Mädchen mit dem schwarzen Haar

  • Köln - 13:30 Uhr


    Immer wieder fielen dem jungen Mann im Fernzug die Augen zu, immer wieder schreckte er hoch, wenn er spürte, einzunicken. Sein Griff um den Rucksackträger wurde dann fester, als müsse er ihn festklammern, weil ihn jemand entreissen wollte. Oder klammerte er sich selbst an dieses Stück Stoff, das Letzte was ihm vorerst von der Heimat blieb? Seine Augen blickten auf, blickten umher als würden sie jemanden suchen. Dabei wollte er eigentlich nur prüfen, ob sich mittlerweile jemand in seine Nähe gesetzt hatte, der vorher noch nicht dort saß. Doch scheinbar war er so lange nicht eingenickt. Schräg vor ihm saß immer noch die ältere, sehr fein angezogene Frau, die die Illustrierte scheinbar nur mit den Fingerspitzen berührte. Gegenüber vom Mittelgang saß ein dicklicher Mann mit Vollbart und Blaumann, die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen und friedlich nickend. Scheinbar kehrte er gerade von der Schicht nach Hause. Und hinter ihm kicherten immer noch zwei Mädels albern, die sich übers Handy vermutlich Beauty-Tipps über Youtube holte. Der Junge atmete durch... der Rucksack war noch bei ihm, das war wichtig. Er strich sich eine schwarze Strähne, die ihm öfters übers Gesicht hing, aus dem Auge und versuchte sein etwas längeres Haar zu bändigen. Würde er nachher in die Kälte treten, hatte er eine Mütze und er würde sofort anders aussehen. Dann würde er sich auf die Suche machen ... auf die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.


    Der Junge mit der schwarzen Strähne hieß Felix Kreutzner. Er war vor wenigen Tagen 17 geworden und stammte eigentlich aus Hamburg. Von dort aus führte ihn sein Weg auch jetzt gerade nach Köln. Felix kam aus dem, was man wohl im Volksmund ein "zerrüttetes Elternhaus" nennen würde. Seine Mutter war früher eine drogenabhängige Prostituierte, heute ist sie nur noch drogenabhängig und alkoholkrank. Eine Frau, die zwischen Apathie, Rausch und Entzugsphasen hin und her pendelte, die ihrem Sohn nichts geben konnte ausser, dass sie als Vormund im Mietvertrag der kleinen Wohnung stand. Sie erhielt Stütze, den Rest besorgte Felix. Mit Zeitung austragen, Flaschen sammeln und Kurierdienste. In den Hamburger Kreisen gab es eine gut funktionierende Drogenszene, in die er sich einspannen ließ. Immerhin konnte er von sich sagen, dass er das Zeug, dass er mit seinem Fahrrad umherkutschierte, selbst nicht nahm. Höchstens, dass er mit seinen damaligen Freunden mal kiffte.

    Dass er selbst unter diesem Voraussetzungen seiner Mutter halbwegs gesund zur Welt kam, glich einem Wunder. Vielleicht war es auch nur Zufall, dachte der Junge oft. Genauso Zufall, wie seine Zeugung. Brutaler ausgedrückt, würde man es vermutlich Unfall nennen. Felix' Mutter ließ sich im Drogenrausch von einem Freier schwängern, und er selbst war das Ergebnis. Ungewollt in eine graue harte Welt in Hamburg geboren, in der er sich ab dem siebten Lebensjahr beinahe alleine behaupten musste. Es prägte ihn.


    "Nächster Halt: Köln Hauptbahnhof" klang es aus der Lautsprecherdurchsage. Felix hatte keine Angst vor einer fremden Stadt, er hatte keine Angst vor den nächsten Tagen oder Wochen ... je nachdem wie lange er hier bleiben würde. Er würde sich durchkämpfen, er würde vermutlich bei Minusgraden, die in den nächsten Tagen angesagt waren, bei Pennern unter Brücken schlafen, aber darauf war er vorbereitet. Er war nicht besonders groß, schmächtig und unheimlich gelenkig. Trotz der schwierigen Situation zuhause suchte Felix nach einem Ausgleich und fand ihn in Hamburg in Sportvereinen. Zuerst blieb er beim Hürdenlauf hängen, danach ging er in einen Kletterverein. Heute war der Junge unheimlich schnell auf den Beinen und wieselflink an allem hochgeklettert, was auch nur im entferntesten einen Halt bot.

    Es zeigte sich von Vorteil bei Drogengeschäften, die schief liefen. Denn mit Worten wehren ... dafür war Felix nicht schlagfertig und frech genug. Und mit Fäusten wehren war schon gar nicht seine Disziplin. Deswegen war der schnelle geordnete Rückzug immer das Mittel der Wahl, und selbst wenn man ihn mit einem Auto verfolgte, verschwand er oft über Gartenzäunen, kletterte an Gerüsten hoch und schaffte es immer wieder zu entwischen. Das half ihm auch bei zwei Einbrüchen in eine Apotheke.


    Dass er jetzt nicht bei seiner Mutter in Hamburg war und versuchte, neben seinen gelegentlichen Schulbesuchen Geld für sie zu verdienen, hatte einen besonderen Grund. Einige Tage nach seinem 17. Geburtstag lüftete seine Mutter, in einem der wenigen "lichten" Momente, das Geheimnis, dass sie noch ein Kind habe, von dem aber niemand etwas wisse. Sie wusste noch dass es mit einem Zuhälter geschah, und dass dieser ihr mit dem Tod drohte, wenn sie versuchen würde, für das Kind irgendein Sorgerecht zu erstreiten. Durch den Drogen- und Alkoholkonsum waren ihre Erinnerungen nur lückenhaft, das Zeitgefühl stimmte nicht und alles, was sie besaß, war ein Foto, dass irgendwann mal in der Post lag und angeblich ihre Tochter sein sollte. Felix konnte es schwer glauben, das Mädchen auf dem Foto schien jünger zu sein als er, doch seine Mutter war von diesem Gedanken nicht abzubringen. Wenn er selbst noch ein Kleinkind gewesen war... könnte er sich jetzt daran erinnern, dass seine Mutter mal schwanger war, als er 2 Jahre alt war? Er glaubte seiner Mutter.

    Ansonsten wusste sie nichts mehr. Weder den Namen des Zuhälters, noch die genaue Gegend, wo er mit ihr und einem weiteren Jungen hinzog, ausser dass es Köln "oder so" war. Selbst den Namen ihrer Tochter wusste sie nicht mehr, das Kind war damals keine sechs Wochen alt, als der gewalttätige Zuhälter Hamburg verließ. Doch sie hegte den Wunsch, ihre Tochter wenigstens kennen zu lernen... oder einfach nur zu wissen, ob es ihr gutging.


    Deswegen war Felix, schweren Herzens, nach Köln aufgebrochen. Harald, ein guter Freund, der die Tafel in dem Hamburger Viertel betreute, wo Felix lebte, versprach ihm, öfters nach seiner Mutter zu sehen und sich zu kümmern, damit der Junge seiner Mutter vielleicht diesen Wunsch erfüllen konnte. Und so packte er seinen Rucksack mit Klamotten, plünderte das bisschen an Ersparnisse, was er Monat für Monat entbehren konnte für das Zugticket, damit er nicht kurz hinter Lüneburg aus dem Zug geschmissen wurde, wenn er Schwarz fuhr und fuhr mit dem festen Ziel nach Köln, seine Schwester zu finden. Das einzige, was er an Informationen hatte, war Köln "oder so" und ein einzelnes Foto eines jungen Mädchens, mit leuchtenden Augen, schwarzen Haaren und einem positiven, ansteckenden Lachen. Obwohl Felix das Mädchen nie gesehen hatte, musste er immer ungewollt lächeln, wenn er dieses Foto betrachtete. Und er versprach seiner Mutter gerade, als der Zug in Köln einfuhr, per WhatsApp-Nachricht, diese vermutlich erst in ein paar Tagen lesen würde, dass er ihre Tochter, seine Halbschwester finden würde. Das Mädchen mit den schwarzen Haaren.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 14:00 Uhr


    Es war wenig Verkehr auf der Autobahn, das kam den beiden Männern in dem silbernen BMW zu Gute. Das Thermometer hatte Anfang November urplötzlich nochmal einen Sprung gemacht, Semir und Ben kamen heute beide in ihren Frühjahrsklamotten... Semir in einer leichten Jeansjacke, Ben in seiner braunen Lederjacke mit passender Sonnenbrille. Der Himmel war klar und blau, in der Sonne war es warm wie im Mai. "Von mir aus kann der Klimawandel ruhig weitergehen. Ich brauche keinen Winter.", sagte Semir und hatte sich, am Steuer, ebenfalls die Sonnenbrille aufgesetzt. Von seinem Partner neben ihm kam nur ein kurzes Brummen. "Winter braucht niemand. Man muss heizen, das Auto ist morgens eiskalt, du musst kratzen und die längsten Staus passieren immer bei Nieselregen um den Gefrierpunkt.", erzählte er weiter, als würde er Selbstgespräche halten oder einem Azubi seine Berufsweisheiten beibringen.

    Doch von Ben kam erneut keine Reaktion. Er war vertieft in die Zeitschrift, die er vor sich hielt, hin und wieder einem Kugelschreiber darin rummalte. Semir warf ihm einen schnippischen Seitenblick zu, ob Bens mangelnder Bereitschaft, seinen Ausführungen zu zu hören. "Ist spannend, was du da liest?", fragte er, während der BMW mit 100 auf der rechten Spur die Autobahn entlangrollte. "Hmmm.", war die vielsagende Antwort von Ben. Auf dem Cover des Magazins waren Autos abgedruckt.


    "Ist der Test des neuen M5 so interessant, dass man sich Passagen unterstreichen muss? Was liest du da wirklich?", fragte der erfahrene Polizist grinsend und griff mit einer Hand nach der Zeitschrift. "Sag mal...", mokierte Ben, und zog die Zeitschrift ein wenig zu sich. "...würdest du dich vielleicht auf den Verkehr konzentrieren?" Beim Griff nach der Zeitung klappte das Cover ein wenig herunter, so dass Semir für einen Sekundenbruchteil sehen konnte, dass Ben die Zeitschrift, die er wirklich las, in der Auto-Zeitschrift versteckte. "Brautmoden?", fragte der verheiratete, zweifache Vater erstaunt. "Ihr habt den ersten großen Krach hinter euch, und geht jetzt in die Vollen?" kicherte er noch hinterher.

    Ben stöhnte auf. "Siehst du. Ihr Frauen seid alle gleich.", sagte er und fasste ganz selbstverständlich Semir unter die Frauen. "Wenn ihr einen Mann seht, der in einem Magazin für Brautmoden blättert, denkt ihr, er will heiraten. Weil Carina so denkt, blättere ich nicht zuhause in dem Wisch und weil du genauso denkst, lege ich den Katalog in eine Auto-Zeitschrift. So!" Er klang dabei gespielt genervt, aber nicht schlecht gelaunt. Überhaupt war seid einigen Tagen, seid dem abgeschlossenen Fall mit Bens Cousin Christian die Laune wieder besser geworden. Vor allem auch, weil es Jenny besser ging und sie nach Köln ins Krankenhaus verlegt wurde, wo sie allerdings noch einige Tage bleiben musste.


    Semir schaute ein wenig verständnislos. "Und warum blättert ein Mann in einem Brautmode-Magazin, wenn er nicht heiraten will?" "Weil ein Mann auch einfach mal so einen neuen Anzug braucht. Mein Vater wird nächsten Monat 70 und feiert groß. Und den letzten Anzug den ich hatte, war mein Konfirmationsanzug, glaub ich." Er richtete seine beiden Zeitschriften wieder und schaute sich weiter Anzüge an. Manche davon kreuzte er an. Semir war mit dieser Erklärung aber noch nicht zufrieden. "Die sind doch viel teurer als normale Anzüge." "Ja, und besser verarbeitet. Soll ja auch noch halten, wenn mein Vater 80 wird." Semir kicherte. "Ob du dann noch rein passt." Wie in Zeitlupe drehte Ben den Kopf in Richtung Semir und wieder holte den vorherigen Satz, jedoch tauschte er Namen und Alter aus: "Oder wenn mein Partner 50 wird... demnächst!"

    Damit hatte Ben seinem besten Freund jeglichen Wind aus den Segeln genommen. Anspielungen auf sein Alter fand Semir, seit die 50 wie ein Fallbeil über ihm schwebte, irgendwie gar nicht mehr lustig. Er verzog den Mund beleidigt und schaute wieder geradeaus auf die Straße. Dabei hatte er seinem Freund angekündigt, den 50ten gar nicht groß feiern zu wollen. Die Kinder würden zu Oma und Opa gehen, und er würde mit Andrea über seinen Geburtstag ein paar Tage verreisen.


    Nur einige Minuten später klappte Ben die Zeitschriften zu und legte sie in den Fußraum. "Ich glaube, heute lässt unser Informant uns hängen.", murrte er. "Heute? Zenners Quote liegt knapp unter 60%. Ich frag mich sowieso, warum wir immer sofort springen, wenn er einen Tipp hat.", gab sein erfahrener Partner zur Antwort. "Naja... schwarzer BMW, der mit 20kg hochwertigem Kokain, bewaffnet über unsere Autobahn fahren soll, die wir nur abklappern müssen... wir würden ja sowieso nichts anderes machen." Semir nickte. "Die Observation vor einigen Wochen, als wir 10 Stunden im Regen standen, und nichts passierte, war ärgerlicher.", erinnerte er sich. Seine Augen streiften immer wieder auf die Autos, die ihn überholten.

    Nur noch ein paar Kilometer, und sie kamen zu ihrer Reviersgrenze. Sie mussten dann von der Autobahn runter und zurückfahren, um das Teilstück, wo der Kurier fahren soll, wieder von vorne befahren zu können. Bonrath und ein Kollege in Uniform hielten sich währenddessen ebenfalls auf diesem Teilstück auf, um sofort die Verfolgung aufzunehmen, falls der schwarze BMW sich blicken ließ, während Semir und Ben gerade den Rückweg antraten.


    Nach zwei Stunden hatten die beiden bereits Unmengen an Treibstoff verfahren. "Sich auf den Seitenstreifen zu stellen wäre vielleicht doch klüger gewesen." "Ja, das fällt gar nicht auf, wenn ein Pannenfahrzeug urplötzlich wieder funktioniert und folgt.", kalauerte Semir. "Ein Streifenwagen fällt also weniger auf?", fragte Ben und wählte bereits Zenners Rufnummer. "Zenner? Wir verfahren schon den dritten Satz Winterreifen. Du hast gesagt, zwischen 13 und 14 Uhr. Es ist jetzt 16 Uhr und kein schwarzer BMW mit polnischem Kennzeichen. Was ist los?" Zenner hatte eine auffallend helle Stimme, seit einigen Jahren steckte er den Autobahnpolizisten Tipps zu, seit er in der Kölner Unterwelt ein wenig aufgestiegen war.

    "Keine Ahnung. Wir warten hier auch. Handy ist aus, wegen der Ortung. Ich kann euch nichts sagen." Seine Stimme klang gehetzt und gestresst. "Glaubst du, das wird heute noch was." "Weiß nicht. Du Ben, ich kann hier nicht telefonieren. Ich meld mich." Dann wurde die Verbindung getrennt. "Na toll...", murrte der junge Polizist.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Krankenhaus - 18:00 Uhr


    Es war bereits dunkel, als der silberne BMW auf dem Parkplatz des Kölner Krankenhauses anhielt und die beiden besten Freunde ausstiegen. Natürlich war die Fahrerei über die Autobahn erfolglos gewesen, Zenner rief sie zwei Stunden später nochmals an und blies die Aktion endgültig ab. Nur war der Informant erneut sehr kurz angebunden und Semir kam nicht umhin besorgt zu fragen, ob alles in Ordnung sei. "Na klar. Mach dir keine Sorgen." "Tue ich aber.", war die Antwort des erfahrenen Polizisten, denn Zenner wäre nicht der erste befreundete Informant, den er verlieren würde. "Wenn es zu heiß wird, tauchst du unter. Das ist eine Anweisung, alles klar?" "Na klar." Wieder nur eine kurze Antwort, dann wurde die Verbindung getrennt.

    Jetzt gingen die beiden Kollegen durch den kalten Abendwind. Auch wenn es tagsüber in der Sonne frühlingshafte Temperaturen hatte, fiel das Thermometer ins Bodenlose, sobald die Sonne verschwand. Der Himmel war sternenklar und der erste Bodenfrost würde kommen. In ihrer Frühjahrskleidung hatten die beiden Polizisten zwischen Auto und Krankenhauseingang auf einmal ziemlich kalt. "Morgen doch wieder Winterjacke. Kann man im Auto ja ausziehen.", meinte Ben und blies sich in die Hände, als sie durch die Pforte gingen.


    Jeden zweiten Abend besuchten sie Jenny jetzt schon, seit sie im Krankenhaus war, mittlerweile das dritte Mal. Einige Tage würde sie wegen ihren Verletzungen noch bleiben, vor allem die Gehirnerschütterung würde sie noch einige Zeit beschäftigen. Die Fissur an der Schläfe sah im Röntgenbild schon ganz gut aus, um den Fuß allerdings hatte sie noch einen Gips, der war gebrochen. Krücken waren in den nächsten Wochen angesagt, sobald sie wieder ohne Schwindelgefühl stehen konnte. Nach Blumen und mehreren Zeitschriften brachten die beiden Männer diesmal eine Keksdose mit, als sie ins Zimmer eintraten und Jennys müdes Gesicht anlächelten. Sie antwortete ebenso mit einem Lächeln, als sie das Bettoberteil ein wenig aufrecht stellte, um sich hinzusetzen. Dabei meldete sich ihr Kopf immer wieder mal.

    "Andrea und die Kinder haben das Backen vorgezogen... nur wegen dir.", sagte Semir mit einer übertriebenen Unschuldigkeit in der Stimme. Natürlich hatten seine Töchter Ayda und Lilly die vorzeitige Plätzchenflut ganz und gar nicht unangenehm empfunden, als Semir den Vorschlag machte, für Jenny zu backen. Und so konnte sich die junge Polizistin in den nächsten Tagen den Bauch mit Spritzgebäck und Zimtwaffeln vollschlagen, auch wenn die Portion nur klein war denn Jenny achtete penibel auf ihre Figur. Und gerade jetzt, ohne Sport, würde sie sicherlich nicht zu viele Süßigkeiten essen.


    Sie musste lachen und bedankte sich bei den beiden Männern, die sie beide kurz umarmten. Dann fragte sie, wie bei jedem Besuch, was auf der Arbeit so passierte, ob man mal wieder etwas von Lucas gehört habe. Letzteres mussten die beiden Polizisten verneinen. Lucas war ein angeblicher CIA-Agent, der die Männer von Cobra 11 beim letzten Fall unterstützten, dann aber einen Stick mit wichtigen Informationen für eine Organisation mitgehen ließ, um sich selbst und seine Familie aus dieser Organisation frei zu pressen. Seit Semir den Mann gehen ließ, hatte er nichts mehr von ihm gehört. Er fand das schade, aber irgendwo war er auch froh darüber. Er hoffte, nicht zu erfahren, ob seine Entscheidung falsch war...

    "Wann ist der Prozessbeginn gegen deinen Cousin?", fragte Jenny dann in Bens Richtung. "Das wird wohl noch etwas dauern. Die Verhöre dauern noch an. Er will von IX natürlich nichts gewusst haben, redet etwas von Kurzschlusshandlung und so weiter. Für IX gibt es leider, ausser dem Stick, auch keinen Beweis mehr." Ben sagte das ohne Vorwurf in seiner Stimme, er hatte Semirs Entscheidung akzeptiert und konnte sie auch nachvollziehen. "Für gefährliche Körperverletzung, versuchter Mord und Freiheitsberaubung fährt er trotzdem ein.", sagte Semir.


    Jenny seufzte. "Ich bin froh, wenn ich wieder hier raus bin." Dann dachte sie kurz nach. "Ich muss doch endlich wieder in meinen normalen Lebensrythmus finden." Sie hatte turbulente, leider sehr traurige Wochen hinter sich. Kevins Tod, das Ende seines Kampfes miterlebt zu haben, setzte der jungen Frau sehr zu. Sie dachte, sie könne die Situation gut behandeln, doch je öfter sie sich das einredete, desto tiefer wurde sie in eine dunkle Trauerspirale gezogen. Sie bildete sich ein, Kevin ständig irgendwo zu hören, zu sehen oder zu fühlen. Es ging soweit, dass sie sogar seine Drogen, die sie noch aufbewahrt hatte, zu probieren was ihr einen fürchterlichen Trip beschert hatte, von dem allerdings nur Ben und Semir wussten.

