Annas Füßen knirschte. Remzi hielt Anna an ihrem Arm fest und schob sie vor sich her. Sein Kumpel war zurückgeblieben. Im Hintergrund war zu hören, dass er den Kofferraum des Vans öffnete und sich an einigen Gegenständen zu schaffen machte.


    Das Eingangsportal erinnerte sie mit den marmorierten Kalksteinsäulen und den Treppenstufen an dem Zugang zu einem römischen Tempel. Insgesamt ähnelte die äußere Fassade des zweistöckigen Anwesens eher einem mediterranen Landhaus. Die raumhohen Fenster im Erdgeschoss waren von innen heraus taghell erleuchtet. Über mehrere Stufen, die ebenfalls aus polierten Kalksteinplatten bestanden, erreichten sie die Eingangshalle.


    „Halt!“, befahl ihr Entführer in einem barschen Kommandoton und gab damit der Ärztin Gelegenheit sich umzublicken. Unter anderen Umständen hätte Anna die riesige Eingangshalle mit ihrer Ausstattung bewundert. Der Fußboden war mit kostbarem italienischem Marmor ausgelegt. Rund um die Halle herum zog sich im Obergeschoss eine Galerie, die über eine breite Freitreppe, deren Stufen ebenfalls aus Marmor waren, erreicht werden konnte. An den Wänden waren kleine Kunstwerke aufgehängt worden, in denen der Maler die wunderbare Landschaft der Toskana festgehalten hatte. Die Skulpturen und Vasen, die in den Wandnischen standen, vervollständigten das südländische Flair. Die Stuckarbeiten an Wand und Decke hatte ein wahrer Meister seines Faches angefertigt.


    Annas Blick schweifte weiter umher, wanderte zu einer geöffneten Tür, hinter der sich das Wohnzimmer befand. Aus der Sitzecke, die mit weißen Leder überzogen war, erhob sich eine blonde Frau und kam direkt auf sie zu. Die Absätze ihrer Sandalen klapperten auf dem Boden, während sie sich Anna näherte. Ohne das die Blonde sich vorstellen musste, wusste die Ärztin wer vor ihr stand: Gabriela Kilic. Dieses Wissen jagte ihr einen Schauder über den Rücken.
    „Willkommen in meiner bescheidenen Hütte, Frau Doktor Becker!“, begrüßte die Kroatin ihren unfreiwilligen Gast. Ihre Stimme troff vor Spott.


    Gabriela umfasste Annas Kinn und hielt es fest. Mit dem Blick ihrer eisgrauen Augen versuchte sie die junge Frau einzuschüchtern. Fast schon meisterhaft schaffte es Anna dem Blick ihrer Widersacherin Stand zu halten. Kein Muskel zuckte in ihrem Gesicht. Stattdessen setzte sie eine trotzige Miene auf. Die Kroatin ließ sie los, umrundete sie und musterte die Gefangene eingehend.


    „Schaffe sie runter in den Keller! Ich komme gleich hinterher!“
    Gabriela wandte sich Camil zu. „Was trägst du da?“, blaffte sie den Schnauzbärtigen an.


    Die Antwort des Serben hörte Anna schon nicht mehr. Remzi hatte sie am rechten Oberarm gepackt und unaufhaltsam einen Gang entlang in Richtung der Kellertreppe entgegen geschoben. Die Ärztin hatte die Bosheit, die Gabriela Kilic ausstrahlte, fast körperlich spüren können, als sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Ihre Hände zitterten vor Anspannung je näher sie der Kellertreppe kamen und sich runter ins Untergeschoß bewegten. Die Halogenleuchten in der Decke erhellten den Gang taghell, an dessen Ende schien eine angelehnte Tür das Ziel zu sein. Je näher sie der Tür kamen, desto deutlicher drang das klägliche Stöhnen eines Menschen an ihr Ohr.


    Der andere Mann, der sie zwischenzeitlich wieder eingeholt hatte, schritt hinter ihnen her, dicht gefolgt von Gabriela, deren Absätze auf dem Fliesenboden klapperten. Anna riskierte einen kleinen Blick über ihre Schulter und erkannte, dass der Schnauzbärtige in seinen Händen und über seine Schulter einige Ausrüstungsgegenstände aus dem RTW und dem Notarztwagen zusammen mit ihrer Arzttasche trug.
    Der Grauhaarige öffnete die Tür mit einem leichten Tritt und knipste mit seinem Ellenbogen das Licht an. Die Luft im Raum, die ihnen entgegen schlug, war schwül und stickig, begleitet von dem strengen Geruch von Schweiß, Urin, Erbrochenem und Blut. Ihr leerer Magen rebellierte gegen diesen Gestank. Nur mühsam gelang es ihr den gallenbitteren Saft wieder hinunter zu würgen, der sich in ihrem Mund ansammelte. Auf der Matte an der gegenüberliegenden Wand lag der verkrümmte Körper eines Menschen. Man hatte ihn mit einem dunkelblauen Sauna-Handtuch zugedeckt. Nur der Kopf des Mannes und seine dunklen Haare, die verschwitzt an seinem Kopf klebten, waren sichtbar.


    Anna hatte keine Zweifel, da lag Ben!

  • Energisch befreite sich die junge Frau aus dem Griff ihres Widersachers. Wie in Trance setzte Anna einen Schritt vor den anderen und bewegte sich auf Ben zu. Die Beklemmung schnürte ihr die Brust ein und raubte ihr fast den Atem. Ihr Herz pochte wie wild mit jedem Meter, den sie sich ihm näherte. Auf der Matte fiel sie vor ihm auf die Knie und vermied es, die Lache aus Erbrochenen zu berühren. Der säuerliche Geruch reizte ihre Magennerven noch mehr. Ihr Pulsschlag raste in ungeahnte Dimensionen, als sie sein Antlitz näher betrachtete.
    Der dunkle Vollbart bedeckte die unter Hälfte seines Gesichtes. Der Rest war totenbleich, unterbrochen von Verfärbungen und Schwellungen. Teilweise hatte er sich die Unterlippe vor Schmerz blutig gebissen. Sein hübsches Gesicht war kaum wieder zuerkennen. Oh Gott, was hatten die Ben nur angetan, dachte sie bei sich. Ein dünner Schweißfilm bedeckte seine Stirn. Seine Atmung war sehr flach und schnell. Fast schon routinemäßig griff sie mit ihrer Hand an die Halsschlagader und prüfte seinen Puls.


    Noch lebte Ben.
    Es fragte sich nur wie lange noch?


    Vorsichtig zog Anna die Zudecke zur Seite und betrachtete den entblößten Oberkörper ihres Freundes. Falls sie noch Zweifel gehegt hatte, wer die misshandelte Person war, die vor ihr lag, gab ihr das Tattoo am linken Oberarm endgültige Gewissheit. Bens Anblick raubte ihr fast den Verstand. Falls Wie konnten Menschen nur so barbarisch sein und jemanden so auf das Übelste zurichten. Ihr Freund lag auf seiner rechten Körperseite. Der Oberkörper war übersät mit unzähligen kleinen Schnittwunden. Dazu kamen noch viele kleine und größere Hämatome, die in allen Regenbogenfarben schillerten. Doch dies war nichts im Vergleich zu den Verletzungen auf seinem Rücken, der teilweise mit tiefen blutigen Striemen überzogen war. Einige der Wunden waren verschorft und begannen abzuheilen. Andere Verletzungen waren entzündet. Deren Wundränder waren angeschwollen und dunkelrot verfärbt. Winzige Fetzen seines T-Shirts klebten in den Wunden. In deren Mitte hatten sich vereinzelt Abszesse gebildet, die mit geblichen Eiter gefüllt waren. Auf der linken Schulter war eine der schlimmsten Wunden. Darin bewegte sich etwas. Nein … nein … fast hätte sie hysterisch aufgeschrien. Anna glaubte, ihre Augen spielten ihr eine Wahnvorstellung vor. Schmeißfliegen umschwirrten ihn, angelockt vom süßlichen Geruch des Blutes. Mit ihren gefesselten Händen verjagte sie die lästigen Plagegeister.


