Mädchen mit dem schwarzen Haar

  • Kölner Innenstadt - 15:00 Uhr


    Es dauerte etwas, bis sich Felix' Puls beruhigte. Selbst nachdem er sicher war, dass er den Kerl mit den langen schwarzen Haaren abgehängt hatte und bereits nach einer Busfahrt wieder in der Kölner Innenstadt angekommen war, hatte er das Gefühl, dass er Kammerflimmern bekam. Mit schnellen Schritten lief er durch die Fußgängerzone, liess sich von der Obdachlosen Klara, die er vor einigen Tagen kennengelernt hatte, nicht lange aufhalten und blickte sich immer wieder nervös um. Sie waren jetzt hinter ihm her... scheinbar hatte er etwas gehört oder gesehen, was er nicht hören oder sehen durfte. Fuck, was sollte er jetzt tun? Abreisen? Sich in den nächsten Zug zurück nach Hamburg setzen und nie wieder zurück kommen?

    Vermutlich hätte jeder Junge, der gerade die Angst von Felix im Nacken hatte, genau so entschieden. Doch sowohl die Sehnsucht danach, seine Schwester zu finden, als auch ein anderes Mädchen mit schwarzen Haaren in seinem Kopf, hielt ihn davon ab. Chloe. Ihre Wut, ihre Traurigkeit und ihre Enttäuschung hatte sich in seinen Kopf gebrannt. Die Enttäuschung über den falschen Verdacht, Felix hätte sich nur wegen ihrer Schwester und vor allem wegen der Apotheke ihres Vaters an sie "heran gemacht". Hatte er sich heran gemacht? Er war doch nur freundlich ...


    Während er durch die Straßen lief und nicht wusste, wo er hin sollte, begann der Regen seine Stoffkapuze des Pullovers zu durchweichen. Er vermied das besetzte Haus, denn er hatte immer noch Angst, verfolgt zu werden und somit alle Bewohner in Gefahr zu bringen. Wobei er schon mit bekam, dass es für "falsche" Personen im Haus ziemlich unangenehm werden konnte. Irgendwann verkroch er sich unter eine Brücke im Stadtpark, wo sich die Fußgängerwege kreuzten. Er saß dort im Halbschatten, man würde ihn wohl nicht direkt sehen, wenn er dort saß. Er zückte sein Handy und wollte schon eine Entschuldigungs-Nachricht an Chloe tippen, doch nach dem dritten Versuch, etwas zu formulieren was sich nicht peinlich anhörte, gab er es auf.

    Stattdessen versuchte er nochmal sich zu erinnern. Der Typ, der ihm gerade eben hinter gerannt war, war weder der kleine grauhaarige noch der Kräftige gewesen, der ihm bis an die Bushaltestelle gefolgt war. Jetzt erst fiel ihm wieder ein, was er gerufen hatte... dass er von der Polizei sei. Felix hatte das während der Flucht gar nicht realisiert, weil in Stresssituationen sein Gehirn nicht einwandfrei funktionierte. Wie groß war die Chance, dass der Typ wirklich Polizist war? Und wenn ja, was wollten sie von ihm, er hatte doch nichts getan.


    Größer war die Chance eher, dass es einer der Verbrecher war. Er wäre bei dem Wort "Polizei" stehengeblieben, und sie hätten ihn gehabt. Bei der Drohung: "Wir reißen dir die Ohren ab, weil du etwas gehört hast, was du nicht solltest." wäre Felix sicher nicht stehengeblieben. Er ließ seinen Kopf auf den Rucksack fallen und seufzte... dieser verfluchte Kopf. Hätte er nicht gerade bei Chloe einen Cluster-Anfall gehabt... was ja noch ein weiteres Problem offenbarte. Er hatte keine Medikamente mehr. Er wusste, dass Chloe welche hatte, er wusste aber auch dass er in jede Apotheke einbrechen könnte. Und wenn die Anfälle wieder kamen, und der Cluster nicht zufälligerweise jetzt beendet wäre, würden ihn die Schmerzen dazu zwingen.

    Sollte der Mann aber tatsächlich von der Polizei gewesen sein, wäre er vermutlich in weiteren Schwierigkeiten. Denn die Polizei würde es wohl nicht dabei belassen, ihn in Ruhe zu lassen, wenn einer ihrer Beamten es für nötig hält, Felix zu Fuß zu verfolgen. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, seine Finger gruben sich tief in seine Haare. Verdammt, wie sollte er aus diesem Schlamassel nur rauskommen. Er hatte nichts verbrochen und wegen dem Ladendiebstahl wird man ihm wohl kaum so hartnäckig verfolgen. Er überlegte einen Moment, zu einer Wache zu gehen.


    Doch der Regen wurde stärker in diesem Moment, und am liebsten hätte sich der Junge irgendwo ins Warme verkrochen. Er rollte sich am Nachmittag in seinem Schlafsack, den er im Rucksack mit sich trug, zusammen, doch trotz seiner Kleidung und Jacke wollte keine wirkliche Wärme aufkommen. Bei seiner Mutter zuhause in Hamburg war es zwar unordentlich, er musste sich um alles kümmern während seine Mutter wahlweise auf einem Trip, betrunken war oder schlief... aber es war zumindest warm. Er erfuhr daheim nur sehr wenig Liebe, weil seine Mutter in ihrem kaputten Zustand dazu nicht in der Lage war, aber es war wenigstens warm. Jetzt war es nur kalt und nass, seine Finger fühlten sich wie Eis an und seine Muskeln zitterten. Er würde es hier nicht lange aushalten...