    Danach riss sie sich zusammen, am Ende des Falles kam es dann zu den schweren Verletzungen. Jetzt lag sie im Krankenhaus und hatte erneut viel Zeit zum Nachdenken. Und sie war traurig darüber, dass sie Kevins Wille, von dem sie geträumt hatte, nicht eingehalten hatte. Ihn in guter Erinnerung zu behalten. Ihn nicht zu einem Dämon werden zu lassen. Ein Dämon, der sie zur Rache antrieb, war er tatsächlich nicht. Ihr Ex-Freund wurde eher zu einem ruhelosen Geist, der selbst nicht von Jenny loslassen konnte, und in ihrer Nähe sein wollte... zumindest bildete die junge Frau sich das ein.


    "Nimm dir jetzt erstmal Zeit, wieder gesund zu werden. Und dann wird irgendwann wieder alles seinen gewohnten Gang nehmen.", sagte Semir, der am Fußende des Bettes stand, während Ben direkt neben Jenny auf einem Stuhl saß, und ihre Hand hielt. "Werden wir jetzt wieder einen neuen Kollegen bekommen...?", fragte sie noch zaghaft. "Wenn mein Partner nicht wieder jeden potentiellen Kollegen aus der Dienststelle mobbt...", gab Semir mit süffisantem Unterton zur Antwort, weshalb Ben die Augen verdrehte. "Die Chefin castet im Moment. Wir sehen immer wieder, dass sie Kollegen zu Gesprächen hat. Aber wir wissen noch nichts Genaues.", sagte er dann ernster. Irgendwann wird ein neuer Kollege Kevin ersetzen, das war sicher. Und damit müssten die Drei dann zurechtkommen. Bei dem ersten Versuch stand Ben noch die frische Trauer im Weg.

    "Könntet ihr mir vielleicht noch einen Gefallen tun?", fragte Jenny, als die beiden Männer sich nach einer Stunde Besuch zum Gehen wenden wollten. "Ich... ich nehme ja an, dass ihr das Grab pflegt, oder?" "Selbstverständlich.", sagte Ben sofort. "Könntet ihr vielleicht auch mal bei mir zuhause vorbeischauen? Blumen gießen, Post reinholen und so?" Ben blickte kurz zu Semir: "Da hätten wir auch selbst mal drauf kommen können." Jenny musste lachen und die beiden Männer versprachen, sich darum zu kümmern. Dann verabschiedeten sie sich.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 8:00 Uhr


    Irgendwann würde man das Unbequeme als bequem empfinden, die Kälte als Wärme. Das hatte Klara, die runzelige alte Frau, gesagt, die Felix in Köln getroffen hatte, nachdem er erst ziellos durch die große Stadt gelaufen war, und sich danach in den belebten Fußgängerzonen der Innenstadt aufgehalten hatte. Sie war eine Stadtstreicherin, im Volksmund auch als "Pennerin" verspottet, und hatte sich unaufgefordert, als es dunkelte, neben den jungen Kerl niedergelassen. Ihr Golden-Retriever, der wesentlich gepflegter aussah als sein Frauchen, schnupperte zuerst als an Felix Schuhen, wedelte dann freundlich mit dem Schw.anz und setzte sich neben den Jungen, der vor einem Handygeschäft saß, eine Decke auf dem kalten Boden ausgebreitet, den Rucksack neben sich gelegt. Er erschien prall, beherbergte Klamotten und Schlafsack.

    "Jacky erkennt gute Menschen am Geruch." Das war ihre Begrüßung als sie bei Felix auftauchte und auf ihn heruntersah. Felix blinzelte da in die tiefstehende Sonne, die langsam hinter den hohen Häusern verschwand in das verlebte Gesicht und wurde angegrinst. Ohne ein Wort zu sagen erwiederte er das Lächeln selbst, beinahe schon etwas scheu, und streichelte daraufhin den Hund, der seine kalte Schnauze in den Schoß des Jungen legte. Klara stellte sich kurz vor, setzte sich zu dem schwarzhaarigen Felix und wollte ihm Gesellschaft leisten.


    "Bist du von zuhause ausgebüchst? Du bist doch neu hier. Ich kenne hier jeden." Felix war nicht besonders auskunftsfreudig, auch wenn er die Erscheinung neben sich sofort sympathisch und warmherzig empfand. Seine schwarze Strähne hing ihm vor dem Auge und seine Haare schauten unter der Wollmütze rundherum hervor. "Nein. Ich komme aus Hamburg." Seine Sätze blieben kurz und seine Stimme klang abweisender, als es seine Absicht war. Felix hatte eine helle, freundlich klingende Stimme, manchmal sogar ein wenig kindlich, als sei er gerade erst kurz vorm Stimmbruch. "So weit her? Bist du getrampt? Das ist sicher furchtbar aufregend, was man da für Leute kennenlernt.", sagte Klara und erzählte sogleich, dass sie von anderen Großstädten träumte, obwohl es sicher überall die gleichen Fußgängerzonen gab.

    Sie leistete ihm Gesellschaft, in dem sie beinahe unentwegt redete und erzählte. Felix hatte die Fähigkeit, sich interessiert zu geben und trotzdem innerlich abschalten zu können. Er wollte die Frau nicht verletzen, in dem er Deinteresse zeigte. Und so nickte er oft, wenn sie von Jackys Kunststücken erzählte und beteiligte sich aktiv, in dem er dem Hund den felligen Bauch kraulte, als dieser sich auf den Rücken legte und vergnügt juchzte. "Und warum bist du jetzt von Hamburg nach Köln gekommen?" "Ich suche meine Schwester."


    Klara ließ sich für einen Moment das Foto zeigen. "Ein hübsches Mädchen. So tolle Augen. Und sie soll hier in Köln sein?" Felix nickte. "Gute Idee am Nachmittag und frühen Abend in der Fußgängerzone anzufangen. Die jungen Leute gehen hier gerne shoppen und abends aus. Kennst du denn ihr Umfeld?" Der Junge schüttelte den Kopf und steckte das Foto weg. Es würde die Nadel im Heuhaufen werden, doch er hatte einen Plan... so etwas, wie einen Plan zumindest. Er würde die Schulen abklappern, jeden Tag auf einem anderen Pausenhof sitzen und sich umsehen. Sie musste ja hier irgendwo zur Schule gehen, sie musste irgendwann mal in der Stadt auftauchen. Er würde auf den Zufall hoffen müssen, aber er glaubte daran, dass er das Mädchen, von dem er nicht mal den Namen wusste, finden würde.

    "Komm mit. Ich zeig dir, wo du heute Nacht schlafen kannst, ohne direkt zu erfrieren... wenn du vorher immer drinnen warst. Es ist nicht besonders warm oder bequem... aber irgendwann wirst du das Unbequeme als bequem empfinden, und die Kälte als Wärme." Die ältere Frau klang fast philosophisch und wie eine Mutter, die ihr Kind führte, streckte sie ihre Hand nach Felix aus, nachdem sie aufgestanden war. Der raffte seine Decke zusammen und stopfte sie in den Rucksack, um Klara in ein heruntergekommenes Altbauhaus in einer Nebenstraße, etwas ab vom Zentrum zu führen. Einige Fahnen hingen aus den Fenstern, es war besetzt von Punks und anderen Heimatlosen.


    Tatsächlich war es weder wirklich warm, noch bequem, und einige Jungs im Haus machten auf Felix den Eindruck, als würden sie ihn, ohne zu zögern, verprügeln um ihm die paar Euro zu klauen, die er heute in der Fußgängerzone erbettelt hatte. "Die sind hier alle in Ordnung. Du solltest das Foto mal rundzeigen." Felix nickte nur, seine Augen drückten Misstrauen aus. Doch die Jungs und Mädels im Haus ließen ihn in Ruhe und zeigten kein besonderes Interesse an dem schwarzhaarigen Kerl, der gar nicht soviel anders aussah, als sie selbst, mit seiner zerrupften Jeans und dem Piercing in der linken Augenbraue. Wo die meisten in dem Haus wie Punker aussahen, sah er ein wenig aus, als wäre er einem Gohtic-Treffen entsprungen, seine Aura war kühl und distanziert.

    Nachts kam sein Monster. Er nannte es Monster, denn es kam lautlos, ohne Vorwarnung und ohne Gnade. Ein stechender Schmerz, der ihm von der Schläfe durchs Auge zuckte, ein Druckgefühl auf die Nebenhöhle, als wolle sie implodieren. Ein heisses Messer, dass man ihm durchs Auge stach, seine Nerven wurden gereizt und augenblicklich war er wach und krümmte sich in seinem Schlafsack. "Verdammt..." stöhnte er leise und drückte, wie ein Reflex, seine Hand gegen das linke Auge, als würde es dadurch besser werden, doch das war nur ein psychologischer Effekt. Er kramte nach der Schachtel, die er mitgenommen hatte von seinem letzten Apothekeneinbruch, es waren nur noch zwei Ampullen Sumatriptan Nasenspray darin. Er drückte sich den Sprayerhals ins rechte Nasenloch und betätigte den Abzug, zog danach sofort intensiv zweimal die Nase hoch, damit das Mittel sofort in seinen Körper eindrang. Dann zählte er innerlich, während er sich unter verbissenen Schmerzlauten einrollte. Zwischen 900 und 1500 Sekunden, also 15 bis 20 Minuten dauerte es bei ihm, bis der Schmerz genauso schnell verschwand, wie er kam, und Felix schweiß überströmt wieder in einen unruhigen Schlaf entließ.


    Am Morgen bekam er von Karla einen dünnen Kaffee aus einer Bäckerei spendiert. "Das musst du doch nicht." "Oh doch. Ich muss mich doch um dich kümmern.", sagte die ältere Frau und sah in Felix ein wenig den hilflosen Jungen in einer fremden Stadt. Dass er selbst wesentlich erwachsener war und Verantwortung übernehmen konnte, sah man ihm äusserlich nicht an. Er war aber froh, die erste Nacht überstanden zu haben, trank den Kaffee, obwohl er Kaffee eigentlich nicht ausstehen konnte... aber er wollte die freundliche Stadtstreicherin nicht vor den Kopf stoßen. Sie zeigte ihm die Buslinie zum Humboldt- und Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, die in der Nähe lagen und wo er anfangen wollte zu suchen. Bevor er sie verließ, umarmte sie den schmächtigen Junge und bat ihn, zurück zu kommen... vor allem, wenn seine Suche erfolgreich war. Felix versprach es. Um der Gefahr des Schwarzfahrens zu entgehen, nahm er den Weg zum ersten Gymnasium zu Fuß auf.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Jennys Wohnung - 8:30 Uhr


    Ben und Semir nutzten die erste Streifenfahrt des Tages, um Jennys Gefallen in die Tat umzusetzen. Die Sonne hatte sich gerade erst über den Horizont gehoben, es war noch anständig kalt, aber es würde nochmal ein sehr schöner Novembertag werden. Mochte man den Metereologen glauben, sollte es der letzte schöne, vor allem warme Tag in diesem Jahr werden. Für die Nacht hatten sich Herbststürme und ein Kälteeinbruch angekündigt. Ben fröstelte etwas, er hatte die warme Jacke wieder zuhause gelassen und die Klimaanlage im Mercedes übertünchte die Jahreszeit. Er rieb sich mit den Händen über die Arme, als Semir den Jennys Schlüssel aus der Tasche zog und erst die Haustür, dann im ersten Stock die Wohnungstür aufsperrte. Wohlige Wärme empfing die beiden Polizisten beim Betreten der schmucken Altbauwohnung.

    Ben und Semir waren schon öfters bei Jenny, sowohl in ihrer alten, als auch in der neuen Wohnung. Jenny war eine ordentliche Person, Unordnung trieb sie in den Wahnsinn, Schmutz konnte sie nicht ausstehen. Sobald sie wusste, dass Besuch kam, staubsaugte und wischte sie zumindest in den offenen Räumen wie Wohnzimmer, Küche und Gäste-WC, selbst wenn es die besten Freunde oder die Eltern waren, die sicherlich nichts beanstandeten oder danach sagten: "Bei dir sah es aus wie im Schweinestall." Und so sah es bei Jenny nicht mal aus, wenn sie nicht explizit aufräumte.


    Doch was Semir und Ben sofort auffiel, war dass die Wohnung wirklich extrem aufgeräumt war. Und zwar tatsächlich so, als hätte Jenny Besuch erwartet. Beide Beamte ließen diesen Eindruck kurz auf sich wirkten, bemerkten aber nichts voreinander. "Ich kümmer mich um das Gemüse.", meinte Ben scherzhaft, denn er wusste wo Jenny in einer kleinen Kammer die Gießkanne aufbewahrte. Semir nickte, er setzte sich aufs Sofa und sah sich interessiert um. Dabei fiel ihm das Blinken an der Telefonstation ins Auge, was wohl eine neue Nachricht auf dem Anrufbeantwortet verhieß. Zuerst ignorierte er es, dann dachte er nach ob er die Nachricht abhören sollte. Vielleicht war es wichtig? Aber wenn es wichtig war, würde sich derjenige doch sicher auch auf Jennys Handy, das den Unfall überlebte, melden.

    Er blickte zu Ben, der mit einer Gießkanne den Blumen auf dem Wohnzimmertisch, auf manchen Regalen und den Kräutern in der Küche mit Lebenselixier versorgte. Wieder der Blick auf den Anrufbeantworter. Das Telefon war ein anderes Modell als Semir zuhause hatte, und er war alles andere als technikaffin. "Was machst du da?", fragte Ben, während er das Wasser aus der Gießkanne goß. "Jenny hat eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.", sagte Semir und besah sich die Knöpfe auf der Station. Er drückte, hob die Augenbrauen, denn nichts tat sich.


    "Was... hmmm...", murmelte er und drückte erneut. Ben setzte ein schelmisches Grinsen auf, neben Semirs fortschreitendem Alter war seine Allergie zu allerlei technischem Kram immer wieder Anlass zu Lästereien. Bevor der kleine Polizist ein Gerät in Betrieb nahm, studierte er zuerst einmal die Anleitung. Und wenn im Haus etwas Technisches kaputtging, schmiss er es weg und kaufte neu, statt es zu reparieren. "Klappts?", fragte der jüngere Kollege dann, als Semir endlich die Lösung zu finden schien. "Speicher wurde gelöscht." erklang es aus dem Gerät. "Oh verdammt.", entfuhr es Semir zur Antwort. "Keine Nachrichten vorhanden - keine Nachrichten vorhanden." Mit schuldbewusstem Blick sah er zu seinem besten Freund, der die letzten Tropfen Wasser dem Basilikum auf Jennys Fensterbank gab.

    "Technisch bist du echt ein Fossil.", war nur dessen Antwort auf Semirs Missgeschick. "Hoffentlich war das nicht wichtig.", meinte das Fossil und drückte weiter unbeholfen an den Knöpfen herum. "Vielleicht kann Hartmut das wiederherstellen." "Ach was, du übertreibst. Wer immer da Jenny angerufen hat, wird es wieder versuchen oder auf ihrem Handy anrufen. Mach dich nicht verrückt.", winkte Ben nur ab und brachte die Gießkanne zurück in das Kämmerchen, während Semir das Gerät mit dem Mobilteil wieder an seinen Platz stellte.


    "Sag mal, fällt dir was auf?", brachte der kleine Kommissar dann doch noch die auffallende Ordnung zur Sprache. Ben wusste sofort was sein Partner meinte, als könnten die beiden Gedanken lesen. "Es ist ziemlich aufgeräumt, meinst du?" "Ja... als hätte Jenny noch vor der Schicht Frühjahrsputz gemacht. Keine Tasse in der Spüle, kein Fleck auf der Ablage...", während er sprach ging der kleine Polizist zur Spülmaschine und öffnete diese... sie war leer: "Vielleicht sehe ich ja Gespenster..." "Du meinst, hier war jemand drin?", fragte Ben, und sein Folgegedanke war sofort, was man hier wohl suchen könnte... oder finden möchte.

    "Den Gedanken hatte ich als Zweites. Zuerst hab ich mir Sorgen um Jenny gemacht. Beschäftigungstherapie, Putzwahn... Kevin?" Er schmiss Ben Stichwörter zu, und der verstand sofort. "Dass sie keinesfalls über seinen Tod hinweg ist, wissen wir ja spätestens seit ihrem Drogentrip vor einigen Tagen.", bemerkte er dabei. Während die beiden Männer die Wohnung verschlossen und wieder in den Dienstwagen zurückkehrten, meinte Semir: "Ich will sie nicht schon wieder darauf ansprechen. Irgendwann nervt sowas ja auch, und dann verschließt sie sich. Aber wir sollten, unbemerkt, ein bisschen mehr auf sie aufpassen. Sie unangekündigt mal daheim nach der Arbeit besuchen. Kino, Essen, irgendwas. Andrea wird uns dabei helfen." Ben fand die Idee gut. Ständiges "Darauf hinweisen", dass etwas nicht stimmt, würde irgendwann ins Gegenteil umschwenken. Aber alleine lassen mit ihrem Kummer würden sie Jenny keinesfalls...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Friedrich-Wilhelm-Gymnasium - 9:20 Uhr


    Schulen sahen alle gleich aus, konnte man meinen. Als Schüler, wie als Lehrer, wie als Elternteil. Meistens ziemlich altgebaute Gebäude, mehrere Eingänge, große Pausenhallen, verschiedene Treppenhäuser. Vor dem Eingang war meistens die Raucherecke für ältere Schüler, aber immer mehr Gymnasien und Gesamtschulen setzten sich für ein Projekt "Rauchfreie Schule" ein. Die Raucherecken sollten verschwinden und auch die Lehrer sollten auf ihr "Raucherzimmer" verzichten. Der Parkplatz war zu knapp bemessen für alle Lehrer und die Schüler der Oberstufe, die bereits ein eigenes Auto hatten. Ältere Schüler durften über die Pausen und Freistunden das Schulgelände verlassen und in die Stadt gehen, weswegen es für die Pausenaufsicht, die immer von einigen Lehrern durchgeführt wurde, unmöglich zu sagen ist, ob ein Schüler nun zur Schule gehörte, oder nicht.

    Manchmal kamen Jungs und Mädels von fremden Gymnasien zu Kursen, die nur hier angeboten wurden, sie traten dann durch den Haupteingang in die Pausenhalle, sowie der Junge mit leicht abwesendem Blick, schwarzer Wollmütze über den Haaren und eine Strähne im Gesicht hängend. Niemand hielt ihn auf, einige sahen ihn ein wenig arggewöhnisch an. Schüler hatten einen besseren Blick dafür, ob hier jemand fremd war oder nicht. Ein Lehrer konnte unmöglich alle Kinder der Schule sofort kennen, es gab ja auch die typischen Blaumacher, die nur einmal in der Woche im Unterricht auftauchten.


    Felix sah sich ein paar Mal um, er hatte seinen alten Rucksack mit einer Hand festgehalten, weil er ihn schief und nur auf einer Seite über die Schulter geschwungen hatte. Die Pausenhalle war von Lärm erfüllt, draussen war gutes Wetter, trotzdem waren viele Kinder hier drin. Er entschloß sich kurzerhand, in der Pausenhalle Platz zu nehmen, den hier war der zentrale Anlaufpunkt. Die Schule hatte kunstvoll gebaute Bänke und Tische überall aufgestellt, wo die Kids in Freistunden Hausaufgaben erledigen konnten, rumsitzen oder auch in der Pause sich einfach aufhalten konnten. Auf einer dieser Bänke ließ Felix sich jetzt nieder, lehnte sich an die große Fensterfront im Rücken und zog seine dunkle Jacke aus. Darunter trug er nur einen relativ dünnen, schwarzen Kapuzenpullover, der gut mit der schwarzen kaputten Jeans harmonierte.

    Immer wieder tippte er, zur Tarnung, an seinem Handy herum ohne auf den Inhalt auf dem Bildschirm wirklich zu achten. Seine Mutter war seit seiner Abfahrt nicht mehr online gewesen, dachte er kurz. Hoffentlich wäre sie nicht im Dauerrausch und kam gar nicht aus dem Bett, dachte er sorgenvoll. Wenn man ihn permanent beobachten würde, würde es jemandem wohl auffallen, dass er seine Augen immer wieder durch die Pausenhalle schweifen ließ und beobachtete. Natürlich fiel es nicht auf, dass er vorrangig nach Mädchen mit schwarzen Haaren Ausschau hielt, immer wenn er eines sah, dass entfernt auf die Beschreibung passte, sah er aufgeregt auf das Foto, was in seiner Jacke steckte.


