IX

  • Fühlinger See - 19:00 Uhr



    Sein Kopf schmerzte nicht, eher der Nacken. Das beruhigte Ben insofern, dass er keine Gehirnerschütterung hatte und nicht durch einen Schlag auf den Kopf ohnmächtig war. Aber der Hals tat ihm weh, weswegen er den Kopf immer mal hin und her drehte, als er sich vom Boden wieder aufgerafft hatte. Jemand hatte die Hütte ganz schön auf links gedreht, nachdem er ihn ausgeschaltet hatte. "Was ein Scheisstag...", murmelte er missmutig und ging einige wacklige Schritte durch das Chaos. Scheinbar hatte der Typ nicht das gefunden, was er wollte, denn in wirklich allen Zimmern herrschte Chaos. Aber zuerst wollte er seinen Partner beruhigen, auch wenn sie vorhin im Streit auseinander gegangen waren. Er sah die vielen Anrufe in Abwesenheit und wählte mit seinem Smartphone Semirs Nummer.
    Es dauerte nur kurz, bis der kleine Polizist hektisch abnahm. "Ah, du lebst also noch.", war eine Mischung aus Vorwurf und Erleichterung, die Ben ins Ohr drang. "Gerade so..." "Was war denn los? Wo bist du? Warum gehst du nicht an dein Handy? Hast du geschmollt?", überfuhr Semir ihn mit Fragen und der großgewachsene Kommissar verdrehte die Augen. "Ja, weil ich ein kleines Kind bin." Er seufzte und hätte sich für den Ton schon wieder selbst ohrfeigen können. "Nein, ich hab nicht geschmollt. Ich hab einen Tipp bekommen, wo Christian sein könnte... und scheinbar war der Tipp nicht verkehrt."



    Während er redete, tapste er über das Chaos durch die Räume und versuchte, selbst noch etwas zu finden, was dem Typ vielleicht entgangen war. "Hast du ihn gefunden?" "Das leider nicht. Aber scheinbar ist hier etwas, was begehrt ist." Er konnte Semir am Telefon seufzen hören. "Du sprichst in Rätseln." "Ich bin in einer Hütte, die Christians Vater gehört. Kurz nachdem ich hier an kam, wurde ich niedergeschlagen. Und jetzt ist die ganze Bude auf links gedreht." "Wie bitte?", fragte Bens Partner ungläubig. "Du hast schon richtig gehört. Mir muss jemand gefolgt sein. Scheinbar sind wir nicht die einzigen, die Christian suchen." "Das würde zumindest bedeuten, dass die Angreifer heute Morgen keinen dritten oder vierten Mann hatten, die Christian aufgegriffen haben." "Ja... falls es die Asiaten waren."
    Semir dachte nach. "Wer hat sonst noch Interesse an deinem Cousin?" Er konnte hören, dass sein Partner offenbar ebenfalls noch auf die Suche nach Hinweisen ging. "Du, keine Ahnung. Ich blick da sowieso noch nicht ganz durch.", meinte Ben missmutig, aber immerhin wieder in einer Art der Zusammenarbeit. Keiner der beiden brauchte sich zu entschuldigen nach dem Streit am Nachmittag, Ben wusste dass er sich blöd benommen hatte, und die Tatsache dass er jetzt wieder normal auf Semir reagierte, nahm dieser als stumme Entschuldigung an. Sie funktionierten, wie ein altes Ehepaar.



    "Ich informier die Spurensicherung.", meinte Semir dann, doch Ben schüttelte den Kopf. "Ich glaub nicht, dass das was bringt. So professionell der mich ausgeschaltet hat, wird der hier keine Spuren hinterlassen haben... wart mal grad." Bens Hände hatten zwischen den Kissen der kleinen Couch etwas gefunden. "Ich glaube, ich hab hier etwas, was der Typ übersehen hat." Er zog das Blatt mit der Klarsichtfolie hervor und warf einen Blick darauf. "Sieht aus wie ein Gebäudeplan." "Von welchem Gebäude?", kam sofort die Frage durchs Telefon, doch Ben konnte darauf keine Antwort geben. "Keine Ahnung. Es steht nix dabei. Aber das bekommt Hartmut sicher raus..." Der junge Polizist konnte sich nicht erklären, warum Christian hier einen Gebäudeplan verstecken sollte.
    "Soll ich vorbeikommen?", fragte Bens Partner dann, und seine Stimme klang fürsorglich. "Nein, kein Problem. Ich fahr direkt nach Hause. Ich glaub nicht, dass wir heute noch viel rausbekommen. Morgen früh fahren wir direkt zu Hartmut, ok?" "Alles klar. Dann erhol dich mal von dem Schrecken.", sagte Semir und die beiden beendeten das Gespräch. Ben sah sich in der Hütte noch etwas um, dann fotografierte er, wie Lucas vorher, den Plan und sendete ihn direkt an Hartmut, mit der Bitte heraus zu bekommen, von welchem Gebäude dieser Plan sei. Danach fuhr er, mit 1000ten Gedanken nach Hause.




    Jennys Wohnung - 22:30 Uhr



    Jenny schreckte hoch... für einen Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Umgebung, der Ton des Fernsehers drang zu ihr und sie spürte, dass sie auf ihrer Couch eingeschlafen war. Aber warum hatte sie sich so erschreckt? Hatte sie geträumt? Einer der zahllosen ruhelosen Träume, die sie in den letzten Wochen immer wieder heimsuchte? War sie überhaupt wach? Sie hatte sich einen Trick angewöhnt und zwickte sich in den Oberarm... ja, sie war wach. So oft, wo sie in letzter Zeit dachte, sie sei aufgewacht... dabei war sie gerade nur von einer in die andere Traumebene gewechselt. Das gemeinste, was einem das Hirn vorgaukeln konnte. 'Vielleicht sollte ich einfach ins Bett gehen...' dachte sie sich und schauderte.
    Die junge Polizistin hatte vor nicht vielen Dingen Angst, als sie zur Polizei gekommen war. Angst war ein schlechter Begleiter im Dienst, aber auch im Privatleben war sie unbeschwert. Die letzten 12 Monate hatten das geändert. Sie hatte Liebe erfahren, Unsicherheit, Verlust. Kevin, ihr Kind, und nochmal Kevin. Sie hatte erfahren, was nackte, pure Angst bedeutete. Als Mark Schneider über sie herfiel, als sie von Carsten entführt wurde und als sie in Kevins eiskalte Augen blickte, der ohne Gedächtnis eine Waffe auf sie richtete. Das Schlimmste aber war, dass sie Kevin vor einigen Wochen verlor. Seitdem hatte sie Angst... Angst vor Alpträumen, Angst vor der Dunkelheit. Sie hielt Versprechen und ließ es nicht zu, dass ihre Trauer und ihre Gedanken an Kevin in Hass umschlugen. Im Hellen verwandelte sie die Gedanken in Energie in ihren Job, was ihr immer besser gelang, auch wenn ihre Unbeschwertheit fehlte. Aber im Dunkeln wandelten sich die Gedanken in Angst...



    Sie gingen müde ins Badezimmer, zog sich aus und stellte die Dusche an. Nach einer Minute war das Wasser warm, das aus dem Duschkopf strömte und Jenny stellte sich unter den Wasserfall. Tropfen perlten von ihrer Haut, sie schloß die Augen und genoß für einen Moment diese Wohltat, als sie plötzlich in mitten des rauschenden Wassers ein Geräusch vernahm. Es klang, wie ein Klopfen und sofort riss Jenny die Augen. Sie hörte angestrengt, da war es wieder, und sofort stellte die junge Polizistin das Wasser ab. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie im stillen Badezimmer stand und lauschte, ob es nochmal klopfte, nur das Tropfen des Wasserhahns und das Gluckern des Abflusses war zu hören. Und ihr Herzschlag zu spüren, sie schien dabei den Atem anzuhalten. Doch nichts tat sich mehr, bis sie zum Wasserhahn griff. Noch bevor sie ihn erneut aufdrehte, klopfte es erneut. Es kam von weit weg, aber nicht aus Richtung der Wohnungstür. Es klang, als klopfe jemand gegen Blech, eine Autotür oder die Motorhaube... nicht gegen die Wohnungstür aus Holz oder ein Fensterglas. Es klopfte immer zweimal... im gleichen Abstand, wie die Schüsse auf Kevin fielen. Jenny nahm ein großes Handtuch und wickelte sich darin ein, bevor sie langsam mit nassen Füßen die Badezimmertür öffnete. Die Wohnung lag dunkel und still vor ihr, sofort knipste sie das Licht überall an um alle bösen Geister zu vertreiben. "Ganz ruhig, Jenny. Du bildest dir das schon wieder ein. Du bist einfach nur müde.", sagte sie zu sich mit zitternder Stimme. Sie ging zurück ins Badezimmer und sah in den Spiegel. So müde sah sie eigentlich nicht aus... ihre Augen waren groß vor Schreck. Aber ihr Atem beruhigte sich langsam wieder. Sie hatte das Handtuck fest um sich gebunden, nahm ein zweites Handtuch um die Haare abzutrocknen. Dabei lehnte sie sich ein wenig nach vorne und begann die langen Haare trocken zu rubbeln.



    Als sie sich wieder aufrichtete und in den Spiegel sah, erstarrte sie. Hinter ihr stand Kevin, der sie mit seinen blauen Augen, in seinem weißen Shirt und seinem melanchonischen, manchmal traurig wirkenden Blick ansah. "Hilf mir.", konnte sie seine monotone Stimme hören. Blitzschnell drehte sie sich vom Spiegel weg und starrte auf die offene Tür, wo ihr verstorbener Freund gerade noch im Spiegel zu sehen war, doch da war niemand. Nur einmal konnte sie noch das Klopfen hören, als Jenny Tränen in die Augen stiegen und sie sich am Waschbecken festhalten musste, weil ihr die Beine versagen wollten...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 8:00 Uhr



    Ben hatte verdammt schlecht geschlafen und war trotzdem so pünktlich, dass Semir erstaunt die Augenbrauen hob, als er durch die Glasfront seines Büros sah, wie der Mercedes mit Schwung auf den Parkplatz fuhr. Er machte sich Gedanken um seinen Cousin. Sein Onkel hatte ihn am Abend nochmal mit sorgenvoller Miene angerufen. "Irgendwas ist da passiert. Das ist nicht seine Art.", hatte er immer wieder gesagt, und Ben hatte größte Mühe Christians Vater halbwegs zu beruhigen... Wohl im Wissen, dass das eh nichts bringen würde. Manfred Jäger kam eben nicht aus seiner Haut heraus, und die war nun mal die Haut eines sorgenden Vaters, dessen Kind spurlos verschwunden war, nachdem es mit Waffengewalt angegriffen wurde. Und so trugen Ben keine wachen Beine ins Büro, sondern vor allem die Neugier, was Hartmut aus dem Gebäudeplan herausgefunden hatte.
    Als er die Dienststelle betrat, sah er wie Jenny sich gerade ebenfalls hinter ihren Schreibtisch in dem zweiten Kommissars-Büro setzte, das sie seit Kevins Tod immer noch alleine beherbergte... bis auf die paar Tage, als Kevins eigentlicher Nachfolger da war, und von Ben sodenn wieder "vertrieben" wurde. Auch sie sah müde und geschafft aus, obwohl sie sich im Dienst wacker schlug. Sie brachte auch sofort ein kurzes Lächeln über die Lippen, als sie Ben sah und ihm als "Guten Morgen" - Gruß zunickte. Danach ging der Polizist mit der Wuschelfrisur in Richtung seines Büros.



    Dort wurde er mit einer Überraschung konfrontiert, denn sein Stuhl war besetzt. "Was machen sie denn hier?", blaffte er überrascht und alle guten Vorsätze, heute mal nicht besonders unfreundlich zu sein, waren über den Haufen geworfen. Lucas sah mit arggewöhnischem Blick auf und sagte erstmal nichts, das übernahm Semir, der innerlich schon wieder den Kopf schüttelte. "Guten Morgen erstmal...", war die erste spitze Bemerkung auf Bens fehlende Begrüßung. "Jaja, guten Morgen.", wiederholte dieser genervt und fühlte sich sofort wieder, wie ein kleines Kind, das gemaßregelt wurde. "Und zum Zweiten: Lucas wird uns offiziell unterstützen, da seine Ermittlungen gegen die asiatische Mafia offenbar mit dem Verschwinden von deinem Cousin zu tun haben." Als Semir Bens misstrauischen Blick auf Lucas bemerkte, verbesserte er sich sofort: "Oder besser gesagt: Wir sollen Lucas unterstützen... denn eigentlich hat der Fall mit uns nichts zu tun. Kannst mir später danken, dass ich das bei der Chefin durchgedrückt habe, und wir nun hochoffiziell nach deinem Cousin suchen dürfen." Semir sah seinen Partner beinahe herausfordernd an. Er erwartete kein überschwängliches Dankeschön oder ähnliches, er erwartete dass sein bester Freund endlich wieder wie ein erwachsener Polizist verhielt und nicht wie ein pubertierender Jugendlicher, auch wenn er natürlich immer die besonderen Umstände im Bezug auf Kevin im Hinterkopf hatte. "Schön schön.", meinte Ben halbwegs und erzwungen versöhnlich. "... trotzdem ist das mein Stuhl." Dabei zeigte er mit dem Finger auf den Platz, wo Lucas saß.



    Der wiederrum grinste kurz, stand mit erhobenen Händen auf und trat zwei Schritte zurück um Ben seinen Platz zu überlassen. Der setzte sich, ein kurzes "Danke" murmelnd, dann auch sofort hin. "Hat Hartmut sich schon gemeldet?" "Noch nicht.", antwortete Semir und blickte kurz zu Lucas. "Aber Lucas hat vielleicht noch ein paar interessante Infos." Der wiederrum hatte sich mit dem Gesäß an die niedrige Fensterbank gelehnt und die Arme verschränkt. Die Haltung erinnerte Ben, als er sich umsah, für einen Moment ganz intensiv an Kevin, der oft bei Besprechungen stumm im Hintergrund genauso dort stand. Aber Lucas redete jetzt: "Ich habe gestern abend noch mit meinen Kollegen in den Staaten telefoniert. Die Yakuzi sind in den USA ziemlich präsent, und unsere Aufgabe ist es, sie in gewisser Weise unter Kontrolle zu haben. Wir haben es hier mit einer Art Paralellgesellschaft zu tun, die die hiesigen Regeln nicht akzeptiert. Ähnlich...", er sah kurz zu Semir, von dem er keine Nationalität wusste, aber vermutlich aufgrund seines Namens kurz Skrupel hegte. "Entschuldigung, wenn ich es so offen sage, ähnlich wie es in Deutschland Probleme mit arabischen Clans gibt." Semir zuckte nur mit den Schultern und sagte: "Ich kann nichts für den schlechten Teil meiner Landsleute. Alles gut."