    Der Minutenzeiger schien fest zu frieren, denn es war gerade mal halb vier, als sein Smartphone sich meldete. Erstaunt und neugierig schaute er drauf und sein Herz wollte einen Hüpfer machen. "Wir müssen uns sehen. Um 18 Uhr, Schrebergarten Waldesruh, Grundstück Nr.8... der Schlüssel liegt unter dem dritten Blumenkübel. Ich warte auf dich. Es tut mir so leid. Chloe." Plötzlich fühlte Felix in sich doch eine Wärme aufspüren, nachdem er die Nachricht gelesen hatte. Eine Wärme, die das Zittern verdrängte und ihn lächeln ließ.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Kölner Vorort - 15:30 Uhr


    Semir und Ben hatten keine Zeit verstreichen lassen als klar war, dass Chloe reißaus genommen hatte. Eine Großfahndung nach Chloe wurde angedacht, doch die konnte nur die Chefin anordnen. Also ließ sie sich über den neuesten Stand der Ermittlungen in Kenntnis setzen, diesmal allerdings telefonisch. Die beiden Männer standen vor der Apotheke und telefonierten per Lautsprecher. "Wie hoch schätzen sie die Gefahr ein, dass die Männer Jagd auf das Mädchen machen?", fragte die ernste Stimme von Anna Engelhardt und Semir wog den Kopf hin und her, was die Chefin natürlich nicht sehen konnte. "Das ist schwierig zu sagen. Ich würde eher sagen, dass der Junge gefährdeter ist, schließlich waren die Typen hinter ihm her. Bei Chloe wussten sie, wo sie war." "Nur wissen sie das jetzt auch nicht mehr.", merkte Ben an. "Eine Großfahndung nach Stimmer wurde bereits in die Wege geleitet. Andrea versucht gerade alles über den Mann heraus zu finden, damit wir auch seinen Komplizen identifizieren können.", gab die Chefin als Information weiter, während Semir ein wenig tippelte, weil ihm kalt war. "Was wollen zwei gefährliche Drogendealer nur von zwei harmlosen Teenagern...", dachte er laut nach. "Naja, ob sie harmlos sind, wissen wir noch nicht. Chloe hat immerhin versucht in einer Disko Drogen zu verticken, und wenn der Junge auch nur im Entferntesten mit Kevin verwandt ist...", doch Ben beendete den Satz nicht.


    "Machen sie sich ein Bild der beiden Teenager. Sie sind vor Ort, reden sie nochmal mit dem Vater. Auch wenn es natürlich interessanter wäre, etwas über den Jungen heraus zu bekommen, haben wir bei ihm aber keinerlei Ansatzpunkt. Bei dem Mädchen dagegen schon. Sollte die Fahndung nach Stimmer was ergeben, melde ich mich sofort bei Ihnen.", sagte die Chefin dann und wollte schon auflegen. "Moment, vielleicht haben wir bei dem Jungen doch einen Ansatzpunkt.", dachte Ben laut nach und sah Semir an, der ein wenig verständnislos blickte. "Was willst du tun? Wieder zu Kevins Vater?" Der Polizist mit dem Wuschelkopf schüttelte eben jenen. "Welchen beiden Menschen hat Kevin mehr anvertraut, als uns?", versuchte er seinem besten Freund ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Der blickte kurz in den Himmel, als sei dort in grauen Wolkenschleiern die Antwort versteckt. "Jenny?" Ben nickte. "Und wer noch?" Nur ein Pusten durch die Lippen war Semirs zweite Antwort, den er stand gerade auf dem berühmten Schlauch. "Kalle...", sagte Ben und meinte Kevins Ziehmutter aus Kindheitstagen. "Stimmt. Wenn Kevin von dem Jungen wusste, dann dürfte es einer von den beiden auch wissen." "Dann sollten sie die beiden vielleicht fragen.", gab die Chefin einen überaus wertvollen Tip, bevor sie das Gespräch beendete. Zu einer Großfahndung nach Chloe konnte sie sich nicht durchringen, zu undurchsichtig war die Sachlage um den ganz großen Apparat in Gang zu bringen.


    "Wir teilen uns auf. Ich fahre zu Jenny ins Krankenhaus.", sagte Ben, nachdem Semirs Smartphone wieder in dessen Jeans verschwand. Der nickte wiederum und meinte "Ich sehe mich hier noch etwas um. Ich werde mir mal Chloes Zimmer ansehen, vielleicht finden wir etwas, was uns weiterhilft." "Wir treffen uns dann bei Kalle.", sagte Ben zum Abschied und ging mit schnellen Schritten zu Semirs BMW, nachdem der ihm den Schlüssel zugeworfen hatte. Trotz des demolierten Hecks war das Auto noch fahrtüchtig. Der kleine Polizist kehrte in die Apotheke zurück, wo neben Chloes Vater auch mittlerweile dessen Mutter eingetroffen war und kreidebleich im Gesicht war. Ihr Mann hatte sie mittlerweile informiert, was in den letzten Stunden vorgefallen war.

    "Ich würde mir gerne mal Chloes Zimmer ansehen. Vielleicht gibt es einen Hinweis darauf, wo sie sich aufhalten könnte." Mit zögerlichen, langsamen Schritten führte Chloes Mutter den Polizisten in das Zimmer des Teenagers, wo sich Semir aufmerksam umsah. Er sah die Klamotten auf dem Bett, die Bandposter die allesamt etwas Düsteres ausstrahlten. Im Kleiderschrank wollte Semir nicht unbedingt rumwühlen, trotzdem öffnete er die Türen ein Stück und sah hinein.