    „Ben?“, stieß sie leise und voller Entsetzen hervor, „Oh mein Gott, was haben die dir nur angetan! … Ben? … hörst du mich?“
    Mit ihren Fingerkuppen fuhr sie die Konturen seiner Lippen nach, streichelte ihn voller Liebe und Zuneigung … sie küsste ihn liebevoll auf die geschundenen Lippen.
    „Ben, bleib mir! … Hörst du mich? … Ben! … Bitte lass mich nicht alleine zurück. Ich liebe dich!“


    *****


    Er hatte Schmerzen, immer noch diese fürchterlichen Schmerzen. Ihm war nicht bewusst, dass er leise vor sich hin stöhnte. Ihm war heiß und gleichzeitig kalt. Auf einmal fühlte es sich völlig anders an. Ben konnte es sich selbst nicht erklären. Er schien zu schweben. Schien schwerelos zu sein. Seine Atmung wurde unregelmäßig und flacher. Er war sich sicher, bald hatte er es überstanden, würde er seinen Frieden finden, keine Schmerzen und keine Qualen mehr. Niemand, der wegen ihm mehr leiden oder gar sterben musste. Er war bereit zu gehen, als ihn auf einmal diese Stimme erreichte, Annas Stimme, die seinen Namen flüsterte. Es war ihre magische Stimme, die seinen Namen flüsterte. Ben spürte die Wärme einer Hand, die ihn zärtlich über das Gesicht streichelte, seine Lippen berührte. Ihre Worte, es waren ihre Worte, die ihn aufhielten, davon abhielten endgültig los zulassen.

  • Anna zog das Saunatuch weiter nach unten und entdeckte den blutigen Verband, der Bens Unterleib verdeckte. Die junge Frau wagte gar nicht darüber nachzudenken, welche Verletzung sich darunter verbarg. Schon allein bei der Vorstellung zog sich ihr Magen zu einem eisigen Klumpen zusammen. Das Blut rauschte in ihrem Kopf, ihr wurde schwindlig und sie musste sich zwingen, nicht ohnmächtig zu werden.


    „Jetzt schaut euch dieses Turteltäubchen an! Da haben wir so viel Zeit und Mühe darin investiert die beiden auseinander zu bringen! Kaum sieht sie ihn und Bäng! Schon knutscht die ihn hier vor uns einfach ab!“, sagte Gabriela, die zwischenzeitlich den Kellerraum betreten hatte, mit einem sadistischen Unterton, „Komm Schätzchen, küsse ihn noch mal, für uns! …. Für mich! … Vielleicht merkt er es ja noch!“
    Remzi und auch Camil fielen in das gehässige Lachen mit ein.
    „Na los! Knutsche ihn ab!“, befahl sie in einem scharfen Tonfall, der Anna zusammenzucken ließ. „So wie all diese verliebten Weiber in diesen kitschigen Kinofilmen, wenn ihr Held sie aus einer gefährlichen Situation gerettet hat.“ Sie lachte schallend auf. „Weißt du was, dein Held fertig gebracht hat!“, ihre Stimme schwang um und bekamen einen höhnischen Unterton, „Diese Flasche hat sich doch glatt absichtlich eine Kugel in seinen Bauch knallen lassen, in der Hoffnung er würde sterben und ich dich in Ruhe lassen! Stell dir mal vor Schätzchen, um dich zu retten und nun habe ich dich doch!“


    Beim letzten Satz vibrierte die Stimme der Kroatin vor Hohn und Kälte.
    Annas Blick wanderte von ihren Entführern zurück zu Ben und verharrte auf dem blutigen Verband. Langsam drang Wort für Wort in ihr Gehirn vor und sie wurde sich, der Tragweite dieser Sätze bewusst. Unwillkürlich verschloss sie mit ihrer flachen Hand ihren Mund, um nicht lauthals aufzuschreien. Wie viel Liebe musste Ben für sie empfinden und gleichzeitig wie verzweifelt musste er gewesen sein, dass er sich dazu entschlossen hatte, sein Leben zu opfern, um ihres zu retten. Wieder war da das Verlangen in ihr, einfach gellend loszubrüllen.
    In ihr schlugen die Erinnerungen an ihr letztes Gespräch mit Ben zu. Dieser unselige Streit, wie sie ihn mit ihren Worten verletzt hatte. Die Tage danach, wie sie selbst unter der Trennung gelitten hatte. Das war alles geschehen, weil diese rachsüchtige Frau, sie in ihren Plänen wie eine Schachfigur benutzt hatte. Semir hatte mit seinen Behauptungen, was die entflohene Kroatin betraf, Recht gehabt. Diese Frau hatte unzählige Menschen in Bens Umfeld nach allen Regeln der Kunst beeinflusst und manipuliert. Gabriela kam ihr wie das personifizierte Böse vor, eine Ausgeburt der Hölle.


    Die zynischen Bemerkungen lösten noch etwas in Anna aus. Von einem Augenblick zum anderen kippte in ihrem Kopf ein Schalter um und entfachte ein emotionales Erdbeben in ihrem Inneren. Sie verwandelten die junge Frau binnen Sekunden in eine Kämpferin, die man in die Enge getrieben hatte und der bewusst wurde, dass sie und Ben absolut nichts mehr zu verlieren hatten.
    Die Ärztin erhob sich und stapfte mit wütend funkelnden Augen auf ihre Entführer zu. Der Schnauzbärtige, bepackt mit den Ausrüstungsgegenständen aus dem Rettungswagen und dem breiten Pflaster über der Nase, hielt sich im Hintergrund. Der grauhaarige Riese stand neben Gabriela Kilic und blickte sie amüsiert an. Das reizte Anna noch mehr. Zielgerichtet strebte sie auf den Mann zu, der sie um Haupteslänge überragte. Mit ihren gefesselten Händen hämmerte sie auf dessen behaarte Brust ein, die aus dem offen stehenden Hemd hervor stach.


    „Du Scheusal! Gib es zu! Du warst das Schwein, das Ben so zugerichtet hat. Ich sehe es dir an!“, fauchte Anna Remzi an, „Wie kann man nur zu solch einen menschlichen Ungeheuer verkommen, dass andere so bestialisch zurichtet.“
    Remzi rümpfte verärgert die Nase. So sprach keine Gefangene mit ihm. Der sollte er gleich mal Manieren beibringen. Er wollte schon ausholen, um ihr als Vorgeschmack eine Ohrfeige zu verpassen. Doch Gabriela fing die Hand des Grauhaarigen ab.
    „Noch nicht!“, ermahnte sie ihn „Später!“
    In Gedanken fügte der Söldner hinzu, später, ja später, wenn sie mir gehört. So war die Abmachung mit Gabriela. Seine Zeit war gekommen, wenn Jäger das Zeitliche gesegnet hatte! Die junge Frau war wider Erwarten eine kleine Wildkatze. Das erhöhte den Reiz für ihn umso mehr. Er stellte sich gerade vor, wie er diese in seinem Bett zähmen würde und leckte sich genüsslich über seine Lippen.


    Anna war das begehrliche Aufleuchten in den Augen des Mannes nicht entgangen. Doch auch dies schüchterte sie nicht ein. Im Gegenteil! Sollte er es ruhig wagen sie anzufassen, sie wusste sich zu wehren.
    „Na los! Schlag doch zu! … Das ist doch alles was du kannst! … Andere verletzen oder töten!“, forderte die Ärztin ihren Gegner weiter heraus, „Ihr seid alle Abschaum der Menschheit. Ihr verdient die Bezeichnung Mensch überhaupt nicht.“
    Dem Schnauzbärtigen entwich zischend die Atemluft.
    „Schätzchen, du gefällst mir!“, fiel Gabriela ihr ins Wort und zog Annas Aufmerksamkeit auf sich, die sich unvermittelt der Kroatin zuwandte. Sie hatte so einen gewissen Punkt ihrer Angst überschritten, an dem einen alles egal ist. Dementsprechend aufgebracht brüllte sie Gabriela an.
    „Was hast du Ben angetan? … Warum? … Sag mir warum? Weil er deinen Bruder im Kampf getötet hat? … Der hatte es wohl mehr als verdient gehabt!“
    In den eiskalten Augen von Gabriela flackerte es verdächtig auf. Sie griff hinter sich und zog ihre Pistole aus dem Hosenbund, entsicherte diese und legte auf Anna an.
    „Nein, vergiss es!“, lautete Annas Antwort, die regungslos vor der Kroatin stand, „Damit schüchterst du Hexe mich nicht ein. Na los, schieß! … Schieß doch endlich und setze diesem abartigen Spiel ein Ende hier!“, auffordernd tippte sie mit ihren gefesselten Händen die Mündung der Waffe an. „Du wolltest doch, dass Ben stirbt. Warum sonst hast du ihn so grausam foltern lassen? Was soll diese Farce hier, mit meiner Entführung und ich solle ihn medizinisch versorgen? Der Satz, ich soll Bens Leben retten! Um was geht es dir wirklich?“
    Anna schrie Gabriela nicht mehr an. Nein, im Gegenteil ihr Tonfall war mit jedem Satz ruhiger geworden, was den Aussagen noch mehr Emotionen verlieh. Innerlich vibrierte sie vor Erregung, als sie ihre gefesselten Hände ihr auffordernd entgegenhielt.