    Lucas nickte kurz, und fuhr dann fort: "Jedenfalls ist eine ganze Ermittlungsgruppe dabei, verschiedene japanische Großfamilien in erster Linie zu beschatten und Informationen zu sammeln. Ich habe nachhören lassen, ob es gewisse Bestrebungen gibt, die in das Arbeitsumfeld ihres Cousins fallen. Umwelttechnik, Physik und ähnliches." Er nickte Semir zu, der über seinen Rechner einige Bilder aufrief, die ihm Lucas auf einem Stick gegeben hatte... es war das perfekte Ablenkungsmanöver für ihn, um die Ermittlungen voran zu treiben, ohne die wahren Gründe zu nennen. Zuerst leuchtete ein Bild auf, das aussah wie das Logo einer Firma. Ein Blitz, japanische Schriftzeichen in Grün und ein Baum. "Das ist das Logo der Firma National Engineering. Diese Firma wurde von diesem Herrn." Das Bild wechselte zu einigen Fotos eines Japaners, die offenbar heimlich geschossen worden sind. "...vor einigen Wochen gegründet. Xiao ist eins der Oberhäupter der Familie, die wir vorrangig beschatten, und die Firma soll demnächst ein Photo-Voltaik und Solarpanel auf den Markt bringen, welches den herkömmlichen Panels in Sachen Wirkungsgrad überlegen sein soll. Eine Weltneuheit... eine Gelddruckmaschine. Gesponsort wird die angeblicke Entwicklung von diesem Herrn..." Erneut wechselte das Bild auf einen Mann im Anzug, grauem Spitzbart und Halbglatze, ebenfalls ein Japaner. "Sein Name ist Ho Lee. Ebenfalls unter unserer Beobachtung. Als wir von dieser Firmengründung erfuhren, hat uns das erstmal nicht sonderlich interessiert, weil es nicht wirklich in die Geschäftsfelder passte."



    Der Mann hatte Semir diese Story bereits aufgetischt, der wiederum keinerlei Grund sah, Lucas die ganze Sache nicht zu glauben. "Dass dein Cousin, als ziemlich erfolgreicher Entwickler im Bereich Umwelt- und grüne Energie, nun ausgerechnet von Mitgliedern der japanischen Yakuza angegriffen wird, lässt die Sache aber nun doch interessant erscheinen.", meinte Semir, der sich mit Lucas bereits ausgetauscht hatte. Ben hörte aufmerksam zu. "Natürlich ist das eher eine Spekulation, aber vermutlich geht es hier um Industrie-Spionage, oder besser gesagt: Diebstahl. Wir gehen davon aus, dass dein Cousin... ich darf doch auch "du" sagen, oder?", unterbrach Lucas für einen Moment, und Ben nickte nur. "Dass dein Cousin wichtige Daten, Unterlagen, Simulationsergebnisse oder was weiß ich auf diesem Stick hatte. Und die Yakuza diese Informationen brauchen, um in Amerika auf diese Technik Patente anzumelden, und ordentlich Geld zu verdienen. Durch das Sponsoring von Ho Lee ist das dazu noch eine perfekte Geldwaschmaschine für allerlei illegale Einkünfte." Ben nickte anerkennend... die Theorie klang schlüssig, und zumindest hatte man jetzt ein wenig Grundlage. "Was uns aber immer noch nicht hilft zu wissen, wo Christian ist." "Das ist leider richtig...", meinte Semir, fügte aber an: "Aufgrund der Tatsache, dass jemand seine Hütte gestern abend verwüstet hat, kann man aber davon ausgehen, dass er nicht in der Gewalt der Japaner ist." Allein das machte Ben Mut. Das Geräusch seines Mail-Postfaches ließ ihn aufblicken und mit wenigen Klicks öffnete er die Mail, die direkt aus der KTU kam. "Hartmut weiß, von welchem Gebäude der Plan ist..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • Chemisches Labor - 10:00 Uhr



    Die beiden Polizisten, sowie ihre Begleitung Lucas kamen sich für einen Moment vor wie in einem Hochsicherheitstrakt... und genau das war das chemische Forschungslabor im Industriegebiet nahe Köln auch. Kamerasysteme, mehrfache Sicherheitsschleusen und jede Menge Security-Personal waren zugegen, damit niemand Unbefugtes in diese Einrichtung hineinkam. Hartmut war recht zügig mit der Analyse des Plans, weil manche Räume typisch für ein Labor angeordnet waren, die er aus seiner Studienzeit kannte. Seine zweite Vermutung war dann auch schon ein Volltreffer. Forschung passte, Naturwissenschaft auch, aber Chemie? Was hatte Chemie den mit angeblichen Photovoltaik-Anlagen zu tun. "Zumindest Solaranlagen haben zur Kühlung eine sogenannte Solarflüssigkeit. Die besteht zu 40% aus Polypropylenglykol, und das muss ja irgendwo hergestellt werden, und wird immer wieder verbessert.", erklärte Hartmut den drei erstaunten Zuhörer, bevor sie sich auf den Weg gemacht hatten.
    Mit dem grauen Mercedes durchfuhren sie die Schleuse und konnten auf dem Werksgelände parken. Ein grauhaariger Mann in Jacket und Jeans empfing sie an einer Glastür und schüttelte allen dreien die Hand. "Karl Bretten, ich bin der Personalchef unserer Firma. Unser Geschäftsführer ist zur Zeit nicht im Hause, was kann ich denn für sie tun?" "Wir haben im Zuge eines Vermisstenfalls, sowie beim Verdacht auf Diebstahl geistigen Eigentums bei dem Entführungsopfer den Gebäudeplan ihres Labors gefunden. Dazu hätten wir ein paar Fragen an sie.", sagte Semir nachdem er sich ausgewiesen hatte. Bretten schaute kurz zwischen den drei Männern hin und her und bat sie dann herein.



    In seinem Büro bat er die Männer, sich zu setzen. Das Büro grenzte sich zum sonstigen, schlichten modernen Bau ein wenig ab. Viele Bilder, helle Holzmöbel und ein super moderner Flatscreen an der Wand ließen diesen Raum futuristisch wirken. "Mein lieber Mann... und das brauchen sie alles als Personalchef?", fragte Semir anerkennend. "Wie bitte? Ach so, nein... das Büro gehörte vorher einem unserer Entwicklungsleiter. Allerdings sind einige umgezogen, und ich kam hier rein.", antwortete Bretten und setzte sich ebenfalls. "Wie kann ich ihnen denn weiterhelfen?" "Arbeitet ein gewisser Christian Jäger bei ihnen?" Ben bekam bei dem Namen sofort ein Stechen in den Magen. Egal, wie wenig er mit seinem Cousin zu tun hatte, er machte sich immer noch Sorgen um ihn. "Einen Moment..."
    Karl Brettner ließ seinen Finger über die Tastatur fliegen, als er den Namen in die Datenbank eingab. "Nein... ist nicht bei uns aufgeführt." "Hab ich dir ja gesagt.", raunte Ben in Richtung seines Partners, schließlich hatte Christian ihm selbst erzählt, dass er in einer Firma in Amerika angestellt war. "Können sie sich erklären, warum er einen Gebäudeplan ihres Hauses aufbewahren sollte? Noch dazu gut versteckt?", fragte Lucas, der hinter den beiden Polizisten stand, weil sonst keine Sitzmöglichkeit mehr vorhanden war.



    Bretten schüttelte den Kopf. "Nicht wirklich. Also, wir haben zwar einige hochinteressante Forschungen zur Zeit am Laufen, aber darüber ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt." "Industriespionage?", fragte Semir konkret. Der Personalchef dachte nach. "Darüber kann ich ihnen eher weniger sagen. Aber selbst wenn... sie haben selbst gesehen, wie gut gesichert das Gebäude hier ist." "Herr Bretten, wir haben schon so manch vermeintlich sicheres Gebäude kennengelernt in unserer Karriere.", sagte der kleine Kommissar ein wenig schnippisch.
    "Mein Cousin hat scheinbar an Solar bzw Photovoltaik-Technik gearbeitet. Entwickeln sie hier etwas in dem Bereich?", fragte Ben dann und lehnte sich bei der Frage ein wenig nach vorne, so als wolle er es dem Personalchef direkt sagen, ohne dass es jemand anders hört. Doch dafür sprach er eindeutig zu laut. Lucas hielt sich schweigend im Hintergrund und sog jede Antwort in sich auf. "Ich bin nicht über jeden einzelnen Arbeitsbereich informiert.", meinte der grauhaarige Mann "... aber von Photovoltaik oder Solartechnik wüsste ich zur Zeit nichts." "Irgendwas anders im Bereich von erneuerbaren Energien?" Wieder ein kurzes Nachdenken, wieder ein verneinendes Kopfschütteln. Gedankenverloren sah Ben auf das Bild mit dem Gebäudeplan auf seinem Handy, als ihm etwas auffiel.



    "Sagen sie... schauen sie mal. Der Raum dort oben. Die Linien sind dicker gezeichnet als bei allen anderen Räumen.", sagte er plötzlich hastig und zeigte Bretten das Bild. Semir stand ein wenig vom Stuhl auf um selbst auch nochmal einen Blick darauf zu werfen. "Das kann auch ein unsauberer Druck sein, oder?", meinte er nachdenklich. "Hmm... ich weiß nicht. Warten sie mal." Bretten klickte wieder mit seiner Maus und konnte im Archiv den Gebäudeplan aus der Bauphase aufrufen. Die Datis am Rande des Plans stimmten überein. Auf dem Bildschirm sah man jedes Detail viel genauer. Lucas kniff ein wenig die Augen zusammen. "Also, hier sieht man die dickeren Linien nicht.", meinte Bretten und Ben sah nochmal genau auf sein Handybild. "Das ist kein unsauberer Druck. Die Linie ist überall gleich dick."
    "Was ist das für ein Raum?" "Das ist eins unserer Testlabore. Kein besonderes eigentlich.", meinte der Personalchef. "Können wir uns dort mal umsehen?" "Hmm... da müsste ich mal nachfragen, ob...", der Mann wurde sofort von einem energischen und ungeduldig wirkenden Ben unterbrochen. "Herr Bretten, es geht hier vielleicht um ein Menschenleben. Je eher wir Informationen bekommen, was hinter der ganzen Sache steckt, umso eher finden wir Herr Jäger." Semir war froh, dass Ben sich unter Kontrolle hatte, sein Ton war bestimmt, aber sachlich ohne Anzeichen von Kontrollverlust. "Na schön, kommen sie mit."



    Die kleine Gruppe verließ das Büro des Personalchefs und wanderte durch verschiedene Flure. Semir hatte die Schweigsamkeit von Lucas bemerkt, und irgendwie erinnerte es ihn an Kevin, der in Verhören oder Vernehmungen ebenfalls oft sehr ruhig wirkte, beinahe desinteressiert, bevor er dann ein oder zwei Fragen stellte, die plötzlich neue Türen öffnete... als bräuchte er so lange, um genau die richtigen Fragen zu stellen, während Ben und Semir das Übliche abfrühstückten. Wie es bei Lucas nun aussah, konnte der kleine Kommissar natürlich nicht sagen, aber er hatte eine Vermutung. Unterwegs ging er ein Stück neben dem breit gebauten Mann. "Wenn dir irgendwas komisch vorkommt, oder Fragen auftauchen... ich meine, du bist ja selbst vom Fach... grätsch uns ruhig dazwischen." Er dachte, dass der "Fremde" in dem Bunde vielleicht ein wenig Scheu davor hatte, sich einzumischen.
    Doch Lucas schüttelte den Kopf. "Keine Panik, ich bekomme dann schon meinen Mund auf.", sagte er dann ohne erkennbare Emotion in der Stimme. Er wirkte konzentriert und fokussiert, ein schwer zu durchschauender Mann, fand Semir. Unangenehm undurchschaubar, nicht wirklich geheimnisvoll wie es Kevin war. Eher verschlagen... aber der Gedanke war unfair, dachte Semir für sich. "Alles klar. Hast du eigentlich bei der normalen Polizei angefangen, bevor du zum CIA gegangen bist?", fragte er dann um noch ein wenig Hintergrundwissen zu bekommen, mit wem sie es eigentlich zu tun hatten. Freundschaftlicher Smalltalk, nannte er das gern, doch ausser einem kurzen "Nein." ohne den Alternativweg zu erzählen machte Lucas Blake klar, dass er an Smalltalk nicht interessiert war...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

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    Wie sie.


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  • Chemisches Labor - 10:20 Uhr



    Als die kleine Gruppe an Männern den Verwaltungskomplex verließen und in den Forschungskomplex überwechselten, verwandelten sich die Farben um sie herum. Die Wände wurden strahlend weiß, die Neonröhren über ihnen spendeten zusätzlich gleißendes Licht. Semir kniff ein wenig die Augen zusammen und Ben merkte an, dass er seine Sonnenbrille im Auto hat liegen lassen. "Für die Versuche in den Laboren brauchen wir teilweise das helle Licht.", sagte der Personalchef Bretten, der Bens Spruch sofort richtig deutete. Am Fahrstuhl musste Bretten sich anhand eines Fingerabdrucks identifizieren, und dem Polizisten mit dem Wuschelkopf wurde mulmig. "Gibt es hier kein Treppenhaus? Ich brauche etwas Bewegung." Semir sah ihn von der Seite an und zog ihn am Ärmel. "Na komm. Konfrontationstherapie!" "Es ist nur ein Stockwerk, Herr Jäger.", lächelte Bretten, während Lucas stumm, ohne ein Wort in den Fahrstuhl ging.
    Bens Beine wurden zu Pudding und seine Schuhsohlen waren wie festgenagelt. Es fühlte sich an, als würde er durch flüssigen Teer waten, der nicht nur zähflüssig war, sondern auch unangenehm heiß, so sehr kroch die Hitze von seinen Schuhen die Beine hoch bis in seinen Kopf. Lucas etwas genervter Gesichtsausdruck in diesem Moment gab den Ausschlag, dass er sich vor dem, nach aussen hin furchtlosen CIA-Beamten keine Blöße geben wollte, und letztendlich in den Aufzug stieg. Das Schild, dass er Baujahr 2014 war, beruhigte den jungen Polizisten. Trotzdem war er heilfroh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, als er ausstieg.