    Es war ein halbwegs normales Teenie-Zimmer, wenn es auch an manchen Stellen etwas Düster war. Ein paar handgemalte Zeichnungen hingen an Chloes Spiegel, meist waren es düstere Tiere wie schwarze Raben oder entstellte schwarze Hunde. Sie hatte ein Talent für Details. Auch die Kette mit der Rasierklinge nahm Semir kurz in die Hand, als er hinter sich die Existenz von Chloes Mutter bemerkte. "Hat ihre Tochter mal über Probleme gesprochen?" Die Frau schüttelte den Kopf. "So viel... reden wir im Moment nicht. Sie ist halt in der Pubertät.", meinte sie und erntete einen etwas verständnislosen Blick von Semir, der die Kette mit den Rasierklingen kurz in die Hand nahm. "Sie hört halt diese Musik. Ich meine... in dem Alter." Semir hörte der Frau gar nicht wirklich zu. Es waren Ausflüchte einer Mutter, die den Bezug zu ihrer Tochter längst verloren hatte. "Kennen sie einen Ort, wo Chloe hingeht, wenn sie alleine sein will? Ein Treffpunkt, ein Platz im Wald, vielleicht bei einem Freund?", fragte er, doch bereits die erste Reaktion, ein verwirrter, nichtssagender Blick der Mutter, ließ die Hoffnung auf Informationen sterben. Der Polizist ließ seinen Blick nochmal streifen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Krankenhaus - 16:20 Uhr


    Ben hatte sich durch den aufkommenden Feierabendverkehr gequält, um so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu kommen. Er wollte Jenny eh endlich mal wieder besuchen, und so konnte er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Wenn sie noch Dinge aus Kevins Vergangenheit wusste, die Ben und Semir noch nicht wussten, könnte er wertvolle Informationen über den geheimnisvollen Jungen erfahren, der scheinbar tief in Schwierigkeiten mit zwei Größen aus dem Drogengeschäft Kölns steckte... warum auch immer. Der Polizist parkte den BMW auf dem Besucherparkplatz, bevor er mit eiligen Schritten Richtung Treppenhaus ging - den Aufzug wie immer ignorierend.

    Jenny saß aufrecht im Bett und las ein Fantasy-Abenteuer-Buch. Sie musste immer kleinere Pausen einlegen, wenn sie spürte dass sie Kopfschmerzen von der Gehirnerschütterung bekam. Aber es wurde von Tag zu Tag besser, und sie freute sich morgen oder übermorgen das Krankenhaus zu verlassen. Als es klopfte und sie nach einem kurzen "Herein" Ben begrüßen durfte, war ihr die Freude über die Ablenkung vom tristen Krankenhausalltag deutlich an zu merken.


    "Hey Ben. Schön, dich zu sehen.", sagte sie mit einem Lächeln und legte das Buch auf den Nachttisch. Ben kam zu ihrem Bett, er lächelte ebenfalls wenn auch etwas gestresst, das sah man ihm an. Er legte die Jacke ab, beugte sich zu Jenny herunter und umarmte die junge Frau. Sie standen sich freundschaftlich so nahe in der Trauer um Kevin in den letzten Wochen, sie kamen sich bereits sehr nahe als Kevin Monate zuvor im Gefängnis war und sie sich gegenseitig trösteten. Sie stützten sich gegenseitig und so war Jenny über Bens Anwesenheit immer erfreut. "Freust du dich, bald hier raus zu kommen?", fragte Ben und die junge Frau nickte eifrig. "Endlich wieder im eigenen Bett schlafen. Das eigene Essen essen.", setze sie mit Nachdruck hinterher.

    Ihr Partner nickte zustimmend, es gab viele schönere Dinge als im Krankenhaus zu sein. Doch sein Lächeln verschwand dann langsam. "Jenny, ich bin halb dienstlich hier. Und es tut mir leid ein Thema anzusprechen was vielleicht ein paar... Wunden aufreisst.", sagte er langsam und zögerlich. Jenny nickte, quasi als Einverständnis, dass sie bereit ist, Fragen zu ertragen. Und wenn Ben es so ankündigte, konnte das Thema eigentlich nur Kevin heissen.


    "In unserem aktuellen Fall haben wir einen Jungen verfolgt. Auf der Flucht hat er dieses Foto verloren.", erzählte Ben von den Geschehnissen des Tages und reichte Jenny das zusammengefaltete Bild. Als sie es aufklappte, stockte ihr Herz und sie bestätigte Ben das, wofür er eigentlich keine Bestätigung brauchte. "Das ist Janine. Das ist Kevins Schwester." Der Polizist nickte. "Wir wissen nicht, wer der Junge ist. Wir wissen nur, dass ein paar Jungs aus der Drogenszene hinter ihm her sind. Wir brauchen Informationen. Wenn er ein Bild von Janine mit sich herumträgt, könnte er zu Kevins Familie gehören." "Oder vielleicht ein Schulfreund von Janine?" Ben schüttelte den Kopf. "Ich würde sagen, dass er dafür zu jung war. Janines Tod liegt schon fast 15 Jahre zurück, und der Junge war vielleicht zwischen 15 und 20."

    Jenny nickte und sah auf das Foto. Es war ein anderes als die, die Kevin in seiner Kiste hatte. "Hat Kevin mal irgendwas erwähnt... von weiteren Geschwistern, Cousins... irgendsowas?" Jenny blickte zum Fenster heraus in den dunstigen Regen, auf die graue Großstadt. "Es ist komisch. Jetzt, wo ich so drüber nachdenke... wir haben eigentlich nie viel geredet. Merkwürdig.", sagte sie leise. Hatten sie sich mal belanglos über die Familie unterhalten? Kevin vermied dieses Thema aus seiner Richtung, weil es nichts positives zu berichten gab.


    "Habt ihr schon mit Kevins Vater geredet darüber?" "Noch nicht. Aber wir wollen nachher noch zu Kalle... vielleicht können wir uns den Weg zu diesem Kotzbrocken dann sparen.", sagte der Polizist in voller Ehrlichkeit, vor allem nach dem Gespräch in den letzten Tagen, als Peters sich erst zögerlich kooperativ verhielt. Jenny dachte nach, und sie formte ihre Gedanken zu Wörtern. "Kevin und Janine waren Halbgeschwister. Janine hatte ja eine andere Mutter." Ben nickte, den Gedanken hatten sie auch schon. "Wir haben auch vermutet, dass Kevin von diesem Jungen, sollte es ein Bruder sein, gewusst haben muss. Er hätte sich doch um einen kleinen Bruder genauso gekümmert, wie um seine Schwester."