    „Entscheide dich! Entweder du jagst mir eine Kugel durch den Kopf und Ben gleich mit oder du gibst mir eine Chance sein Leben zu retten! Dann zerschneide diese Fesseln!“ Die junge Ärztin stand wie eine Statue da und beobachtete die Frau ihr gegenüber, sah, wie es hinter der Stirn der Kroatin arbeitete.


    Gabriela hatte nach den Bildern und Videos der letzten Tage eine verschüchterte und ängstliche Frau erwartet, die heulend vor ihr auf den Knien lag und um das Leben ihres Liebsten bettelte. Mit dieser Reaktion der Ärztin hatte sie einfach nicht gerechnet. Vor ihr stand eine kämpfende Löwin. Die Augen der Kroatin bekamen wieder diesen irren Glanz. Sie fing leise an, vor sich hinzukichern und wurde immer lauter. Dabei schüttelte sie wild ihren Kopf hin und her. Gabriela liefen die Tränen über die Wangen. Die Vorstellung, dass der junge Polizist unter den Händen seiner Freundin wegsterben würde, sie wahrscheinlich dessen Leiden verlängern würde, er elendig dahinsiechen würde, befriedigte sie, löste einen wahren Schub an Glückshormonen und Gefühlen in ihrem Körper aus. Denn bei der Schwere der Schussverletzung konnte Gabriela sich einfach nicht vorstellen, dass Ben Jäger noch zu retten war. Ja …. Ja… das würde noch viel mehr Spaß machen, als sie es sich in ihren Träumen am Nachmittag ausgemalt hatte.
    Zum großen Finale fehlte nur noch der kleine Türke. Ja, der kleine Türke! … Dann war die Show perfekt.
    Mit einem Mal fiel ihr ein, dass Rashid nicht mehr da war. Sie legte den Kopf etwas zur Seite nach rechts und anschließend nach links, überlegte … schade … irgendwie schade …. Auch wenn der junge Albaner zu sonst nicht viel zu gebrauchen gewesen war, war er doch ein Meister im Schneiden der Videoaufzeichnungen gewesen. Das wäre bestimmt sein Meisterstück und ihr Lieblingsvideo geworden: Der Todeskampf von Ben Jäger. In ihrem Kopf ratterten die Gedanken nacheinander durch.
    „Beruhige dich Schätzchen! Keine Sorge, du kriegst deine Chance! Und damit wir uns richtig verstehen, du holst ihm die Kugel aus seinem Bauch raus! Ich will sie hier in meinen Händen halten!“ Gabriela drückte dabei die Mündung ihrer Waffe an Annas Hals und hielt ihr die Hand des verkrüppelten rechten Armes hin. Als diese zustimmend nickte, steckte die Kroatin ihre Waffe weg, griff nach Remzis Kampfmesser und zog es aus dem Holster. Mit einem Schnitt durchtrennte sie den Kabelbinder, mit denen Annas Hände gefesselt worden waren.
    „Etwas verspreche ich dir Schätzchen!“, erklärte sie mit einem hämischen Unterton und deutete in Richtung Ben Jäger, „Stirbt er, stirbst du auch!“

  • Anna massierte ihre Handgelenke. Sie hegte keinen Zweifel mehr, diese Frau hatte den Verstand verloren. Das machte sie in den Augen der jungen Frau unberechenbar und gefährlich. Das leise Wimmern des Verletzten zog die Aufmerksamkeit der jungen Ärztin auf sich und erinnerte sie daran, dass das Leben ihres Freundes an einem seidenen Faden hing. Jede Sekunde war kostbar. Einen letzten Vorstoß wollte sie noch wagen.


    „Chance?“, ätzte sie in die Richtung der Kroatin, „Was nennst du Chance? Ben gehört in ein Krankenhaus und nicht hierher in dieses stinkige Dreckloch ohne vernünftige Ausrüstung?“
    „Den Gedanken schlag dir mal aus dem Kopf. Kein Krankenhaus! Genau hier!“
    Gabriela fasste die Dunkelhaarige an ihrem Kinn an und versuchte sie mit ihren Blicken einzuschüchtern, während sie gleichzeitig ihre Linke umherschweifen lies, „Hier und nirgendwo anders! … Und Ausrüstung? Das Zeug da drüben sollte wohl ausreichen!“, sie deutete auf Annas schwarzen Arztkoffer, Notarztkoffer und den Rettungsrucksack „Der Raum ist sauberer und die Ausrüstung, die dir zur Verfügung steht, ist mehr, als mancher Arzt in einem Feldlazarett im Krieg zu Hause hatte. … Der Deal ist ganz einfach. Du holst ihm die Kugel raus und flickst ihn zusammen! … Verstanden! …Egal wie! …. Vielleicht lass ich dich sogar wieder laufen! … Wer weiß?“ Sie zuckte dabei mit den Schultern und grinste Anna herablassend an. Die junge Ärztin ließ sich in dem Moment nicht provozieren. Damit verlor für Gabriela das Spiel den Reiz.
    „Falls du noch was brauchst, wende dich an Camil!“, dabei deutete sie auf den Schnauzbärtigen, der sich ebenfalls anschickte, den Raum zu verlassen. „Er wird sich darum kümmern!“
    Anschließend wandte sich die Kroatin Remzi zu.
    „Und wir beide kümmern uns zwischenzeitlich um meinen nächsten Gast!“


    Nach diesen Worten drehte sich Gabriela um, gefolgt vom Grauhaarigen, verließen sie gemeinsam den Fitnessraum. Auf den Weg ins Erdgeschoss fischte der Söldner sein Handy aus der Hosentasche und erkundigte sich bei den albanischen Mitstreitern nach Semir Gerkan. Lauthals fluchend beendete er das Gespräch.


    „Diese nichtsnutzigen Anfänger haben sich von dem Türken verarschen lassen!“, zischte er Gabriela zu, die am Ende der Treppe angehalten hatte und ihn fragend anblickte. „Wie erwartet, ist Gerkan am Parkplatz beim Auto der Ärztin aufgetaucht. Doch nicht alleine. Diese verfluchten Idioten!“ Er klopfte dabei wütend mit der geballten Faust gegen die Wand. „Anstelle, dass sie den anderen Kerl ins Jenseits befördert hätten und Gerkhan entführt, haben die einfach abgewartet, bis dort alles von Polizei gewimmelt hatte.“
    „Wo ist Gerkhan jetzt?“
    „Zurück auf seiner Dienststelle. Sascha beobachtet ihn dort und gibt uns Bescheid, wenn er diese verlässt. Die anderen warten vor seinem Haus!“
    „Der Kerl steckt doch mit dem Teufel im Bunde.“, fauchte sie wütend. Zwischenzeitlich hatte die beiden ehemaligen Weggefährten die Terrasse erreicht. Remzi holte für sich und Gabriela ein kühles Bier aus dem Kühlschrank. Gemeinsam schmiedeten sie die Pläne für die kommenden Tage. Vieles würde davon abhängen, wie lange dieser Ben Jäger noch durchhielt und wie schnell die Kroatin ihre neuen Ausweispapiere bekam. Als Remzi erneut vorschlug, aus Köln zu verschwinden und dem jungen Polizisten eine Kugel durch den Kopf zu jagen, entbrannte ein heftiges Wortgefecht zwischen den Beiden. Gabriela gab nicht nach, „Nein! … Nein! …. Und nochmals nein! … Der Kerl soll langsam vor meinen Augen verrecken! …“