    Bretten steuerte auf eine automatische Schleusentür zu, die luftdicht verriegeln konnte, im Katastrophenfall. "Schließlich arbeiten wir hier teilweise mit gefährlichen Chemikalien.", erläuterte er. Das Zischgeräusch hatte etwas unheimliches, etwas futuristisches. Ein Mann im weißen Kittel, mit blonden gescheitelten Haaren, die ihm teilweise im Gesicht hingen, kam ihnen entgegen und legte gerade eine Schutzbrille ab. "Hallo Herr Bretten. Machen sie einen Rundgang?", fragte er lächelnd und schüttelte Brettens Hand. "Nein. Die Herren sind von der Polizei." Der Blonde nickte und stellte sich als Kai Schubert vor, der die Leitung dieses Laborbereiches hatte. Bretten erläuterte in kurzen Sätzen, warum die drei Herren von der Autobahnpolizei hier waren, Lucas schloß er dabei wie selbstverständlich mit ein.
    "Können sie sich erklären, warum dieser Bereich besonders markiert wurde?" Kai Schubert warf einen Blick auf den Plan und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Hmm... das ist exakt mein Bereich.", sagte er murmelnd und strich sich mit den Fingern über sein perfekt rasiertes Kinn. "Ist ihr Bereich besonders?" "Besonders gefährlich.", war die kurze Antwort und er grinste. "Wir forschen hier an chemischen Prozessen, im Sinne der Wissenschaft, mit Stoffen, die besser nicht in falsche Hände geraten. Stichwort: Chemische Waffen." Das klang unheilvoll, empfand Semir sofort. "Gefährlicher ist eigentlich nur unser Labor für Krankheitserreger-Forschungen.", meinte der Wissenschaftler lachend.



    "Ist das erste, was ihnen zu ihren Forschungen einfällt, chemische Waffen?", fragte Semir ein wenig misstrauisch und sah sich im Raum um. Wieder lachte Schubert. "Natürlich nicht. In erster Linie forschen wir am Verhalten verschiedener gefährlicher Stoffe. Wie wirken sie, was können sie, und wie können wir sie zum Wohle der Menschheit noch einsetzen. Das hat man zum Beispiel mit dem Stoff Chlor bereits vor Jahrzehnten gemacht. Sie wissen sicherlich, dass man es als Teil von schmutzigen Waffen einsetzen kann, genauso aber auch zum Reinigen ihres Pools zu Hause.", erklärte er sich, und die drei Männer hörten zu. "Und wenn die Polizei einen Gebäudeplan bringt, in dem unser Bereich der chemischen Prozesse markiert ist, dann glaube ich nicht, dass jemand Chlortabletten für den Pool benötigt... habe ich Recht?"
    "Teilweise. In der Tat vermuten wir ein Verbrechen, allerdings bisher eher weniger im Bereich von chemischen Waffen.", sagte Semir und sein Blick landete für einen Moment bei Lucas, der scheinbar interessiert zuhörte. Er bemerkte allerdings den Blick des kleinen Polizisten... er spürte Misstrauen. "Ich kann ihnen allerdings auch versichern, dass wir in unserer Firma die allerhöchsten Sicherheitsstandards haben. Hier würde kein Stoff den Raum verlassen, ohne dass es auffällt, da können sie sicher sein.", erklärte der blonde Mann, und Personalchef Bretten nickte eifrig.



    "Und ein Stick?", fragte Ben nun und sah den Wissenschaftler fest an. "Wie meinen sie das?" "Na, ein USB-Stick. Der könnte doch unauffällig hier raus." "Eigentlich werden wir alle vom Sicherheitsdienst bei Betreten und Verlassen des Bereiches kontrolliert. Wir dürfen keine Daten aus dem Gebäude mitnehmen. Das meiste liegt sowieso auf unserem Zentral-Server und die Daten sind verschlüsselt. Sie können nur mit einem bestimmten Softwareschlüssel entschlüsselt werden, und der ist nur in unserem System verfügbar.", folgte die nächste Erklärung, um danach noch eine Frage anzubringen. "Aber wieso kommen sie auf einen Stick?" "Der Mann, auf den ein Attentat verübt wurde, wurde nach einem Stick gefragt. Kennen sie einen Christian Jäger?" Wieder legten sich Denkfalten auf die Stirn des Mannes, den Semir auf Ende 30 schätzte.
    "Nein, ich glaube nicht. Ich hab in meiner Studienzeit viele Leute kennengelernt, Christian Jäger ist ja ein Allerweltsname. Aber jetzt auf Anhieb fällt mir nichts ein." "Fällt ihnen zur amerikanischen Firma PEC etwas ein?" "Ja, die sind marktführend in der Entwicklung von regenerativer Energie. In manchen Projekten arbeiten wir mit ihnen zusammen." Jetzt wurden die drei Männer hellhörig... zwei vor Überraschung, der Dritte weil er diese Information schon hatte, und die beiden Polizisten scheinbar auch ohne versteckte Hinweise von ihm, ohne zuviel Wissen preiszugeben, auf die richtige Spur kamen. Ben wollte gerade Luft holen, als Semir ihn mit einem kurzen "Hand auflegen" an der Schulter stoppte. "Danke Herr Schubert. Sie haben uns sehr geholfen." Der Mann lächelte und nickte freundlich, als die vier Männer den Laborbereich wieder verließen.



    Herr Bretten brachte Ben, Lucas und Semir zum Ausgang, wo man sich händeschüttelnd verabschiedete. Ben biss sich auf die Zunge, es musste einen Grund haben, warum Semir die Befragung so ruckartig abbrach. Lucas fluchte innerlich, denn er hatte sich Informationen zu Christians Aufenthaltsort erhofft... oder zumindest eine neue Spur. Warum das Labor markiert war, wussten sie nun immer noch nicht. Semir startete den Wagen und man rollte langsam auf den Ausgang zu, jetzt fand auch Ben die Stimme wieder. "Also, ich hätte ja noch die ein oder andere Frage gehabt...", meinte er schnippisch und drehte sich zu Lucas um "...aber Papa hat mir den Mund mal wieder verboten." "Hör auf zu meckern.", meinte Semir und blickte kurz in den Rückspiegel, wo Lucas aus dem Fenster sah.
    "Ich weiß, was du den Typ noch fragen wolltest. Nenn mich paranoid oder nicht, aber ich traue diesem Schubert nicht. Und deswegen wollte ich ihm keine Veranlassung geben, auf ihren Systemen etwas zu löschen, was wir noch brauchen." Ben blickte Semir überrascht an. "Was meinst du?" "Ich meine, dass wir uns dringend einen staatsanwaltlichen Beschluss nehmen, um alle relevanten Akten zu Projekten, die die PEC zusammen mit diesem Labor betrieben haben, oder noch betreiben, beschlagnahmt werden. Wenn wir danach jetzt gefragt hätten, hätte dieser Schubert freundlich genickt, und uns nur gegeben, was eventuell ungefährlich für ihn ist. Bei der Durchsuchung sind sie unvorbereitet, und Hartmut wird den Leuten dort auf die Finger gucken. Zur Not beschlagnahmen wir alles, was da ist."



    Ben nickte anerkennend, Semir hatte bereits über zwei Ecken weitergedacht. Er hätte tatsächlich Schubert sofort nach gemeinsamen Projekten gefragt. "Und wenn er jetzt bereits misstrauisch wird?", fragte Lucas, nun ernsthaft interessiert, den Semirs Sicherheitsvorkehrrung imponierte auch ihm. "Dann ist es halt so... wir konnten schließlich nicht als Putzkolonne nach den Dingen fragen, sondern als Polizei. Aber es ist vielleicht nicht schlecht, wenn die denken, dass wir noch keinen Zusammenhang wüssten." Und leise, selbstkritisch fügte er an: "Vielleicht täusche ich mich ja auch."

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Autobahn - 11:30 Uhr



    Die Fahrt in Richtung Dienststelle verlief bis auf die Autobahn schweigend. Ben versuchte sporadisch immer noch, Christian auf dem Handy zu erreichen, doch immer wieder kam kein Freizeichen. Wäre der Angriff im Parkhaus nicht gewesen, hätte der Polizist wohl längst aufgegeben, wenn er seinen Cousin hätte erreichen wollen. Sie hatten nie ein besonderes Verhältnis, eigentlich konnte Ben den oftmals hochnäsigen Christian nicht leiden. Er hätte sich gesagt, verdammt, der Kerl ist 5mal 7 Jahre alt, der kann alleine auf sich aufpassen. Aber die Sachlage war anders. Der Angriff auf die beiden im Parkhaus am Hotel, die Forderung des Asiaten nach dem Stick... sie waren brutal vorgegangen und einer der Typen hätte Ben vermutlich eiskalt erschossen, wenn Lucas nicht rechtzeitig gekommen wäre. Hatte er sich eigentlich bedankt dafür?
    Semir ging in seinem Kopf dagegen ganz andere Gedanken um. Er hatte seine rechte Hand auf die Mitte des Lenkrades gelegt und hielt den BMW so in der Spur. Sein Blick wanderte für Sekundenbruchteile immer wieder in den Rückspiegel zu Lucas, der stumm und regungslos aus dem Fenster sah. Ein CIA-Agent, der sich, einfach so an die Ermittlungen der Autobahnpolizei hing? Der erfahrene Polizist hatte noch nicht viel mit der amerikanischen Polizei, geschweige denn mit dem Geheimdienst zu tun, aber würden die solche Angelegenheiten nicht lieber selbst erledigen? Oder wenn überhaupt, dann mit dem BKA zusammen? Warum übernahm das BKA den Fall nicht selbst... schließlich schien es hier um mehr zu gehen, als nur um das Verschwinden von Christian.



    Die Stille im Fahrzeug war unangenehm und so ließ sich Semir von dem "Abschmettern" Lucas' von vorhin nicht entmutigen. "Gefährliche Chemikalien... ich kenne mich ja jetzt nicht besonders gut aus, aber nach Photovoltaik-Anlagen hörte sich das nicht gerade an." Dabei beobachtete er im Rückspiegel so genau wie möglich die Reaktion des Glatzkopfes. Dessen Augen bewegten sich, sie sahen ebenfalls in den Rückspiegel und trafen sich mit Semirs Blick. Nur Sekundenbruchteile, dann trennten sich die Blicke wieder. Lucas spürte ganz genau, dass dieser Satz ohne genannten Adressaten im Unterton einen klaren Adressaten hatte... nämlich ihn. Von ihm waren nämlich genau jene Informationen. "Das sind die Infos, die ich von meinen Mitarbeitern habe.", meinte er mit ruhigem Ton und blickte für einen Moment wieder aus dem Seitenfenster.
    Semir konnte seine Skepsis nicht einfach abschütteln. Zu oft war er das Opfer von korrupten Kollegen, die sich erstmal wie Komplizen gaben um ihn und seine jeweiligen Partner dann zu hintergehen. "Vielleicht besteht ja ein Zusammenhang aus dieser Chemikalie für die Solaranlagen und einer anderen, gefährlicheren Zutat.", überlegte Ben. "Das kriegen wir wohl erst raus, wenn wir den Laden dort auf Links drehen." Semir nickte und merkte, dass Ben seinen Zweifel wohl weder teilte, noch bemerkte. Immerhin auch nicht bemerkte, wobei dessen Sensoren sicher durch die Sorge um seinen Cousin und die immer noch anhaltende Trauer um Kevin wohl nicht wirklich richtig funktionierten.



    Er wollte bereits einfach nur an etwas "Schöneres" denken, zumindest bis sie auf der Dienststelle angekommen waren, wo sich der kleine Kommissar genug Gedanken um den Fall machen würde, als er erneut in den Rückspiegel sah. Nur ein Sekundenbruchteil sah er, wie aus dem dunkelblauen Mercedes hinter ihnen aus den beiden hinteren Fenstern zwei Gestalten auftauchten und mit Pistolen auf sie zielte. Genauso kurz war dann auch Semirs Reaktion: "RUNTER!!", rief er laut als die ersten Kugeln im Kofferraum und der Heckscheibe einschlugen. Lucas warf seinen Körper zur Seite auf die gesamte Rückbank, Ben rutschte instinkstiv in seinem Sitz etwas tiefer, genaus wie Semir. Der wiederrum reagierte auch mit den Füßen und beschleunigte die Sport-Limousine abrupt.
    Doch davon ließ sich der Verfolger nicht beeindrucken und beschleunigte ebenfalls. Zeitgleich begann Semir durch den Verkehr Schlangenlinien zu fahren und hoffte, das Feuer würde eingestellt werden wenn die beiden Autos zuviel "Bewegung" hatten um ordentlich zielen zu können. "Fuck...", murmelte er und zog mit einem gewagten Manöver auf den Standstreifen. "Wir müssen von der Autobahn runter! Das ist viel zu gefährlich hier!", rief Ben hektisch als die nächsten Versuche der Verbrecher ohne Erfolg blieben. Semir spürte die Erschütterungen im Lenkrad, scheinbar zielten sie jetzt auf die Reifen.