    "Vielleicht ist es nur Janines ... Halbbruder. Gleiche Mutter wie Janine, anderer Vater. Und somit hätte er nichts mit Kevin zu tun.", dachte Jenny den Faden weiter. Das würde dann aber bedeuten, dass sich ihre Spur nach dem Jungen im Sand verläuft. Sollte es sich um einen Halbbruder von Janine handeln, der de facto erst zwei Jahre vor Janines Tod zur Welt kam, konnte Kevin nichts von ihm gewusst haben... und somit auch niemandem etwas anvertrauen. "Das klingt logisch...", murmelte Ben und sah ebenfalls noch einmal auf das Foto.


    "Aber warum sucht er jetzt nach seiner Halbschwester, die schon seit 15 Jahren tot ist?", dachte die junge Frau laut. "Vielleicht weiß der Junge das gar nicht." Jenny versank in Schweigen, bevor sie erneut Gedanken ausformulierte: "Dann hat er nur ein Bild von ihr als Jugendliche... und sucht sie jetzt? Mit einem 15 Jahre alten Bild... das klingt alles verwirrend." Ben konnte ihr nur zustimmen... und sie spürten beide auf einmal wieder, wie sehr sie den jungen Mann vermissten...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 18:00 Uhr


    Semir und Ben hatten sich für halb sechs bei Kalle verabredet, jetzt trotteten sie relativ niedergeschlagen die kurze Treppe vor der Altbauwohnung herunter auf den Gehweg in Kölns Innenstadt, wo sie die Autos geparkt hatten. Kalle, ein Transvestit und früher so etwas wie Kevins Ziehmutter, konnte kein Licht ins Dunkel bringen. Sie berichtete zwar davon, dass Janines Mutter in Hamburg blieb, als Erik Peters mit den beiden Kindern Kevin und Janine nach Köln zog, ihr Aufenthaltsort hatte Erik aber immer verschwiegen. Kalle selbst lernte Erik dann erst in Köln kennen und durch die Geschäftspartnerschaft der beiden erfuhr sie dann einiges aus Eriks früherem Leben. Dass Janines Mutter später noch Kinder bekam - durchaus möglich, denn sie war scheinbar noch sehr jung, als Janine zur Welt kam.

    "Eins der möglichen Kinder könnte nun der Junge sein, der geflohen ist.", schlussfolgerte Semir nachdenklich, um allerdings gleich einzulenken. "Aber das ist natürlich reine Theorie." Ben stimmte ihm durch stummes Nicken zu. "Stellt sich dann nur die Frage - warum sucht er Janine mit einem uralten Foto? Warum weiß niemand, weder die Mutter noch er, dass Janine tot ist?", stellte der erfahrene Kollege direkt einige Fragen an, zu denen sein bester Freund einige Sekunden schwieg. "Ich meine, dass es kein neueres Foto gibt, ist ja logisch...", meinte er mit vorsichtiger Stimme.


    Semir nickte. "Das ist schon klar. Aber weiß er auch, dass das Foto schon 15 Jahre alt ist? Sucht er Janine als Teenie oder sucht er Janine als erwachsene Frau? Auf der Rückseite des Fotos steht kein Datum." Es waren zuviele Fragen offen, als dass man einen weiteren Ansatzpunkt gehabt hätte. Die Spur war kalt und jetzt war zunächst nur Hoffen und Bangen angesagt. "Wir müssen warten bis die Fahndung was ergibt. Entweder nach Stimmer, nach dem Jungen oder nach Chloe." Semir öffnete die Tür des Streifenwagens, mit dem er gekommen war. "Ich bin fast überzeugt, dass wir den Jungen und Chloe zusammen finden. Warum sollte das Mädchen sonst abgehauen sein." "Lass uns zur Dienststelle fahren und der Chefin zumindest grob einen Bericht geben, wenn sie noch nicht im Feierabend ist.", meinte dann auch Ben, bevor er seinerseits sich in den Dienstwagen setzte. Vielleicht hatte auch Andrea schon etwas über den Komplizen von Stimmer herausgefunden...



    Schrebergarten - selbe Zeit


    Es dunkelte bereits erheblich als Felix nach einem längeren Fußmarsch durch die Innenstadt, immer wachsam und leicht schreckhaft sich nach hinten umdrehend, am Schrebergarten am Stadtrand angekommen war. Er lag zum Rheinufer hin, es gab einen Kiesstrand an dem man, richtiges Wetter vorausgesetzt, schön baden und urlauben konnte. Doch jetzt war es kalt, das Wasser des Rheins war leise zu hören und der Nieselregen setzte wieder ein. Der Schrebergarten war mit kleine Straßenlaternchen auf den Wegen ausgestattet, so dass Felix keinerlei Probleme hatte, Namen der Wege oder Nummern der jeweiligen Hütten zu erkennen. Er war nervös, aufgeregt und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Hatte er heute nachmittag nach der Begegnung mit Chloe und ihrem emotionalen Ausbruch noch gedacht, dass die kurze Freundschaft bereits ein jähes Ende gefunden hatte, so sehr freute er sich über ihre Nachricht, sich hier mit ihm zu treffen.

    Immer, wenn er ein Geräusch hinter sich vernahm, schreckte der Junge auf. Einmal war es eine Katze, die über den Weg schlich. Einmal war es ein Uhu der von einem Baum zum anderen flog, und dabei seine unheimlichen Laute ab. Felix schluckte, er war für diese Art Abenteuer nicht gemacht.