    Als die erste große Pause vorbei war, machte er sich nach zwei Minuten Wartezeit auf der Bank, um die Jugendmassen zu beobachten, wie sie in Richtung der Klassenräume strömte, wieder auf den Weg nach draussen. Alleine in der Pausenhalle wollte er nicht rumsitzen, da konnte es eher sein, dass mal ein Lehrer vorbeikam, und er würde dort auffallen. Er ging in die Stadt, setzte sich auf eine Bank in der Fußgängerzone, und beobachtete dort. Seine scheinbar unendliche Geduld kam ihm hier zum Vorteil, andere würden vom Herumsitzen wohl wahnsinnig werden. Aber Felix hatte soviele Gedanken in seinem Kopf, dass ihm nicht langweilig wurde und er tatsächlich stundenlang einfach irgendwo sitzen konnte. In einem Getränkemarkt ließ er unbemerkt zwei Flaschen Wasser mitgehen.

    In der zweiten großen Pause war es mittlerweile deutlich wärmer, er hatte seine Jacke in den Rucksack gestopft und saß auf einer Bank unter einem Kastanienbaum, der fast keine Früchte mehr trug, nur noch ein herrliches orangenes Blätterkleid. Jungs spielten Fußball, Fünftklässler rannten schreiend über den ganzen Pausenhof und wurden von älteren Schülern angerempelt und zurechtgewiesen. Unzählige kleine Grüppchen standen umher, meist Jungs oder Mädels untereinander, teilweise aber auch gemischte Cliquen.


    Plötzlich spürte Felix einen Stoß im Rücken, als würde ihm jemand den Ellbogen in den Rücken stoßen. Tatsächlich wurde er angerempelt, so dass er, um nicht von der Bank zu stürzen, im Affekt aufstand und sich umdrehte. Hinter ihm standen drei Schüler, zwei ein wenig im Hintergrund, lachend, der dritte grinste verschlagen. Sie sahen nicht aus wie die typischen Schlägerjungs, die anderen Schülern einfach zum Spaß an der Freude das Leben schwer machten, sie waren normal gekleidet mit Jeans und Shirt und man konnte sie nicht einer bestimmten Kulturbewegung zuordnen. "Was bist du denn für ein Gruftie?", fragte derjenige, der Felix wohl auch gestoßen hatte. Er blickte den fremden Jungen von Kopf bis Fuß an. "Du gehörst doch hier nicht zur Schule, wir haben dich hier noch nie gesehen." Felix Herz schlug etwas schneller... nicht vor Angst vor den drei Schülern, schließlich wusste er dass er zu Fuß jedem zur Not entkommen konnte. Aber er hatte Angst, gleich von einem Lehrer erwischt zu werden, der ihn vom Gelände warf.

    "Ich bin neu hier.", sagte Felix kurz angebunden und ging einen Schritt zurück. Seinen Rucksack mit der Jacke, in der noch das Foto seiner Schwester steckte, hielt er dabei fest umklammert. "Achja? In welcher Klasse?" Aus Gewohnheit strich sich der Junge die Strähne vom Auge weg. "In der 11... 11b." Es war, als wäre der Typ mit der Antwort zufrieden... also konnte sie nur falsch sein.


    "Wir haben hier keine Bezeichnung a, b oder c. Netter Versuch." Seine Stimme war nicht drohend, eher belustigend. Gleichzeitig, als würden sie stumm kommunizieren, blickten sie für einen Moment zur gleichen Seite, wo in etwas Entfernung ein Aufsichtslehrer über den Schulhof schritt. "Hast du Geld?", fragte der fremde Schüler. "Was?" "Ob du Geld hast, will ich wissen." Felix schüttelte den Kopf. Natürlich hatte er noch ein paar Groschen, aber die brauchte er selbst. "Schade für dich. Für ein paar Scheine könnte ich mir überlegen, dich nicht zu verpfeifen, warum auch immer du hier rumhängst. Verkaufst du Drogen, oder stalkst du ein Mädchen?" Mit einer perfiden Erpressung versuchte der Junge an ein paar Scheine zu kommen, obwohl er, von den Markenklamotten her, das eigentlich nicht nötig hätte.

    Für einen Moment dachte Felix darüber nach, dem Typ das Bild seiner Schwester zu zeigen, vielleicht würde er sie kennen. Aber aus einem Instinkt entschied er sich dagegen, und zog den geordneten Rückzug vor. "Ich muss jetzt gehen.", sagte er und drehte sich von den drei Jungs weg. Mit schnellen gezielten Schritten ging er über den Schulhof, als es just darauf wieder zur Pause läutete. Der Junge, der mit ihm sprach, sah ihm nach. Er und seine beiden Freunde lachten und bedauerten es, dass sie nicht ein paar Euros machen konnten und für Felix verlief der "erste Schultag" ohne Erfolg.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Hafen - 9:30 Uhr


    Zenner hatte seine Jacke bereits ausgezogen, als die ersten Sonnenstrahlen dieses Herbsttages seinen Arbeitsplatz trafen. Er war damit beschäftigt, defekte Schlösser und Türscharnieren an den großen Containern im Hafen auszutauschen. Seit er vor drei Jahren frühzeitig aus dem Knast entlassen wurde, weil er sich als Informant für die Polizei als nützlich erwies, bekam er einen Job in diesem Handwerkerbetrieb. Das hatte er als 16jähriger gelernt, bevor er in Kontakt mit Drogen und somit auf die schiefe Bahn geriet, bis er, ironischerweise von Semir selbst, verhaftet wurde. Er war noch in der Gruppe, hatte Kontakte in die Drogenunterwelt und immer wenn er einen heißen Tipp hatte, der nicht negativ auf ihn selbst zurückfiel, informierte er den kleinen türkischen Kommissar, der sein Versprechen hielt.

    Aber jetzt war er unruhig. Seine Hände zitterten, als er die kleinen Schrauben aus dem Schloß entfernte, um den Schließmechanismus auszutauschen. Er schwitzte, obwohl es nicht besonders warm war, als würde er spüren, dass Unheil drohte. Vor sieben Wochen gab den Tipp an die Autobahnpolizei, dass es eine Kurierfahrt gab. Man fand Drogen im Wert von einer viertel Million Euro im Kofferraum eines Kleinwagens, den eine Frau mit einem Kleinkind fuhr. Nie im Leben hätte die Polizei dieses Auto angehalten und kontrolliert. Seitdem bekam er mehr mit als vorher, doch all seine Tipps stellten sich als Nieten heraus. Als wolle ihn jemand absichtlich auf falsche Fährten führen.


    Zwischen den Container trieben sich um diese Zeit wenig Leute herum. Auf und abgeladen wurde meist am späten Abend, damit die Schiffe noch auslaufen konnten und in der Nacht unterwegs sind, oder sie kamen extrem früh am Morgen an. Zenner war alleine und packte gerade sein Werkzeug in den Kasten, als er eine raue, kratzige und schnell sprechende Stimme hinter sich hörte. "Zenner, alter Drecksack.", lachte es und er erhielt einen freundschaftlichen, wenn auch heftigen Stoß gegen den Rücken, der ihn ein wenig vorwärts wanken ließ. Die Stimme erkannte Zenner aus hunderten, wenn nicht gar aus tausenden. Sie klang wie die eines Kettenrauchers, der seine Kehle mit Schmirgelpapier ausgelegt hatte. Und sie schien, selbst wenn er ausnahmsweise mal gut gelaunt war, immer aggressiv und bedrohlich.

    Frank Mahler war eine große Nummer im Drogengeschäft, er arbeitete in der Gruppe, der auch Zenner angehörte. Neben ihm stand Gregor, sein bester Freund. Die beiden kannten sich von Kindheitstagen, und scheinbar gab es nichts was ihre Freundschaft zerstören konnte. Gregor war im Gegensatz zu Frank immer ein wenig zurückhaltend, schüchterner, wenn auch gleichermaßen skrupellos. Wenn er zuviel trank oder zuviel Drogen nahm, wurde er sentimental und began oft ohne Grund zu heulen, wie man sich erzählte. Zenner hatte das selbst noch nie mitbekommen.


    Doch Frank, von vielen auch Frankie genannt, war jemand, den man nicht zum Feind haben wollte. Er hatte sich einen Namen als Geldeintreiber gemacht, weil er Menschen mit Brutalität und seiner Ausstrahlung einschüchtern konnte. Er hatte grauweißes Haar, war mittlerweile Anfang 50 und körperlich topfit, auch wenn sein Lebenswandel daran schuld war, dass man ihn auch aufgrund seiner Falten im Gesicht für 10 Jahre älter halten konnte. Leute, sowohl Konkurrenten als auch sonstige Feinde seines Geschäftes, machten einen großen Fehler, wenn sie ihn unterschätzten. Er war ein erfahrener Boxer, der früher Wettkämpfe bestritten hatte, und er schien Spaß daran zu haben, Menschen weh zu tun, selbst wenn es nicht notwendig war. In einer Jugend ging er auf Raubzüge, er saß bereits wegen eines misslungenen Banküberfalls und einer anschließenden Geiselnahme in einer Raststätte.

    "Was... was machst du denn hier?", fragte Zenner, denn er wusste das Frankie keiner geregelten Arbeit nachging. Überhaupt hatte er ihn schon seit einigen Wochen nicht mehr gesehen. Der Verbrecher legte beinahe freundschaftlich seinen Arm um Zenner und führte ihn von den Containern Richtung Hafenbecken. "Ich wollte mal sehen wie es dir geht. Die Kundschaft im Auge behalten, verstehst du? Denn nur zufriedene Kunden kommen wieder. So ist das Geschäft." Dabei lächelte er, er sprach gerne viel und schnell. Wenn er einen seiner cholerischen Anfälle hatte, besaß er eine beeindruckende Kreativität im Umgang mit Schimpfwörtern und man musste sich konzentrieren, alles zu verstehen.


    "Du weißt doch, dass ich nur bei dir kaufe. Und das schon seit Monaten.", sagte Zenner und seine Stimme wurde sicherer, auch wenn er wusste dass Gregor immer noch in seinem Rücken war. Sie kamen an den Rand des Hafenbeckens und Frank stellte sich mit einer kurzen Drehung vor Zenner, so dass Frank selbst mit dem Rücken zum Hafenbecken stand. Immerhin konnte Gregor ihn jetzt nicht einfach schubsen, dachte der Informant. "Weiß ich doch. Ich wollte eigentlich auch noch was mit dir besprechen. Hast du gehört, dass die Autobahnbullen vor einigen Wochen eine junge Frau als Drogenkurier festgenommen hat?" Seine Stimme klang gefährlich. Gefährlicher als sonst. Typischerweise zog er bei der Frage eine Augenbraue nach oben und verstärkte die Fragestellung noch mit einem rauen "Hm?", als nicht sofort eine Antwort von Zenner kam.

    Dem begannen die Hände zu schwitzen und ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in seinem Bauch aus. "Ja, ich hab davon gelesen." Frankie schmunzelte und ging ein wenig zur Seite neben ein Schweißgerät, das dort zu Arbeiten am Kai bereitstand. Jetzt war der menschliche Schutz vor einem Stoß ins Hafenbecken wieder weg und Zenner schaute sich kurz nach Gregor um, der vielleicht einen Meter von ihm wegstand. "Wieso... war das...?" "Genau! Das war meine Lieferung. Schnee im Wert von 250000 Euro liegen jetzt in der Asservatenkammer. Das heißt, sie liegen dort, wo ich nicht drankomme um das Zeug in kleinen handlichen Päckchen auf dem nächsten Schulhof zu verkaufen!", sagte Frankie laut, mit Nachdruck, gespielt bedauerlich.


    "Aber was hab ich...", weiter kam Zenner nicht. Frankies Faust krachte ihm wuchtig ins Gesicht, so dass er von dem Schlag gegen den nebenstehenden Container geschleudert wurde und daran zusammensackte. Der Mann spuckte Blut und einen Zahn auf den Boden, seine Beine hatten nachgegeben und waren nicht mehr unter seiner Kontrolle, als Gregor ihn wieder auf die Beine zog. "Ich hab ihn Erfahrung bringen können, dass man dir von dem Kurier erzählt hat.", sagte Frankie, als Zenner wieder auf seiner Augenhöhe war. Der stöhnte unter Schmerzen, Frankie hatte ihm mindestens den Kiefer gebrochen. "Ich... ich...", stammelte er nur und wusste, dass er jetzt in größten Schwierigkeiten steckte. "Pass auf. Ich will von dir gar keine Beteuerungen hören, dass du niemandem etwas erzählt hast. Interessiert mich einen Scheiss! Das Zeug ist weg und unter den Leuten, die es wussten, gibt es keinen dem ich weniger vertraue als dir.", stellte Frankie sofort klar, dass er von der "Schuld" Zenners längst überzeugt war. Er beugte sich herunter zu dem Schweissgerät und drehte die Gasflasche auf. "Ich will nur eins wissen: Wer hat dir von dem Kurier erzählt?"

    Als Zenner sah, dass Frank die Gasflasche aufdrehte kam wieder Bewegung in ihn, doch Gregors Hände hielten seine Arme fest gepackt. "Ich... mir erzählt?", stammelte er und in seinem Hirn lief alles durcheinander. Frankie betätigte zweimal zur Drohung den Abzug und das brennbare Gas strömte aus dem Schweißgerät. Dann packte er brutal das Hemd des Informanten, dass die Knöpfe flogen und er mit nacktem Oberkörper vor ihm stand. "Frankie... ich... ich hab..." "Ich hab ne klare Frage gestellt, du Idiot!", schrie der aggressive Mann mit der Reibeisenstimme nun deutlich, der langsam Geduld und Lust verlor. Doch wieder war die Antwort nur Gestammel eines Mannes, der Todesangst hatte. "Deutsche Sprache, schwere Sprache, hmm?" fragte Frankie nun wieder mit drohender Ironie und ließ sein Feuerzeug aufschnappen. "Weiß du was? Ich schreibs dir auf!" Er entzündete das Schweißgerät und Gregor legte den Arm um Zenners Kopf, und jegliche Schmerzensschreie verstummen zu lassen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Supermarkt - 15:00 Uhr


    Es war einiges los in dem Supermarkt in der Fußgängerzone der Innenstadt. Felix hatte seit Stunden nichts gegessen, sein Magen meldete sich immer lauter, immer hörbarer. Aber seine finanziellen Mittel waren begrenzt. Er wägte ab, er wollte nicht unbedingt stehlen, aber es war ihm klar, dass es nicht anders ging, irgendwann. Vor allem, wenn er weiterhin mobil sein wollte, und nicht jedes Mal als Schwarzerfahrer aus dem Bus fliegen wollte. Und dann auch noch bezahlen musste. Ziellos, wie ein Junge, der vor Hunger nicht wusste, was er denn essen sollte, zog er durch jeden zweiten Gang. Er hatte ein, zwei Objekte seiner Begierde schon ausgesucht, und als es schien, er sei unbeobachtet, ließ er zwei, drei Konservendosen mit Ravioli, Erbseneintopf und Rindfleischsuppe in seinen Rucksack verschwinden.

    Eine Reihe weiter fiel dann auch noch ein Päckchen Kekse in den Rucksack, das reichte. Er wollte es nicht übertreiben, denn natürlich gab es bestimmt auch hier Kaufhausdetektive, die auf solche Burschen nur warteten. Das schlechte Gewissen regte sich nur widerwillig, schließlich war er hier in einer großen Supermarktkette, die sicherlich keine Mitarbeiter entlassen mussten dafür, dass er hier für ein paar Euro essen mitgehen ließ.


    Er erschrak fast ein wenig, als er sich wieder umschaute, denn erst jetzt fiel ihm auf, dass er scheinbar beobachtet wurde. Ein Mädchen stand einige Meter von ihm entfernt, und hatte ihren Blick auf den jungen Dieb gerichtet. Von etwas weiter weg erschien das Mädchen ihm, wie aus einer anderen Welt. Sie hatte pechschwarze Haare, die ihr Gesicht bleicher und heller erscheinen ließen, als es tatsächlich war, was aber wohl auch am MakeUp hing. In ihrem linken Ohr, das Felix aus seiner Position aus sah, waren mehrere farbige Ringe, in ihrer Nase und in ihrer Lippe ein Piercing. Auch sie trug dunkle Kleidung, und ihre Augen hatte sie mit schwarzem Kajal geschminkt. Sie schien aus der Emo oder Gothic-Bewegung zu stammen, an deren Style sich auch Felix selbst manchmal anlehnte. Vielleicht hatte sie sich deshalb so für ihn interessiert.

    Ihr Gesicht und ihr Blick zog den Jungen kurz in seinen Bann. Er konnte sich erinnern, dass er das Gesicht seiner Schwester, als er es zum ersten Mal auf dem Bild sah, für perfekt hielt. Für makellos schön, symmetrische Proportionen, als wäre es am Computer entstanden. Dieses Gesicht hatte Makel, ihre Nase ein wenig spitz, die Stirn durch die etwas wilde Frisur ein wenig hoch, die Lippen dünn... und doch passte, wie er fand, alles wunderbar zusammen und formte sich zu einem unperfekten, wunderschönen Gesicht.


    Aber Felix wäre nicht Felix wenn er auf den Blick des Mädchens mit einem Gesprächsbeginn, einem kurzen "Hallo" oder einfach nur mit einem zaghaften Lächeln reagieren würde. Er senkte den Blick zurück zum Regal, hoffte für einen Moment dass sie nicht gesehen hatte, was er mitgehen gelassen hat, und wandte sich ab um den geordneten Rückzug auf dem Laden anzutreten. Das junge Mädchen sah ihm kurz hinterher, wie er aus dem Gang in Richtung Ausgang abbog. Nur wenige Sekunden später schritt ein Mann mit zielgerichteten Schritten am Gang vorbei, den das Mädchen schließlich auch bemerkte... und sofort richtig einordnete. Der Ladendetektiv hatte Felix schon im Visier.

    Der Junge spürte nichts von der drohenden Gefahr, als sein Blick fest auf die Kasse gerichtet war. Plötzlich hörte er hinter sich ein lautes Klirren und Poltern, so dass er zusammenzuckte und herumfuhr. Vor dem schwarzhaarigen Mädchen lagen zwei Flaschen Apfelsaft auf dem Boden. Die Scherben mitten im klebrigen Saft, der über den Hauptgang floß. Sie blickte unschuldig und leises "Huch", kam ihr über die Lippen. Was sie erreichen wollte, hatte sie erreicht, denn jetzt nahm Felix den Ladendetektiv wahr, der an seiner Jacke nämlich das Logo des Supermarktes trug. Und er blickte jetzt wieder nach vorne zu Felix und sein Gesicht zeigte Entschlossenheit. Da er sah, dass der kleine Dieb ihn bemerkt hatte, unterließ er die stille Verfolgung und forderte mit einem "Komm her!" Felix sofort zum Aufgeben auf.


    Doch in den kam jetzt Bewegung... und zwar blitzartig, dass dem sportlichen Kaufhausdetektiv für einen Moment der Atem wegblieb. Als würden sich Felix Schuhe in den rutschigen Boden krallen, fiel er in einen Sprint, umkurvte zwei ältere Frauen in dem Gang und steuerte zielgerichtet auf die Kasse zu. "Haltet den Dieb!", rief der Kaufhausdetektiv und nahm mit schnellen Schritten die Verfolgung auf. Zwischen Süßigkeiten und Kassenband drehte sich ein junger, stämmiger Familienvater in Richtung des Lärms um und sah bereits Felix auf sich zurennen. Mit zwei ausgebreiteten Armen wollte der Mann dem Detektiv zur Hilfe kommen, doch Felix bremste gar nicht erst ab. Mit einem Sprung aus dem Lauf landete der Junge auf dem Kassenband, hob die Füße genau richtig über die Hände des Mannes, die nach ihm griffen und fegte an einer schreienden Frau über jegliche Waren auf dem Band. Am Schluß übersprang er das Bedienfeld der Kassiererin und landete sicher auf den Füßen hinter der Kontaktschleuse.

    Der Detektiv staunte über die Körperbeherrschung des Jungens nicht schlecht, und musste sich erstmal den Weg durch den engen Gang am Kassenband bahnen, bis er die Verfolgung in der Füßgängerzone wieder aufnehmen konnte... doch von dem Jungen war weit und breit nichts zu sehen. Der Mann biss sich auf die Zähne biss es knirschte. "Verdammter Bengel. Wehe, der lässt sich hier nochmal blicken.", knurrte er und ging wieder rein. Das Mädchen hatte sich scheinbar auch verkrümelt, zwei Mitarbeiterinnen begannen gerade, den Apfelsaft aufzuwischen.