    Unschuldige waren in Gefahr, konnten getroffen werden, denn natürlich wusste keiner der Polizisten, wie skrupellos ihre Verfolger vorgehen würden. "Wie wäre es, wenn ihr mal Antwort geben würdet! Aber seid vorsichtig, wo ihr hinschiesst!", rief Semir ungeduldig. Er wusste, dass in den nächsten Kilometern keine Ausfahrt und kein Rastplatz kommen würde. Aber trotzdem mussten sie etwas tun, notfalls die Kerle stoppen. Ben entsicherte seine Waffe, Lucas tat es ihm gleich. Er schoß geduckt aus der zersplitterten Heckscheibe auf den Kühler des Mercedes, Ben lehnte sich aus dem offenen Seitenfenster nach hinten. Nun war der Verfolger es, der begann, wild auszuweichen und andere Fahrzeuge als Deckung nutzte. Dann stellten Lucas und Ben das Feuer sofort ein, andererseits waren dann auch Unschuldige in besonderer Gefahr.
    So passierte es auch dann, dass sich der Fahrer des Mercedes verschätzte. Er brüllte seine beiden Schützen gerade an, dass sie aufpassen sollten, niemanden zu töten, schließlich brauche man die beiden Typen lebend. Ein Kleinwagen wich währenddessen erschrocken dem BMW vom Semir aus und traf dabei den Mercedes. Das schwere Auto geriet nicht aus der Kontrolle, der Kleinwagen einer jungen Frau dagegen prallte in die Mittelleitplanke. Semir konnte es gerade im Seitenspiegel erkennen. "Verdammt!" "Cobra 11 an Zentrale, wir werden von einem dunklen Mercedes auf der A4 Richtung Köln verfolgt. Erbitten Verstärkung! Schusswaffengebrauch! Ausserdem RTW und Feuerwehr zu Kilometer 33.", rief Ben ohne Umweg ins Funkgerät. Dann sah er gehetzt zu seinem Partner, der im Rückspiegel sah, dass ein weiterer Wagen sich schnell näherte. "Da kommt noch einer. Jetzt haben wir ein Problem.", meinte Semir. "Hier kommt gleich der gesperrte Rastplatz... der hat einen Forstwirtschaftsweg über die Felder.", sagte sein bester Freund und wechselte dabei das Magazin. "Da können wir sie genauso wenig abhängen." "Aber immerhin sind dann keine Unschuldigen mehr in Gefahr!" Semir dachte kurz nach, und nickte dann.



    Lucas schoss sein Magazin leer und tauchte dann wieder auf die Rückbank. Eine seiner Kugeln traf die Windschutzscheibe des Mercedes. "Halt auf den Kühler, oder die Reifen!", rief im Ben durch den Fahrtwind des offenen Fensters entgegen, doch der Mann mit dem Drei-Tage-Bart antwortete nicht. Wenn es die Männer waren, die ihn schon in New York angegriffen hatten, dann bestand die Gefahr, dass sie Lucas kannten... und somit seine wahre Identität, seine wahren Beweggründe. Das konnte er nicht riskieren, und so hoffte er insgeheim, die Verfolger würden den nächsten Brückenpfeiler treffen.
    Semir zeigte sein Können am Lenkrad, erst im letzten Moment und bei hohem Tempo zog er den BMW auf die Abbiegespur des gesperrten Rastplatzes. Die Baustellenschilder, mit denen die Einfahrt gesperrt war, flogen im hohen Bogen aus dem Weg und einige Lackkratzer verewigten sich in der Motorhaube. Er bremste, sah in den Rückspiegel, sah wie Lucas mit ruhiger Hand erneut schoß. Scheinbar kannte er Situationen wie diese... keine Nervosität, keine Angst und kein Anflug von Unsicherheit. Der Amerikaner, wie Semir dachte, verzog nicht mal eine Miene. Trotzdem schoß er weiterhin zu hoch, doch das fiel dem Fahrer nicht auf. Das Auto hüpfte und schepperte, als Semir über einen niedrigen Bordstein abkürzte und den BMW zum Forstwirtschaftsweg schleudern ließ. "Der zweite hat die Ausfahrt verpasst!", rief Lucas währenddessen.



    Der Forstwirtschaftsweg war staubig, links und rechts säumten Felder die Straße, die voller Herbsternte waren. Staubwolken stiegen von den Fahrzeugen auf, die sich jetzt von der Autobahn entfernten. Lucas musste sich den Arm vor den Mund legen, durch die offene Heckscheibe kam jede Menge Dreck ins Auto hinein, doch ein Gutes hatte es... sie waren beinahe unsichtbar für die Verfolger. Das Schlechte: Der eingenebelte Verfolger war auch unsichtbar für sie. Dann wechselten die Felder von Sand auf Wiese, unbepflanzte Felder weiter hinten Richtung des Waldes, auf denen scheinbar lange nichts mehr bewirtschaftet wurde. Die Straße wurde besser, Lucas erblickte den Verfolger wieder und nahm gerade den Fahrer ins Visier, als der Hinterreifen des BMWs explodierte.
    Semir kannte diese Situation, doch egal wie oft er sie erlebte: Meistens ging es schief... so wie jetzt. Ein Schlag ging durch das Lenkrad des Wagens und wegen der schmalen Straße hatte der Polizist keine Möglichkeit den Wagen abzufangen. Beim ruckartigen Übergang von Asphalt in die Wiese blieb der schleudernde Wagen in einem Graben hängen und überschlüg sich über die Längsachse mehrfach. Lucas krümmte sich im Fond zusammen, es krachte und schepperte, Gras und Erde flogen zusammen mit Funkgeräten, Kelle und Bens Handy durch den Fahrerraum, bis das Auto endlich still stand...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Landstrasse - 11:45 Uhr



    Der dunkelblaue Mercedes hielt mit quietschenden Reifen auf dem Forstweg an, als der Fahrer die Bescherung sah. "Scheisse... die hats erwischt.", sagte er in ausländischer Sprache. Er sah, wie das zweite Fahrzeug, ein Range Rover, hinter ihnen ebenfalls gehalten hatte und die Männer allesamt vorsichtig ausstiegen. "Schauen wir mal nach."
    In Semirs Kopf drehte sich alles. Der BMW lag auf dem Dach, Qualm stieg aus dem Motorraum und alles war durcheinander geflogen. Handys, Blaulicht, Kelle und die drei Männer... alles lag durcheinander. Warmes Blut sickerte an Semirs Stirn herab und erleichtert bemerkte er, dass Ben bei Bewusstsein war und sich ebenfalls umblickte. "Alles klar?" "Ja ja...", keuchte er mit schwerem Atem. Sein Herz schlug schneller, auf dem Dach liegend kam dem jungen Beamten das Auto wieder wesentlich enger vor als vorher. Semir versuchte durch die Seitenscheibe zu blicken und sah ausser einer Menge Sand auch Füße, die sich langsam aufs Auto zu bewegen. "Scheisse, die kommen... wir müssen raus, los los!" Mit aller Kraft stemmte Semir die Seitentür auf, die sie gemeinsam durch den Sand drücken mussten, aufgrund der Lage des Autos. Ben hatte den Griff fest um seine Waffe, die er zum Glück sofort wieder gefunden hatte und kletterte zuerst raus. "Lucas, was ist?", flüsterte Semir in Richtung Fond, wo er ein Stöhnen vernahm. "Alles okay...", war dann die Antwort des sonst schweigsamen Amis.



    Ben hatte sich gerade durch die halboffene Tür in den Sand geschält und nur einen Blick übers Auto geworfen. "Scheisse, sie kommen!", rief er dann und schoss sofort zur Warnung in Richtung ihrer Verfolger. Er konnte deutlich ein ausländisch klingendes Fluchen hören und sah, wie die Typen sofort den Rückzug antraten um sich hinter ihren, quer geparkten Autos verschanzten. Offenbar hatten sie damit gerechnet, dass die drei Männer verletzt waren, und deshalb nur noch leichte Beute. Semir hörte die Schüsse und legte einen Zahn zu, aus dem Auto zu kommen und Ben zu helfen. Der tauchte immer hinter dem umgestürzten BMW weg, wenn der Gegner schoss und umgekehrt. Die Kugeln schlugen Funken, als sie in das Bleck des Fahrzeugs einschlugen. "Lucas! Komm raus!", rief der erfahrene Polizist gegen die Schüsse an.
    "Ich hänge fest... scheisse!", kam zur Antwort aus dem Inneren des Wagens. In diesem Moment splitterte das letzte intakte Glas einer Seitenscheibe und der CIA-Agent spürte, wie eine Kugel dicht an seinem Ohr vorbeizischte und ins Polster einschlug. Trotz, dass er in unhandlicher, unbequemer Lage in dem Fahrzeug hing, packte er mit zwei Händen die Waffe und feuerte durch das offene Fenster zurück. Einer der Angreifer schien er getroffen zu haben, stöhnend sank einer der Männer hinter dem Mercedes zu Boden.



    "Fuck...", knurrte Semir und beugte sich als Kleinerer sofort wieder herunter um ins Auto zu krabbeln. "Wo hängts denn?", fragte er halb hektisch, halb salopp. "Ich hänge mit dem Fuß unterm Sitz. Der hat sich verschoben und verklemmt." rief Lucas und zog den Kopf vor weiteren Kugeln ein. Semir sah, dass die Situation brandgefährlich war und griff hektisch nach Lucas Fußgelenk, kam aber fast nicht dran. Es war einfach zu eng. "Verdammt nochmal...", knurrte er und die Situation war höchst gefährlich. Ben und Lucas versuchten mit Dauerfeuer die Bande hinter ihrer Deckung zu halten, doch immer wieder flogen Lucas und Semir die tödlichen Kugeln um die Ohren. "Ich schaffs nicht. Ich muss von der anderen Seite ran." "Das ist viel zu gefährlich.", sagte Lucas. Auf einmal regte sich so etwas wie Skrupel in ihm. Klar hatte er eine Aufgabe, und er tat sie nicht aus Überzeugung, sondern endlich um aus diesem Kreislauf aus Lügen auszubrechen. Dieser eine Auftrag erfolgreich abschließen, und er wäre aus allem draussen. Dass dabei Verbrecher wie Mitglieder dieses Syndikats dabei draufgingen... geschenkt. Dass er die deutsche Polizei belog, war ihm egal. Er hatte aber schon Bauchschmerzen, dass er die beiden Beamten in gefährliche Situationen wie diese brachte, dabei sollte möglichst kein Unschuldiger draufgehen. Klar suchte Ben seinen Cousin, aber mit der ganzen Geschichte im Hintergrund hatten die beiden einfach nichts zu tun. Sie waren für Lucas Werkzeug, und dabei ging er skrupellos vor nach dem eigenen Vorteil. "Es ist für dich viel zu gefährlich hier drin zu bleiben.", sagte Semir voller Überzeugung und kletterte wieder aus dem Fahrzeug zu Ben.



    Lucas sah hilflos aus und er duckte sich, so gut es ging. Sein Fuß klemmte, er zog daran doch kam einfach nicht frei. "Das kannst du nicht machen, Semir!", rief er, als er Semirs Stimme hörte. "Hier... auf drei gibst du Dauerfeuer. Ich muss auf die andere Seite.", sagte der erfahrene Polizist zu Ben, dem er in dieser Extremsituation blind vertraute... egal, wie weit neben der Spur sein junger Partner gerade lief. Dabei übergab Semir seine Waffe an Ben, damit der doppelt schiessen konnte und er selbst beide Hände frei hatte. "Semir, das ist zu gefährlich!", rief Lucas von drinnen nochmal. In ihm kamen Erinnerungen auf an Szenen, die er sein ganzes Leben nicht mehr vergessen würde. An Bombenhagel am Kundus, an Kameraden die man in aussichtslosen Situationen im Stich lassen musste. Würde die Weltöffentlichkeit von manchem Vorgang in den undurchsichtigen Kriegen erfahren - es gäbe einen internationalen Aufschrei. Jetzt schlugen keine Bomben um Lucas ein, aber Kugeln. Und gerade riskierte ein Mann sein Leben, den er erst zwei Tage kannte.
    Ben hatte sein Magazin gewechselt, das von Semir war voll. Er atmete tief durch und sah zu Semir, der bereits am Rand des Autos stand. "Versuch die Tür irgendwie aufzudrücken.", rief er noch zu Lucas, der seinen Widerstand aufgab. Er kam gerade dran, den Griff zu öffnen, doch aufdrücken konnte er sie nicht, dazu war er zu weit weg.



    "Lass mich das machen, Semir. Das ist alles wegen meinem Cousin!", sagte Ben plötzlich, gerade als Semir das Signal geben wollte. "Nein!" "Warum nicht?" "Weil ich schneller bin als du! Und schlanker!" Für einen Moment wollte Ben protestieren, doch dann sah er das kurze Lächeln auf Semirs Gesicht. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht mehr davon abzubringen. Und es gab nichts, was ihn jetzt davon abbrachte, dem Mann zu helfen, der gestern noch Ben geholfen hatte. "Auf drei?", fragte Ben nochmal und Semir nickte. "DREI!"
    Der junge Polizist tauchte aus der Deckung auf und schoss mit beiden Pistolen gleichzeitig. Ein ohrenbetäubender Lärm, die Hülsen fielen ihm vor die Füße und Qualm stieg von der Waffe vor ihm auf. Die Gangster duckten sich unter dem plötzlichen Kugelhagel und dachten wohl an eine Verzweiflungstat. "Nur Geduld, das kann nicht lange dauern!", rief einer von ihnen. Semir war im gleichen Moment losgesprintet, dass der Sand von seinen Schuhen wegflog. Er flankte um den Kofferraum herum ins Schussfeld, duckte sich vor Bens Schüssen und zog mit Ruck an der geöffneten Hintertür, die er durch den Sand zog. In diesem Moment sah einer der Gangster, was passierte, und gerade als Semir hinter der Tür in Deckung ging, riskierte der Kerl einen Schuss, der sich in Semirs Oberarm bohrte.