    Endlich hatte er den Weg gefunden, in dem laut dem Aushängeplan am Eingang, Grundstück Nr.8 liegen sollte. Als er vor dem betreffenden Grundstück stand, stand er vor einer hohen Hecke, die eine Öffnung wie einen Eingang geschnitten hatte, wo ein Kiesweg bis zu der Tür der Hütte führte. Es war die mit Abstand größte und schönste Hütte im gesamten Schrebergarten und zeigte, dass Familie Kruske über das nötige Kleingeld verfügte, um sich etwas derartiges leisten zu können. Erleichtert stellte Felix fest, dass in der Hütte Licht brannte und Chloe somit wirklich da war. Das Licht war kein festes Licht, sondern flackerte merkwürdig - scheinbar hatte das Mädchen Kerzen aufgestellt.

    Er wollte schon klopfen, als er sich an die Nachricht erinnerte... er solle den Schlüssel unter einem der Blumentöpfe nehmen, die den Kiesweg flankierten - aber warum? Wenn Chloe drin war, dann konnte sie ihm doch öffnen. Felix verharrte kurz, bevor er sich doch entschloß zu klopfen, woraufhin aber keinerlei Antwort kam. Mit dem Klopfen beschleunigte sich auch das Klopfen in der Brust, was langsam zu Beklemmungen in selbiger führte, als weiterhin eine Antwort von Chloe ausblieb. Also befolgte Felix doch die "Anweisung" aus der SMS, hob den Blumenkübel hoch und fand darunter einen kleinen Schlüssel, mit dem er dann die Eingangstür öffnete.


    Als er in den Raum trat, der eine gemütliche Kombination aus Wohnraum mit Sitzecke und Esstisch, sowie einer Kochnische war, gefror ihm das Blut in den Adern. Er starrte auf den Boden, seine Hände begannen zu zittern und er musste sich an einem Stuhl neben ihm festhalten, damit ihm nicht die Beine wegklappten. Unzählige Kerzen säumten den Boden der Hütte, sie waren neben und hinter dem Körper von Chloe aufgebaut. Sie lag auf der Seite, in einem weißen Nachthemd, das ein grotesker Gegensatz zu ihren pechschwarzen Haaren war. Es wäre ein schöner, beinahe anregender Anblick gewesen, doch was überhaupt nicht in diese Szene passte, war die riesige Blutlache vor ihrem Körper, der blutverschmierte Unterarm so wie eine ihrer Rasierklingen, die auch an ihrem Spiegel hingen und von denen eine jetzt mitten im Blut lag. Das Flackern der Kerzen brach sich in ihren offenen Augen, die an Felix vorbei starrten...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Schrebergarten - 18:15 Uhr


    Felix stockte der Atem, ihm wollten die Beine versagen und das Herz in der Brust zerspringen. Wie konnte sie das tun... warum? Er wusste nicht, wie lange er an diesem einen Fleck stand und auf die grauenvolle Szenarie starrte... das Blut, die Kerzen, Chloes lebloser Blick... vielleicht waren es Sekunden, Minuten, gefühlt waren es Stunden - bis endlich Bewegung in ihn kam. Er kniete vor Chloe nieder und schlang seine Arme um ihren Körper um sie ein wenig aufrecht hinzusetzen, um sie zu schütteln. "Chloe? Chloe?? Sag bitte was! Chloe??", kam mit erstickter Stimme aus seinem Mund und er spürte, wie seine Augen sich in Hilflosigkeit mit Tränen füllten. Er kannte das Mädchen nur ein paar Tage, aber es hatte sich in ihm eine emotionale Verbindung aufgebaut, die sich schwer erklären ließ.

    Er spürte, wie ihr Kopf schlaff auf seine Schulter fiel und in seiner Aufregung nahm er nicht wahr, dass ihre Stirn an seinem Hals, warm von den Kerzen war. "Fuck... Chloe... es tut mir so leid.", sagte Felix mit tränenerstickter Stimme, denn natürlich hatte er die Szene aus ihrem Zimmer im Kopf, als sie ihn quasi rausgeworfen hatte weil sie dachte, er würde sie nur für die Medikamente gegen seine Kopfschmerzen ausnutzen. Er wäre nur nett zu ihr, der Außenseiterin, weil es ihm nützte. Wollte sie ihn dann mit diesem Anblick bestrafen, damit er sah, was er angerichtet hatte?


    Der Junge war in einem emotionalen Ausnahmezustand, dass ihm das naheliegendste - einen Krankenwagen zu rufen - erstmal nicht in den Sinn kam. Er wollte das Mädchen festhalten und ihr wenigstens jetzt das Gefühl geben, nicht alleine zu sein - denn dieses Gefühl kannte er nur zu gut. Weder spürte er die Wärme, die von ihr ausging, noch ihren flachen Atem am Hals. Erst als sich ihre Arme ebenfalls um seine Schultern schloßen, riss er erschrocken die Augen auf und ein kurzer Schrei entglitt ihm, bevor er von dem Mädchen zurückwich.

    Ihre Augen hatten wieder einen Fixpunkt, und als Felix sie loßliess, stützte sich Chloe auf den Händen ab. Felix dagegen atmete schwer wie ein Marathonläufer und blickte nun völlig verständnislos zu dem jungen Mädchen. "Was... wieso... was soll das?" Er wusste nicht, ob er sie erleichtert wieder in den Arm nehmen sollte, sich freuen sollte oder ob der makabaren Inszenierung erbost und empört sein sollte. Er hörte erstmal nur Chloes traurige Stimme: "Ich... ich wollte das Gefühl haben, dass ich jemandem wichtig bin. Dass jemand traurig ist, wenn ich das tue, was du siehst. Dass ... dass ich jemandem nicht egal bin." Dabei blickte sie zu Boden auf das Kunstblut um sie herum, dass verdammt echt und realistisch aussah.