    Felix dagegen kauerte auf einem Gerüst, das um das große Gebäude neben dem Supermarkt aufgebaut war. Er war aus dem Ausgang gerannt, sofort abgebogen und mit Leichtigkeit über den Bauzaun gehechtet. Zwei junge Arbeiter sahen sofort überrascht auf, als Felix an die erste Leiter des Gerüstes sprang, hinauf wieselte und sich hinter einer der Folienbahnen versteckte, die das Gebäude ein wenig schützen sollten. "Hey? Hallo?", rief einer der Arbeiter mit türkischem Akzent. Der gelernte Gerüstbauer brauchte trotzdem fast doppelt so lange, bis er oben war und die Folie zurück zog. "Was soll denn das, he?", fragte er, als er Felix im Versteck fand. "Ich... also... da waren... da war ein Typ hinter mir her. Aus dem Kaufhaus nebenan." Der Arbeiter schaute vom Gerüst auf den Eingang des Kaufhauses, wo der Detektiv gerade herausgestürmt kam und die Fußgängerzone heruntersah.

    "Hast du was mitgehen gelassen?", fragte er mehr amüsiert als tadelnd. "Nur ... was Kleines. Zum Essen.", war Felix ehrliche Antwort und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Der Arbeiter nickte und sagte, bevor er die Folie wieder vorzog und somit Felix wieder verbarg: "Bleib ruhig kurz hier, ok?" Dann kletterte er wieder herunter und arbeitete weiter. Und Felix atmete durch... und dachte sofort an das schwarzhaarige Mädchen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 17:45 Uhr


    Es war das Ende eines ziemlich lockeren Arbeitstages gewesen. Ein paar Streifenfahrten, ein paar Raser, Pannenhilfen und Verkehrskontrollen. "So könnte es doch eigentlich immer sein.", hatte Semir am frühen Nachmittag zu seinem Partner gesagt und dachte dabei an die turbulenten letzten Monate zurück. Kevins Auferstehung, der schlimme Fall in Hamburg, sein Tod im Sommer. Es war kein besonders schönes Jahr und in dem kleinen Polizisten regte sich immer häufiger die Sehnsucht nach weniger Stress, Action und Gefahr auf der Arbeit. "Das hört sich nicht nach 50 an, das hört sich nach Mitte 60 an.", witzelte Ben und bekam zur Antwort einen freundschaftlichen Stoß gegen die Rippen. Für ihn war das Jahr nicht minder turbulent, gerade die Sache mit Kevin ging Ben ziemlich an die Nieren. Er brauchte etwas, bis er den Tod des Kollegen langsam verarbeiten konnte.

    Draussen dunkelte es bereits etwas und die Temperatur fiel stetig, sobald sich die Sonne hinterm Horizont versteckte. "Feierabend für heute.", sagte Semir, stand vom Stuhl auf und streckte sich. Ben tat es ihm gleich und nahm seine Jacke vom Stuhl. Er würde heute abend mit seiner Freundin Carina essen gehen, Semir freute sich auf einen gemütlichen Abend mit Andrea und den Kindern auf der Couch. Zenner hatte er noch ein paar Mal versucht anzurufen, was aber gescheitert war, während sein junger Partner mit Jenny geschrieben hatte und nebenbei die unglaublich saubere Wohnung erwähnt hatte. Ihre kryptische Antwort, ihm das mal in Ruhe zu erzählen, nahm den beiden wenigstens die Sorge, dass jemand in der Wohnung war.


    Gerade als Ben schon in der Tür stand, klingelte Semirs Tischtelefon. "Och nö, wir haben Feierabend.", stöhnte der junge Polizist, als Semir nochmal um den Tisch zurückging und auf das Display sah. "Meisners Handynummer." Semirs Stimme klang unheilvoll. Meisner rief so spät nicht ohne Grund an. "Lass klingeln. Egal wer es ist, der ist auch morgen noch tot." Ein kurzes Augenrollen von Semir ob Bens flapsigen Spruch und seine Hand hob den Hörer ab. "Gerkhan, Kripo Autobahn." "N'abend Semir. Gut dass ich dich noch erreiche.", klang Meisners ruhige Stimme am Telefon, während Ben sich gespielt gelangweilt an den Türrahmen lehnte und ungeduldig mit dem Fuß auftippte. "Was gibts denn?" "Wir haben hier im Hafenbecken eine Leiche aus einem Container gezogen. Und..." Meisners Stimme verstummte kurz, während Semir bereits klar wurde, dass der Feierabend erstmal verschoben war. "Der Tote hat in seinem Handy deine Nummer gespeichert."

    Der erfahrene Polizist runzelte die Stirn. "Personalien?" "Haben wir keine gefunden. Wäre gut, wenn ihr mal vorbeikommen würdet.", sagte Meisner und nannte den genauen Standort auf dem riesigen Gelände des Rheinhafens. "Das ist Zenner.", merkte Semir noch am Telefon an. Es war eine reine Eingebung, denn es würde passen. Er hat Semirs Handynummer, er arbeitet am Hafen, und er hatte sich heute nachmittag so ängstlich angehört. "Wie kommst du darauf?" "Keine Ahnung... ne reine Idee... wir kommen sofort.", wiegelte der Polizist wieder ab und legte auf. "Zenner?", fragte Ben erstaunt und sein Interesse war jetzt doch geweckt. "Da wette ich drauf. Sie haben eine Leiche am Hafen gefunden, der meine Nummer im Handy gespeichert hat. Lass uns los." Ben folgte ohne Widerworte.



    Hafen - 18:15 Uhr


    Semir steuerte den silbernen BMW an den bunten Containern auf dem riesigen Hafengelände vorbei, nachdem man vom Pförtner auf das Gelände gelassen wurde. Da es mittlerweile halbdunkel war, war die Beschreibung Meisners unnötig gewesen, das flackernde Blaulicht war am dunkelblauen Himmel aus der Ferne zu erkennen. Sie waren beide stumm geblieben während der Fahrt, Semir hing seinen Gedanken nach. Wie oft hatte er Zenner gesagt, dass er vorsichtig sein soll. Sich zurück ziehen soll, wenn er Gefahr verspürt. Er war vorher jahrelang in diesem Milieu drin, er hatte Erfahrung und ein Gespür. Verdammt, sowas darf einfach nicht passieren. Mit der Zeit hatten sich seine Finger immer stärker um den Lenkradkranz geklammert und Erinnerungen kamen hoch. Er hatte schon einmal einen Informanten verloren, was allerdings schon ziemlich lange her war, damals noch mit Tom. Am Ende landeten sie beiden im Gefängnis, weil eine Waffenschieberin ihnen den Mord an ihrem Informanten unterschob.

    Ben hatte nicht mehr über den verpassten Feierabend gemeckert, er empfand es jetzt als ziemlich unpassend. Auch er blieb still und stieg als Erstes aus, als Semir den Wagen anhielt. Einige Polizeibeamte, Männer in weißen Schutzanzügen und Hafenmitarbeiter waren zu sehen, letztere vor der Absperrung. Ein Kollege hielt das Absperrband hoch, unter dem Ben und Semir hindurch schlüpften und von Meisner begrüßt wurden.


    "Ich würde euch ja die Hand geben ... ", begann er seinen Running Gag und hielt dabei beide Hände hoch, die bereits in Schutzhandschuhen steckten. Semir war nicht so sehr nach Scherzen zumute und seine Befürchtung wurde bewahrheitet, als er die übel zugerichtete Leiche von Zenner sah. "Puuh...", sagte er nur und auch Ben verzog etwas das Gesicht. "Ja, da war einer ziemlich wütend auf den Mann." Zenner lag auf dem Rücken, die Augen geöffnet und verdreht. Das Hemd aufgerissen und auf seiner Brust stand das Wort "Verräter" geschrieben. Allerdings nicht mit einem Filzstift, sondern mit dem Schweißgerät eingebrannt. Rotes, verbranntes Fleisch, die Ränder schwarz verkohlt taten sich vor den Augen der Ermittler auf. Semir schluckte. "Verdammt wütend.", bekräftigte Ben Meisners Annahme.

    Um Zenners Kopf herum war eine Blutlache. "Der Mann muss ziemliche Schmerzen ausgehalten haben, die Verletzungen wurden nicht postmortem hinzugefügt. Und er ist daran auch nicht gestorben.", erklärte Meisner. "Todesursache war ein massives Schädel-Hirn-Trauma inklusive offenem Schädelbruch." Dazu drehte er den Kopf der Leiche ein wenig zur Seite, und die Kommissare sahen mehr als sie wollten. Der Hinterkopf des Mannes war tatsächlich eingedrückt und ein Stück offen. "Details erspare ich euch.", hatte der grauhaarige Mann, den nichts mehr erschüttern konnte, dann auch Erbarmen, auch wenn die beiden Polizisten natürlich durch Unfallopfer Schlimmeres gewohnt waren.


    "Gibts eine Tatwaffe?", fragte Ben, woraufhin Meisner den Kopf schüttelte und zu einem der Container wies, die dort standen. An einem arbeiteten Meisners Kollegen in den weißen Anzügen. "Das ist die Tatwaffe. Er wurde mit dem Kopf mehrmals brutal gegen die Containerkante geschlagen. Zumindest das Blut an der Kante sowie die Einbruchfraktur des Schädels deutet darauf hin. Genaueres kann ich euch morgen sagen, wenn ich den Kameraden auf meinem Tisch habe. Es war aber auf jeden Fall äusserst gewalttätig. Er lag auch hier anders, als jetzt, etwas auf der Seite, wie hingeworfen." Der grauhaarige, großgewachsene Mann stand auf, erbat sich von einem Kollegen die Digicam und zeigte die Fotos, die später auch in der Akte lagen, die gemacht wurden, bevor Meisner mit der Untersuchung begann. "Man hat ihn also nicht drapiert oder irgendwie besonders hingelegt. Das war kein Mord aus besonderer Mordlust, würde ich sagen.", erklärte er und beide Polizisten nickten. "Der musste nur aus dem Weg geschafft werden."

    "Fingerabdrücke nehmen wir ab, aber am Schweißgerät dürften hier ne Menge Leute gearbeitet haben.", vernichtete Meisner sofort jede Hoffnung auf verwertbare Spuren. Semir zuckte mit den Achseln: "Das wird eh ein Fall für die Mordkommission. Das hier ist nicht unser Zuständigkeitsbereich.", sagte er. "Aber es war natürlich gut, dass du uns gerufen hast." Meisner nickte. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Autobahnpolizei einen Fall an sich riss, auch wenn er nicht unbedingt in den Zuständigkeitsbereich fiel. "Soll ich euch trotzdem die Akte schicken?", fragte er zur Sicherheit. Ben antwortete vor Semir: "Ja, auf jeden Fall." "Dann mal schönen Feierabend."


    Als Ben und Semir wieder zum Auto zurückgingen hielt der Jüngere der beiden seinen Partner am Ärmel fest: "Hey hey... was ist denn los?" "Wieso?" Ben verdrehte die Augen. "Wir sparen uns jetzt einfach mal das "Nein, es ist nichts" - Spiel bis zu dem Zeitpunkt, an dem du doch mit der Sprache rausrückst." Semir presste die Lippen zusammen. "Es ist jedes Mal scheisse, wenn jemand stirbt, der uns geholfen hat. Der gestorben ist, weil er uns geholfen hat.", legte Semir seine Gedanken offen. "Das geht mir halt jetzt etwas näher, als wenn das ein Unbekannter ist. Das ist morgen wieder vorbei." "Und warum übernehmen wir den Fall nicht? Du sagst doch selbst, dass der Täter wohl aus der Gruppe stammt, die unsere Autobahn als Handelsweg nutzen." "Es ist aber nicht unser Zuständigkeitsbereich." Jetzt verdrehte Ben die Augen. "Ach bitte... das wäre das erste Mal, dass wir uns an Zuständigkeitsbereiche halten."

    Semir wollte nicht... und er konnte nicht mal genau sagen, weshalb. War das wirklich eine Altersmüdigkeit, dass er von dem Gewaltgrad schockiert war? Er hatte Mörder gejagt, Schwerverbrecher, Serientäter... wägte er auf einmal Risiko ab? Vielleicht zu sehr? Dieser verdammte 50te Geburtstag wollte aus seinem Kopf nicht verschwinden, dass er Familie hatte, dass er gern gesund in die Pension kommen wollte. Das letzte Jahr hatte Spuren hinterlassen, die erst jetzt deutlich wurden. "Erde an Semir?" "Hä?" Er blickte auf und sah seinem Partner direkt ins Gesicht. Dann stöhnte er auf und schloß kurz die Augen: "Ja... meine Güte. Lass es uns morgen mit der Chefin besprechen, ok?" Damit gab Ben sich für heute Abend zufrieden, und endlich verschwanden beide in den verdienten Feierabend.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 22:00 Uhr


    Den späten Nachmittag und Abend verbrachte Felix wieder in der Innenstadt. Er streifte mit tiefer Geduld durch die belebten Einkaufsstraßen, ass gegen Abend, als es bereits dunkel war, seine Ravioli nachdem er sich ein Taschenmesser von einem Stadtstreicher kurz ausgeliehen und in einem Warenhaus, diesmal unerkannt, einen Löffel und eine Gabel mitgehen hat lassen. Immer wieder hielt er die Augen offen, doch diesmal war sein Empfinden auf zwei, ihm bekannte Gesichter ausgerichtet. Einerseits natürlich nach seiner Halbschwester, dessen Gesicht sich mittlerweile tief in seine Seele gebrannt hatte, andererseits hoffte er insgeheim das Mädchen aus dem Supermarkt wieder zu sehen. Warum er genau diesen Gedanken immer wieder an diesem Nachmittag und am Abend noch kam, und warum er sich freuen würde, das Mädchen wieder zu sehen, konnte er selbst nicht genau sagen.

    Irgendetwas hatte er in dem Blick des Mädchens gesehen. Vielleicht steigerte er sich gerade selbst darin hinein zu denken, sie hätte traurig, auffordernd oder ablehnend geschaut. Aber sie hatte Felix geholfen und das war sicherlich kein Zufall. Warum sollte ein, ihm völlig fremdes Mädchen das tun? Und wer weiß, ob sie danach mit dem Kaufhausdetektiv nicht noch Ärger bekommen hat? Doch Felix hatte sich nicht getraut das Geschäft nochmal zu betreten, dazu fehlte ihm der Mut wofür er sich selbst verfluchte.


    Deswegen sah er die Rückkehr seines Monsters als gerechte Strafe an. Er war gerade wieder in das besetzte Haus zurückgekehrt, um dort erneut zu übernachten. Karla war nirgendwo zu sehen, die meisten Jungs waren ihm aber von der letzten Nacht bekannt, einige wenige grüßten ihn sogar nickend. Wiederum andere waren ihm neu, und schauten arggewöhnisch bis misstrauisch. Als er in dem Flur des Hauses um die Ecke bog, sah er die groß gewachsene, kräftige Gestalt nicht sofort kommen und stieß ein wenig mit ihm zusammen. "Oh sorry, ich...", wollte Felix sich sofort entschuldigen, denn er vermied jede Konfrontation, da er sich eh nicht wehren konnte. Doch der Mann, der wesentlich älter erschien als alle anderen in dem Haus, die größtenteils Jugendliche waren, griff in sofort mit seiner kräftigen Hand am Kragen. Alkoholgeruch schlug Felix entgegen.

    "Wer bist du, hmm? Ich kenne dich nicht." Er hatte Kraft, das spürte Felix sofort. Seine Stimme klang autoritär und durchdringend, er hatte seine Haare an den Seiten abrasiert, in der Mitte zottelig. Ein wenig machte er den Eindruck wie ein Altpunk, der hier einfach in der Zeit hängengeblieben war. "Ich... ich bin Felix... ich übernachte... hier bloß.", stotterte der schmächtige Junge, der sich auf die Zehenspitzen stellte weil der Angreifer ihn am Kragen ein wenig hochzog. "Und wer hat dich hierher gebracht? Ich sag dir, wenn du hier meinst, Drogen verteilen zu müssen, dann...", der Mann drohte mit der Faust und diese machte den Eindruck, dass dort wo sie einschlug kein Gras mehr wachsen würde. Felix schüttelte wild den Kopf.


    "Jerry! Lass den Jungen los!", klang es durch den Flur und Jerry drehte sich um. Ein ebenfalls recht groß gewachsener Junge mit Haaren, so hell, als wäre er in einen Eimer mit Bleiche gefallen, kam mit einigen Schritten auf ihn zu. "Willst du mir jetzt sagen, was ich zu tun habe?", raunzte Jerry in Richtung des Jungen, der allerdings keinen aggressiven Eindruck machte. Er legte eine Hand um das Handgelenk des kräftigen Mannes. "Quatsch. Aber welche Gefahr soll von dem Jungen ausgehen. Komm, du hast wieder zuviel getrunken." Ja, das hatte er... und das merkte Jerry gerade, als man es ihm sagte. Verdammt, was war aus ihm geworden? Er blickte zu dem schwarzhaarigen Unbekannten, aus dessen Augen die blanke Angst sprach und der sich vehement auf die Lippe biss. Langsam öffnete sich die Hand um den Kragen und Felix glitt wieder auf Normalgröße.

    "Scheisse...", murmelte Jerry und sah zu Boden. "Du hast Recht, Jakob. Sorry, Mann." Es schien, als breche das aufgebaute Ego des Aufpassers gerade zusammen zu einem Haufen Schutt. "Schon gut. Er nimmts dir bestimmt nicht übel. Oder?" Jakob schaute zu Felix und nickte kurz. Wie zur Bestätigung schüttelte Felix, dessen Puls sich nur langsam beruhigte, den Kopf als Zeichen, dass er es ihm nicht übel nahm. Der Mann drehte sich von den zwei Jungs und ging langsam den Gang weiter entlang, den er eigentlich gehen wollte, bis er im Untergeschoss verschwand.


    Felix musste erstmal durchatmen. "Oh Gott... ich dachte, der macht Hackfleisch aus mir. Danke.", sagte er ehrlich in Richtung des blonden Jakobs, dessen Haare beinahe den dunklen Flur erleuchteten. "Kein Ding. Jerry macht gerade ne schwere Zeit durch. Der ist eigentlich gar nicht so. Eigentlich hat er immer auf uns alle aufgepasst." Kurz verstummte der Junge, der in etwa Felix' Alter sein könnte. "Naja, eigentlich passt er immer noch auf uns auf. Nur manchmal müssen wir auf ihn aufpassen." "Was ist mit ihm passiert?", fragte Felix in einer Mischung aus Interesse und Anstand, nach einem schnellen "Danke" nicht sofort wieder zu verschwinden. Doch Jakob zuckte nur kurz mit den Schultern. "Ich weiß nur, dass er einen guten Freund von früher verloren hat. Aber da muss noch mehr passiert sein. Naja... Wunden heilen und das wird auch bei ihm der Fall sein."

    Gerade als sich der Schwarzhaarige dann doch verabschieden wollte, hielt Jakob ihn mit seinem Interesse zurück: "Was verschlägt dich hierher? Ich hab dich hier noch nie gesehen." "Klara hat mich auf der Straße getroffen... und quasi mit hierher gebracht." "Bist du von hier?" Felix schüttelte den Kopf und begann dem blonden Jungen die gleiche Story zu erzählen, die er auch Klara erzählt hat. Und zwar in aller Allgemeinheit, dass er aus Hamburg komme und seine Schwester suche. Kein Wort zu seinem Elternhaus.


    Doch im Gegensatz zu Klara, die selbst mehr redete als Felix, hörte Jakob aufmerksam zu und sagte selbst nichts, so dass Felix' Erzählung schon sehr schnell vorbei war. "Und deine Eltern? Warum suchen die nicht nach deiner Schwester?" Der Junge wollte nicht so wirklich mit der Sprache raus, doch war er hier doch unter Gleichen. Keine normalen Jungs, sondern Jungs von der Straße die sich selbst vielleicht schon als gescheitert sahen. "Vater... hmpf." Er zuckte nur mit den Schultern. "Meine Mutter ist sehr krank. Sie kann nicht nach meiner Schwester suchen. Sie weiß ja nicht mal mehr ihren richtigen Namen und hat nur dieses Foto." Mittlerweile hatten sich die beiden auf Jakobs Matratze zurück gezogen und der Junge, der eine auffällige Tättowierung auf der Hand trug, öffnete eine Flasche Bier für Felix.

    "Puh, das wird nicht leicht, denke ich. Köln ist groß. Und sie scheint ja nicht hier aus der Szene zu stammen, oder?", schlussfolgerte Jakob anhand des Aussehens auf dem Foto, das Felix ihm dann zeigte. Er fand den wasserstoffblonden Jungen sympathisch, weswegen er ihm ein wenig vertraute. "Ja, das weiß ich. Aber ich will es versuchen, so lange es geht.", beharrte er und steckte das Foto wieder an seinen sicheren Platz. Der blonde Junge wünschte Felix viel Glück, wenn er Hilfe brauchen würde, wäre er da.