    Ein brennender Schmerz durchzuckte den Kommissar und ließ ihn aufstöhnen. "Schneller, Semir!!", rief Ben in die Schüsse hinein. Mit zusammengebissenen Zähnen griff Semir in den verengten Fussraum, packte Lucas Fußgelenk und drückte gleichzeitig den, nach hinten verschobenen Fahrersitz nach vorne. Sofort kam der Glatzkopf frei, packte Semir am Arm und zog ihn in das halbwegs schützende Auto. Der erfahrene Polizist zog hinter sich noch die Tür wieder zu, genau im gleichen Moment waren die beiden Waffen von Ben leer. "Lucas O'Connor!! Gib endlich auf!!", schrie einer der Gangster erst auf Englisch, dann auf Deutsch, gerade als dieser zuerst aus dem Auto kam, sich aufrichtete und nochmal über das Auto hinweg feuerte. Doch auch er hatte, wegen der Verfolgungsjagd davor, keine Kugeln mehr.
    "Ist alles klar?", erkundigte er sich bei Semir, als dieser in sicherer Deckung aus dem Auto kroch und sich seinen Arm besah, an dem das Blut runterlief. "Ja, geht schon.", presste er schmerzhaft hervor. "Wir müssen in das Waldstück da. Dort können wir sie vielleicht abhängen.", sagte Lucas sofort. "Aus der sicheren Deckung raus?", warf der jüngste der Dreien sofort ein und klang skeptisch, während die Gangster das Feuer wieder eröffneten. "Wenn wir hier bleiben, kommen sie uns holen, wenn sie merken dass wir nicht mehr schiessen. Wir müssen in den Wald... der ist dicht genug." Ben sah in Lucas Augen plötzlich Entschlossenheit. "Vertraut mir! Ich weiß, was ich tue!"

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Landstraße - 11:55 Uhr



    Die Lage war verzwickt. Ben und Semir sahen sich für kurze Sekundenbruchteile an, und jeder versuchte aus dem Blick des anderen heraus zu lesen, was er von Lucas' Idee hielt. Doch hatten sie eine Wahl? Die Munition ging zu Neige, die Angreifer feuerten noch immer Löcher in das umgekippte BMW-Wrack, nach rechts und links gab es kein Entkommen. Und von ihrer Sichtperspektive würden die Typen es wohl zu spät merken, dass die drei Polizisten in den Wald geflüchtet sind. Dahingehend hatten sie in ihrer Position Glück, den Wald direkt im Rücken zu haben. "Na gut, wir versuchen es.", entschied Semir nachdem er in Bens Blick Zustimmung gelesen hatte. Der nickte als Bestätigung und Lucas ließ sein Magazin aus der Waffe gleiten und verteilte noch ein paar Kugeln an die beiden Autobahnpolizisten.
    "Dann los. Wir laufen gebückt zur ersten Baumgruppe und dann tiefer in das Waldstück. Bleibt dicht hinter mir. Es wird dauern, bis sie merken dass wir weg sind.", sagte Lucas und machte eine typische Geste des "Vorgehens", wie man sie von Spezialeinheiten kannte. Semir fiel dies sofort auf, offenbar hatte der Mann Erfahrung darin, Gruppen zu führen, was auch seine natürliche Autorität unterstrich. Alle drei hörten, als sie sich schnell Richtung Baumgruppe bewegten, das "Plong" immer wenn eine Kugel ins Blech einschlug.



    Das Geräusch wurde leiser, je weiter sie sich von ihrer sicheren Deckung entfernten. So leise wie möglich bewegten sich die drei durchs Unterholz, gebückt und immer wieder von kleineren Bäumen und Büschen geschützt. "Hier ist ein Graben, von da haben wir die Richtung gut im Blick. Los, rein da!", flüsterte Lucas. Ben sprang zuerst herunter, dann half er mit Lucas zusammen Semir, damit der sich nicht die offene Wunde schmutzig machte. Die Schüsse hatten mittlerweile aufgehört, scheinbar hatten ihre Verfolger gemerkt, dass den Polizisten die Munition ausging oder dass sie geflüchtet waren. Ben und Semir versuchten, ihre Atmung so flach wie möglich zu halten, sie lagen mehr hinter dem Erdwall, der nach unten hin als Graben abfiel, als dass sie standen, während Lucas etwas oberhalb kniete und alles im Blick hielt. Dabei hielt er die Waffe immer schussbereit.
    "Warst du bei einer Spezialeinheit?", fragte Ben flüsternd in Lucas' Richtung, der sich mit der Antwort ein paar Sekunden Zeit liess, bevor er sich für die Wahrheit entschied. "Ich war bei der Armee." Seine Stimme klang ein wenig gedämpft und auch Semir sah sich zu den beiden um. "Im Einsatz?" Lucas nickte ohne Ben anzusehen. "Im Kundus vor einigen Jahren." "An der Front?" Jetzt blickte der CIA-Mann von seiner Beobachtung weg und sein Blick fesselte den von Ben für einen Moment. "Vorderste Front." Dem jungen Polizisten war mit einem Mal unbehaglich. "Und jezt Ruhe!"



    Semir und Ben waren zwar in manchen Fällen tagtäglich gewissen Gefahren, auch für ihr Leben ausgesetzt, so wie jetzt gerade... aber eine Kriegssituation in einem Krisengebiet stellten sie sich furchtbar vor, und es war noch einmal eine völlig fremde Welt für die beiden. Man konnte nicht einfach Feierabend machen und nach Hause gehen, dem Gegner sagen dass man morgen früh um 8 Uhr weitermachen würde. Man musste immer mit Gefahren rechnen, immer auf der Hut sein. Natürlich wurden Semir und Ben auch schon einmal bedroht, waren auch ausserhalb ihres Dienstes gefährdet, aber ein Krieg hatte eine andere Dimension. Das wurde Semir bewusst, als er sich nochmal umblickte und auf Lucas blickte. "Sie kommen.", sagte der leise und Ben entsicherte als Signal seine Waffe und kletterte etwas weiter hoch zu Lucas.
    Er konnte die Männer sehen, wie sie vorsichtig, wohl aus Angst vor einem Hinterhalt, sich durch das kleine Waldstück bewegten. Lucas blickte konzentriert, atmete flach durch die Nase und schien in seiner Körperbewegung völlig ruhig und entspannt, was Ben beeindruckte. Ihn hätte man stechen können, und es wäre kein Blut geflossen, so angespannt fühlte er sich. Nicht ängstlich, aber nervös. Die Männer konzentrierten sich nicht, leise und vorsichtig vorzugehen, deswegen wusste man allein vom Gehör immer, wo sie waren, auch wenn man sie für einen Moment nicht sah.



    Dann kam den drei Polizisten ein anderes Geräusch ans Ohr... ein Geräusch, dass sie aufatmen ließen, auch als sie die Reaktion der Männer beobachteten. Ein Hubschrauber näherte sich schnell und von der Autobahn fahren schwach Polizeisirenen vernehmbar. Die Verstärkung traf ein, offenbar hatte man Semirs Wagen geortet. Die Verfolger blieben für einen Moment stehen, und scheinbar bekam der Anführer kalte Füße. Auf einer, nicht näher verständlichen Sprache, gab er Anweisungen und alle bewegten sich zügig zurück zu den Autos. Scheinbar hatte man große Befürchtungen, dass die Polizei schnell an die Wagen gelangen würde. Lucas fluchte, aber er fluchte lautlos, denn zu gerne hätte er alle drei aufs Korn genommen, damit niemand von ihnen seine Mission weiter gefährden konnte. "Sie hauen ab.", flüsterte Ben, und in seiner Stimme schwang eine gehörige Portion Erleichterung mit.




    Dienststelle - 13:00 Uhr



    Es dauerte, bis man das ganze Kuddelmuddel aufgelöst hatte. Die Verstärkung fand den Weg zum Forstwirtschaftsweg zu spät und konnte mit dem Auto die Verfolgung nicht aufnehmen, stattdessen rief man umgehend einen Krankenwagen für Semir und den Abschleppdienst für seinen BMW. Mit einem Streifenwagen wurden die drei schmutzigen Waldpolizisten dann zurück zur Dienststelle gefahren, wo die Chefin schon ungeduldig wartete, hatte sie doch den Hilferuf über Funk mitbekommen. Auch Jenny und Bonrath schauten besorgt, dann jedoch erleichtert. Alle drei gingen auf den eigenen Füßen, und die einzige Verletzung war Semirs Armdurchschuss, bei dem er, beinahe schon traditionell, die Fahrt ins Krankenhaus abgelehnt hatte. Nur ein Verband um den Oberarm kündete von der Verletzung, bei der Andrea mal wieder die Hände überm Kopf zusammenschlug.
    Ein Fingerzeit der Chefin ließen die beiden Autobahnpolizisten sofort aufblicken. "Ich glaube, wir sollen zu ihr kommen.", meinte der Jüngere der beiden. "Blitzmerker." Während Lucas kurz zur Toilette verschwand um sich das Gesicht zu waschen, gingen die beiden Polizisten zu ihrer Vorgesetzten. "Immerhin sind sie noch in einem Stück.", begann sie mit erleichterter Stimme und besah sich ihre Beamten, sandig im Gesicht, die Kleider woller Dreck und Staub, Semirs Verband am Arm. "Dann erzählen sie mal, was schon wieder los war."



    In kurzen, knappen Sätzen erklärte Semir erst, was man im Labor herausfand, und was sich danach auf der Autobahn zu trug. "Scheinbar wurden wir verfolgt. Wir hatten allerdings nix bemerkt, und scheinbar waren es die gleichen Typen, die Christian im Parkhaus aufgelauert haben." "Das würde aber bedeuten, dass sie ihren Cousin nicht in ihrer Gewalt haben... ich meine, warum sollten sie dann einen Anschlag auf sie verüben?" Semir nickte: "Ja, das habe ich auch schon überlegt. Ich denke, sie denken dass wir Christian auch suchen... oder wissen, wo er ist." Ben schien nachzudenken, ihm kam plötzlich eine Erinnerung. "Oder Lucas weiß, wo er ist." "Wie meinen sie das?" Die Chefin schaute aufmerksam zu ihrem jungen Beamten. "Sie haben nach Lucas gerufen. Er solle aufgeben. Gerade, als er dich aus dem Auto geholt hat." Semir verzog den Mund. "Ich hab davon nix mitbekommen." "Sie haben ihn aber nicht Lucas Blake genannt... sondern... warte." Ben kramte angestrengt im Kopf herum. "Okana. Oder O'Connor, ja so." "Hartmut fand es auffällig, dass seine Akte nicht besonders gut geschützt wäre.", meinte Semir in Gedanken dann noch. "Sie haben Hartmut beauftragt, Blakes Akte zu überprüfen?", fragte Anna Engelhardt, und ihre Stimme wurde schärfer... denn das war ein ziemlich deutlicher Verstoß gegen jegliche Regeln, denn natürlich kam die deutsche Polizei nicht einfach so an CIA-Akten. "Ääähm..."



    Die Chefin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. "Gehen sie der Sache nach... aber am besten so, dass Blake, oder wie er nun wirklich heisst, nichts davon mitbekommt. Nicht, dass wir eine Laus im Pelz haben." "Aber Chefin... warum sollte er sich mit uns in Gefahr begeben, wenn er wüsste, wo Christian steckt. Mal davon abgesehen... welchen Nutzen hat er daraus?", fragte Semir. "Genau das sollen sie ja rausfinden. Vielleicht sucht er ihn selbst... zu welchem Zwecke auch immer." Und nach einer kurzen Pause fragte sie, ebenfalls in katzenfreundlicher Stimme. "Was ist eigentlich mit ihrem Dienstwagen?" Ben und Semir sahen sich kurz unsicher an... wie immer, wenn einer von ihnen den Dienstwagen verschrottet hatte. "Naja, Chefin... also, die haben ja auf uns geschossen, und..." "Hat er ein paar Kratzer?" Ben wackelte mit dem Kopf. "Krater... ähm, Kratzer, naja." "Löcher?" Semir dagegen zog kurz die Mundwinkel nach oben und beide machten einen kurzen Schritt nach hinten zur Tür. "Ein paar Löcher hat er auch." "Sind vielleicht die Scheiben kaputt?", ergründete die Chefin mit immer schärfer werdender Stimme die Schäden, die sie in einem Schreiben wieder begründen müsse. "Ein paar... vielleicht." "Haben wir vielleicht wieder einen Totalschaden?", kam sie dann auf den Punkt, und sofort hörten die Bewegungen von Semir und Ben auf... bis Ben den Anfangssatz der Chefin wiederholte: "Aber immerhin sind wir noch in einem Stück.", wobei er das "Wir" betonte. Als Antwort hatte die Chefin mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen nur ein zischendes "Raus!" übrig, was die beiden Beamten dann auch befolgten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 13:20 Uhr



    Lucas wollte nicht in die Besprechung mit der Chefin platzen, so wartete er für einen Moment in dem Großraumbüro der Autobahnpolizei. Andrea hatte ihm den Verbandskasten und Pflaster für ein paar Kratzer an der Stirn angeboten, die er sich bei dem Überschlag zu gezogen hatte, doch freundlich lächelnd lehnte er ab. "Sie haben sich ja schon gut eingewöhnt.", meinte Andrea grinsend, denn die gleiche Antwort bekam sie auch immer von ihrem Mann und dessen Partnern. Lucas' Blick fiel dabei in das Nebenbüro, wo Jenny seit einiger Zeit alleine saß. Still beobachtete er die junge Frau, wie sie vor einem hüfthohen Schrank stand, und irgendwie in eine andere Welt entrückt schien. In der Hand hielt sie ein Foto im Rahmen.
    Jenny hatte sich in Gedanken verloren. Der Traum, die Erscheinung in der letzten Nacht saß ihr tief im Gedächtnis. Sie wusste, dass sie sich das eingebildet hatte, als sie Kevin im Spiegel hinter sich sah. Aber warum spukte er in ihrem Kopf. Sie hatte sich selbst doch auferlegt, nicht den gleichen Fehler zu machen wie er selbst, und den schlimmen Verlust negativ zu verarbeiten. Warum träumte sie nicht von schönen Dingen, was sie und Kevin erlebt hatten in den, leider nur sehr wenigen positiven Momenten. Sie würde dann zwar vermutlich sehr traurig aufwachen, aber wenigstens mit einem Lächeln wieder einschlafen, statt verängstigt.