    Genervt rollte der Grauhaarige mit den Augen. Die Kroatin war in ihrem Hass so verbohrt, dass er keine Chance sah, sie vom Scheitern des Unternehmens zu überzeugen. Er schwenkte zu einem anderen Thema um.
    „Und was ist mit der Russin? Sie ist eine Zeugin!“, erkundigte sich der Grauhaarige.
    „Pfff!“, meinte Gabriela abfällig, „Solange sie von Nutzen ist, lassen wir sie am Leben. Vergnügt euch mit ihr, macht mit ihr, was ihr wollt! Es ist mir egal! Wenn wir hier verschwinden, verschwindet sie auch auf nimmer wiedersehen!“


    Unbemerkt hatte Elena dem Gespräch auf der Terrasse gelauscht. Dank der Sprach-CDs, die ihr Rashid schon vor Monaten besorgt hatte, verstand sie den größten Teil der Unterhaltung, die in Kroatisch geführt worden war. Hinter einer riesigen Kletterrose hatte sie sich versteckt gehalten. Sie presste ihren Körper nahe an die Außenwand. Ihr Herzschlag raste wie wild, als sie ihr eigenes Todesurteil hörte. Fast zu spät, bemerkte sie, dass Camil das Haus nach ihr absuchte.

  • Inzwischen war Anna alleine mit Ben im Kellerraum. Der Kerl, den die Kroatin mit Camil angesprochen hatte, hatte ihre Forderungen schweigend entgegen genommen und nur einmal kurz genickt. Ihren Arztkoffer, den Notfallrucksack und die anderen Gegenstände hatte er einfach neben der Eingangstür zum Kellerraum abgestellt. Wortlos drehte er sich um, zog die Tür hinter sich ins Schloss und das Klick, Klick des Schlüssels machte der Ärztin klar, sie war eine Gefangene. Für einen Moment schloss sie die Augen um sich zu sammeln.
    Sie bückte sich und schleppte den Notarztkoffer und die anderen Ausrüstungsgegenstände zur Matte. Neben Bens linker Seite kniete sie sich nieder. Ihr blieb keine Zeit zum Zaudern. Sie hatte vorhin schon erkannt, in welch kritischem Zustand sich ihr Freund befand. Wenn sie Ben wirklich helfen wollte, war der Moment gekommen, wo sie all ihre Gefühle, die sie für Ben empfand, in den hintersten Winkel ihres Gehirns verbannen sollte.


    Nochmals prüfte die Ärztin seine Vitalfunktionen und erschrak. Irgendwie musste sie es schaffen, ihn zu stabilisieren. Improvisation war gefragt, sie benötigte dringend etwas, das als Infusionsständer zu gebrauchen war. Ihr Blick fiel auf einen Ergometer, der nur wenige Meter entfernt stand. Mit einiger Kraftanstrengung schob sie den Fahrradergometer neben Bens rechte Seite. Zu ihrer Freude war der Notarztkoffer fast vollständig bestückt. Auf Grund der fehlenden Medikamente ging sie davon aus, dass das Rettungsteam einen Anfallspatienten behandelt hatte. Innerhalb weniger Minuten hatte Anna ihrem Freund einen Zugang gelegt und verabreichte ihm darüber ein paar Medikamente um ihn zu stabilisieren und eine Infusion. Gewissenhaft begann sie Ben vom Kopf abwärts zu untersuchen. Die Schussverletzung am Bauch sparte sie aus. Viele der Schnittwunden waren oberflächlich, aber äußerst schmerzhaft. Seine Haut fühlte sich am Oberkörper heiß an und bestätigte sie in ihrer Meinung, dass Ben Fieber hatte und mit den entzündeten Wunden nicht zu spaßen war. Mit einer Schere zerschnitt sie die verdreckte und stinkende Hose, zog sie vorsichtig unter Ben hervor und schleuderte sie angewidert in Richtung der Eingangstür. Ihr entging nicht die Schwellung und Verfärbung am rechten Schienbein. Gebrochen, war ihre Diagnose, nach dem Abtasten. Während sie Ben untersuchte, redete sie leise, fast schon beschwörend auf ihn ein und dann kam der entscheidende Moment:
    die Schussverletzung am Bauch.


    Bens Bewusstsein tauchte aus den tiefsten dunklen Abgründen auf. Er bereute das Erwachen augenblicklich. Der gleißende Schmerz stellte sich mit aller Urgewalt ein, es war ein Gefühl, als wenn ein glühendes Stück Eisen linke untere Körperhälfte zerstörte. Wollten sie ihn schon wieder quälen?
    „Nein … nein …!“, hauchte er unhörbar.
    Der verletzte Polizist spürte die Hand an seinem Bauch, versuchte sich zu wehren, dagegen anzukämpfen, als ihn eine vertraute Stimme ansprach. Sein Herzschlag beschleunigte sich.
    „Scht … Ben … alles gut! Ich bin es Anna! … Hörst du mich? … beruhige dich! … Ich will … dir nicht wehtun! … Alles wird wieder gut, Ben …!“


    War es Wahrheit oder eine Illusion? Hatte sein schmerzumnebeltes Gehirn endgültig seine Sinne verwirrt. Ihm war klar, dass er vorhin von Anna geträumt hatte, dass sie mit ihm geredet hatte. Ihm wurde bewusst, es war keine Fiktion gewesen, sondern die Realität. Er stöhnte gequält auf.


    „Ganz ruhig Schatz, gleich wird es besser!“ Ben spürte einen leichten Einstich am rechten Arm. „Ich habe dir etwas gegen die Schmerzen gegeben! Es wirkt gleich!“ Etwas Kühles strich über die Einstichstelle. Seine rechte Hand wurde umschlungen. „Nur noch ein paar Minuten, dann wird es besser!“, sprach Annas Stimme beruhigend auf ihn an. Zärtlich streichelte sie mit ihrer Hand über seine Wange.


    Es war zweifellos Anna, die da neben ihm kniete. Seine Gedanken überschlugen sich. Hatte man ihn gefunden, war das seine Rettung? Ein Hoffnungsschimmer glomm in ihm auf und erlosch in der gleichen Sekunde … Nein, nein … das durfte nicht wahr sein. Allein schon die Vorstellung ließ ihn verrückt werden. Ben musste Gewissheit haben. Er kämpfte gegen die Schwäche seiner Augenlider an. Diese wollten ihm einfach nicht gehorchen. Nach unzähligen Versuchen gelang es ihm seine Lider zu öffnen. Alles war verschwommen. Die Umrisse einer Gestalt wurden im Nebel sichtbar. Annas Stimme redete währenddessen weiter beruhigend auf ihn ein. Ihr Gesicht nahm Formen an. Er sah das sanfte Lächeln, mit dem sie ihn ansah. Zum einen verbreitete sich in ihm ein Gefühl der Glückseligkeit. Sein größter Wunsch hatte sich erfüllt. Er konnte Anna nochmals sehen, sie spüren. Verhieß ihr Lächeln, sie hatte ihm verziehen?