    Der Junge war erstmal unfähig sich zu bewegen. "Und deswegen inszenierst du hier deinen Selbstmord, damit ich dich so finde?", fragte er und es fiel ihm schwer seine Emotionen in den Griff zu bekommen, denn er musste sich erneut einige Tränen wegwischen. Chloe sah ihn wieder an. "Ich habe schon oft darüber nachgedacht. Aber ich habe Angst davor, dass es nicht besser wird, selbst wenn ich tot bin. Wer weiß, was dann passiert. Aber ich stelle mir oft vor, wie andere reagieren würden. Wer überhaupt traurig wäre, neben Mama. Und du... vielleicht." Den Beweis, dass er tatsächlich traurig wäre, hatte sie jetzt denn natürlich war seine geschockte Reaktion eindeutig. Natürlich würde er nicht cool und locker reagieren, wenn er so eine Fremde gefunden hätte, aber seine Tränen und seine Reaktion, sie in den Arm zu nehmen, waren eindeutig für sie.

    Felix atmete durch und schaffte es, rational nachzudenken. Auch wenn es menschlich wäre - eine negative Reaktion würde Chloe absolut nichts bringen. Vor allem nicht in ihrem jetzigen seelischen Zustand. Er entschied sich also dagegen, zog seine Jacke erstmal aus und beugte sich dann wieder zu ihr herunter um sie in den Arm zu nehmen. Dass er dabei seinen Fuß in die Kunstblutlache setzte, störte ihn nicht. Für diese Geste war sie extrem dankbar, seine Reaktion war nicht ablehnend und auch sie schlang ihre Arme um seinen Hals und ihr kamen Tränen, die ihr Makeup verwischten.


    So saßen sie zusammengekauert eine zeitlang zwischen den Kerzen und hielten sich fest - er in seinen normalen Klamotten, sie in dem dünnen kurzen, blutverschmierten Nachthemd das auf auf eine morbide Art und Weise nicht unerotisch auf ihn wirkte. Ihre Hände krallten sich ein wenig in seine Sweatweste, während er die flache Hand auf ihren Rücken gelegt hatte, die langsam auf und ab streichelte. Er hatte so ein Gefühl noch nie erlebt, einem Mädchen so nahe zu sein auf diese Art und Weise. "Es geht einfach alles schief, Felix. Ich hab das so satt.", sagte sie dabei leise in sein Ohr. "Was ist passiert?" "Ich meine alles... die Schule... diese anderen Leute, du hast es ja erlebt. Ich will nicht zu ihnen gehören aber gleichzeitig fühle ich mich auch so einsam. Ich komme damit nicht klar."

    Felix verstand was sie meinte. Er war in der Schule kein krasser Aussenseiter, aber auch niemand der gerne im Mittelpunkt stand. Er war lieber für sich und kam damit aber auch ganz gut klar. Chloe hatte nichts an der Art und Weise der Mädchen, die in ihrem Alter waren - Gesellschaft vermisste sie dagegen trotzdem. "Ich brauche keine 15 Freundinnen um mich herum.", sagte sie leise. "Aber jemand, der einfach für mich da ist. Dem ich alles erzählen kann. So ein... bester Freund. Beste Freundin. Keine Ahnung." Wobei ihr klar war, dass sie diesen Freund vielleicht gerade im Arm hielt.


    Die Umarmung löste sich für einen Moment. "Die Polizei war heute bei meinen Eltern, kurz nach dem du gegangen bist. Die hatten irgendwie herausgefunden, dass ich bei meinem Vater Drogen gefunden habe, und die in der Disko vertickt habe. Danach bin ich weggelaufen. Ich habe Angst, dass ich dafür bestraft werde." Felix' Blick hob sich plötzlich. "Polizei?" Chloe nickte und sagte zaghaft: "Die haben auch nach dir gefragt. Die haben dich scheinbar gesehen, wie du aus der Apotheke gekommen bist." Plötzlich arbeitete es in dem Kopf des Jungen. Die Typen, die er vor der Apotheke sah, bevor er weglief - das waren eindeutig die Typen die er am Tag zuvor belauscht hatte. Aber der Kerl mit den langen dunklen Haaren... der war ein Andere. War das vielleicht ein Polizist? "Ich hab zwei Typen belauscht, die hatten sich mit deinem Vater über Drogen unterhalten. Und... die haben mich eben, als ich aus der Apotheke ging, verfolgt. Und danach ein Typ mit langen dunklen Haaren, aber ich weiß nicht, ob der zu den Typen gehörte." "Einer der Polizisten hatte lange dunkle Haare. Und einen Drei-Tage-Bart." Felix nickte - das kam hin. Die Polizisten hatten ihn gerettet, und er war geflohen. Verdammt, aber woher sollte er das wissen?

    "Du sagst, die Typen haben sich mit meinem Vater über Drogen unterhalten?", fragte Chloe nochmal nach und der Junge nickte. "So hörte es sich an." "Ich habe das, was ich verkauft habe, bei ihm im Büro gefunden." Felix schluckte - das ganze entwickelte sich langsam zu einem echten Kriminalfall, und er spürte Chloes Stimmungsschwankung, als sie von ihrem Vater sprach.


    "Vielleicht habe ich ja einmal Glück im Leben... und er hat wirklich was damit zu tun und muss ins Gefängnis." sagte Chloe mit fast tonloser Stimme und sah Felix an. "Wie kannst du sowas sagen?" "Mein Vater...", ihre Stimme stockte. "Er ist der Grund warum ich so bin. Warum ich mich von anderen abkapsel und warum ich lieber alleine bin und mich dann einsam fühle." In Felix Hals bildete sich ein Klos und er konnte spüren, wie die Stimme des Mädchens und ihr gesamter Körper zu zittern begann. "Chloe... du musst nicht weiterreden, wenn du willst.", sagte er nun ebenfalls wesentlich leiser und sah wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, bevor er sie wortlos wieder in den Arm nahm und ihren bebenden Körper spürte. Er wusste nicht, wie lange er sie im Arm hielt, bis er ihre leise Stimme direkt an seinem Ohr hörte, die die bittere Wahrheit sagte, die er bereits befürchtete: "Mein Vater hat mich jahrelang vergewaltigt..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Innenstadt - 7:30 Uhr