    "Ihr Freund?" Mit dieser Frage wurde die junge Polizistin aus ihrer Gedankenwelt gerissen, und sie drehte den Kopf zur offenen Tür. Was sollte sie darauf antworten? Wie war ihre Beziehung zu dem Zeitpunkt, als Kevin aus dem Leben gerissen wurde. Sie hatten sich gestritten, Kevin wollte Deutschland verlassen und gerade hatte Jenny ihm die Wahrheit über seinen besten Freund Jerry erzählt... nicht aus Eigennutz aber mit der Hoffnung, den jungen Polizisten hier halten zu können und ihm unendliches Vertrauen zu beweisen. Seine Entscheidung würde sie allerdings niemals erfahren. Ihre erste Reaktion, war ein trauriges Nicken und Lucas konnte sich denken, dass der Mann auf dem Foto entweder fort oder tot war. Jenny nahm ihm die Unwissenheit dann nach einigen Momenten doch ab. "Aber er ist leider vor einigen Wochen verstorben."
    Sie stellte das Foto zärtlich wieder auf den Platz und ging langsam zum Drehstuhl. Der ehemaige Navy-Soldat hatte eine gute Menschenkenntnis und beobachtete die Frau dabei. Er konnte erkennen, dass die Trauerbewältigung der jungen Polizistin sehr zu schaffen machte, doch er fühlte sich zu fremd und gerade mit dem Kopf auch zu sehr bei anderen Dingen, als dass er irgendeine Hilfestellung geben konnte. "Mein Beileid.", sagte er nur sehr kurz angebunden, und seine Aufmerksamkeit wurde durch Semir und Ben abgelenkt, die gerade aus dem Büro der Chefin kamen.



    Er nickte Jenny nochmal kurz zu, die sich für seine Beileidsbekundung bedankte, dann drehte er sich zu den beiden Beamten. "Und... war die Chefin sauer wegen des Fahrzeugs?" Ben winkte kopfschüttelnd ab und Bonrath kicherte. "Das ist sie doch längst gewohnt bei den beiden." "Danke Bonrath, sehr witzig.", bemerkte Semir und schüttelte kurz den Kopf, bevor er sich an Lucas wandte. "Nein, alles in Ordnung. Die Chefin meinte, wir sollten für heute Feierabend machen nach dem schweren Unfall und uns ein wenig erholen." Diemal schaute Bonrath ein wenig arggewöhnisch, denn diese Gangart war er nun nicht gewohnt. Er kannte es von früher, dass die beiden Partner in besonderen Fällen auch nach solchen Ereignissen weiterarbeiteten, als wäre nichts gewesen.
    Auch Lucas zog die Stirn ein wenig in Falten. "Es geht uns doch gut." "Trotzdem. Die Durchsuchung des Labors setzen wir für morgen früh an, vorher werden wir erstmal nichts mehr unternehmen.", ordnete Semir an. Wie mit einem siebten Sinn ahnte Lucas, dass etwas nicht stimmte. "Was ist mit deinem Cousin?" Innerlich drängte er natürlich zur Eile, Ben aber schüttelte den Kopf. "Ich gehe auch nicht davon aus, dass er sich in Gefahr befindet. Warum hätten die Asiaten uns sonst angreifen sollen?", wobei er kurz mit den Schultern zuckte. Was sollte Lucas sagen... er musste klein beigeben und nickte. "Gut... dann sehen wir uns morgen früh?" "Jap... morgen früh um halb 9 hier im Büro.", sagte Semir mit einem aufgesetzten Lächeln.



    Natürlich wollten die beiden Polizisten Lucas erstmal loswerden, um frei reden zu können... und um zu sehen, wo sich Lucas aufhielt, wenn er nicht mit den beiden Männern zusammen arbeitete. Sie warteten nur wenige Augenblicke, nachdem Lucas das Büro verlassen hatte und mit seinem Wagen vom Parkplatz fuhr, da rannten die beiden zu Bens Mercedes und nahmen, mit Sicherheitsabstand, die Verfolgung auf. "Dann wollen wir doch mal sehen, wie Lucas so seinen freien Nachmittag verbringt.", meinte Ben und hielt das Steuer fest umklammert. Semir teilte seine Gedanken laut mit. "Im CIA-Computer stand er mit Lucas Blake. Und der Asiate rief ihn als O'Connor. Jetzt ist die Frage: Wen belügt er? Die Asiaten oder uns... und den gesamten CIA?" "Was hälst du für wahrscheinlicher?", fragte Ben und überholte zwei Fahrzeuge vor sich, bevor er sich schnell wieder auf der rechten Spur einfädelte.
    "Eigentlich ersteres... vielleicht hatte er mit den Typen schon einmal zu tun. Vielleicht ist er sowas, wie ein verdeckter Ermittler." "Aber warum spielt er dann uns gegenüber nicht mit offenen Karten? Wir wollen doch alle das Gleiche." Semir sah Ben nachdenklich an. "Du weißt ja nicht, was er eigentlich will. Worum geht es? Um den Stick, in erster Linie." "Mir geht es um Christian!", protestierte Ben sofort. "Ja, dir. Ich meine das jetzt allgemein. Was auch immer auf dem Stick drauf ist... niemand weiß, wo Christian ist und wo der Stick ist. Die Asiaten verfolgen uns, um an Lucas heran zu kommen. Der aber hängt sich an uns, um Christian zu finden."



    Ben rieb sich mit den Fingern über die Stirn, es schien alles verzwickt und kompliziert. Lucas setzte den Blinker und fuhr die Ausfahrt zur Innenstadt ab. Ben atmete auf, als weitere Fahrzeuge zwischen dem dunklen Audi und seinem Mercedes ebenfalls abbogen, so dass er nicht direkt hinter dem Observations-Objekt fahren musste. "Die Frage bleibt immer noch... wenn die Asiaten ihn nicht haben... wo ist Christian dann? Und warum meldet er sich nicht?", führte Semir seine Gedanken verbal fort und blickte ein wenig unsicher auf seinen Partnern, der stumm nickte. Denn der erfahrene Polizist hatte auch eine Theorie, die Ben gar nicht gefallen würde, da war er sich sicher.
    "Dafür muss es ja einen Grund geben, verstehst du?", versuchte er seinen jungen Freund selbst auf diese Fährte zu schicken, doch der weigerte sich, an diese Möglichkeit auch nur zu denken. Sie fuhren über die Landstraße, die herbstliche Landschaft zog an ihnen vorbei und am Horizont sah es nach Regen aus. Unheilvoller Regen. Semir biss sich auf die Lippen, sie waren Partner, sie mussten über alles reden können. Konnten sie normalerweise auch, doch was war schon normal in den letzten Tagen mit Bens wankelmütiger Laune. "Was ist denn, wenn Christiann weiß, was auf dem Stick ist... und... naja... versucht diese Informationen für sich selbst zu nutzen?" Jetzt war es raus, und Ben hatte die Worte genau verstanden. Semir wartete gebannt auf seine Reaktion, konnte jedoch schon erkennen, dass Bens Miene sich verfinsterte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 14:00 Uhr



    Die dunklen Wolken, die beinahe symbolisch am Horizont aufzogen, verdunkelten auch gleichzeitg Lucas' Laune. Die Hände fest um das Lenkrad geklammert, die Backenzähne fest aufeinander gedrückt. Verdammt, dachte er. Dieser bescheuerte Asiate hatte ihn bei seinem wahren Namen genannt. Woher wussten sie, wie er heißt? Die Yakuza hatten erstklassige Informanten in allerlei Behörden der USA sitzen, aber dort wo Lucas arbeitet, das war keine Behörde. Und bei der CIA ist er unter seinem Decknamen registriert. Dass die Yakuza seinen Namen wusste, schmeckte ihm nicht. Ganz und gar nicht, es war gefährlich und das nicht nur für ihn. Mehrfach wählte er die Nummer von Marlaine, seiner Ex-Frau. Nach dem dritten misslungenen Versuch schlug er wütend mit der flachen Hand aufs Lenkrad.
    Marlaine und er hatten sich vor fünf Jahren getrennt. Vorher führten sie eine scheinbar perfekte Ehe, mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass Lucas einem gefährlichen Job nach ging, der ihn oftmals ausser Haus führte. Auslandseinsätze mit der Navy, am Kundus gerade als sie frisch verheiratet waren, im Tschad als ihr Sohn geboren wurde, in Mali als die Ehe langsam kriselte. "Was nützt mir unser gesichertes Einkommen, wenn ich jeden Tag Angst haben muss, dass dein Sarg mit Stars and Stripes umwickelt zurückgeschickt wird?", hatte die blonde Frau ihn angeschrieen, als Lucas, wie so oft, das Argument des Geldes anführte.



    Lucas selbst lebte in seiner eigenen Scheinwelt. Er wollte immer das Beste für seine Familie, doch er bemerkte nicht, dass seine Familie etwas anderes brauchte als ein reichhaltiges Gehalt. Sie brauchten ihren Ehemann, ihren Vater. Und er bemerkte zu spät, dass ihm diese Ehe entglitt, durch die Finger rieselte wie Wüstensand. Doch Marlaine hielt aus, bearbeitete Lucas. Ein anderer Job, weniger Einkommen, geregelteres Leben. Und sie hatte Erfolg... beinahe. Der Mann am Steuer kniff die Augen zusammen, als die Gedanken ihn überfielen. Es sollte der letzte Einsatz sein, eine harmlose Sache im afghanischen Hinterland. Er gab nur einen Befehl - und es war der falsche. Am Ende waren fünf Kameraden tot, er selbst kam mit leichten Verletzungen davon. Er war sich so sicher, alles richtig entschieden zu haben.
    Danach nutzte er die Chance, sich versetzen zu lassen, doch Lucas hatte sich verändert. Schuldgefühle verdrängte er und immer wieder redete er sich ein, genauso wieder zu entscheiden. Es war einfach Pech... doch immer wieder bröckelte diese Haltung. Er wurde jähzornig, er wurde beinahe gefühlskalt. Zeit, um die Sache hinter sich zu lassen und Verständnis, damit umzugehen, konnte Marlaine nach Jahren des Verzichts auf ihren Mann nicht mehr entgegenbringen. Sie ließ sich scheiden, bekam das Sorgerecht für Josh und Cynthia... und Lucas war am Ende. Ein alter Weggefährte aus der Armee fing ihn zumindest beruflich aus, und nahm ihn in die Organisation, die zwischen den Gesetzen stand.



    Der Mann mit den millimeter kurzen Haaren wollte gerne zurück. Er wusste, dass die Zeiten sich geändert hatten, dass er sich geändert hatte... und Marlaine schien den Glauben ebenfalls nicht aufzugeben. In den letzten Monaten telefonierten sie oft, wollten sich treffen, doch immer wieder sagte Lucas ab, wegen seines Berufes. Er konnte sich lange nicht dazu durchringen, seiner Ex-Frau die Wahrheit zu sagen, doch er war ein geradliniger Mann, für den Ehrlichkeit an erster Stelle stand, und so offenbarte er seiner Frau die Wahrheit, woraufhin sie den Kontakt erstmal wieder abbrach. Es tat dem Mann, der äusserlich ohne Gefühle wirkte, sehr weh. Vor einigen Wochen hatte sie ihn angerufen... sie vermisse ihn, Josh und Cynthia vermissten ihren Vater. "Wenn du deinen Job aufgibst... dann versuchen wir es nochmal.", hatte sie voller Ernst gesagt. Er stimmte zu.
    "Ein letzter Job noch.", sagte ihm sein Boss und Auftraggeber. "Dann kündigen wir den Vertrag, der eigentlich nicht zu kündigen ist, weil du uns und dem Land mehr geholfen hast, als irgendjemand anderes." Lucas traute der, oftmals fremden Stimme nicht über den Weg, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, ihr zu glauben. Bisher hatte sie jedes Wort gehalten, als es beispielsweise darum ging, Josh einen Platz auf einer der renommiertesten Sportschulen Amerikas zu besorgen, wozu man normalerweise ausgezeichnete Kontakte benötigte und jede Bewerbung mit einer Absage endete. "Wir kümmern uns darum.", sagte die fremde Stimme und Lucas verdrehte die Augen und dachte nur: "Na klar... ihr kümmert euch." Zwei Wochen später hörte er am Handy seinen Sohn jubeln: "Dad, sie haben mich genommen! Sie haben mich genommen!" Er konnte es kaum erwarten, seinen Sohn vom Spielfeldrand aus zu beobachten.



    Aber dieser letzte Job stand ihm jetzt im Weg, und plötzlich steigerte sich die Unruhe in ihm. "Lucas, was gibts? Wie gehts voran?", meldete sich die Stimme seines Auftraggebers, dessen Nummer er jetzt wählte. "Überhaupt nicht." "Das ist nicht gut. Uns läuft die Zeit davon." "Der Physiker ist nicht aufzufinden. Ich habe mich unter meinem CIA-Namen mit der deutschen Polizei zusammengetan, um den Kerl zu finden." Nach dem ihm seine Frau nicht mehr aus dem Kopf ging, konzentrierte er sich jetzt mehr auf das Gespräch, als auf den Verkehr... oder verdächtigen Autos hinter ihm, auch wenn er mehrfach in den Rückspiegel sah. Den grauen Mercedes sah er nicht, denn Ben war zu geschickt ihm unauffälligen Verfolgen. "Vielleicht die Yakuza?" Lucas' Kopfschütteln konnte sein Gesprächspartner nicht sehen. "Glaube ich nicht... die haben uns nochmal angegriffen... vermutlich weil sie denken, wir wüssten mehr als sie. Dabei...", er zögerte kurz. "Was?" "Dabei hat einer der Typen mich beim Namen gerufen... meinem echten." Es blieb still in der Leitung und für einen Moment war, ausser dem Rauschen des Verkehrs und dem Summen des Wagens nur ein leises Atmen zu hören. "Das ist nicht gut." "Ach was..." "War die Polizei dabei? Haben die was bemerkt?" Ein kurzes Hin- und her wiegen des Kopfes, Gesten der Verunsicherung. "Kann schon sein." "Die dürfen keinesfalls herausfinden, wer du bist und für wen du arbeitest. Ich will dir die Folgen dessen gar nicht aufzeichnen. Zur Not musst du eben..."