    Doch das Glücksgefühl wurde von etwas Stärkerem überlagert. Angst! Panischer Angst. Seine Blicke irrten suchend im Raum umher und blieben wieder an seiner Freundin haften. An Hand seiner Umgebung hatte er erkannt, Anna war alleine mit ihm in diesem Kellerraum. Kein Semir, keine Rettungskräfte! Darauf gab es nur eine Antwort: Sie befanden sich in der Gewalt seiner Entführer. Eine grausame Furcht stieg in ihm hoch, als er diese Wahrheit erfasste. Sie schnürte ihm förmlich die Kehle zu.
    Seine Lippen bebten, er versuchte etwas zu sagen … An ihren Blick konnte er ablesen, dass sie ihn verstand, ohne dass er es aussprach. … Anna!
    „Ben …? Ben … hörst du mich?“ wisperte sie.
    Abermals setzte er an zu sprechen. Es war mehr ein Hauch. „A…n…n…a!“
    „Pst! …. Nicht sprechen Ben! …. Kannst du mir verzeihen, mir jemals verzeihen, was ich dir angetan habe? … Dass ich dir nicht vertraut habe! …. Oh Gott, ich … liebe dich doch so, Ben!“ Tränen erstickten ihre Stimme, kullerten über ihre Wangen und tropften auf sein Gesicht herab. „Wie konnte … ich … nur …glauben …!“
    Ben veränderte unter leisem Stöhnen seine Lage auf der Bodenmatte und drehte sich endgültig auf den Rücken. Er biss die Zähnen zusammen, als die Feuerlohen auf seinem Rücken aufflammten und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Mit dem Daumen seiner linken Hand wischte er ihre Tränen zur Seite und flüsterte „Ich … liebe …dich ….Anna …. Ich … habe … nie aufgehört … dich zu lieben….Verstehst du! … Ich bin dein! … Auf … immer …. Und … ewig … dein!“
    Die junge Ärztin erfasste die Bedeutung seiner Worte. Seine SMS … sein Brief kamen ihr in den Sinn. Er war ihr niemals böse gewesen und hatte ihr schon im Moment ihres Streites verziehen gehabt. Sie ergriff seine blutverschmierte Hand, küsste sie, küsste ihn auf die Stirn, küsste ihn auf seine zerschundenen Lippen. Es war mehr ein leidenschaftlicher Hauch, wie er ihren Kuss erwiderte. Ihm fehlte einfach die Kraft. Als sie sich voneinander gelöst hatten, strich sie ihm zärtlich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht.


    „Du musst durchhalten Schatz! … Semir wird uns finden!“
    Sie versuchte Zuversicht in ihre Stimme zu legen. In der Zwischenzeit hatte sie den Verband komplett von den Schusswunden gelöst. Das blanke Entsetzen stand Anna ins Gesicht geschrieben, als sie die Bauchwunde in Augenschein nahm. Die andere Verletzung an der Hüfte sah bei weitem nicht so schlimm aus. Sie kämpfte erneut mit den Tränen und setzte ein gezwungenes Lächeln auf.


    Ben war die Reaktion seiner Freundin nicht entgangen. Er wusste auch so, wie es um ihn stand, wie groß seine Überlebenschance war. Er tastete nach ihrer Hand, umfasste diese. Sein Griff war schwach. Er fühlte die Wärme ihrer Haut.
    „Ich weiß, wie es um mich steht Anna! … Machen wir uns nichts vor! …. Diese Kugel wird mich umbringen! Und ich Idiot habe es auch noch darauf angelegt …!“
    Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, um sie zu verschließen. Anna wollte die grausame Wahrheit nicht von ihm hören, seinen Wunsch zu sterben, um sie zu retten.
    „Ich weiß alles!“, wisperte sie ihm zu.
    Er bemerkte, wie sie ihren trotzigen Blick aufsetzte und ihre Lippen schürzte. Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten und an ihren Wangen diese kleinen Grübchen, die er so sehr liebte. Energisch widersprach sie ihm.
    „Du gibst nicht einfach auf Ben Jäger! … Ich werde es auch nicht tun! … Verstanden! … Ich hole dir dieses verdammte Bleidings aus deinem Bauch raus und flick dich schon irgendwie wieder zusammen! … Wir sind zwar nicht im Krankenhaus und es gibt keine Intensivstation oder ein OP Team aus zig Ärzten … Aber ich bin da!“ Bei den letzten Worten kullerten ihr unaufhaltsam die Tränen über die Wangen. Sie schniefte auf und fuhr mit tränenerstickter Stimme fort, „Willst du, das diese Hexe ihr Ziel erreicht? … Wo ist dein Kämpferherz geblieben? Sag mir wo? … Seit wann gibt ein Ben Jäger auf?“

  • Ein unglaubliches Gefühl von Wärme und Zuneigung durchflutete ihn, als er sie mit seinem Blick fixierte.
    Ihr Gespräch wurde unterbrochen. Anna hätte so gerne diesen Moment, wo Ben so klar und ansprechbar war, weiter ausgenutzt. Der Schlüssel der Zimmertür wurde im Schloss umgedreht. Ihre Entführer kamen zurück. Annas Blick wanderte in Richtung der Tür. Zu ihrer großen Überraschung erschien eine junge Frau im Türrahmen, die von Camil begleitet wurde. Ihr hübsches Gesicht wurde von einer brünetten Haarpracht, die bis zu den Schultern reichte, eingerahmt. Anna musterte die zierliche Frau, die sie auf Anfang zwanzig schätzte. Wie kam sie wohl hierher? Ihr blasses Gesicht stand im krassen Gegensatz zu der gebräunten Haut ihrer Oberarme und Beine. In ihren blauen Augen flackerte Angst. Grenzenlose Angst.


    *****


    Tatsächlich schaffte es Elena mit Hilfe des Rankgitters aus Holz, welches an der Außenwand als Kletterhilfe für die Rose befestigt worden war und über das geöffnete Fenster der Gästetoilette unbemerkt zurück ins Haus zu gelangen. Die in der Decke angebrachten LED-Leuchten brannten noch. Beim Anblick der Klo-Schüssel war ihre Körperbeherrschung am Ende. In einem Schwall landete der Inhalt ihres Magens darin. Doch das Würgen ließ nicht nach. Immer wieder krampfte sich ihr Bauch zusammen. Sie weinte blind und voller Qual vor sich hin. Sie war verloren, endgültig verloren. Ihr Traum von Freiheit und einem Neuanfang in Kroatien mit Rashid war bereits am Morgen wie eine Seifenblase zerplatzt. Der junge Albaner war zwar für sie nicht die Liebe ihres Lebens gewesen aber die Möglichkeit auf eine bessere Zukunft.


    Man hatte sie vor zwei Jahren mit so vielen Versprechungen nach Deutschland gelockt. Die Chance auf ein Studium, eine Ausbildung als Dolmetscherin, ihr gut bezahlte Jobs in Aussicht gestellt. Dumm und naiv war sie darauf reingefallen. Denn die Realität war gewesen, bereits nach der Einreise nach Deutschland hatte man ihr den Reisepass abgenommen und vor ihren Augen verbrannt. Sie war in Kasachstan in einem Kinderheim aufgewachsen. Sie hatte keine Eltern und keine Verwandten mehr. Niemand würde sie vermissen. Niemand würde nach ihr suchen. Sie war damals vor zwei Jahren zu einem Niemand geworden. Man hatte sie dazu gezwungen, sich Männern hinzugeben. Weigerungen wurden gnadenlos bestraft. Im Laufe der Monate, die sie im Bordell gelebt hatte, hatte sie gelernt zu überleben, die Hoffnung auf Flucht nie aufgegeben. Und jetzt dieses Todesurteil aus Gabrielas Mund. Doch sie wollte leben.


    Gefangen in ihren Todesängsten, bemerkte Elena nicht, wie Camil die Toilette betrat. Als sich seine Hand auf ihre Schulter legte, schrie sie vor Entsetzen auf. Er kniete neben ihr nieder, reichte ihr ein feuchtes Handtuch und meinte: „Wisch dir die Tränen und die Kotze aus dem Gesicht Mädchen.“
    Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und erkannte durch ihren Tränenschleier zu ihrer Verwunderung, dass er sie besorgt anschaute.
    „Ich wusste gar nicht, dass dir der Tod von diesem Albaner so an die Nieren geht.“ Er umschlang ihr Handgelenk und zog daran. „Komm steh auf und beruhige dich. Ich weiß, dass Remzi unberechenbar und grob sein kann.“


    Mit angsterfüllten Augen blickte Elena den vor ihr stehenden Mann an und fing an zu zittern. Sie schluchzte auf und Camil nickte ihr verstehend zu.
    „Ok, ich sehe schon, du hast ihn wohl schon richtig kennen gelernt.“, meinte er mitfühlend und atmete hörbar aus. „Hör zu, ich werde schauen, was ich für dich tun kann. Zuerst gibt es einmal Arbeit.“
    Irgendwie schaffte Elena es ihre Panik unter Kontrolle zu kriegen. Auch wenn ihr Herzschlag noch wie wild pochte. Niemand schien mitbekommen zu haben, dass sie der Unterhaltung auf der Terrasse gelauscht hatte.