    Einige Stunden später tigerte Felix wieder durch den Raum, wo er eigentlich schlafen sollte. Mehrere Jungs beschwerten sich, aber der schwarzhaarige Junge konnte vor Schmerzen nicht still liegen. Wie ein heißer Bohrer stach ihm der brüllende Schmerz ins Auge, breitete sich über die Stirn aus bis hinter die Schläfe. "Fuck fuck fuck...", jammerte er dabei, lag sich wieder hin, krümmte sich und hämmerte sich als Gegenschmerz mit der flachen Hand gegen die Stirn. Ein letztes Nasenspray hatte er noch im Rucksack, doch wenn er dieses verbrauchte, hatte er nichts mehr. Und er stellte fest, dass dieser Anfall im mittleren Schmerzlevel lag. Das Spray wollte er für die wirklich heftigen Attacken aufheben. Er müsste morgen sehen, dass er irgendwo etwas her bekam. "Ich halte es aus... ich halte es aus.", flüsterte er.

    Er verließ den Raum und ging nach draussen an die eiskalte Luft. All seine Habe nahm er mit, an der frischen Luft wurde der Schmerz nur ein klein wenig erträglicher. Sein Auge tränte und er schwitzte, allerdings nur an der Stelle, wo der Schmerz ihm beinahe den Atem raubte. Immer wieder ging Felix Blick auf sein altes Smartphone... kurz nach halb 2. Mindestens eine Stunde hielt der schlimme Schmerz, der in der Medizin mit Geburtsschmerzen verglichen wurde, nun in seinem linken Auge an. "Nicht mehr lange.", stöhnte Felix, als er durch die menschenleeren Straßen ging. Eine halbe Stunde später war der Anfall vorbei. Seine Stirn kühlte ab, gerade als er an der Apotheke angekommen war und bereits nach Möglichkeiten suchte, einzusteigen. Als der Schmerz abklang, verwarf er sein Vorhaben. "Das ist einfach nicht richtig.", flüsterte er. Er würde die Attacken aushalten... und doch wusste er, dass er bei dem nächsten Anfall töten würde, um mehr Medikamente zu bekommen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Friedhof


    Semir kannte diesen Ort genau. Das gusseiserne Eingangstor, die bröckelige Steinmauer... es war der Eingang zum Südfriedhof in Köln, auf dem er schon so oft war. Manchmal zu offiziellen, traurigen Anlässen, manchmal nur zu Besuch. Hier lag sein bester Freund Tom, sein ehemaliger Partner Chris, das zeitweise leere Grab von André... und seit einigen Wochen auch Kevin. Aber warum war er jetzt hier... mitten in der Nacht? Der Sand unter seinen Füßen knirschte und unheimlicher Nebel hatte sich gebildet. Seine Neugier zog ihn durch das offene Tor und er spürte wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Der erfahrene Polizist fasste sich an den Gürtel, wo seine Waffe saß um sich selbst ein wenig Sicherheit zu geben. "Ben? Bist du das?", fragte er leise, als er meinte Stimmen zu hören.

    Durch den Nebel konnte er, als er einige Schritte zwischen den Grabsteinen gegangen war, ein schwankendes Licht erkennen. Er hörte Gemurmel, er hörte leises Schluchzen und die Stimme eines Priesters der aus der Bibel vorlas. War da eine Beerdigung im Gange... mitten in der Nacht? Was, zum Teufel, war hier los? Semir wischte sich die feuchten Hände an der Jeans ab, sein Schritt beschleunigte sich und er folgte den leisen Geräuschen auf dem Friedhof. Je schneller er ging, desto schneller schlug sein Herz.


    Als er um einen Grabstein, der ihm die Sicht versperrte, abbog, blieb er abrupt stehen. Da waren tatsächlich eine Menge Menschen, die sich um ein frisches Grab herum aufgestellt hatten. Alle waren schwarz gekleidet, Frauen in schwarzen Kleidern, die Männer in schwarzen Anzügen. Semir kannte nicht eine einzige Person, die dort stand, doch fielen ihm zwei uniformierte Polizeibeamte auf, die rechts und links des Grabes postiert waren. Als sich die Reihen vor ihm lichteten, fiel sein Blick dann doch auf eine Gruppe an Menschen, die er kannte. Semir hielt den Atem an.

    Ganz vorne am Grab stand Andrea, seine Frau, im schwarzen Kleid. Sie hielt Ayda und Lilly im Arm, die beide bitterlich weinten. Neben ihr stand Ben und hatte seine Hand auf Andreas Schultern gelegt. Semir blickte ungläubig auf diese Szene, doch noch bevor er nur daran denken konnte seine Frau anzusprechen um zu fragen, was hier überhaupt los sei, bekam er eine Gänsehaut. Hinter Ben standen auch die Chefin, Hartmut, Hotte und Bonrath, allesamt in schwarzen Trauerkleidern und traurigen Mienen. Sie sahen auf das Grab, sie schüttelten den Kopf und Anna Engelhardt trocknete sich die Tränen ab. "Andrea? Was... was ist hier los?", fragte er als er bei seiner Frau angekommen war, und sie am Ärmel zupfte. Doch sie beachtete ihren Mann nicht, sondern starrte mit ihren Töchtern auf das frisch aufgehäufte Grab.


    Semir wollte gerade einen Blick auf den Namen am hellbraunen Kreuz werfen, als ihm weitere Gestalten neben hinter ihm bekannt vorkam. "Was zum...", rief er und prallte zurück. Dort stand nicht nur seine alten Partner Frank, André und Jan, sondern auch Kevin, Tom und Chris... Freunde und Partner, die längst gestorben waren. Es war, als würde der Boden unter Semirs Füßen nachgeben wollen, als er die Ansammlung seiner toten und lebenden Freunde sah. "Um Gottes Willen... was...", stammelte er geschockt, sah noch mal zu seiner Frau die immer noch völlig abwesend auf das Grab sah. Jetzt erst drehte Semir den Kopf zum Kreuz und las seinen eigenen Namen. Kein Todesdatum, nur seinen Namen "Semir Gerkhan". Er war gestorben und alle standen an seinem Grab. "Andrea? Andrea!!!", rief er panisch und schüttelte seine Frau. "Ich bin nicht tot! Ich lebe noch!!"

    Doch seine Frau reagierte nicht, Tränen rannen aus ihren Augen und seine beiden Kinder weinten bitterlich. Entrückt und betroffene ging Semir einige Schritte von der Szenerie weg. Seine Kinder hatten ihren Vater verloren, seine Frau ihren Mann. Seine Kollegen einen Freund. Der Gedanke stach ihm in die Brust.


    Mit einem Ruck wurde er wach. Er stand nicht senkrecht im Bett, schweißgebadet, wie es damals nach einem Alptraum über seine Kinder war, er lag ganz ruhig und schlug nur mit einem Mal die Augen auf. Semir orientierte sich, der Wecker zeigte halb 4 und seine Frau lag ruhig atmend neben ihm. Nur sein Herz schlug genauso schnell wie gerade eben als er noch auf dem Friedhof stand. "Oh Mann...", murmelte er flüsternd, schlug die Decke zurück und tapste langsam aus dem Schlafzimmer in Richtung Bad. Dort wusch er sich mit eiskaltem Wasser das Gesicht, um vollends in die Wirklichkeit zurück zu kehren. Er besah sich im Spiegel. Ein Mann von Anfang 50, der viele Gefahren gemeistert und vielen Menschen geholfen hat. War es nicht normal, sich in diesem Alter Gedanken um die Zukunft zu machen? War es nur wegen dem Tod von Zenner, oder löste der nur etwas aus, was schon lange unter Semirs Oberfläche gärte.

    Semir hatte sich mit den Händen aufs Waschbecken aufgestützt. War es nicht normal, Angst zu haben, wenn man älter wird? Und während andere Angst davor hatten, krank zu werden, Krebs zu bekommen oder dement zu sein, so steigerte sich Semirs Angst davor, im Dienst zu sterben oder schwer verletzt zu werden? In jungen Jahren machte man sich darüber keine Gedanken. Semir stieg wie selbstverständlich in seinen Wagen, bretterte mit 200 km/h über die Autobahn, an LKWs vorbei, sprang von Fahrzeug zu Fahrzeug um fremde Menschen oder seine Freunde zu retten... aber jetzt?


    Er wollte doch seine Zeit mit seinen Kindern genießen. Sehen, wie sie studierten, selbst Eltern werden. Wie oft würde er dem Tod noch von der Schippe springen? Wann würde ihn das Glück verlassen, wie es auch Tom, Chris oder Kevin verlassen hatte? Er hatte soviele Kollegen sterben sehen, soviele selbst zu Grabe getragen und er erinnerte sich genau an die Abschiedsfeier von Hotte, der vor zwei Wochen seinen offiziellen Rentenbeginn feierte, nachdem er eine Hirntumor-OP gut überstanden hatte. Seitdem postete er in der WhatsApp-Gruppe der Dienststelle jeden Tag Bilder beim Angeln, beim Renovieren, bei Ausflügen mit seiner Frau.

    Semirs Frau erschien jetzt hinter ihm im Spiegel. Sie hatte gemerkt dass ihr Mann nicht im Bett lag und hatte den Wasserhahn im Bad gehört. Seitdem waren mehrere Minuten vergangen, die Semir gar nicht so lange vorkamen. "Was ist denn los, Schatz?" "Ich... ich hab nur schlecht geträumt." Andrea schlang ihre Arme um den muskulösen Oberkörper ihres Mannes und legte ihren Kopf an seine Schulter. "Es ist doch aber noch etwas, hmm... ich hab das doch den ganzen Abend gespürt." Semir griff die Hand seiner Frau, die auf seinem Bauch ruhte. "Ich weiß, ich habe das schon oft gesagt... und auch schon mal gemacht, und es war scheisse...", sagte er leise. "Aber diesmal..." "Was meinst du?" Semir atmete durch und sah sich selbst im Spiegel an. Er meinte schwach an seinem Hals noch die Narbe der Swastika zu erkennen, die längst entfernt wurde. "Ich glaube... ich hör auf."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 8:00 Uhr


    Semir und Andrea kamen nicht in bester Laune bei der Dienststelle an. Der Himmel war wolkenverhangen, der Wind hatte am frühen Morgen weiter zugenommen und sich zu einem handfesten Herbststurm entwickelt. Sie würden heute vermutlich einige Einsätze wegen Ästen auf der Straße, eventuell abgeknickte Bäume oder Unrat auf Rastplätzen und damit einhergehende Unfälle haben. Etwas, was Semir ablenken würde von den düsteren Gedanken, die er sich heute Nacht noch gemacht hatte, als er nach dem Alptraum nicht mehr in den Schlaf fand. Als er den morgendlichen Kaffee in seiner Küche zu sich nahm, hatte ihn seine Frau noch einmal kurz auf die Nacht angesprochen, obwohl sie seine Reaktion erstmal auf den Traum schob. Sie dachte sich "Wenn es hell wird, sieht alles wieder anders aus.", aber ihr Mann blockte ab. Er wollte nicht darüber reden. Alleine das war für Andrea ein Alarmsignal.

    Ben dagegen kam frohen Mutes in die Dienststelle, er war pünktlich und warf eine Bäckerstüte mit Schokocrossaints auf den gemeinsamen Doppelschreibtisch. "Guten Morgen, Kollege.", flötete er und sein Partner sah vom Monitor auf. "Pünktlich und Frühstück?", fragte er skeptisch und fügte hintenan: "Was kann Carina noch? Den Hunger in der Welt zu besiegen dürfte ein Klacks für sie sein, im Verhältnis." Damit sprach er Bens seit Jahren unbelehrbare Unpünktlichkeit an, sowie seine Vergesslichkeit das Frühstück betreffend. Heute konnte Semir ein wenig Zucker aber gebrauchen.


    "Du hörst dich ja super gelaunt an.", bemerkte Ben sofort und nahm es noch ein wenig mit Humor. Dass sein Partner tatsächlich nicht normal in seiner Stimmung war, bemerkte Ben dann, als er vor der ersten Streifenfahrt ihn bat, mit zur Chefin zu kommen, um sie über den Mord an Zenner zu informieren. "Können wir das nicht heute Nachmittag machen?", mäkelte er, als wäre er zu bequem sich in das andere Büro zu begeben. "Semir, was ist los mit dir? Ist das der erste Anflug an Alterstarsinn? Los doch... du willst doch auch wissen, wer Zenner auf dem Gewissen hat, so oft wie er uns geholfen hat. Das hat dir doch gestern noch zu schaffen gemacht." Natürlich wollte Semir das wissen. Aber in seinem Innersten, sein untrüglicher Instinkt warnte ihn vor diesem Fall. So etwas hatte er noch nie gespürt, als er nach einigem Hin und Her nun mit Ben zusammen das Büro der Chefin betrat.

    Diese war gerade dabei einige Formulare als Dienststellenleiterin zu unterschreiben und blickte auf, als Semir und Ben eintraten. "Was kann ich für sie tun, meine Herren?" Semir setzte sich wortlos und überließ seinem Partner das Wort. "Wir sind gestern abend noch zu einem Leichenfund ins Hafenviertel gerufen worden.", begann er und legte dabei die noch dünne Akte mit Informationen von Meisner auf den Schreibtisch der Chefin. Als diese den Deckel aufklappte und zu den Bildern mit der Leiche kam, verzog sie ein wenig das Gesicht.


    "Der Mann heißt Marcel Zenner und war einer unserer besten Informanten im Drogengeschäft. Er arbeitete im Hafen als Werftarbeiter und wurde gestern so aufgefunden." Anna Engelhardt lies sich einige Informationen in dem Tatortbericht durch. "Ich weiß, dass es nicht in unseren Zuständigkeitsbereich fällt, aber wir würden gern versuchen, die Ermittlungen zu übernehmen. Schließlich hat er uns öfters geholfen, was vielleicht auch mit seinem Tod zu tun hat." "Eigentlich ist das nicht unser Einsatzbereich am Hafen. Haben sie schon mit den Kollegen gesprochen?" "Nein, bisher noch nicht. Ich denke, die Maschinerie Staatsanwaltschaft und Mordkommission kommt heute morgen erst richtig ins Rollen." Semir blieb während der Konversation auffallend stumm, was auch der Chefin sofort auffiel, und weshalb sie ihn von sich aus ins Gespräch mit einband.

    "Was denken sie, Semir?" "Ich?", fragte er, als sei er für einen Moment abwesend. Dafür erntete er einen verständnislosen Blick seines Partners und besten Freundes. "Naja... sie sagen es ja richtig. Eigentlich ist der Hafen ausserhalb unserer Zuständigkeit." Ben presste die Lippen zusammen, was auch Semir bemerkte. Sein innerer Ermittlungsgeist schubste die Angst beiseite. "Auf der andere Seite haben wir durch unser Wissen in den Drogenkreisen, in denen Zenner verkehrte, vielleicht einen Erfahrungsvorsprung vor der Mordkommission.", lenkte er zumindest ein.


    Die Chefin zog die Augenbrauen nach oben. Das Verhalten ihres besten Mannes kam ihr ganz und gar seltsam vor. "Ist alles in Ordnung bei Ihnen, Semir?" "Ja... ist alles in Ordnung bei dir, Semir?", wiederholte Ben um seine Sorge auch vor der Chefin deutlich zu machen... und andererseits ihre Sorge zu bestätigen. Der kleine Polizist sah zwischen seiner Vorgesetzten und seinem Partner hin und her. "Natürlich. Ich hab nur schlecht geschlafen. Alles gut.", meinte er mit seiner typisch lächelnden Mimik. Allein, sie gelang ihm heute nicht überzeugend und es stellte weder Ben noch die Chefin zufrieden. Zumindest Letztere hakte nicht mehr nach, sondern nickte. "Ich werde die Staatsanwaltschaft anrufen und unsere Unterstützung aus diesen Gründen anbieten. Ich werde sie dann informieren."

    Ben und Semir nickten, bevor sie das Büro der Chefin verließen. Semir hatte ein Gefühl, ein Bedürfnis, das er noch nie hatte. Er wollte am liebsten in sein Büro an den Schreibtisch und dort arbeiten. Er beneidete die Chefin beinahe, dass sie in aller Ruhe Formulare ausfüllen konnte, ohne jetzt auf Streife zu müssen, sich mit Rasern rumschlagen oder zu sehen zu müssen, wie die Feuerwehr Verletzte oder Tote aus ihren Autos schnitten. Plötzlich war da weniger Angst vor gefährlichen Einsätzen, als der Verdruss über den Alltag. Es war nicht nur seine Sicherheit, spürte er plötzlich.


    Sie nahmen ihre Jacken vom Haken um auf die erste Streife des Tages zu gehen, doch bevor sie ihr eigenes Büro verließen, hielt Ben Semir am Arm fest. "Was ist los? Du warst gestern schon komisch und sagtest, das wäre heute vorbei. Heute bist du immer noch komisch. Also?" Semir seufzte. Die Gedanken letzte Nacht ließen ihn nicht los. Es war kein Entschluss, den er gefasst hatte, eher ein irrer Gedanke, den er weiterspinnte. Aber konnte er das? Sollte er das? Er war schon einmal aufgefallen mit einem Dienststellenwechsel vor einigen Jahren, von der Autobahn weg an den Schreibtisch. Damals war es eine unüberlegte Kurzschlussreaktion, noch dazu negativ weil er sich nicht nur in den Innendienst, sondern auch weg von der Autobahn versetzen ließ. Sowas sollte ihm nicht nochmal passieren.

    Doch damals hatte er andere Gründe. Er hatte noch nie zuvor eine Abneigung gegen seinen Job gespürt. Er wünschte sich jeden Tag, dass es möglichst wenig Unfälle an einem Arbeitstag gab. Aber er hatte noch nie Unfälle oder Einsätze befürchtet. Dieses Gefühl hatte er jetzt und er wurde erst von Bens Stimme aus den Gedanken gerissen. "Semir! Rede mit mir." Der Polizist nickte. "Im Auto. Lass uns im Auto reden.", sagte Semir dann endlich.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Montessori-Gymnasium - 8:40 Uhr


    Der böige Wind zerrte an Felix' Jacke, als er aus dem besetzten Haus trat. Seine Schläfen pochten ein wenig, der Anfall heute Nacht war stark und wie immer hatte er am Morgen entsprechende "Nachwehen". Doch im Vergleich zum Anfall war das nicht mehr als eine Notiz am Rande, ein kleines Klopfen an die Schläfe im Vergleich zu einem Presslufthammer. Die frische Luft hatte ihm gestern abend schon gut getan, wenn sie auch die Attacke nicht beendet hatte. Jetzt wollte er sich auf den Weg zum Montessori-Gymnasium machen, um weiter nach der Nadel im Heuhafen zu suchen. Der Junge hatte sich seine Mütze über den Kopf gezogen, dass nur ein Teil seiner längeren Haare rundherum noch zu sehen waren, natürlich auch seine Strähne die ihm ein wenig über dem Auge hing, und er, wie in einem mechanischen Vorgang, mit dem Finger zur Seite schob. Er merkte diese Bewegung schon gar nicht mehr.

    Eine Stimme hielt ihn am Ausgang kurz zurück: "Hey? Wo soll es denn hingehen, so früh am Morgen?", rief Jakob gegen den Wind, so dass sich Felix nochmal umdrehte. "Weitersuchen. Du weißt ja.", meinte er kurz angebunden, so dass man denken konnte, er würde es abweisend oder böse meinen. Doch das war einfach mal Felix' Art, und der blond gefärbte Junge ließ sich davon auch nicht abschrecken. Mit schnellen Schritten holte er den suchenden Bruder ein. "Wo willst du weitersuchen?" "Ich klappere die Schulen ab. Gymnasium für Gymnasium. Irgendwo werde ich sie schon finden.", sagte er und versprühte trotz seines angestrengten Gesichtsausdrucks so etwas wie Optimismus.