    Die unheilvolle Stille nach dem abgebrochenen Satz unterbrach Lucas ruckartig. "Vergiss es. Auf keinen Fall." "Lucas...", begann die Stimme aus dem Telefon, doch der Mann am Steuer wurde lauter. "Nein! Erstens will ich mir keine Polizistenmord-Ermittlungen hier ans Bein binden, zweitens brauch ich die beiden Jungs um Jäger und damit den Stick zu finden, und drittens...", er brach ab. Biss sich auf die Zähne bis der Kiefer schmerzte. "Drittens?", schnarrte es abwartend aus dem Hörer und Lucas seufzte. "Drittens hat einer der beiden mir vor wenigen Stunden das Leben gerettet." Der ehemalige Soldat glaubte, das Augenrollen hören zu können. "Ich sag es ja nicht gern, aber wir können uns keine Schwäche leisten. Du hast zwei Aufgaben zu erfüllen. Schaff den Stick ran, egal wie. Und schütze unsere Organisation, egal wie. Wenn die Bullen etwas rausfinden, dann sorg dafür, dass sie es nicht verwenden. Oder bring sie zum Schweigen. Du weißt, was passiert, wenn wir auffliegen!", kam es nun deutlicher aus dem Hörer und bedurfte keiner Widerworte.
    Mit verkniffenem Gesicht sah Lucas in den Rückspiegel, nachdem er gerade abgebogen war und sah den grauen Mercedes noch abbiegen. Seine Augen wurden schmal. "Warum hast du angerufen?", kam dann die Frage aus dem Hörer. "Marlaine geht nicht ans Telefon. Ich will, dass ihr checkt, ob mit meiner Familie alles in Ordnung ist, nachdem die Typen wissen wie ich heisse." "Okay, ich kümmere mich drum." Wenigstens das beruhigte Lucas...

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  • Köln - 14:00 Uhr



    "Du spinnst." Es waren zwei Worte, aber sie kamen direkt und unvermittelt, nachdem Semir seine theoretischen Gedankenspiele beendet hatte. Und es war ein Satz, den man als scherzhaftes Kompliment, als auch als abwertende Beleidigung aufnehmen konnte. Oder aber als Übertreibung. Für einen Moment war sich der erfahrene Polizist nicht ganz sicher, wie er den Satz verstehen sollte und er drehte den Kopf ein wenig in Richtung seines besten Freundes, der auch damit beschäftigt war, hinter Lucas' Audi nicht aufzufallen. Doch die Bestätigung kam sofort: "Ernsthaft, du hast sie nicht alle. Was soll das?" Bens Stimme klang erregt, verärgert... von einem auf den anderen Moment die Laune verändert. Als hätte Semir einen Kippschalter betätigt, der Ben in den Rasend-Modus versetzte.
    "Ben, ich versuche nur jede Möglichkeit abzuwägen. Fakt ist, dass die Asiaten scheinbar hinter deinem Cousin her sind. Also, wo soll er sein und vor allem, warum meldet er sich nicht?" Semirs Stimme blieb ruhig und sachlich... noch. Er sah Bens verkniffenen Gesichtsausdruck, das Kopfschütteln. Seine Hände, wie sie sich um das Lederlenkrad krampften und sein Blick, stur auf den Asphalt. "Ich versuche doch einfach nur, ein wenig logisch nachzudenken. Es ist nur eine Theorie, ich hab das doch gar nicht als Vorwurf formuliert."



    "Logisch nachdenken?", giftete Ben mit aggressiver Stimme zurück. "Dann denk mal logisch nach: Warum sollte Christian dann ausgerechnet zu mir kommen, wenn er mit den Informationen auf dem Stick das große Verbrechen vor hat? Zu einem Polizisten? Dann lässt er sich von mir noch in ein Hotel fahren? Wo liegt denn da die Logik?" Semir musste zugeben, dass Bens Einwand berechtigt ist, doch dessen aggressiver Ton gefiel ihm nicht. Für einen Moment erwischte er sich bei dem Gedanken einfach zu schweigen und seine Theorien für sich zu behalten. Aus Rücksicht auf Ben, auf Rücksicht auf seine eigenen Nerven. Aber das war doch keine Zusammenarbeit. Sie mussten sich doch austauschen können, ihre Gedanken teilen, ohne sich sofort anzugreifen. Na klar gab es Meinungsverschiedenheiten, auch zwischen den beiden besten Freunden. Aber Bens Verhalten war unausstehlich, und gerade jetzt, nachdem es die letzten Stunden wieder halbwegs normal war.
    "So läuft das nicht. Ich habe keinen Vorwurf gemacht.", sagte Semir nochmal und sein erster Satz war gleichzeitig dann doch ein Vorwurf. Allerdings gegen Ben, nicht gegen dessen Cousin. "Wir müssen doch offen miteinander über den Fall reden. Ich hab wirklich das Gefühl gerade, mit Kevin zu reden statt mit dir, wo ich mir jedes Wort zweimal überlegen muss, ob ich es nun sagen kann oder nicht." Und auch Semirs Stimme wurde jetzt lauter, was wiederrum Ben nicht gefiel. Die Stimmung im Wagen schaukelte sich hoch.



    "Ja toll.", blaffte nun der jüngere Kollege und meinte sarkastisch. "Dann schreib Christian zur Fahndung aus. Tot oder lebendig." Dabei nahm er das Funkgerät von der Halterung und warf es seinem verdutzten Kollegen in den Schoß. Er wusste, es war nicht richtig was er tat. Aber ein unangenehmes Engegefühl machte sich in seiner Brust breit, das er scheinbar nur dadurch los wurde, dass er wütend war. Ein Gefühl, das er nie zuvor gespürt hatte und erst seit ein paar Wochen seinen Kopf dominierte. Wenn er jemanden beschimpft hatte, oder gemein zu jemandem war, fühlte er sich besser. Es war grotesk. Ben wollte das nicht, und doch konnte er nichts dagegen tun. Weder konnte der Polizist dieses Gefühl unterdrücken, noch ignorieren und alle Menschen, die ihm wichtig waren, hatten darunter zu leiden.
    "Ich weiß, was mit dir ist.", hörte er dann nach ein paar Minuten der Stille, sowie dem lautlosen Zurücklegen des Funkgerätes in die Halterung durch Semir, dessen Stimme. "Und ich kann dich verstehen. Ich kann es nachvollziehen." Ähnliche Worte hatte er vor einigen Tagen schon mal benutzt, und sie endeten im Fiasko weil der erfahrene Kommissar Bens Beziehung miteinbezogen hatte. In dessen Augen ein böses Foul.



    "Nachvollziehen, aha." Wieder dieser sarkastische, völlig uneinsichtige Unterton. Früher hatte Semir Ben oft auf der ruhigen Ebene erreicht, ihn quasi zur Vernunft gebracht, wenn mit ihm mal wieder die Pferde durchgingen. Doch auf dieser Ebene erreichte Semir seinen besten Freund überhaupt nicht mehr. "Erst ist dieser Verräter bei Kevins Beerdigung, und euch scheint das alles scheissegal zu sein...", spielte er gereizt darauf an, dass Jerry an der Beerdigung teilnahm... der Mann, der dem Mörder von Kevins Schwester Janine damals den entscheidenden Tipp gab und somit für größtenteils für Kevins Lebenslauf verantwortlich war. Semir musste mit Engelszungen vor der Beerdigung reden, dass Ben keinen Aufstand machte, als er den Boxer und Ex-Knacki sah. Semir schüttelte innerlich den Kopf, während er ruhig zu hörte. Er hatte auch Aversionen gegen Annie, die Frau war verantwortlich für die vermutlich schlimmste Nacht seines Lebens im Keller einer Kneipe, als er dort von Neo-Nazis psychisch gefoltert wurde... und trotzdem war es für den erfahrenen Polizisten wie selbstverständlich, dass die junge Punkerin von ihrer Jugendliebe Abschied nahm, mit dem sie so viel schönes und schlimmes erlebt hatte. Aber Semir dachte da mehr mit dem Kopf als mit dem Herzen, im Gegensatz zu seinem Kollegen. "Und jetzt tut ihr einfach so, als wäre nichts geschehen. Als wäre Kevin tatsächlich mit Jerry nach England gefahren. Die Blumen auf seinem Grab sind gerade frisch gepflanzt, da schleppts du schon irgendeinen anderen Kommissar an." Semir schluckte für einen Moment, den er spürte, dass die Angriffe nun unter die Gürtellinie gingen. Und es traf ihn bis ins Mark, so dass er selbst nicht mehr wirklich auf die Verfolgung von Lucas achtete.



    "Sag mal, bist du noch ganz dicht?", fuhr er seinen Partner auf dem Fahrersitz an, und mittlerweile hatte der Streit der beiden Polizisten eine Dimension erreicht, die noch nie schlimmer war. "Das ist mein Job! Das habe ich dir schon mal erklärt." Seime Stimme zitterte. Warum konnte Ben es nicht verstehen, dass man zwischen dem Menschen Kevin und dem Polizisten unterscheiden musste. "Verdammt nochmal, Kevin ist tot! Er ist tot, begreif das endlich! Und er wird nicht mehr wieder lebendig werden dadurch, dass du dich hier wie ein Arschloch aufführst!", schrie der sonst so besonnene Polizist, dem aber auch durchaus mal der Kragen platzen konnte. Er hatte Streit mit seinen Partnern, mit Chris als dieser in einem Einsatz das Leben seiner und Semirs Tochter gefährdete, mit André als dieser Semirs Cousin des Mordes verdächtigte und die beiden sich beinahe auf der Dienststelle prügelten. Dabei war Semir zwar immer aufgeregt, in Chris' Fall eher ängstlich, aber jetzt war er verletzt von Bens Worten, und das hörte man seiner Stimme an. "Im Polizeidienst müssen wir damit klar kommen, dass wir unsere Freunde verlieren! Und wenn du das nicht kannst, dann solltest du dir gut überlegen, ob du noch weiterhin Polizist sein willst! Du musst jetzt endlich wissen, ob du das hier noch alles willst, Ben!" Die Worte flogen in Bens Kopf und stachen ihn wie Messer ins Hirn. Krampfhaft biss er die Zähne aufeinander, bis er seinen Kopf rüber zu Semir drehte. Der erschrak innerlich bei Bens Kälte in seinen Augen, etwas was gar nicht zu dem Sunnyboy passte. Doch es machte den Eindruck, als sei der Sunnyboy in Ben mit Kevin gestorben. "Ja... vielleicht sollte ich mir überlegen, ob ich noch weiter Polizist sein will.", sagte er mit einer unheimlichen Ruhe in der Stimme. Beide merkten nicht, dass sich gerade kein Auto mehr zwischen ihnen und Lucas befand.

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  • Köln - 14:15 Uhr



    Lucas hatte gerade per Tastendruck auf sein Lenkrad das Gespräch beendet, als er zur Überprüfung nochmal in den Rückspiegel sah. Tatsächlich war es Bens grauer Mercedes, der ihm folgte. Sicherlich kein Zufall, allerdings versuchte der Autobahnpolizist gar nicht, die Verfolgung unauffällig zu gestalten. Das verwirrte Lucas. Wollten die beiden ihn beschatten, würden sie das doch unauffälliger machen. So dilettantisch, das hatte der vermeintliche CIA-Mann nicht erwartet. Oder waren sie gerade nur unaufmerksam? Der kahlköpfige Mann fuhr weiter, behutsam und nicht auffällig schnell, als hätte er die beiden bemerkt. Der Weg führte jetzt auf eine Schnellstraße, die auf ihrer Seite für einige Kilometer zweispurig wurde. Lucas beschleunigte auf die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h und blickte wieder in den Rückspiegel.
    "Aha... doch nicht ganz so zufällig.", murmelte er als er beobachtete, wie Ben sich von zwei anderen Autos bereitwillig überholen ließ. Er blinkte rechts und fuhr die nächste Abfahrt Richtung Innenstadt. Die beiden Autos folgten ihm, sowie der graue Mercedes, den Lucas nun nur noch wahrnehmen konnte, wenn er während des Abbiegens auffällig und konzentriert in den Rückspiegel sah. Würde er nun ohne Wissen, verfolgt zu werden, fahren, hätte er die beiden Polizisten nicht gemerkt. Doch jetzt war er gewarnt.



    "Der hat uns längst bemerkt.", sagte Semir mit grummelnder Stimme, als die beiden ebenfalls die Abfahrt nahmen. Ben biss sich auf die Zähne, um die spitze Bemerkung nicht aus seinem Mund zu lassen. Es war das erste Wort, das sie seit einigen Minuten miteinander sprachen, nachdem sie sich eben gerade noch angeschrieen hatten. Und es kam deutlich genervt bei Ben an, der mit seinem emotionalen Ohr hörte. Trotzdem hielt er die, nun wieder verdeckte Verfolgung aufrecht. Wenn Lucas sie bemerkt hatte, würden die beiden das wohl gleich bemerken, entweder dadurch, dass er sie versuchte abzuhängen, oder anhielt um sie zur Rede zu stellen. Zweiteres würde vermutlich ziemlich peinlich werden. Aber innerlich dachte der junge Polizist gerade, dass das dann Semir übernehmen könnte.
    "Dann schauen wir mal, wie gut ihr wirklich seid.", dachte Lucas sich und begann, wie ein Hase Haken schlägt, abzubiegen. Innerhalb der Innenstadt war das irgendwann für den Amerikaner kein Problem mehr, hatte er doch genügend Gelegenheiten, die Fahrspuren zu wechseln, ohne Blinken doch schnell nach rechts zu fahren und damit vor allem Mitfahrer in seinem Umfeld zur Weißglut zu bringen. Und Ben damit auch, der sich immer wieder zwischen Fahrzeuge drängeln musste und auch öfters erst im letzten Moment sah, dass der dunkle Audi doch noch abgebogen ist. "Der hat uns längst bemerkt.", wiederholte Semir in gleicher Tonlage wie vorher, als würde er eine Kasette abspielen. Er wusste natürlich um die Wirkung bei seinem Partner, doch beide Polizisten waren einander gereizt. "Wie oft willst du das jetzt noch wiederholen?", war die bissige Antwort, die Ben sich diesmal nicht verkniff.