    Mit einer ruhigen und ausdruckslosen Stimme befahl der Schnauzbärtige eine Reihe von Sachen herzurichten, die Anna verlangt hatte. Während die Russin in der Küche ein paar belegte Brote herrichtete und Mineralwasserflaschen in einen Korb legte, hantierte Camil im Wohnzimmer. Durch die geöffnete Küchentür beobachtete Elena, wie er den Halogen-Deckenfluter aus der Leseecke holte und am Kellerabgang bereitstellte. Im Hintergrund erklang die keifende Stimme von Gabriela, die sich lautstark mit Remzi auf der Terrasse stritt. Elena konnte den Inhalt des Gespräches nicht verstehen. Denn dieses Mal sprachen die beiden Serbisch. Eine Sprache, die sie nicht verstand, obwohl sie sehr sprachbegabt war.


    Nach einigen Minuten folgte Elena dem Schnauzbärtigen, schwer bepackt mit Decken, Tüchern, den Weidenkorb und einem Putzeimer mit Lappen, in den Keller. Die Ankunft der dunkelhaarigen Frau vor einer Stunde war ihr nicht entgangen. Wurde sie im Keller gefangen gehalten? Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf. Dennoch traute sie sich nicht Camil zu fragen. Zu groß war ihre Angst vor seiner Reaktion. Am Ende des Ganges fischte er einen Zimmerschlüssel aus der Hosentasche, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn um. Er drückte die Türklinke nieder und kaum hatte sich die Tür einen Spaltbreit geöffnet, schlug Elena ein extremer Geruch von menschlichen Exkrementen entgegen.


    „Beweg dich Elena! Leg die Sachen neben der Bodenmatte ab!“, blaffte der Schnauzbärtige sie an, während er unter dem Türrahmen stehen blieb und angewidert das Gesicht zu einer Grimasse verzog. „Dann holst du die restlichen Sachen und putzt die Sauerei auf, damit dieser Gestank verschwindet!“


    Misstrauisch näherte sich die Russin der Bodenmatte. Ihre Augen weiteten sich vor Grauen, als sie Bens geschundenen Oberkörper erblickte. Die untere Hälfte war notdürftig mit einem Badetuch bedeckt. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr ihrer Kehle. Als sie den Weidenkorb mit Mineralwasserflaschen und Lebensmitteln neben der dunkelhaarigen Frau auf den Boden stellte, entfielen die mitgebrachten Decken und Tücher kraftlos ihrer Hand. Ihr Blick wanderte über den Verletzten, erfasste das komplette Ausmaß seiner Wunden und ging zurück zu der Frau, die neben ihm kniete. Die Infusion, das medizinische Equipment machten ihr klar, dass diese Frau Ärztin sein musste. Hatte man sie deswegen entführt?

  • Der Verletzte stöhnte gequält auf. Sofort wandte die Ärztin, die Elena ebenfalls eingehend gemustert hatte, ihre Aufmerksamkeit dem Mann wieder zu und redete beruhigend auf ihn ein. Nicht nur ihre Worte, sondern auch der Ausdruck ihrer Augen, ihre Mimik und Gestik verrieten der Russin, diese Frau liebte den dunkelhaarigen Mann.
    Elena erkannte in dem Verletzten auf der Bodenmatte den Mann aus den Videos wieder. Augenblicklich wurde ihr klar, dass Gabriela dort oben im Wohnzimmer in den letzten Tagen keinen Horrorfilm der normalen Art angeschaut hatte, sondern dass die Folterungen und Misshandlungen alle in Wirklichkeit stattgefunden hatten. Auch Rashids Rolle in diesem perversen Spiel wurde ihr plötzlich klar. Das Verbot, warum sie das Kellergeschoß nicht betreten durfte, bekam einen anderen Sinn. Der letzte Funken Zuneigung, den sie für den jungen Mann empfunden hatte, erlosch in diesem Moment. Niemand hatte in ihren Augen das Recht, einen anderen Menschen so zu quälen und ein solches Leid an zu tun. Das Grauen, das sie überfiel, lähmte sie.
    Elena überhörte Camils Ruf und starrte die beiden Personen auf der Bodenmatte wie hypnotisiert an. Sie sah den warmen Ausdruck in Annas Augen und verstand auch ohne Worte. „Danke!“


    „Vorwärts! Mach endlich, dass du herkommst Mädchen! Da draußen liegt noch mehr Zeug rum, dass du reinschaffen sollst!“, forderte sie der Söldner in einem scharfen Tonfall auf, zu ihm zu kommen. „Vor allem, schaff diesen stinkenden Abfall weg!“ Dabei deutete er angewidert auf Bens Jeanshose, die neben der Eingangstür lag. Ihr Gesicht schien ihre Empfindungen wieder zu spiegeln. Gereizt brummte er sie an: „Denk nicht einmal darüber nach, was passiert ist. Zu deiner eigenen Sicherheit, halte dich raus!“


    Mit gesenktem Kopf schlich Elena an Camil vorbei. Im Haushaltsraum im Erdgeschoss suchte sie nach Abfallbeuteln, Haushaltstüchern, Reinigungsmitteln und Handschuhen. Widerspruchslos reinigte Elena die Bodenmatte von Bens Exkrementen. Vor allem als sie mit Hilfe von Anna, die ihr leise Anweisungen zu flüsterte, den Verletzten säuberte, warf sie ein ums andere Mal einen fassungslosen Blick auf den geschundenen Körper des Polizisten. Bei der kleinsten Bewegung seines Körpers stöhnte der Verletzte schmerzerfüllt auf. Elena durchfuhr dabei jedes Mal selbst ein Stich, der einem Stromschlag glich.
    Camil überwachte die Säuberungsaktion mit einem gebührenden Abstand. Aus dem Augenwinkel beobachtete ihn Elena. Ihre Versuche mit Anna ein Gespräch zu beginnen, erstickte er im Keim. Zu ihrer Überraschung holte er aus seiner Hosentasche einen kleinen Spezialriegel und öffnete damit das überdimensionierte Kellerfenster. Während sie das verschmutzte Badetuch, die verdreckte Hose und den restlichen Abfall aufsammelte, wusch die Ärztin behutsam das Gesicht ihres Freundes. Seine Blöße hatte die Dunkelhaarige durch eine der mitgebrachten Decken bedeckt. Elena blieb keine Zeit mehr, die Frau weiter zu beobachten. Camil trieb sie zur Eile an. Sorgfältig verschloss er wieder das Kellerfenster und ließ den Fensterriegel in seine Hosentasche zurückgleiten. Zum Schluss stellte er den Halogen-Deckenfluter mit Leselampe neben der Bodenmatte ab und verließ zusammen mit Elena endgültig den Raum.
    *****
    Elena fühlte sich in einem Alptraum gefangen, als sie die Abfallsäcke schleppend, den Kellergang hoch ins Erdgeschoss stieg. Der Anblick des verwundeten Mannes, der verdreckt und verwahrlost auf der Bodenmatte gelegen hatte, hatte ihr fast den Verstand geraubt. Ihr wurde bewusst, die Menschen, mit denen sie hier unter einem Dach lebte, waren menschliche Bestien. Sie hatte die Drohung, die die Kroatin auf der Terrasse ausgesprochen hatte, nicht vergessen. Diese bekamen eine neue Dimension. In den vergangenen Wochen hatte sie des Öfteren erlebt, wie brutal Remzi Berisha gegenüber Rashid und auch ihr gewesen war. Ihr Denken wurde beherrscht von der Furcht, was sie erwarten würde, was man ihr antun würde, was dieser grauhaarige Söldner ihr antun würde. Während der Zeit im Bordell, als man sie zur Prostitution gezwungen hatte, hatte sie die bittere und schmerzhafte Erfahrung gemacht, wozu Männer fähig waren, um Frauen gefügig zu machen. Jeder Widerstand war zwecklos gewesen. Am Ende der Treppe riss sie Camils Befehl aus ihren Gedanken.


    „Schaff den Abfall raus und anschließend gehst du hoch in mein Zimmer. Dort wartest du auf mich!“ Überrascht drehte sie sich um und blickte ihn fragend an, was bedeutete dieser Befehl für sie. „Na los! Mach schon!“, bekräftigte er seine Aufforderung.