    "Soll ich mitkommen? Vier Augen sehen mehr als zwei. Und ich kann dich rausboxen, falls du in Schwierigkeiten gerätst." Dabei machte Jakob tänzelnde Schritte wie ein Boxer und landete einen schmerzlosen Hieb gegen Felix' Schulter, was den schweigsamen Jungen sogar zum Lachen brachte. Jakob wertete das als Erfolg und stimmte in das kurze Auflachen mit ein. "Danke für das Angebot. Aber es ist schon auffällig, wenn ein Schüler, den kein Lehrer kennt, zwischen den Stunden in den Pausenhallen rumlungert. Wenn das dann zwei sind, die optisch nicht ins Gymnasium passen... ich weiß nicht." Obwohl Felix es ernst meinte, und damit auch deren beider Outfit ansprach, mit dem sie wohl auch auf einem Kostümfest nicht unbemerkt geblieben wären, lachte Jakob erneut auf. "Na gut!", meinte er glucksend. "Sehe ich ein. Aber heute nachmittag sehen wir uns. Ich kenne eine Einkaufsmeile in Köln, die bei den jungen Mädels sehr beliebt ist. Wenn deine Schwester gerne shoppen geht, werden wir sie da sehen." Felix nickte dankend, und die beiden Jungs verabschiedeten sich mit Handschlag, bevor der Jüngere der beiden sich zu Fuß auf den Weg machte. Mit seinem Handy konnte er sich leicht zur Schule manövrieren, der Fußmarsch dauerte knapp eine halbe Stunde und Felix sah durch jede Einkaufsgasse, die er passierte, warf Blicke in jeden Bus, der an ihm vorbeifuhr und wo Schüler drin saßen, um vielleicht ein Mädchen zu sehen, dass wie seine Schwester auf dem Bild aussah. Als er am Schultor des Montessori-Gymnasiums ankam konnte er keinen Erfolg verzeichnen.


    Er setzte sich wieder auf eine der zahlreichen Bänke, die auch in diesem Pausenhof des Gymnasiums bereitstanden. Er wischte die Blätter eines Kastanienbaumes, die der Herbstwind heruntergeweht hatte weg und genoß für einen Moment die Stille der Schule, bevor die Pausenklingel läutete, und der Lautstärkepegel von lärmenden Fünft- und Sechstklässler hoch getrieben wurde. Felix beobachtete auf der Bank das Gewusel und erntete ein paar Blicke von Lehrer, die unmöglich jeden Schüler kennen konnten. Irgendwann hörte er eine Stimme neben sich, die er nie zuvor gehört hatte. Als er jedoch, durchaus mit Schreck, auf ihre Worte mit dem Drehen seines Kopfes reagierte, blickte er in ein Gesicht, was ihm tief in Erinnerung geblieben ist.

    "Ist da die Dose Ravioli drin, die du gestern geklaut hast?" Die Stimme klang hell, nicht piepsig oder unangenehm, und das Gesicht, das unperfekt aber trotzdem wunderschön war, blickte Felix direkt aus zwei dunkelblauen Augen an. Ihre Augen hatte der Junge gestern im Supermarkt gar nicht so sehr wahr genommen, zu schnell war die ganze Aktion. Und jetzt wusste er auf die, ohne Begrüßung und keck gestellte Frage gerade keine Antwort, als er das Mädchen, das sich wie selbstverständlich neben den Jungen setzte, anblickte. "Ich... ähm..." Um sich die Frage selbst zu beantworte, betastete sie den Rucksack, der zwischen ihnen lag und konnte deutlich die rundliche Wölbung der Dose spüren, die sich Felix für heute Abend aufgehoben hatte. Selbstbestätigend nickte sie.


    "Bist du hier auf der Schule?", fragte Felix mit unsicherer Stimme und hätte sich für diese Frage selbst an den Kopf schlagen können. Natürlich war sie hier auf der Schule... warum sollte sie hier sein? Oder gab es noch mehr Leute, die an Schulen rumhingen, zu denen sie nicht gehörten. "Das Gleiche wollte ich dich fragen. Ich habe dich hier nämlich noch nie gesehen.", sagte das Mädchen mit den schwarzen Haaren und legte den Kopf schief, so dass ihr einige Strähnen übers Gesicht hingen. Sie hatte auch heute die Augen mit etwas dunklem Kajal geschminkt, ihre Hose war dagegen dunkelblau, nicht schwarz, was aber nichts an ihrem düsteren Gesamtbild änderte. Ihr Rucksack war übernäht mit Bandlogos, die höchstens Insider der Metalszene kannten, Felix kannte einige.

    "Ähm... ja... also nein. Ich bin nicht hier auf der Schule.", antwortete Felix wahrheitsgemäß, denn selbst wenn er wollte, war er gerade zu perplex zu lügen. Er hatte gestern noch lange an das Mädchen gedacht, dass ihn im Supermarkt gerettet hatte, ohne jeden Grund. Er hatte aber auch nicht unbedingt gerechnet, sie nochmal wieder zu sehen... und jetzt saß sie hier neben ihm. Und wollte natürlich wissen, warum er an der Schule war, wenn er hier doch gar keinen Unterricht hatte. Auch hier war Felix in diesem Moment nicht cool genug, seine Verschlossenheit bei zu behalten. Im Gegensatz zu den Jungs gestern, wirkte sie in keinster Weise feindlich.


    "Ich suche ein Mädchen.", war seine etwas unüberlegte Antwort. Seine Sitznachbarin zog die Augenbrauen nach oben, so dass ihre etwas zu hohe Stirn leichte Fältchen bekam. "Dafür gehst du zu Schulen, wo du keinen Unterricht hast?", fragte sie verständnislos. "Nein... ach quatsch.", schüttelte Felix den Kopf und hätte sich zum zweiten Mal selbst eine verpassen können. "Ich suche meine Schwester. Ich bin nicht von hier. Genauer gesagt, meine Halbschwester." Ein kurzes Nicken. "Wie heisst sie denn?" Felix biss sich kurz auf die Lippen. "Das... das weiß ich leider nicht." Genauso wie zuvor Jakob als auch Klara musste der Junge nun kurz anmerken, warum er den Namen nicht wusste und welche Umstände die Suche hatte. Das Mädchen hatte sich im Schneidersitz neben ihn gesetzt, und schaute den Jungen unentwegt an. Man konnte, durch ihre unentwegte Haltung und keinerlei Reaktionen auf Felix' Antworten, ausser dass sie die nächste Frage stellte, denken dass sie an der Unterhaltung kein Interesse hätte. Doch der Junge spürte anhand ihrer Ausstrahlung eine totale Fixierung auf seine Worte. Etwas, dass er selbst nicht beschreiben konnte, und für einen Moment vergaß er den Lärm um sich herum, andere Schüler, die sie etwas arggewöhnlich betrachteten, wie zwei Außenseiter. Auch fiel es Felix auf, dass sich keine Freundin oder Bekannte bei das fremde Mädchen saß, sie grüßte oder nach ihr rief. Er kannte das aus seiner Schulzeit anders. "Hast du ein Foto von ihr?", fragte sie dann und bekam von dem Jungen das Foto gezeigt. Ihre Reaktion war ein stummes Nicken, nachdem sie das Foto eingehend betrachtet hatte.


    "Danke übrigens... also für deine Hilfe gestern.", sagte Felix als er das Foto wieder im Rucksack sicher verstaute. Das Mädchen neben ihm zuckte nur kurz mit den Schultern und brach jetzt zum ersten Mal seit einigen Minuten den direkten Blickkontakt ab. "Nein ehrlich... ich meine, der Ladendetektiv hätte dich ja danach für irgendwas behelligen können." "Hätte er nicht... das hätte er sich nicht getraut." Nun war es Felix, der einen verwirrten Gesichtsausdruck aufsetzte. "Wie meinst du das?" "Die Kette gehört meinem Vater. Und der Ladendetektiv kennt mich." Umso mehr bewunderte Felix ihr Eingreifen. "Und... gibt es da keine Probleme mit deinem Vater?" Wieder nur ein Schulterzucken. "Ich hab' doch nur eine Flasche fallen lassen.", dabei setzte sie das unschuldigste Gesicht auf, was man nur aufsetzen konnte. Doch sie lächelte nicht, fiel dem Jungen auf... sie lächelte die ganze Zeit über nicht.

    "Wie heißt du eigentlich?" "Felix... und du?" "Ich bin Chloe." Felix wollte die Linas Antwort nur mit einem "Okay" bestätigen, doch sie reagierte mit scharfer Stimme darauf. "Nein, es ist nicht okay! Ich hasse diesen Namen." Innerlich zuckte der Junge zusammen, als hätte er gerade einen offenliegenden Nerv angefasst und seinem Gegenüber damit weh getan. "Entschuldige, ich...", wollte er sich reflexartig rechtfertigen, doch Chloe stand so ruckartig von der Bank auf, so dass ihm weitere Worte im Halse stecken blieben. Sie ging zwei Schritte, und es schien so, als wolle sie wortlos und beleidigt das Weite suchen, doch dann blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. Wieder sah Felix in die dunkelblauen Augen und hörte Linas Stimme: "Ich habe noch zwei Stunden. Wartest du nach der Schule am Haupteingang auf mich?"

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Autobahn - 8:45 Uhr


    Das Auto hatte für unangenehme Gespräche einen Vorteil des Zuhörers gegenüber des Redners, der die unangenehmen Nachrichten verkünden musste... der Redner konnte nicht flüchten. Das Auto fuhr, in diesem Fall der Mercedes von Ben gelenkt mit 100 km/h auf der rechten Spur, gemütlich mit dem abebbenden Berufsverkehr schwimmend und somit ein Aussteigen unmöglich. Ben hatte das Lenkrad mit zwei Händen umklammert und seine Stimme kämpfte gegen das Rauschen der Reifen auf dem Asphalt an, nachdem Semir ihm die unmöglichen drei Worte in der unmöglichsten Reihenfolge genannt hatte: "Ich höre auf." "Was tust du?", waren die drei Worte die Ben seinem langjährigen Partner entgegenbrachte, gefolgt von einem sarkastischen Kopfschütteln. "Komm schon, das hatten wir doch erst. Erinnerst du dich, wie das geendet hat?"

    Semir seufzte, denn mit dieser Reaktion war zu rechnen. Zurecht natürlich, denn wer schon einmal einen Rückzugsversuch erfolglos beendet hatte musste sich dieser Diskussion stellen. "Das war etwas anderes Ben. Damals war das wie eine Flucht vor mir selbst. Da hatte ich schon viel zu lange überlegt, abgewägt, vielleicht soll ich, vielleicht auch nicht. Da war ich mir doch von Anfang an unsicher." Ben sah zu seinem Partner herüber und legte die Stirn in Falten. "Und jetzt bist du dir also sicher?" "Ich glaube schon."


    Ben lachte auf. "Semir, wenn man etwas glaubt, ist man sich nicht sicher. Du musst dir mal selbst zuhören." Seine Stimme klang erregt. Natürlich würde er jede Entscheidung seines besten Freundes akzeptieren... aber Semir sollte spüren, dass Ben absolut nicht begeistert von der Idee war. Natürlich in erster Linie, weil er seinen Partner nicht verlieren wollte. Und Semir hatte Verständnis für diese Reaktion. "Du bist nicht für den Schreibtisch gemacht. Warst du noch nie, und wirst du nie sein.", beharrte er weiter, und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug er einmal mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Es sollte nicht aggressiv sein, aber nachdrücklich. Dann griff er das Lenkrad wieder und blickte stumm durch die Frontscheibe auf den Asphalt und die Mittelstriche, die im gleichmäßigen Rythmus an ihm vorbeizogen.

    Semir sah sah seinen besten Freund mit einem gemischten Blick an. Natürlich verstand er Ben, und es schmeichelte ihm auch, dass der ihn nicht kampflos in den Innendienst ziehen lassen wollte. Er würde es bei Ben genauso machen, wenn der sich beruflich verändern wollen würde. Gleichzeitig machte er es ihm mit diesem Verhalten aber auch nicht leichter, das in seinen Augen Richtige zu tun. Ja, eigentlich war er sich sicher, denn dieses Gefühl, dass er vor einer Stunde bevor sie losfuhren empfand, hatte er so noch nie gehabt.


    "Ben... ich hatte eben ein Gefühl.", begann er vorsichtig um es seinem Partner zu erklären. "Ein Gefühl, das ich noch nie gehabt habe. Ich habe die Chefin angesehen und gedacht... wie schön wäre es, jetzt im Büro zu bleiben. Ein paar Telefonate führen, Formulare ausfüllen, Organisatorisches regeln. Ich wollte gar nicht ins Auto, ich wollte gar nicht auf die Autobahn. Ich glaube, es hat auch ein wenig mit Angst zu tun, dass doch irgendwann mal etwas Schlimmes passiert." Er redet und sah irgendwann wieder geradeaus, ohne den Redefluss zu stoppen, Ben hörte stumm zu. "Das ist auch ein Grund weswegen ich aufhören will." Sein Partner wog den Kopf hin und her, dabei klang seine Stimme schon wieder deutlich gedämpfter: "Das Gefühl hatte ich doch auch mal, das weißt du. Das vergeht wieder."

    Sein bester Freund widersprach ihm: "Nein, Ben. Bei dir war das was anderes. Dir ist etwas passiert, und du hattest einfach Angst, dass es wieder passiert. Du musstest quasi nur einmal wieder einer gefährlichen Situation ausgesetzt sein, die du meistern musstest, und damit hatte sich das Problem erledigt. Bei mir ist das anders.", erklärte Semir seine Gedanken. Für einen kurzen Moment schwiegen die beiden Männer, und Ben versuchte sich vorzustellen, wie es war morgens in sein Büro zu kommen, und es saß jemand anderes da. Bei Jenny konnte er sich an den Gedanken ja vielleicht noch gewöhnen, aber jemand total Fremdes?


    "Und was willst du stattdessen machen?", fragte der jüngere Polizist irgendwann. "Ich meine... ich habe vor allem Angst, dass man sich aus den Augen verliert. Privatleben hin oder her, du weißt ja wie das läuft.", brachte er seine Befürchtungen zum Ausdruck und sein Freund musste grinsen. "Keine Angst, Ben. Ich hab vor den Lehrgang für Dienststellenleiter zu absolvieren. Der dauert, glaube ich, ungefähr ein Jahr. Kurz danach wird wohl die Chefin aufhören.", dabei zwinkerte er und Bens Miene hellte sich ein wenig auf. "Du wirst dann mein Chef?" "Dann endlich auch offiziell, nicht nur intern.", sagte Semir und grinste sein typisches Lausbuben-Grinsen. Ben brauchte einen Moment, bis er den Witz verstand und schlug Semir mit der Faust gegen den Oberschenkel.

    Eine Konstellation, mit der er sich anfreunden konnte... würde... vielleicht. Semir war noch da, er war greifbar, er war an Entscheidungen involviert. Aber ein Jahr ohne ihn... das würde hart werden. Deswegen konnte er sich zu einer vollends positiven Bewertung des Plans nicht durchsetzen. "Ich weiß nicht...", sagte er nur gedankenverloren und sein Innerstes, seine enge Freundschaft zu Semir verhinderte auch nur einen positiven Gedanken. Ausser den, dass es Semir glücklich machen würde, wenn er tat was er tun wollte.


    Wieder waren sie für einige Kilometer still. Semir unterlass jegliche Argumentation, dass es doch eh irgendwann soweit wäre, dass Semir aufhörte und Ben weitermachen würde, schließlich lagen zwischen den beiden Männern über 10 Jahre. Und dass er an seine Familie dachte, das wusste Ben sowieso. Letztendlich war es Semirs Entscheidung und Ben musste sie wohl oder übel schlucken. Lediglich ein "Ich bin ja dann nicht aus der Welt.", ließ er sich entlocken. "Wer weiß, wer dann an deine Stelle tritt... wenn das wieder irgendein Vollidiot ist...", murrte Ben und brachte Semir damit zum Lachen. "Behalt es aber bitte für dich. Ich weiß noch nicht, wann der nächste Lehrgang anfängt und ausserdem will ich mit der Chefin zuerst darüber reden. Du solltest es aber als Erstes erfahren." Ben versprach, die Klappe zu halten.

    Gerade, als sie an der äussersten Grenze ihres Einsatzgebietes angekommen waren und die Ausfahrt nahmen, knackte es im Funkgerät. "Zentrale für Cobra 11!", erklang die Stimme der Chefin und Semir antwortete. "Wir haben die Freigabe der Staatsanwaltschaft die Ermittlungen im Mordfall Zenner erst einmal zu übernehmen, da die Mordkommission momentan mit der Dienststelle für Schleusung und Menschenhandel einen großen Fall bearbeitet. Lassen sie mich wissen, wann sie Unterstützung brauchen." "Alles klar, danke Chefin.", sagte Semir mit gemischten Gefühlen. "Dann würde ich sagen, fahren wir erstmal zu Zenners Wohnung. Und schauen, ob wir dort irgendwas finden.", gab er gleich den Chef und ließ Ben wieder grinsen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Zenners Wohnung - 09:30 Uhr


    Marcel Zenner wohnte nicht weit weg vom Hafengelände in einer etwas heruntergekommenen Altbauwohnung. Ben musste den Mercedes im Halteverbot auf dem Bordstein parken, Semir legte sicherheitshalber die Kelle aufs Armaturenbrette um Verkehrspolizisten das Schreiben des Knöllchens zu ersparen. Die Altbauhäuser standen in den engen Straßen in Reihe, meistens waren kleine Geschäfte wie Kioske, Gemüselädchen oder Kramsläden im Erdgeschoss untergebracht. Einige Graffitis zierten die Gemäuer und die jweiligen Haustüren wiesen jeweils mindestens acht bis zehn Klingeln und Namensschilder auf. In einer ähnlichen Gegend war Semir als Kind aufgewachsen und zu gut erinnerte er sich an den ein oder anderen Fall, in denen er in diese Welt wieder abtauchen musste. Selbst die Geräusche waren noch gleich, wenn man Leute reden hörte konnte man auch immer ein paar türkische Wortfetzen mitbekommen.

    Ben tat es sich leicht und klingelte an mehreren Namensschilder, um erstmal Einlaß in das Haus zu bekommen. "Wir sind von der Polizei, wir wollten nur ins Haus, vielen Dank.", sagte er dann über die Sprechanlage an denjenigen, der am schnellsten den Hörer der Gegensprechanlage abgehoben hatte. Wie immer vermied der junge Polizist den Aufzug. "Die Ergebnisse der Konfrontationstherapie lassen zu wünschen übrig.", bemerkte Semir schnippisch, als sie die Treppe heraufgingen. "Die Ergebnisse deiner Diät auch.", gab Ben dagegen schlagfertig zurück. In der Tat verzichtete Semir seit Wochen auf die morgendlichen Schoko-Croissants.


    Im dritten Stock angekommen fanden sie dann die Wohnungstür, an der an einer weiteren Klingel "Marcel Zenner" geschrieben stand. Hinter den schlecht gedämmten anderen Türen konnten sie laufende Fernseher hören, hinter Zenners Tür war es still. "So, dann dreh dich mal um.", sagte Ben, bevor er sich an die Gesäßtasche griff, um sein Feinwerkzeug heraus zu holen. "Wie bitte?" Semirs Gesicht drückte nun ehrliche Verwirrung aus. "Als Chef brauchst du nicht zu wissen, wo ich mir unberechtigten Zutritt verschaffe. Also...", antwortete sein langjähriger Partner und machte mit dem Finger eine "Umdrehen"-Bewegung, bevor er vor der Tür in die Hocke ging. "Ich trete dir gleich wohin, dass du durch die Tür fliegst, dann brauchst du sie nicht mehr zu knacken.", drohte der erfahrene Polizist mit einem Grinsen. Bens Quatsch brachte ihn sofort wieder weg von düsteren oder negativen Gedanken.

    Zenners Wohnung war eine typische Junggesellenbude. Schlecht gelüftet, mäßig sauber und etwas Unordnung. Zwar fanden sie kein verschimmeltes Geschirr, aber mit dem Staubwischen oder dem Aufräumen hielt er es nicht so genau. Die Wohnung war einfach eingerichtet, der Wäscheständer stand auf dem Balkon der nach hinten über einen betonierten Hof führte. Ein großer Eichenschrank, Tisch, Fernsehtisch und Sofa waren die Möbel im Wohnzimmer, schräg daneben eine kleine Einbauküche, das Bad und das Schlafzimmer. "Ich guck im Schlafzimmer, du hier.", verteilte Semir die Aufgaben, was Ben mit einem zackigen "Aye aye, Sir" quittierte.


    Routiniert nahmen die beiden Kommissare die Suche auf. Es war natürlich schwieriger etwas zu finden, wenn man nicht genau wusste, wonach man suchte. In diesem Fall wollte man irgendwas finden, was bei einen durchschnittlichen Hafenarbeiter nicht in die Wohnung passte. Verdächtige Unterlagen, größere Mengen an Geld, Kontoauszüge. So nahmen sich die beiden Kommissare, in diesem Fall Ben im Wohnzimmer, vor allem Aktenordner zur Brust, von denen es in Zenners Wohnung nicht alzu viele gab. Doch bis auf Versicherungsunterlagen und den Mietvertrag, konnte Ben nur Kontoauszüge finden. Und diese waren von den Geldein- und ausgängen auch völlig unverdächtig. "Unterhaltszahlungen", war das Einzige, was Ben ein wenig interessant fand, denn er wusste nicht dass Zenner Kinder hatte. Es machte seinen Tod ein Stück trauriger.