    Gregor war alles andere als ein Frühaufsteher, im Gegensatz zu seinem Kumpel Frankie. Der kam mit wenigen Stunden Schlaf aus und war dann sofort bei der Sache. Heute noch mehr. Er saß in seinem Mercedes vor der Tankstelle, über der sein Kumpel George seine Wohnung hatte. Vor einer Stunde hatte er über eine der wenigen Telefonzellen, die es in Köln noch gibt, Hubert aus dem Bett geklingelt, obwohl der, zusammen mit seiner Frau, vor Sorge um seine Tochter sowieso nicht in den Schlaf fand. Das, was der Supermarktbetreiber dem Kriminellen zu sagen hatte, gefiel Letzterem überhaupt nicht. Frankie tobte, er schrie, er drohte Hubert schlimmstes Ungemach an - doch was brachte es. Hubert würde weder die Drogen noch das Bargeld wieder beschaffen können. Es lag nun in der Asservatenkammer der Polizei und dort würde es erst einmal bleiben.

    Frankies Fingerknöchel waren weiß, so sehr umkrampft hielt er das Lenkrad seines Youngtimers, als sein Freund mit freundlichem Lächeln aus dem Tankstellengebäude kam mit zwei Coffee to go in der Hand. "Ich weiß nicht, was es an diesem Morgen so blöd zu grinsen gibt.", bellte sein Chef in dem Moment, als Gregor einstieg und einen Becher weiterreichte. "Vielleicht kann ich deine miese Laune ja aufhellen." "Da gibts nichts aufzuhellen. Ausser du hättest die beiden Kids schon an den Füßen in einem dunklen Keller aufgehängt und sie warten nur noch auf mich."


    Gregor pustete in den dampfenden Kaffee während Frankie einen tiefen Zug nahm und dabei offenbar kein Schmerzempfinden verspürte. "Was ist denn los?" "Was los ist? Die Bullen waren gestern bei Hubert, wie du vielleicht unschwer erkannt hast, als wir abhauen mussten. Und als der Zug Blaumänner dort wieder abgefahren ist, war der Statt um eine gute Viertelmillion an Drogen und Drogengeld reicher. Das ist los!", machte Frankie mit seiner Reibeisenstimme unmissverständlich klar, dass eines ihrer Lager aufgeflogen war. "Fuck... die Pillen waren doch so gut wie verkauft." "Was du nicht sagst. Jetzt rate mal, wer das dem dicken Meerten beibringen darf." Ein Niederländer hatte sich als Käufer für die Drogen gefunden, der Deal stand kurz vor dem Abschluss. Sie würden nicht nur eine Stange Geld verlieren, sondern vor allem Reputation in der Szene.

    "Hat der Apotheker gesungen?" Frankie schüttelte verkniffen mit dem Kopf. "Offenbar hat seine Tochter was gefunden. Das Gör hat die Pillen in einer Diskothek verkauft - deshalb waren die Bullen dort. Sie hat gesagt wo sie es fand und da hatte Hubert keine Wahl mehr." Gregor blickte zweifelnd zu seinem Freund und wunderte sich, dass er noch keine Eilmeldung einer brennenden Apotheke oder eines verwüsteten Supermarktes gehört hatte. "Und das glaubst du? Sollen wir ..." "Hinfahren? Natürlich - lass uns das doch abkürzen und sofort zum Polizeirevier fahren und uns stelle."


    Frankie gab seinem besten Freund einen nicht ganz so sanften Schlag auf den Hinterkopf. "Mann ey, denk doch mal für fünf Minuten nach. 100%ig steht der Kerl jetzt unter Polizeischutz. Wir gehen dahin und sofort klicken die Handschellen." Gregor schwieg. "Ja... macht Sinn.", sagte er und fügte dann an: "Dann wird dich meine Neuigkeit vermutlich freuen. Ich hab durch etwas Telefonieren rausbekommen, dass unser Lagerist eine Hütte in einem Schrebergarten besitzt. Soll da schon länger nicht aufgetaucht sein." Nun war es Frankie, der in seinem cholerischen Denken gerade nicht den Weg durch den Nebel fand. "Und was sollen wir dort? Glaubst du, der hat noch ein Lager von anderen Dealern?", rief er wütend. "Nein - aber vielleicht finden wir dort seine Tochter und mit etwas Glück auch den Jungen - falls dir das noch wichtig ist."

    Der grauhaarige Kriminelle dachte kurz nach. Rache gefiel ihm immer gut und schließlich war das Mädchen ein ausschlaggebender Grund, warum ihr Versteck aufflog. Dass sie dort wegen dem Jungen waren natürlich auch. Und da Hubert doch ziemlich wohlhabend war, hatten sie vielleicht dadurch die Chance, ein wenig von dem finanziellen Verlust durch den Wegfall der Drogen wieder aufzufangen, wenn sie das Mädchen finden würden. Er nickte langsam. "Freuen ist übertrieben. Aber die Info ist nicht schlecht - wo müssen wir hin...?"

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 8:00 Uhr


    Am Vorabend hatten die beiden Polizisten nichts mehr ausrichten können - der Chefin gaben sie einen Überblick über die Ermittlungen und Geschehnisse seit dem Mord an ihrem Kontaktmann im Kölner Hafen. Dass sie über die Diskothek und die zufällige Drogendealerin Chloe Kruske an den zufälligen Drogenlageristen Hubert Kruske gekommen sind - und natürlich damit auch an Gregor Stimmer, nach dem bereits gefahndet wurde. Mit der Fahndung nach Chloe wollte Anna Engelhardt noch die Nacht abwarten - Jugendliche neigten zu Kurzschlussreaktionen, die genauso gut wieder ins Gegenteil umschlagen konnten und plötzlich würde das Mädchen mit den schwarzen Haaren wieder bei ihren Eltern vor der Tür stehen.