    Die Mülltonne stand draußen neben dem Carport. Sie huschte durch die Eingangshalle, die nach wie vor hell erleuchtet war. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass Gabriela im Wohnzimmer herumtigerte. Remzi stand vor der großen Eingangstür, telefonierte mit dem Handy. Zwischen seinen Lippen hing eine Zigarette, an der er heftig zog. Camil gesellte sich zu ihm. Die beiden Männer diskutierten in ihrer Muttersprache. Aus seiner Mimik und Gestik schloss Elena, dass der Grauhaarige ziemlich wütend zu sein schien. Die junge Frau wollte keinesfalls für den älteren Söldner als Ventil für dessen Wut dienen. Sie erledigte den aufgetragenen Auftrag so schnell sie konnte und beeilte sich ins Obergeschoss zu gelangen.


    Erleichtert drückte sie die Tür zu Camils Schlafzimmer ins Schloss, trat einen Schritt zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Zumindest dem Zugriff von Remzi war sie erst einmal entkommen. Ihr Blick richtete sich auf das Doppelbett, an der gegenüberliegenden Wand.


    Warum fragte sie sich benommen? Warum meinte es das Schicksal nicht gut mit ihr? Sie war der Hölle der Zwangsprostitution entkommen und war in einer neuen Hölle in dieser Villa gelandet. Es war wie ein Aufschrei ihrer gequälten Seele. Leise schluchzend, murmelte sie das Wort immer wieder vor sich hin. Sie drohte innerlich unter der Last dieses Alptraumes zusammenzubrechen. War das ihre Bestimmung, an diesem Ort zu sterben? Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Die Türklinke wurde runtergedrückt und Camil stand im Raum.


    Er wischte mit seinen Fingern ihre Tränen zur Seite. Zärtlich strich er über ihre Wangen, am Hals entlang bis zu ihrer Brust. Elena zuckte bei der Berührung zusammen und machte sich steif.
    „Hey, keine Angst! Auch wenn ich ein ehemaliger Söldner und Soldat bin, der schlimme Dinge gemacht hat, ein bisschen Selbstachtung besitze ich noch. Ich bin nicht der Typ Mann, der darauf steht, eine Frau mit Gewalt zu nehmen, einer Frau Gewalt an zu tun!“
    Camil blickte ihr dabei voll in die Augen. Sie konnte darin eine Spur von Mitgefühl und noch ein bisschen mehr lesen. Er nahm seine Hand zurück und musterte sie forschend. „Ich will nichts, was du nicht bereit bist, mir freiwillig zu geben. Nur erzähle mir nicht, dass der Albaner deine große Liebe war.“ Er trat einen Schritt von ihr weg und zündete sich eine Zigarette an. „Ich sehe das so: Du hast den Kerl wahrscheinlich sogar ein wenig gemocht und er war deine große Chance auf ein anderes Leben.“
    Er verstummte und Elena fühlte sich ertappt. Verlegen blickte sie zu Boden, was sollte sie darauf antworten? Die Wahrheit? Eine leichte Röte schoss in ihr Gesicht.
    „Dachte ich es mir doch!“, durchbrach er die Stille. „Etwas solltest du vielleicht noch wissen. Wahrscheinlich bin ich ein Idiot. Aber ich mag dich irgendwie und ich werde dich so gut es geht vor Remzi und den anderen Kerlen beschützen, die morgen ankommen.“ Er inhalierte mehrmals tief den Rauch der Zigarette und blies ihn hörbar und sichtbar raus. „Und wer weiß, vielleicht nehme ich dich sogar mit zurück in meine Heimat, wenn der Scheiß hier vorbei ist. Geh erst einmal duschen und denke nach!“ Er wandte sich von ihr ab und ging raus auf den kleinen Balkon zum Rauchen.


    Elena ging ins Badezimmer und streifte ihre verschmutzte Kleidung ab. Während das warme Wasser über ihren Rücken lief, arbeitete ihr Verstand auf Hochtouren. Wenn sie das Gespräch auf der Terrasse nicht belauscht hätte, hätte sie Camils Worten Glauben geschenkt. Doch Gabriela hatte ihr Todesurteil ausgesprochen. Sie hatte furchtbare Angst, Todesangst, aber sie wollte nicht sterben, sondern fliehen. Für einen Fluchtplan musste sie Zeit gewinnen. Ein neuer Reisepass und ein Ausweis mit einer kroatischen Identität für sie lagen gut versteckt in Rashids Badezimmer. Elena focht einen inneren Kampf mit sich aus. Sollte sie die Chance ergreifen, die sich hier bot? Meinte es der Schnauzbärtige ehrlich? Sie hatte in seinen Augen nicht nur Mitleid gesehen, sondern auch Zuneigung. War der Preis zu hoch für ein bisschen Schutz und Sicherheit? Nein, denn in ihr war auch die Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und ein bisschen menschliche Zuneigung, damit diese innere Qual alleine zu sein, verlassen vom Rest der Welt, wenn auch nur für einen kurzen Zeitraum verschwand.
    Sie trocknete ihre Haare und schlang ein Badetuch um ihren Oberkörper, das ihre Blöße bedeckte und ging zurück ins Schlafzimmer.


    Camil stand unter der geöffneten Balkontür und blickte ihr erwartungsvoll entgegen. Elena atmete mehrmals tief durch und gestand ihm „Elena … Angst! Große Angst vor böser Frau!“
    Bei ihren Worten lief ihr die Gänsehaut über den Körper. Mit ihren tiefblauen schaute sie Camil verzweifelt an. Sie glichen in ihrer Farbe und Intensität der Farbe des Meeres an den kroatischen Küsten und erinnerten ihn an die Heimat. Er schritt auf sie zu und nahm die junge Frau in seine Arme. Im Gegensatz zu ein paar Minuten vorher, schmiegte sie sich an ihn heran. Er spürte wie die Feuchtigkeit ihrer Tränen sein Shirt durchnässten. „Psst … schon gut …. Schon gut!“, murmelte er beruhigend und streichelte ihr zärtlich über den Rücken. Ihre Hände schoben sich dabei unter den Saum seines Shirts. Sie klammerte sich förmlich an ihn heran und spürte unter ihren Fingern seine durchtrainierten Muskeln.
    „Willst du es wirklich?“, fragte er mit einer heißeren Stimme.
    „Ja!“, hauchte Elena zurück.

  • Zurück blieben im Kellerraum Anna und ihr verwundeter Freund. Durch Elenas Putztätigkeit hatte die Ärztin die Erkenntnis gewonnen, dass sich hinter der zweiten Tür ein kleines Badezimmer verbarg. Sie hatte keinen Blick für die kostbare Ausstattung des Bades. Für sie zählte nur, dass sie sich notdürftig waschen konnte und ihre dunklen Haare, die ihr bis zur Taille reichten, zu einem Zopf zu flechten. Bens Stöhnen mahnte sie zur Eile. Er hatte seinen Kopf in Richtung Bad gewendet, und seine dunklen Augen waren auf sie gerichtet. Trotz des Schmerzmittels, das sie ihn verabreicht hatte, konnte sie seine Not und Qual daraus ablesen. Es erinnerte sie daran, warum sie hier war! Sie wollte ihrem verletzten Freund helfen, sein Leben retten. Anna eilte zu ihm zurück und kniete sich an seiner rechten Seite nieder. Ihre Hände umfassten seinen Kopf. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn, ließ ihn noch einmal all ihre Zuneigung und Liebe spüren. Ihre Blicke trafen sich.
    „Bevor ich dich sedieren kann, muss ich dich so genau wie möglich untersuchen. Ich brauche dazu deine Hilfe, denn ich habe keinen Röntgenblick. Es wird also beim Abtasten höllisch weh tun, verstehst du?“


    Er nickte verstehend und sie sah, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. Sie streifte sich ein paar sterile Handschuhe über und begann so einfühlsam wie möglich, mit ihren Fingerkuppen den Bereich um die Einschusslöcher im Bauchraum, an der rechten Flanke und an der Hüfte abzutasten. Vorsichtig drehte sie ihn zur Seite und untersuchte seinen Rücken. Mehr als einmal entfuhr Ben trotz zusammengepresster Lippen ein Schmerzensschrei. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Anna sprach beruhigend auf ihn ein und erklärte ihm ihre Vorgehensweise. Sie untersuchte nochmals gründlich seine Hämatome am Oberkörper, versuchte sich ein Bild darüber zu machen, ob Rippen gebrochen waren oder der Verdacht auf innere Verletzungen bestand. Dank der Infusionen und Medikamente hatte sich zumindest Bens Zustand stabilisiert, so dass sie den nächsten Schritt wagen konnte, das Entfernen der Kugeln.