    Als er begann im Schrank nach Verstecken zu suchen, wurde er dagegen fündig. In einem kleinen Plastikbeutel, der unter einem Stapel Bücher versteckt war, fand er etwas weißes Pulver. Entweder war es zum Dealen, oder für den Eigengebrauch gedacht. Gerade, als der junge Polizist es aus seinem Versteck gezogen hat, kam Semir aus dem Schlafzimmer mit einem erwartungsvollen "Und?" heraus. Ben hob wortlos das Päkchen hoch. "Koks?" "Sicher kein Vanillezucker.", meinte Ben und ließ das Päkchen in einen weiteren Plastikbeutel wandern.


    Semir war auch fündig geworden. Die Hände mit Gummihandschuhen geschützt, hielt er ein Bündel Scheine hoch. "Das sind knapp 15000 Euro. Die verstaut man normalerweise nicht zuhause.", sagte er und Ben nickte. "Also die typischen Funde eines Drogendealers." "War ja fast zu erwarten. Wenn er sich in den Kreisen bewegt um uns Infos zu zu schieben, wird er ums Dealen nicht herum gekommen sein." Semir nickte. "Dummerweise wissen wir nicht, in welchen Kreisen genau er sich zuletzt bewegt hat. Wir wissen nur von Kurierfahrten, wir haben eine Handvoll Namen, die mit ihm gehandelt haben. Das sind aber die Namen der Gegenpartei. Die wird ihn nicht beseitigen wollen, wenn rauskommt, dass er Infos verrät.", bedachte der erfahrene Kommissar. "Seine Gruppe hat er ja immer geschützt."

    Semir betrachtete das Geld und die Drogen in der Plastiktüte, als würde er nachdenken. Doch wo er früher nach dem einfachsten Weg nach Infos suchte, suchte er jetzt nach dem risikolosesten. Ben dagegen dachte wie früher. "Dann treten wir diesen Namen doch trotzdem auf die Füße. Ein Besuch, ein Verhör und ein paar unverfängliche Fragen." "Ben, die "Gegenseite" sind aber allesamt keine kleinen Fische. Da werden wir auf ganz schön viel Gegenwind stoßen." Ben verdrehte die Augen... wie oft stachen sie schon in Wespennester. Ja, da wurde es manchmal etwas gefährlich.


    Doch der junge Polizist spürte nun doch die Verunsicherung seines Partners, was dieser eben noch überspielt hatte. "Na gut, Vorschlag. Wir schauen uns die Namen mal genauer an. Zum Beispiel von dem Kurier, den wir eigentlich vorgestern hätten sollen abfangen. Vielleicht ist da ein Club, Diskothek, Bordell oder irgendwas ähnliches dabei. Dort können wir dann eine völlig ungefährliche Razzia initieren. Thomas hilft uns dabei sicherlich." Mit Thomas meinte Ben Thomas Bienert, Leiter des Drogendezernats, den die beiden sehr gut kannten und sich gegenseitig schätzten. Der Idee stimmte Semir nickend zu.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • 10:30 Uhr - Gymnasium


    Felix war noch ein wenig durch die nah angrenzende Fußgängerzone gezogen, während die Schüler sich wieder in die Klassenräume verzogen hatten. Als der zweite Zwei-Schulstunden-Block sich dem Ende zuneigte kam er gerade zurück zum Haupteingang und setzte sich dort auf eine der Findlinge, die zur Deko rechts und links des Weges zum Eingang lagen. Als er die Pausenglocke hörte zogen viele ältere Schüler an ihm vorbei zur Raucherecke, die ausserhalb des Geländes lag, einige Jüngere hüpften zur Bushaltestelle oder auf den Parkplatz, wo ihre Eltern warteten und sie abholten. Ein Großteil der Schüler bereitete sich aber auf die nächsten Stunden vor, schnauften mal durch und stellten sich innerhalb des Gebäudes wieder am Verkaufsstand an, um belegte Brötchen oder etwas zu trinken zu kaufen.

    Der Junge wusste selbst nicht, warum er der Bitte des Mädchens, das ihren Namen hasste, nachkam und tatsächlich vor dem Haupteingang auf sie wartete. Sie hatte auf das Foto seiner Schwester überhaupt nicht reagiert, auf die Erzählungen höchstens mit einem kurzen Nicken ohne Nachfragen, ohne gezeigtes Interesse. Es war schließlich sein vorrangiges Ziel, seine Schwester zu finden... und was sollte er jetzt hier tun? Schließlich hatte Jakob, der Junge aus dem besetzten Haus, Felix seine Hilfe angeboten bei der Suche.


    Doch in dem Jungen drin hatte auch diese kurze Begegnung mit dem jungen Mädchen etwas ausgelöst, von dem er noch nicht wusste, was es war. Natürlich war sie hübsch, und natürlich war Felix längst in einem Alter, in dem er sich auch für Mädchen interessierte, doch er verdrängte diesen Gedanken sofort wieder. Er kam sich schäbig vor gegenüber seiner Halbschwester, obwohl es keine Eile gab sie zu finden. Schließlich ging Felix nicht davon aus, dass sie irgendwie in Gefahr schwebte. Und dennoch saß er nun auf dem Findling und hielt zwischen den Schülern Ausschau, bis er Chloe sah ... und dennoch erstmal nicht reagierte. Chloe kam zielstrebing auf ihn zu, als sie ihn regestrierte und setzte sich zu ihm auf den Stein. "Geschichte nervt mich.", murrte sie nur mit einem Lächeln, beides passte nicht zueinander... wie irgendwie alles an dem Mädchen, ausser ihrem Outfit.


    Vermutlich meinte sie die vorangegangene Schulstunde, sie hatte ihren Ordner noch in der Hand, den sie jetzt mit ein paar schnellen Griffen in ihrem Rucksack verschwinden ließ. "Warten wir noch kurz?", fragte sie dann den stummen Jungen, der ihr selbst ebenfalls ein wenig seltsam, aber wahnsinnig interessant vorkam. "Auf was willst du warten? Was hast du überhaupt vor?", fragte Felix, denn bisher wusste er nur, dass er hier auf Chloe warten sollte. Warum, weshalb und wohin sie jetzt gehen würden, wusste er nicht. "Nur bis die Pause um ist, und alle wieder in den Klassenzimmern sind.", war ihre Antwort, als sie sich auf dem Stein mit ihrem Rücken einfach an Felix' Rücken lehnte, da dieser sich mit den Händen abstützte und somit Halt bot.

    Die beiden Jugendlichen blieben stumm auf dem Stein sitzen, bis die Pause um war und die älteren Schüler zurück ins Gebäude strömten. Der Wind zerrte sowohl an Felix's Haaren, da er mittlerweile die Kappe nicht mehr an hatte, als auch an Chloes schwarzer Jacke. An ihrem Ohr entdeckte er jetzt einen Ohrring, der vorher unter ihren schwarzen Haaren verborgen lag, es war eine blaue Feder... ein seltener Farbtupfer in ihrem Auftreten. Der Junge betrachtete ihn einen Moment, bis Chloe sein Blick wohl aufzufallen schien, und sie ihren Kopf zu ihm drehte. Wie ein beschämpter Junge, jedoch ohne rot zu werden, wandte der Junge den Blick wieder ab und fuhr sich durch die, nicht zu bändigenden Haare. "Was... was machen wir eigentlich jetzt?", fragte er, als sich das Treiben beruhigte, und die nächste Schulstunde begonnen hatte.


    Als wäre es das Kommando für Chloe, stand sie von dem Findling auf und griff Felix Hand. "Komm mit.", sagte sie und zog ihn ein wenig mit sich mit. Die Berührung ihrer kalten Hand fühlte sich ... fremd an. Aber nicht unangenehm, fand Felix, als er dem noch unbekannten Mädchen folgte. Sie zog ihn zurück zum Haupteingang und beide betraten wieder das Schulgebäude. "Hast du was vergessen?", fragte er sie, als sie zielstrebig die Treppenstufen zum ersten Stock hoch ging und seine Frage erstmal ignorierte. Erst als sie im ersten Stock waren, von wo aus der Schulflur und ein weiterer Flur in die andere Richtung abbog, blieb sie stehen.

    "Ich dachte, du suchst deine Schwester.", sagte sie und klang beinahe etwas verständnislos, wobei sie ihn auch anblickte. "Ja, natürlich. Aber ... " "Na bitte. Die Schule hat die jährlichen Klassenfotos in einem Ordner, und ich weiß, wo dieser Ordner im Sekreteriat liegt. Und zwar in dem dunkelbraunen Holzschrank, ganz unten. "Klassenfotos" und das aktuelle Schuljahr steht drauf.", erklärte sie. "Ich schätze das deine Schwester vom Alter her etwa zwischen 13 und 15 ist... also holst du die aktuellen Klassenfotos der 7er, 8er und 9er raus, und dann suchen wir dort deine Schwester." Felix blickte das Mädchen an, als hätte sie gerade in ausserirdischer Sprache versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Das scheinbare Desinteresse, das sie eben zeigte, war entweder absichtliche Fassade, oder einfach ihre Art aufmerksam zu zu hören. Gleichzeitig schien sie während den letzten beiden Schulstunden sich genau darüber Gedanken zu machen, wie Felix einen Schritt voran kam. "Aber... die Sekretärin wird mir wohl kaum einfach den Ordner geben." Der Einwand war berechtigt, und doch klang er aus Felix Mund in diesem Moment etwas naiv... So empfand er es zumindest. Und Chloe offenbar auch, denn sie musste kurz auflachen.

    "Natürlich nicht. Aber dafür bin ich ja da. Frau Strache ist ganz nett und kümmert sich immer gut um uns." Mit diesen Worten ging Chloe in den Flur und liess Felix etwas verwirrt zurück. Er hörte noch ein: "Du wirst schon hören, wann die Luft rein ist. Jetzt lass dich nicht in diesem Flur blicken." Daraufhin zog Felix sich auf die oberste Treppenstufe des Aufgangs zurück, dort konnte man ihn vom Lehrerflur aus nicht sehen.


    Der Junge konnte Chloes Anklopfen nach einigen Sekunden hören und wie die Tür zum Sekretariat aufging. Dann war kurz Stille und Felix lauschte angestrengt. Es dauerte keine halbe Minute bis man die Tür erneut hörte, gefolgt von schnellen Schritten und einer hektischen Stimme einer Frau: "... sich so zu schneiden an einem Blatt Papier. Du lieber Gott! Im Krankenzimmer ist Verbandsze..." und die Schritte verschwanden in einem anderen Zimmer. Felix' Herz schlug bis zum Hals, als er rasch aufstand und mit schnellen aber leisen Schritten den Flur entlang lief, bis er an der Tür mit der Aufschrift "Sekretariat" angekommen war. Beim kurzen Blick zum Boden entgingen ihm die kleinen, dunkelroten Tropfen auf den Fliesen nicht. Was... Hatte Chloe für solche Fälle immer mal rote Farbe dabei? Oder war das eine übriggebliebende Tüte Ketchup vom Mittagessen? Felix entschloss sich, sich darüber Gedanken zu machen, wenn er die Bilder hatte, und trat ins Sekretariat ein.

    Chloe hatte Recht, der Schrank stand an Ort und Stelle, wie sie es beschrieben hatte. Der Schlüssel steckte, scheinbar war der Inhalt nicht sonderlich schützenswert. Und auch der Ordner mit der Aufschrift "Klassenfotos" fiel ihm sofort ins Auge, als er den Schrank öffnete. Der Junge hatte das Gefühl, tausend Augen würden ihn beobachten, und eine Hand würde ihn packen, sollte er auch nur einmal atmen. Die Klassenstufen waren mit Trennblättern unterteilt, so dass Felix die betreffenden Klassen schnell fand und die Fotokopien herausnahm. Mit geschickten schnellen Griffen verstaute er sie in seinem Rucksack, ohne sie zu knittern. Er hatte den Ordner gerade wieder in den Schrank gestellt und die Tür geschlossen, als er auf dem Flur Stimmen hörte, die näher kamen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Gymnasium - 10:45 Uhr


    Felixs Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Die Stimmen klangen erwachsen, sie klangen tief und männlich. Er hatte gerade seinen Rucksack am Reissverschluss geschlossen, als er sich panisch umsah... nach einer Möglichkeit, das Weite zu suchen, oder sich zu verstecken. Das Fenster! Er war äusserst geübt im Klettern, er könnte mühelos von einem Zimmer ins andere steigen. Blöd nur, wenn ihn jemand von außen sah. Noch blöder, wenn in dem Zimmer nebenan jemand anderes war. Verdammt. Felix nahm den Rucksack auf den Rücken und ging in die Mitte des Zimmers. "Frau Raliger müsste doch die Unterlagen haben, oder?", hörte er die Stimme, die nun direkt an der Tür zu sein schien. Der Junge biss sich auf die Lippen. Im besten Fall warfen sie ihn einfach nur raus, im schlimmsten Fall sofort die Polizei. Letzteres vor allem, wenn sie merkten, dass er gar nicht von der Schule war.

    Der Raum war gut mobiliert, Schreibtisch, mehrere Aktenschränke, ein wenig Deko wie eine Zimmerpflanze. Nichts, wo man sich sicher verstecken konnte. Eine Zwischentür führte ins Rektorzimmer... es war der einzige Ausweg. Entweder war der Rektor da, oder nicht. Wenn nicht hatte Felix Glück, wenn doch brauchte er eine schlagkräftige Ausrede. Und Schlagkräftigkeit war nicht Felixs Sache... weder mit Fäusten, noch mit Worten. Aber es half nichts, er steppte los, riss die Tür zum Rektorzimmer auf und hielt für einen Moment die Luft an.


    Im gleichen Moment schwang die Tür zum Sekretariat auf und der Sportlehrer Herr Messing streckte den Kopf herein. Er war äusserlich wohl für jeden Schüler als Sportlehrer zu identifizieren, denn man sah ihn nie in anderen Schuhen ausser Turnschuhen, nie in etwas anderes ausser Shirt und Joggingweste, und würde es der Rektor erlauben, hätte er vermutlich auch seine Jogginghose im Englisch-Unterricht an, was er ebenfalls unterrichtete. Er kam ins Zimmer und merkte sofort, dass Frau Raliger nicht da war. "Hmm, sie ist gar nicht da. Naja, dann müssen wir nachher nochmal...", bevor er unterbrach. "Was ist?", fragte sein Lehrerkollege, der auf dem Flur wartete. "Ich dachte, ich hätte gerade was aus Dr. Kesslers Zimmer gehört... aber der ist doch heute gar nicht da.", sagte Herr Messing und sah auf die geschlossene Tür zum Rektorzimmer.

    "Vielleicht ist Frau Raliger da drin?" "Die weiß doch, dass der Doktor es nicht gerne hat, wenn man in seinem Zimmer ist... egal weswegen.", meinte der Sportlehrer und zog genervt die Augenbrauen nach oben, da sein Chef in dieser Angewohnheit manchmal übertreibte. Ihn verägerte es, wenn man ihm in seiner Abwesenheit auch nur einen Brief auf den Schreibtisch legt. "Ich sehe einfach mal kurz nach.", sagte der drahtige, großgewachsene Mann und schritt entschlossen durch das Sekretariat zum Rektorenzimmer.


    "Hallo, ist da jemand?", fragte er ins Zimmer hinein, und bekam keine Antwort. Der Platz hinter dem Schreibtisch war leer, die Fenster halb geöffnet und die Gardine bewegte sich im böigen Wind. Neben dem Schreibtisch stand ein schwerer Eichenschrank für die Garderobe von Eltern oder Lehrer, die eine "Audienz" bei dem strengen Rektor hatten. Ausserdem natürlich auch ein massig gefüllter Aktenschrank. "Das Fenster steht auf, vermutlich haben die Gardinen geklappert." Es waren längere Gardinen, die als Gewicht unten eine Metallstange eingelegt hatten, die sich bewegten und gegen den Heizkörper stießen. Vorsorglich, damit keine Unterlagen durch den aufkommenden Herbststurm durch das Zimmer flogen, schloß Herr Messing das Fenster wieder und verließ das Rektorzimmer.

    Felix machte sich im Garderobenschrank beinahe in die Hose. Sein Instinkt, nur das Zimmer als Schutz zu nehmen wäre zu wenig, trügte ihn nicht, weswegen er sofort auf den großen Schrank zuhielt, der genug Platz für seinen schmalen und nicht allzu großen Körper hatte. Er hielt die Tür von innen fest, damit sie komplett geschlossen aussah und vermied es, auch nur einen Muskel zu bewegen, als der Mann ins Zimmer kam und nachsah, ob jemand da war. Am liebsten hätte er gewartet, bis das Zittern in seinen Beinen nachließ, aber das würde zu lange dauern... dann wäre Frau Raliger mit der Verarztung von Chloe fertig. Also nahm er die Beine in die Hand, nachdem er vorsichtig durch die Tür lugte und sah, dass der Flur rein ist... und verduftete nach draussen vor den Haupteingang.


    Dort setzte sich der Junge auf den gleichen Stein, auf dem er eben bereits auf Chloe wartete. Die Fotos brannten ihm unter den Nägeln in seinem Rucksack, aber er hielt es nur für fair, das seltsame Mädchen an der Suche und dem eventuellen Erfolg teilhaben zu lassen, und so übte er sich in Geduld. Sie würde wohl wissen, dass er hier wartete und nach kurzer Zeit erschien sie mit verbundener Hand am Haupteingang. Er sah sie zum ersten Mal lächeln und sie machte einen Hüpfer von der flachen Stufe. "Und? Hat es geklappt?", fragte sie und sah in ein etwas geschocktes Gesicht seitens Felix. "Was guckst du denn so? Bist du erwischt worden?" "Nein... aber... hätte es nicht gereicht, einen Kreislaufkollaps vorzutäuschen?", fragte er mit Blick auf die verbundene Hand und der Gewissheit, dass das Blut am Boden kein Ketchup war. Doch das Mädchen winkte ab. "Das ist ja langweilig."

    Felix wusste nicht, ob er nun noch mehr geschockt sein sollte, oder das cool finden sollte. Vermutlich wollte das Mädchen Zweiteres, denn sie saß sich mit Schwung wieder dicht neben ihn. "Wie hast du das so spontan hinbekommen, dir in die Hand zu schneiden?", fragte er. "Ich hatte ein Prospekt von dem Prospektenständer im Lehrerflur genommen.", sagte sie wie aus der Pistole geschossen. Felix war der Ständer gar nicht aufgefallen, doch er ging aufgeregt rein und kam noch viel aufgeregter wieder raus. Möglich, dass er ihn einfach übersehen hatte.


    "Jetzt hör doch endlich auf von meiner Hand zu reden. Haut heilt wieder. Hast du was gefunden?" Der Junge beschloß, seine Sorgen zur Seite zu drängen... waren das schon Sorgen? Innerlich versuchte er seine Gedanken zu sortieren. "Ja, ich hab die Klassenfotos gefunden, aber ich hab keine Kopien gemacht. Also hab ich sie einfach mitgenommen." "Und? Ist deine Schwester auf einem der Bilder?" Felix bildete sich ein, plötzlich ein merkwürdiges Leuchten in Chloes Augen zu sehen. Sie schien tatsächlich interessiert... deswegen auch ihr Einsatz eben. "Ich... ich weiß nicht. Ich hab noch nicht nachgesehen. Dachte, du möchtest dabei sein, wenn wir die Bilder checken."

    Nun erntete er einen erstaunten, verwunderten Blick von Chloe. "Du kommst aus Hamburg alleine hier her, um deine Schwester zu suchen... dann hast du möglicherweise Bilder als Hinweis im Rucksack und schaust nicht nach, nur weil du auf mich wartest?", fragte sie mit einer ungläubigen Stimme und noch ungläubigeren Blick. Felix wurde es etwas mulmig... nahm sie es ihm übel? Hatte sie jetzt den Eindruck, dass ihm das Ganze gar nicht so wichtig war, obwohl sie es als wichtig einschätzte? "Naja, du hattest schließlich die Idee... und jetzt den Schaden.", sagte er und strich kurz mit dem Finger über den Verband, allerdings nicht dort, wo der Mullaufdruck den Verband dicker machte, sondern oberhalb. Trotzdem zog Chloe die Hand reflexartig weg, was Felix ein leises "Sorry...", murmeln ließ. Das Mädchen sah ihn für einen Moment stumm an... ohne Verärgerung im Gesicht. "Wenn du so geduldig bist, dann kannst du auch noch warten, bis wir bei mir zuhause sind. Komm, mein Eltern arbeiten beide.", sagte sie und ergriff Felix an der Hand, wie vorhin schon als sie das Schulgebäude betraten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 11:30 Uhr


    Die beiden Kommissare machten sich, nachdem sie zur Dienststelle zurückgekehrt waren, sofort an die Arbeit. Sie nahmen sich die Akte vor, in der der Name des Kurierfahrers, den sie die Tage eigentlich abfangen wollten, vermerkt war. Sein Name war Vinzenz Zolda und Semir rief an ihrer modernen Videowand seine Akte auf. Ein grimmiges Gesicht blickte die beiden Polizisten an, eine markante Narbe über dem Auge und lockige, zu einem Zopf zusammengebundene Haare. Seine Liste an Vorstrafen war beträchtlich. "Eigentumsdelikte, Rauschgift, schwere, sowie gefährliche Körperverletzung.", las Semir vor, während sein Partner neben ihm stand und die Infos selbst sehen und lesen konnte. Neben seiner aktuellen Adresse standen auch Verweise auf seine beruflichen Tätigkeiten.