    Semir übernahm die Aufgabe, bei Kruskes anzufragen. "Guten Morgen, Herr Kruske - ich kann mir denken dass die Nacht unruhig war." Er hörte eine müde, weit entfernt klingende Stimme: "Unruhig ist kein Ausdruck, Herr Gerkhan. Abgesehen von der Angst dass die beiden Typen nochmal aufkreuzen würden dominiert die Sorge um Chloe." Semir nickte, für Hubert Kruske natürlich nicht sichtbar. "Gehe ich Recht in der Annahme, dass Chloe noch nicht wieder aufgetaucht ist?" "Das ist leider so." "Gut Herr Kruske. Wir werden nun eine Fahndung nach ihrer Tochter einleiten - zu ihrem eigenen Schutz. Zivilfahnder stehen vor ihrem Haus, falls Stimmer oder sein Komplize nochmal zurück kommen. Wir werden ihre Tochter finden."


    Der Kommissar beendete das Gespräch und gab dann an seinen Kollegen Dieter Bonrath die nötigen Infos zur Fahndung nach Chloe. Ben saß derweil bei Andrea am Tisch und hatte den Kopf auf die Hände gestützt. "Gregor Stimmer hat im Knast einiges an Beziehungen aufgebaut - soviel in die Drogen- als auch in die Schutzgeldszene. Weiß der Himmel mit wem er dieses Geschäft im Moment abzieht, und wer da noch mit drin hängt." Der ältere Polizist stellte sich schräg hinter seine Frau und Ben, um ebenfalls auf den Monitor zu schauen. Ihn sahen einige Mugshots von Verhafteten an - und ebenfalls von einigen, die längst wieder freigelassen wurden. "Also von dem, was ich bei der Verfolgungsjagd von dem Typen sah, kommen eigentlich nur die drei in Frage...", sagte Ben und Semir stimmte ihm zu, als er auf drei Männer mit kurzen grauen Haaren zeigte. Werner Pahnje, Emil Kamper und Frank Mahler. "Einer gefährlicher als der andere...", murmelte Semir dabei, was Ben mit einem sarkastischen Nicken und einem Seitenblick auf Semir quittierte... es klang schon wieder ängstlich und der junge Polizist erinnerte sich an das Gespräch, das er vor einigen Tagen mit Semir geführt hatte.


    Die beiden Männer fuhren daraufhin auf Streife in der Hoffnung, dass die Fahndung Ergebnisse zeigen würde und sie dann schnell eingreifen könnten - ausserdem mussten sie ja auch ihrem Tagesgeschäft nachgehen. "Ein paar Kollegen mehr wären nicht schlecht.", sagte Semir, während er das Dienstauto durch den morgendlichen Berufsverkehr steuerte und Ben gleichzeitig seine Lederjacke öffnete, weil die Heizung sich im Auto schnell bemerkbar machte. "Das kannst du ja sofort ankurbeln, wenn du Dienststellenleiter bist.", bekam er direkt von Ben zurück und der erfahrene Polizist musste auflachen. Im Gegensatz zu Ben hatte Semir schon einigen Einblick in die politischen Entscheidungen, die sich in den oberen Etagen der Polizei abspielten.

    "Ben, ich werde nur die Dienststelle Autobahnpolizei leiten... ich werde kein Minister oder Polizeipräsident. Glaubst du nicht, die Chefin versucht alles, damit wir mehr Personal kriegen?" Natürlich war Ben nicht komplett ahnungslos und sein Spruch gegenüber Semir nicht zu 100 % ernst, dennoch konnte er sich vorstellen dass Semir als jemand mit Erfahrung auf der Straße vielleicht andere Argumente vorbringt als Anna Engelhardt. Die war, bevor sie die Dienststelle vor vielen Jahren übernommen hatte, natürlich auch im normalen Polizeidienst, allerdings in der Kriminalitätsbekämpfung lange Zeit beim Wirtschaftsdienst, danach noch eine zeitlang auf der oberen Verwaltungsebene. Dort lernte sie vor allem, Geschicke zu leiten. "Warten wir mal ab... was passiert.", wiegelte Semir wieder etwas ab, als das Funkgerät knarzte.


    "Cobra 11 für Zentrale." "Cobra 11 hört.", antwortete Ben auf Andreas Stimme aus dem Lautsprecher. "Ich habe mir mal erlaubt, euren Kunden Hubert Kruske etwas unter die Lupe zu nehmen. Dabei ist mie etwas aufgefallen." Beide Männer schauten sich an und lauschten gespannt. "Wundert mich, dass ihr da nicht selbst drauf gekommen seid." Ein Satz, der die Spannung der beiden nicht löste und Semir verdrehte die Augen. "Was ist es denn?" Sie konnten Andrea kichern hören. "Hubert Kruske gehören nicht nur einige Supermarkt-Filialen und die Apotheke im Kölner Vorort - sondern auch ein Grundstück im Schrebergarten Waldesruh. Ich schicke euch die Unterlagen aufs Handy, das wäre doch ein guter Ort um mal für ein paar Nächte unter zu tauchen." Semir nickte und Ben bedankte sich für die Informationen.

    Als sein Handy per Signalton mitteilte, dass Andreas Infos angekommen waren, zog Ben die Stirn etwas in Falten. "Ich weiß nicht - meine Teeniezeit ist ja noch nicht so lange her...", begann er und erntete sofort ein glucksendes Lachen von Semir. "Aber wenn ich abtauen würde, würde ich nicht in die Hütte meines Vaters gehen. Ich ginge davon aus, dass mein Vater dort als allererstes suchen würde." Semir fand Bens Einwand berechtigt... dennoch war es ihre Pflicht der Möglichkeit nachzugehen, und so machten sich die beiden Polizisten auf den Weg zum Schrebergarten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!