    Sorgfältig bereitete sie auf einigen sterilen Tüchern alles für die bevorstehende Operation vor. Die Instrumente, selbst-auflösendes Nähmaterial aus ihrem Arztkoffer, Medikamente, die sie vorsorglich in Einwegspritzen aufzog, Kompressen, Tupfer und Verbandsmaterial.
    An diesem unwirklichen Ort war Improvisation pur gefragt. Sie konnte Bens fragende Blicke fast körperlich spüren und so versuchte sie, ihrer Stimme einen aufmunternden Klang zu verleihen.
    „Ich werde dich jetzt betäuben und ich kann dir nichts versprechen Ben, außer, dass ich mein Bestes geben werde!“ Sie gab ihm nochmals einen innigen Kuss, in dem sie all ihre Liebe legte, die sie für ihn empfand.


    Bevor Anna mit der Operation begann, wusch sie sich noch einmal so gründlich es ging, in dem kleinen Badezimmer. Anschließend streifte sie sich ein Paar sterile Chirurgenhandschuhe über und ihr Blick wanderte nochmals über das sorgfältig bereit gelegte Operationsbesteck und die paar Medikamente, die ihr für den Notfall noch zur Verfügung standen. Angesichts der Schwere der Verletzung und der äußeren Umstände überfiel sie ein Anfall von Panik. ‚Ich werde Ben umbringen,‘ der Gedanke nahm regelrecht Besitz von ihrem Gehirn. ‚Das ist der pure Wahnsinn, den du da gerade vor hast‘. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ein Schauer nach dem anderen jagte durch ihren Körper. Ihr Herzschlag raste in neue Dimensionen und kalter Schweiß brach ihr aus. Oh Gott, beschwor sie sich, reiß dich zusammen, schön langsam einatmen und ausatmen. Langsam zählte sie von zehn rückwärts. Mühsam schaffte sie es die Panikattacke unter Kontrolle zu bringen. Ben schien zu erahnen, was in ihr vorging. Mit einer matten Bewegung ergriff er ihren Arm und hauchte: „Du schaffst das mein Schatz! … Da kannst das!“


    Mühsam schluckte sie die würgende Enge in ihrer Kehle hinunter. Ihre Hände zitterten immer noch, als sie Ben über den Zugang, dem sie ihm zusätzlich zur Infusion gelegt hatte, das Narkosemittel Ketamin spritzte, das sie in der Ausrüstung gefunden hatte. Inbrünstig betete sie, dass sie die Dosis richtig bemessen hatte und die Wirkung lange genug vorhalten würde. Nur ein kümmerlicher Rest verblieb in der Spritze.
    Das Narkosemittel schien zu wirken. Ben wurde müde und schläfrig. Sein Körper entspannte sich. Sicherheitshalber prüfte sie nochmals über die angelegte Blutdruckmanschette Bens Vitalwerte. Sein Kreislauf schien soweit stabil zu sein. Sie atmete mehrmals tief durch. Die Luft in dem Kellerraum war stickig. Ihre Finger fingen wieder an zu zittern, als sie das Skalpell aus der sterilen Verpackung holte. Es kostete sie eine wahnsinnige Überwindung das scharfe Messer an Bens Haut anzusetzen. Was würde geschehen, wenn er ihr unter den Händen verblutete oder ihr gar unter den Händen wegstarb? Sie bemühte sich all ihre Gefühle aus ihrem Kopf zu verbannen. Du hast es in der Hand, Ben das Leben zu retten, ermahnte sie sich. Denk an euer gemeinsames Kind, das in deinem Bauch heranwächst. Überlebte er die Operation, stieg mit jeder Stunde, die sie sein Leben verlängerte, die Chance, dass Semir sie finden würde. Sie musste dem kleinen Türken Zeit verschaffen. Ein letztes Mal schloss sie die Augen, sammelte sich und versuchte gleichzeitig auszublenden, wer da vor ihr lag.


    Mit jedem Handgriff, den sie ausführte, wurde sie ruhiger, gewann die Ärztin in ihr die Oberhand und bestimmte ihr Handeln. Kleine Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn und ihrer Nasenspitze. Mit ihrem Ärmel wischte sie darüber. Es gab hier keine Röntgengeräte, kein Ultraschall, welche ihr die Diagnose erleichterten. Hier waren einfach nur ihr Wissen und das Geschick ihrer Hände gefragt. Während ihres Studiums hatte sie sich für die Geschichte der Medizin interessiert, war ihre Leidenschaft geworden, vor allem wie sich die chirurgischen Eingriffe im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hatten. Darüber hatte sie ihre Doktorarbeit verfasst. Genau diese Kenntnisse halfen ihr trotz ihrer geringen Erfahrung als Chirurgin die Kugel aus dem Bauchraum zu entfernen. Sie säuberte die Wundränder, entfernte zerfetzte Gewebeteile und unternahm alles, um die auftretenden Blutungen zu stoppen. Als sie den Verlauf des Schusskanals erfasste, glomm ein Hoffnungsschimmer in ihr auf. Die Kugel war schräg in den Körper eingedrungen. Um endgültige Gewissheit über die Schwere der inneren Verletzungen zu haben, musste sie den Bauchraum weiter öffnen. Bens Schutzengel hatten Überstunden geleistet. Die Kugel hatte zwar den Darm gestreift aber nicht zerrissen. Anna hätte vor Glück aufschreien können. Sie war sich bewusst, dass dies noch keine Überlebensgarantie für Ben war. Allerdings machte es ihr Mut, auch wenn die Skeptikerin in ihrem Hinterkopf vor den vielen Komplikationen warnte, die noch in den nächsten Stunden auftreten könnten. Um den Eingriff zu beenden, war sie gezwungen den letzten Rest des Ketamins zu spritzen. Mit einer Sonde entfernte sie endgültig die Kugel, die im Muskelgewebe der rechten Flanke stecken geblieben war, übernähte sicherheitshalber die Verletzung am Darm und legte eine provisorische Drainage, damit die Wundflüssigkeit abfließen konnte.


    Nachdem sie die Schusswunde an der Hüfte versorgt und verbunden hatte, lagen einige Zeit später die beiden Bleigeschosse blutüberzogen neben ihr auf der Bodenmatte. Ihr Schweiß perlte an der Schläfe herab, als sie sich aufrichtete, bahnten sich dieser seinen Weg am Hals entlang. Ihr T-Shirt klebte schweißdurchtränkt an ihrem Körper. Die Halogenleuchte strahlte unbarmherzig ihre Hitze aus.
    Von Anna unbemerkt, war Gabriela unter dem Türrahmen gestanden und hatte regungslos den größten Teil der Operation beobachtet. Sie schritt auf die junge Frau zu.


    „Wo sind die Kugeln?“, auffordernd hielt sie die Hand auf. Anna deutete auf eine blutige Wundauflage, auf der die beiden Kugeln lagen. Die Kroatin bückte sich und nahm die blutüberzogenen Geschosse in die Hand. Gabrielas Blick wanderte zurück zu Ben. In ihren Augen glitzerte es freudig, als sie das gleichmäßige Heben und Senken des Brustkorbs sah.

    „Na Schätzchen, was habe ich dir prophezeit? … Man braucht keine Krankenhaus um eine Kugel zu entfernen!“ Dabei ließ sie die Kugeln spielerisch durch ihre Finger gleiten und setzte ein versonnenes Lächeln auf, als würde sie mit ihrem Lieblingsspielzeug spielen.
    „Pass mir schön auf meinen Lieblingsbullen auf, Schätzchen!“, zischelte sie und verließ den Raum.
    Was Anna nicht ahnte, Gabriela hatte nicht damit gerechnet, dass es der Ärztin tatsächlich gelingen würde, das Geschoss aus dem Bauchraum zu entfernen und Ben die Operation überlebte.

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