    "Er war zuletzt Türsteher im "Moulin Rouge".", las Ben und seine Stimme klang nachdenklich. "Der Name kommt mir bekannt vor." Semir nickte und er ging zwei Schritte bis zu seinem Arbeitsplatz um die weltweite Internetsuchmaschine anzuwerfen. Mit dem Namen des Clubs bekam er sicherlich auch schnell den Besitzer heraus... schneller als eine Abfrage im Polizeisystem. Ben hörte seinen besten Freund kurz aufseufzen. "Deswegen kommt uns der Name bekannt vor... das ist der Klub von Erik Peters." Ben drehte den Kopf zu Semir. "Kevins Vater."


    Kevin hatte bis zum Schluß ein zerstrittenes Verhältnis zu seinem Vater. Er war das Ergebnis eines "Unfalls" zwischen Erik und einer Prostituierten, genauso wie es seine Halbschwester Janine drei Jahre später war. Beide hatten ihre Mütter nie kennengelernt. Während Kevins Mutter nach der Geburt aus dem Krankenhaus floh und spurlos verschwand, wusste Erik Peters zumindest von Janines Mutter, dass sie in Deutschland lebte, und er hatte sporadischen Kontakt. Sporadisch, weil Erik kein Interesse auf ein Wiedersehen hatte. Nachdem Janine umgebracht wurde, brach der Nachtclub-Besitzer den Kontakt unverrichteter Dinge ab und es herrschte somit seit über 11 Jahren Funkstille. Wenn Kevin und sein Vater aufeinandertrafen gab es dagegen regelmäßig schlimmen Streit, weil Kevin ihm nie verziehen hatte, ihn sich selbst in der Kindheit zu überlassen. Ausserdem zahlte Erik Peters eine zeitlang Schutzgeld an einen kriminellen Erpresser, der den Laden als Druckmittel nutzte um Kevin zu erpressen. Dies führte zu dem letzten Streit zwischen Vater und Sohn.

    Ben seufzte missmutig. "Auf den habe ich ja Bock wie Zahnweh.", meinte er und erinnerte sich an den unsympathischen Mann, der gegenüber seinem eigenen Sohn dermaßen wenig Empathie und Interesse gezeigt hatte, als der in Schwierigkeiten steckte. Semir konnte seinen Freund verstehen. "Ich auch. Aber das ist trotzdem nicht schlecht. Er kennt uns und wird uns vielleicht ein paar Hinweise mehr geben."


    Der kleine Polizist wollte bereits nach dem Telefon greifen um mit dem Einsatzleiter Durchsuchung eine Razzia abzusprechen, doch Ben hielt ihn zurück. "Bis wir einen Termin zu einer Razzia bekommen, das wird wohl ein oder zwei Tage dauern. Was machen wir bis dahin?" "Wir machen unsere normale Arbeit.", sagte der kleine Polizist, der den Hörer bereits in der Hand hielt. "Das dauert doch alles viel zu lange.", beharrte Ben. Er hatte keine Lust zu warten, er hatte keine Lust diese Umwege zu gehen. Meine Güte, wann genau war es, als Semir seinen Mut verlor? Es kam Ben vor, als würde dieser Zustand schon ewig andauern. "Guck mal, wir kennen Erik doch. Wir müssen ja nicht direkt den Typ hier befragen, sondern können mal vorsichtig bei Erik Peters anklopfen. Er hat vielleicht schon ein paar Infos."

    Semir spürte wie in ihm schon wieder so etwas wie Unsicherheit wuchs. Am liebsten hätte er sich selbst vor den Kopf geschlagen. Es war nur eine Vernehmung. Eines gewöhnlichen, wenn auch leicht kriminellen Nachtclubbesitzers. Was sollte schon passieren? Langsam senkte sich der Hörer wieder zurück auf die Gabel. "Das war eben aber anders besprochen.", sagte er dennoch tadelnd, auch wenn sein Herz gerade dabei war, den ängstlichen Kopf zu besiegen. Ben grinste schelmisch. "Wann genau hab ich mich schon mal an Abmachungen gehalten?" Seinem Partner war nicht zu grinsen zu Mute.


    Ben versuchte sich in Ernsthaftigkeit und setzte sich auf die Tischkante bei Semir. Normalerweise war der erfahrene Polizist es, der den beiden jüngeren Kollegen mit Weisheiten ins Gewissen redete. Diesmal waren die Rollen vertauscht. "Semir, ich habe jetzt nicht gegen deine Idee angekämpft, dass du dich demnächst lieber hinter Aktenbergen verstecken willst, als mit mir die Welt zu retten...", begann er absichtlich ein wenig abwertend gegenüber Semirs zukünftigem Tätigkeitsbereich. "... und ich verstehe auch deine Beweggründe... in gewisser WEise. Aber ich hab wirklich keine Lust darauf, dass du dich verhälst wie ein Beamter, der zwar jeden Monat die Gefahrenzulage kassiert, im Dienst aber darauf achtet sich keinen Fingernagel abzubrechen." Es war Bens Spezialität ernsthafte Dinge irgendwie noch etwas flapsig zu verpacken... und statt dass Semir empört war, musste er kurz grinsen.

    "Wer weiß, mit wem ich zukünftig arbeiten muss und erdulden muss mit solchen Ideen. Also ich bitte dich... lass uns ganz normal arbeiten wie früher. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Lass uns jetzt zu Erik Peters fahren, und ihn nach seinem Türsteher befragen. Und danach waren wir zu Zolda selbst und holen noch eine Streife zur Verstärkung mit." Das letzte war ein Zugeständnis zu Semir, denn früher hatten sie sowas nicht gemacht. In Semir arbeitete es... und eigentlich hatte Ben Recht. Er verhielt sich unmöglich mit seiner Vorsicht und sein Partner hatte ihm wirklich keine Szene gemacht, als er von Semirs Plänen erfuhr.


    "Wenn du dich erinnerst ist es noch gar nicht solange her, als wir kurz davor waren in den kolumbianischen Dschungel zu fliegen um Kevin zu retten.", erinnerte er seinen älteren Freund. Das Unternehmen wurde abgesagt, weil vor allem Semirs Frau Bedenken hatte. "Es geht zwar jetzt nicht um einen Freund, aber immerhin um den Mord an einem Mann, der vielleicht starb weil er unter anderem uns geholfen hatte." Das saß und drang auch bis zu Semir, der daraufhin nickte. "Du hast Recht.", meinte er ein wenig kleinlaut, stand auf und nahm seine Jacke. "Lass uns zu Peters fahren."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Wohngebiet - 11:35 Uhr


    Dort, wo Chloe und Felix aus dem Bus ausstiegen, war es eine Gegend, von der der Junge als Kind immer geträumte hatte. Statt im Plattenbau in der Innenstadt zu wohnen, wo man selbst im fortgeschrittenen Kindesalter wenig Freiheiten genoß, weil unzählige Gefahren auf einen lauerten, so genoß man hier den kindlichen Freigeist. Der kleine Kölner Vorort strahlte ein Idylle aus, trotz des stürmisch kalten Wetters, dass die beiden Jugendlichen an der Bushaltestelle begrüßte. Die Häuser waren überwiegend alte Stadtvillen oder Bauernhäuser, in der ruhigen Nebenstraße paralell der Hauptstraße, drängten sich in den Erdgeschossen einige Geschäfte aneinander, die den Supermarkt ortsausgangs überflüssig machten. Metzgerei, Bäckerei, Florist, ein Elektroladen, und die jeweils die Wohnungen der Besitzer in den Obergeschossen. Der angrenzende Wald mit Forstwegen und Pferdekoppeln war im Sommer bestimmt wunderschön zum Toben für die Jüngeren, und zum Abenteuer erleben für die älteren Jugendlichen. Etwas, was Felix nie erlebt hat, weil er sich früh seiner Verantwortung gegenüber seiner Mutter bewusst wurde.

    Jetzt aber war er hier, und er ging neben diesem eigenartigen Mädchen her, das er heute morgen im Gymnasium kennen gelernt hatte. Es schien, als würden sie sich, obwohl sie nicht viel miteinander gesprochen haben, blind verstehen. Doch ein wenig skeptisch war Felix dennoch, denn das Mädchen war undurchschaubar. Sie machte scheinbar für ihn stets einen äußerlich anderen Eindruck, als es der Wahrheit entsprach. Als er dachte, sie zeige wenig Interesse für seine Geschichte im Bezug auf seine Schwester, überraschte sie ihn mit einer spontanen Durchsuchungsaktion im Sekräteriat um dort Klassenfotos mitgehen zu lassen - und das mit äusserstem Körpereinsatz.


    "Tut es weh?", fragte der Junge mit mitfühlender Stimme, denn es war ihm nicht unbemerkt geblieben, dass Chloe immer mal wieder sich an dem Verband zu schaffen machte, während sie im Bus saßen. Sie schüttelte aber nur den Kopf. Im Bus hatten sie fast gar nicht geredet, sie saßen nebeneinander und Chloe bot dem Jungen wortlos einen ihrer InEars an, denn er dankend annahm. Er war über die Musikauswahl nicht überrascht hinsichtlich ihres Auftretens und Stylings - sofort fühlte er sich bei den Klängen zu Ska-Punk und Gothic Metal wohl. Als er während der Fahrt immer mal wieder andere Mitfahrer beobachtete, stellte er fest wie das Mädchen neben ihm fast durchgängig aus dem Fenster blickte, und sich nicht rührte. Zu gerne hätte er ihre Gedanken gelesen. Sie wiederum war immer noch positiv ergriffen davon, dass Felix die Geduld aufbrachte, zu warten bis sie zurückkam, bevor er die Bilder ansah.

    Die beiden Jugendlichen steuerten nun direkt auf die Apotheke im Ort zu, und der Junge dachte sich sofort, dass Chloe hier wohnte. Aber hatte sie nicht gesagt, ihrem Vater gehört die Supermarktkette? Als Felix selbst noch zur Schule ging, hatte er eine zeitlang immer versucht zu erraten, in welchen Kreisen Mitschüler familiär verkehrten und er bediente sich oft den Klischees. Die aufgetakelten Hühner waren reiche Töchter, die Alternative-Mädels konnten in jede Schublade passen. Dann gab es natürlich auch die Art von Mitschülerin, die die Mobberschiene in Sachen Gewalt fuhren, die eigentlich typisch für Jungs waren. Und die Mauerblümchen. Schnell fand Felix heraus, dass er oftmals daneben lag.


    Chloe wollte er überhaupt nicht in ein Klischee pressen. Dass sie wohl aus gutem Hause kam, konnte er sich denken als er hörte, dass ihrem Vater die Supermarktkette gehörte, in der er gestern mittag einen Ladendiebstahl beging. Das Haus und die Wohngegend sprachen nicht unbedingt dafür, sie war zwar gehoben aber nicht luxuriös. "Meine Mutter führt diese Apotheke. Es war ihr Jugendtraum und vor einigen Jahren, als man auf mich nicht mehr ... aufpassen ... musste, hat Papa ihr zuliebe dieses Haus und die Apotheke gekauft.", erklärte Chloe, als sie die Tür aufdrückten und ein Klingeln erklang - das Zeichen dafür, dass Kundschaft den Laden betreten hatte. Eine Frau Ende Dreißíg, im Wollkleid und einer modisch ausgeflippten Haarpracht kam aus den hinteren Räumen an den Tresen. "Ach, du bist's Chloe. Deine Mutter ist noch unterwegs.", sagte sie ungefragt, als sie das bekannte Gesicht sah. Felix traf ein neugieriger Blick.

    Doch noch bevor die Angestellte ihrer Neugier Worte verlieh, kam die Schwarzhaarige ihr zuvor: "Das ist Felix, ein Schulfreund. Wir machen zusammen Hausaufgaben." Die Dame hinter dem Tresen schien über beide Ohren zu grinsen, als sie sich daran erinnerte, dass sich die Zeiten scheinbar nicht geändert hatten... auch vor 15 Jahren brachte man die Schulfreunde für "Hausaufgaben" mit nach Hause. Es hätte noch gefehlt, dass Chloe verlangte, nicht gestört zu werden. "Alles klar.", flötete sie unschuldig und Chloe verdrehte grinsend die Augen. "Du bist doof, Jo!", meinte sie und zog den, etwas verduzten Felix mit sich durch die Tür, die Geschäft und Wohnung verband.


    Beide gingen ins Obergeschoss und der Junge merkte, dass sich Chloes Vater den Luxus zumindest nach innen mitbrachte. Das Haus war scheinbar aufwendig renoviert worden und machte von innen den Eindruck einer kleinen, modernen Stadtvilla. Helle, freundliche Farben, moderne Ausstattung und teures Material an Türen und Böden. Felix schaute interessiert, doch Chloe war es wohl peinlich, denn sie verzichtete auf eine Hausbesichtigung und zog ihn direkt in ihr Refugiuum. Ein typisches Jugendzimmer, einige Bandposter blickten durch den Raum und Chloe schien nicht die ordentlichste zu sein. Das Bett war nicht gemacht, es lagen einige Kleidungsstücke herum und auf dem Schreibtisch, wo ihr Laptop stand, hätte Felix erst eine Einweisung gebraucht. An eine Wand neben dem Fenster hatte sie einen faustgroßen schwarzen Punkt mit Edding gemalt und daneben "Hole in another world" geschrieben. An ihrem Spiegel hingen einige Nietenarmbänder und eine Halskette aus Rasierklingen.

    Mit einigen schnellen Griffen hatte sie das Bett freigeräumt und sich darauf im Schneidersitz niedergelassen. "Na komm... raus mit den Fotos!", sagte sie eifrig und lächelnd. "Soll ich nicht die Schuhe..." "Ach was!", wiegelte sie Felixs Höflichkeit sofort ab. Er tat wie geheißen und hielt einen unbewussten Abstand zu dem Mädchen ein. "Willst du, dass ich mich nur mit einem Megaphon mit dir unterhalten kann? Komm her, ich beiße doch nicht!" Doch Felix war ihre Reaktion, als er sie an der Hand berührte, noch bewusst. Aber vielleicht war es doch der Schmerz gewesen, der ihre Hand wegzucken ließ.


    Auf Geheiß rückte er, ebenfalls im Schneidersitz an Chloe heran, öffnete den Rucksack und nahm die Klassenfotos heraus. Daneben lag er das Bild seiner Schwester. Jede Klassenstufe hatte vier Klassen, also waren es insgesamt zwölf Klassen, die die beiden Jugendlichen betrachteten mit jeweils ungefähr 25 Schüler und Schülerinnen. Das Verhältnis war jeweils fast ausgeglichen, und so dauerte es etwas, bis sie alle Gesichter genau betrachtet hatten. Bei zwei Mädchen hatte Felix sofort Herzklopfen, denn sie ähnelten seiner Schwester. Eine der beiden konnten sie durch einige Merkmale dann doch ausschließen, bei der zweiten schwankten sie. "Die Nase passt nicht ganz. Aber ansonsten sieht sie ihr schon sehr ähnlich." Sie war in der 9ten Klasse, was dafür sprach, dass Felixs Referenzbild etwas älter war. Auf der Rückseite standen die Namen der Schüler und Chloe kreiste den betreffenden Namen, Elisa Wilhelm, mit schwarzem Edding ein.

    "Ich werde morgen in der Schule mal nachfragen... ja... was soll ich fragen?", sagte Chloe nachdenklich und blickte Felix direkt an. "Naja... ich weiß halt nicht viel. Wenn sie nach einigen Monaten bereits aus Hamburg mit ihrem Vater weggegangen ist und der ihr nie die Wahrheit gesagt hat, weiß sie selbst vermutlich nichts. Und du kannst schlecht fragen, ob ihr Vater ein mieses Dreckschwein ist." Das war die einzige Info, die er von seiner drogenabhängigen Mutter bekam. Er hatte ihr sofort eine Nachricht mit dem Namen geschrieben, vielleicht würde sie sich erinnern. Doch er stellte enttäuscht fest, dass sie nicht mal seine Nachricht von vorgestern gelesen hatte, als er in Köln angekommen war. "Wir bekommen einfach ihre Adresse raus und fragen den Vater selbst.", sagte Chloe selbstbewusst.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Felix gab ihr in diesem Moment keine Antwort, denn er betrachtete das Bild seiner Schwester. Ihr makelloses Gesicht, die naturschwarzen Haare, die etwas scheu wirkenden Augen und ein fröhliches Lächeln. Einige der Strähnen hingen ihr im Gesicht und das Foto war ein wenig verwackelt, als wurde es auf die Schnelle geschossen. Es war sicher nicht ausdrücklich für Felixs Mutter gemacht worden, sondern entstand zufällig. "Felix?", fragte Chloe und stupste den Jungen ein wenig an, als sie merkte dass er in das Bild versunken war. "Ich frage mich ganz oft, was sie für ein Mensch ist... also... von ihrem Charakter her? Und projeziere das dann auf meine Mutter... wie sie war in ihrer Jugend.", sagte er nachdenklich und blickte ein wenig traurig. Die Hoffnung, durch das Klassenfoto schnell zum Erfolg zu kommen, war ein wenig gedämpft. "Warum stellst du es dir nicht einfach vor?", fragte Chloe und erntete einen fragenden Blick des Jungen. "Schau dir das Foto an. Eine Minute, ganz intensiv. Und dann schließt du die Augen und stellst dir deine Schwester vor, wenn sie vor dir stehen würde. Wie sie wäre. Fotos sind wie Brücken unserer Vorstellungskraft." Der Junge musste lächeln, Chloe steckte ihn einfach an damit. "Und das funktioniert?" "Wenn du genügend Fantasie hast ... ausserdem muss es ja nicht stimmen. Aber es befriedigt dein Verlangen es zu wissen." Sein Blick war scheinbar immer noch skeptisch und das junge Mädchen lachte kurz. Sie drehte sich nun im Ganzen zu ihm, fasste ihn an die Knie um auch ihn zu sich zu drehen, damit sie beide im Schneidersitz einandner gegenüber saßen. "Ich mache das jetzt mit dir.", sagte sie und blickte den Jungen direkt in die Augen. "Du musst ganz still sitzen bleiben. Wie auf einem Foto."


    Felix war es unangenehm, er mochte es nicht, angestarrt zu werden. Trotzdem hielt er dem Blick aus ihren hübschen dunkelblauen Augen, die wie zwei tiefe Seen wirkten, stand. Sie studierten einander, Felix blickte auf ihr Piercing in der Nase, ihre dünnen Lippen und all das, was dieses Gesicht unperfekt und trotzdem hübsch machte, sie blickte auf die Haarsträhne, die ihm über dem Auge mit dem Augenbrauen-Piercing hing, seine blaugrauen Augen und den etwas traurigen Ausdruck darin. Ein Ausdruck, der täuschte... denn Felix fühlte sich, obwohl er beobachtet wurde, wohl. Beide merkten nicht, dass Chloe für die Beobachtung die Minute längst überschritten hatte, als sie dann endlich die Augen schloß und ernst dreinblickte. Mit klopfenden Herzen beobachtete der Junge die Gesichtszüge von Chloe, die sich mit den Händen im Schneidersitz an ihren Füßen festhielt und leicht wippte.

    Es dauerte einige Momente, bis sich die ersten emotionalen Reaktionen zeigten - es war ein verhaltenes Lächeln, das breiter wurde. Es war, als würde sich ein innerer Film vor Chloes Augen abspielen mit Felix als Hauptrolle, die sie sich in der Fantasie erdachte. Eine Mischung aus dem erzähltem Wissen über seine Vergangenheit, seinem Aussehen und seiner Ausstrahlung. Nach einigen Momenten verschwand das Lachen und Chloe biss sich auf die Lippen, auf der sie kurz kaute, bevor sie die Augen wieder öffnete. Sie blickte in erwartungsvolle Augen, denn natürlich hoffte Felix, dass sie erzählen würde, was sie sich vorgestellt hatte... und was davon stimmte. Doch das Einzige, was Chloe mit einem Lächeln sagte war: "Ich bin echt froh, dass du hier bist..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!