    Eine halbe Stunde kurvten die beiden Fahrzeuge nun, immer mit ein paar Autos dazwischen, durch die Kölner Innenstadt. "Du hängst mich nicht ab.", sagte Ben zu sich selbst, als sei das ganze mittlerweile ein persönliches Spiel. Bringen tat die Überwachung nun wirklich nichts mehr, denn Lucas würde nun nichts tun, was für die beiden Polizisten von Interesse wäre. Einige Minuten später hielt er sogar am Straßenrand, so dass Ben den Atem kurz anhielt. Geistesgegenwärtig beschleunigte er, wechselte eine Spur nach links und war gerade, als Lucas ausstieg und von Ben und Semir passiert wurde, im Schatten eines kleinen Transporters. Danach bog der graue Mercedes rechts ab und war aus Lucas Sichtfeld verschwunden, der über den Bürgersteig schritt und sich in ein Café setzte. "Mal sehen, wie lange die beiden Überstunden machen wollen.", dachte er sich und setzte sich extra an die Fensterfront, um beobachten zu können, ob die beiden irgendwo auf einem anderen Parkplatz an der Straßen parkten. Beim Kellner bestellte sich Lucas einen Latte Macciato.
    Ben hatte, nachdem er in die Seitenstraße abgebogen war, den Mercedes direkt an der Straße im Halteverbot geparkt. "Und jetzt?", fragte Semir missmutig, denn wenn es nach ihm ginge, hätte er die Verfolgung an dieser Stelle abgebrochen, weil er sicher war, dass Lucas die beiden Polizisten schon längst bemerkt hatte. Doch Ben hatte noch nicht aufgegeben. "Wir machen einen VFW.", sagte er und stieg aus. "Einen was?", rief sein Partner ihm hinterher und öffnete seinerseits die Tür, um halb auszusteigen.



    Ben war währenddessen auf die Straße gelaufen und hielt einen weißen KIA Kombi mit gezücktem Ausweis an, der in umgekehrter Richtung die Straße entlang Richtung Hauptstraße fuhr und abrupt abbremste. "Ein Verfolgungsfahrzeugwechsel!", rief er seinem Partner noch zu, als der Fahrer des Wagens die Seitenscheibe herunterließ. "Was ist denn los?" "Autobahnpolizei Jäger. Wir müssen ihr Fahrzeug beschlagnahmen, das ist eine Amtsmaßnahme.", sagte er und ließ dem Mann gerade noch Zeit, den Ausweis zu studieren, bevor er ihn, mehr als eilig, aus dem Fahrzeug bat. "Aber..." "Wir lassen sie abholen!", hörte er gerade noch von dem Mann mit der Wuschelfrisur, während Semir kopfschüttelnd auf der Beifahrerseite einstieg. Ben legte den Wählhebel des Autos auf D und ließ ihn zurück zur Hauptstraße rollen, entgegen der vorherigen Fahrtrichtung am Cafe vorbei und dann auf der anderen Straßenseite parkend. Sie setzten sich beide etwas geduckt und Ben stellte den Seitenspiegel so ein, dass er den Ausgang des Cafes genau im Blick hatte.
    "Wenn wir der Chefin nachher noch erklären müssen, dass unser Auto abgeschleppt wurde...", hörte er die Stimme von Semir, die er sofort abwürgte. "Du kannst ja gern am Auto warten. Aber im Benz hat er uns wirklich erkannt." Lucas bekam in der Zwischenzeit seinen Kaffee und blickte immer wieder hinaus. Der weiße KIA war ihm natürlich nicht aufgefallen im Verkehrsgewirr, vor allem weil er primär auf den grauen Mercedes achtete, doch der war nirgends zu sehen.



    Trotzdem verbrachte er über eine halbe Stunde im Café, bevor er bezahlte und wieder auf die Straße trat. Er sah sich aufmerksam um, er war vorsichtig, geübt... denn er traute den beiden Autobahnpolizisten nicht. Doch der graue Mercedes war nirgends zu sehen, und soweit er es überblicken konnte, saß auch niemand in den direkt umliegend stehenden Autos. Sein naheliegender Gedanke: Die beiden hatten aufgegeben, nachdem durch seine Irrfahrt klar war, dass er sie bemerkt hatte. Ein wenig siegessicher lächelte er, auch wenn in ihm drin der Ärger überwog. Sie waren misstrauisch... vermutlich hatte doch einer der beiden mitbekommen, als der Asiate ihn bei seinem wahren Nachnamen gerufen hatte. Er stieg in seinen Audi, startete und fädelte sich in den Verkehr ein. Ben startete den weißen KIA, drehte über die Hauptstraße allerdings erst, als Lucas bereits einiges an Abstand hatte. Diesmal waren die beiden Polizisten vorsichtiger.
    Lucas wählte währenddessen eine, ihm sehr gut bekannte Handynummer. Es läutete nur zweimal, dann wurde abgehoben und eine asiatisch klingende Stimme meldete sich. "Hier ist Lucas. Was soll der Scheiss?", knurrte er. "Lucas... liebster Freund. Ich hoffe, meine Leute haben dir keine Umstände in Deutschland gemacht." Die Stimme klang gönnerhaft, hell, voll Freude. Beinahe konnte der Amerikaner das Grinsen hören. "Deine Männer haben mich heute mittag beinahe um die Ecke gebracht." Immer wieder schaute er dabei in den Rückspiegel, doch er konnte keinen grauen Mercedes mehr sehen. Die beiden hatten tatsächlich aufgegeben. "Zu schade.", hörte er. "Dann sollte dir das eine Lehre sein. Flieg zurück nach Amerika, und überlass uns den Stick. Ihr wisst damit eh nichts anzufangen." Lucas grinste, ein böses selbstsicheres Grinsen. "Ich gebe dir jetzt mal einen Rat. Beim nächsten Mal ziele ich besser, und dann kannst du schon mal ein Charterflugzeug neuer Männer nach Deutschland schicken. Also geb dich mit deinen Geldwäsche-Firmen, Drogenproduktion und Prostitution zufrieden und lass die Finger davon. Die Sache ist eine Nummer zu groß! Ihr wisst überhaupt nicht, auf was ihr euch einlasst." "Hauptsache du weißt es, Lucas... hauptsache, du weißt es." Dann trennte der unbekannte Mann die Verbindung.

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  • Köln - 19:45 Uhr



    Sie hatten so gehofft, durch ihre Observationsaktion etwas zu Lucas heraus zu finden... doch letztlich war es umsonst. Nachdem der, ab dem Café ahnungslose Mann, die Fahrt fortsetzte machte er nur eine Stunde in einem Restaurant Halt, um danach ins Hotel zu fahren. Dort harrten die beiden Polizisten bis kurz nach halb acht aus. Es dunkelte bereits deutlich, der Herbst war über sie gekommen und der Winter klopfte bereits langsam an die Tür. Ähnlich trübe und kalt wie das Wetter, war auch immer noch die Stimmung im Auto. "Lass uns zurück fahren. Das bringt nichts.", sagte Semir dann irgendwann genervt. Er war von dem Streit genervt, von Bens Laune mittlerweile auch. Sein unendlich wirkendes Verständnis für den Kollegen, der unter dem Tod Kevins litt, war aufgebraucht.
    "Hast du noch nen Termin?", war die schnippische Antwort von Ben und Semir seufzte mit geschlossenen Augen. "Ben, der hat sich jetzt über anderthalb Stunden nicht mehr aus dem Hotel bewegt. Wenn der da drin verdächtig telefoniert, bekommen wir es hier eh nicht mit. Du kannst ja gerne noch bleiben, ich hole mir ein Taxi zum Benz und fahre nach Hause." "Wenn jemand aus deiner Familie in Gefahr wäre, würdest du hier vermutlich ein Zelt aufschlagen." Schon wieder dieser aggressive Unterton, dachte Semir und kopfschüttelnd sah er Ben an.



    Er beugte sich, ein wenig zur Seite näher an Ben... als wolle er ihm im Geheimen etwas sagen, was niemand hören sollte. Doch das war nicht der Grund... der Grund war, dass es dem erfahrenen Polizisten wichtig war, was er zu sagen hatte. Sehr wichtig... und an diesen Sätzen hatte er die letzten Stunden bereits überlegt. "Pass auf Ben. Pass jetzt gut auf." Es sollte nicht drohend klingen und Ben bewegte den Kopf nur unmerklich. Eben war die Situation schon eskaliert, mit Worten die vermutlich beiden leid taten, auch wenn sie es jetzt gerade nicht zugeben würden. "Ich hab dir gesagt, dass ich verstehen kann, dass du dich scheisse fühlst. Und wir sind jetzt seit fast 10 Jahren Partner und beste Freunde. Wir haben mehr zusammen erlebt als jeder einzelne für sich und ich kann, oder konnte mir bisher niemals vorstellen, das zu sagen, an was ich heute mehrfach gedacht habe."
    In Ben breitete sich ein seltsames Gefühl aus. Semirs Stimme klang ernster als bei jeder Standpauke oder psychischer Hilfe, der er bisher von ihm zu hören bekommen hat. "Aber ich werde mir nicht weiterhin diese, deine Laune aufbinden lassen. Das belastet mich und ich bekomme schlechte Laune, und bevor dann zu Hause meine Kinder anpampe oder meine Frau, und meine Wut genauso an Unschuldigen auslasse, so wie du es derzeit tust, frage ich lieber die Chefin ob Jenny nicht diesen Fall mit der bearbeiten will." Der junge Polizist hielt innerlich den Atem an, während Semir sich abschnallte.



    "Und das lass dir gesagt sein. Im Bezug auf Jenny würde ich mich für dein Verhalten doppelt und dreifach schämen. Sie hat Kevin geliebt, über alles geliebt und ihn verloren. Sie war es, der er absolut vertraut hat, sie hatten ein Kind gemeinsam. Und es ist bewundernswert, wie sie damit umgeht, während du deine Trauer an jedem auslässt. Und jetzt wird sie durch diesen Fall auch noch belastet. Mach dir mal deine Gedanken, aber ich hab so keinen Bock mehr. Ich habe heute morgen erreicht, dass du offiziell Christian suchen darfst und gesagt, dass ich dir helfe... und das tue ich auch, aber ich arbeite euch von aussen zu. Ausser du überlegst dir, ob du das hier noch weiterhin so durchziehen möchtest." Semirs Stimme zitterte am Schluß, denn ihn nahm das Ganze selbstverständlich auch mit. Ben war sein bester Freund, eine Freundschaft die scheinbar bröckelte, und ganz kalt ließ ihn Kevins Tod natürlich auch nicht. Aber von seinem Nebenmann kam keine Reaktion, keine Antwort. "Man kann nicht alles, was man kaputt macht, einfach wieder zusammenkleben, Ben. Vergiss das nicht." Mit diesen Worten öffnete der Polizist die Beifahrertür und stieg aus, während sein junger Partner krampfhaft versuchte, nicht den Kopf zu drehen. Tausend Gefühle brachen über Ben herein, Bilder, Stimmen von Kevin und Semir. Erst nach einigen Sekunden, als Semir sich längst vom Auto abgewendet hatte und mit schnellen, großen Schritten Kurs auf einen Taxistand in der Nähe nahm, blickte er kurz rüber. Für einen Moment hoffte er quasi, dass Semir sich nochmal umdrehte und zurückkam... aber er tat es nicht.




    Ben blieb standhaft... würde Lucas das Hotel nachts nochmal verlassen, musste er da sein. Immer mit Blick auf das Hotel kaufte er sich an einer Bude eine Currywurst zum Abendessen, bevor er wieder Platz auf dem Fahrersitz nahm. Es war mittlerweile stockdunkel, nur der Eingang des Hotels hell erleuchtet, innen konnte man gut gekleidete Leute sehen, die im Hotel zum Restaurant gingen. Anzugträger gingen ein- und aus, sie kamen von einer Tagung und zogen, in lockerer Kleidung, danach wieder in die Innenstadt. Immer wieder sah Ben auf die Uhr, immer wieder hallten ihm die Worte von Semir durch den Kopf. Er war traurig und wütend zugleich. Die Freundschaft fochte einen Zweikampf mit der Sturheit aus, und noch immer war Zweitere stark und gewandt und redete dem jungen Mann ein, dass es von Semir nicht richtig war, ihn allein zu lassen und persönliche Befindlichkeiten hinten an zu stellen. Immerhin ging es hier um seinen Cousin, verdammt. Wie konnte er da nur so dünnhäutig sein, nur weil Ben selbst man nicht besonders gelaunt war. Doch sein Kopf widersprach ihm direkt selbst... und warf ihm quasi selbst vor, eine jahrelange enge tiefe Freundschaft zu gefährden. Um dann die Schuld auf andere zu schieben... auf Kevin. Im Prinzip war er an allem schuld. Hätte er sich damals nicht mit Anis angelegt... Ben merkte, wie er sich in Gedankenfetzen verlierte, während er den Hoteleingang ansah, und langsam schläfrig wurde.



    Plötzlich schreckte er hoch. Der Klingelton seines Handys hatte den jungen Polizisten geweckt. "Oh Fuck...", murmelte er verschlafen und blickte auf das Armaturenbrett, wo im Standby des Wagens die Uhrzeit angezeigt wurde... es war kurz vor Mitternacht. "Scheisse, verfluchte...", dachte er zuerst, weil er Angst hatte, dass Lucas ihm jetzt doch durch die Lappen gegangen war. Doch als er den Namen "Jenny" aus seinem Smartphone las, die mitten in der Nacht anrief, vergass er Lucas für einen Moment. "Jenny? Bist du das?", fragte er, als er nur einen zitternden Atem hören konnte. "Ben...?", flüsterte die Stimme angstvoll. Sie gehörte eindeutig zu Jenny, hörte sich aber fremd an. "Jenny? Was ist los? Wo bist du?" "Er... er ist hier.", flüsterte sie in einer Mischung aus Schluchzen und panischer Angst. Dem Polizisten schnürte es die Kehle zu und ihn befiel eine Gänsehaut.
    "Was meinst du? Bist du zu Hause?" Wieder ein Schluchzen. "Ja. Er ist hier... er ist hier in meiner Wohnung. Ich kann es spüren..." Ihre Flüsterstimme befahl Ben wie ein Schauer und sofort startete er den fremden Wagen. "Wer ist bei dir? Jenny?" "Ich bin mir sicher. Er ist es... ich kann ihn spüren... Ben... er macht mir solche Angst!" Der Polizist konnte nicht ordnen, was Jenny meinte und ihre Stimme machte ihm unglaublich Angst. "Ich bin gleich bei dir!", versprach er.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Jennys Wohnung - 0:30 Uhr



    Ben hatte das Blaulicht angeschaltet und war sofort hellwach, als er Jennys angstdurchtränkte Stimme am Telefon wispern hörte. War wirklich jemand in der Wohnung? Wen meinte sie mit "er"? Und warum war sie so ängstlich? Jenny war Polizistin, eine toughe Polizistin die im Einsatz nie Anzeichen von Angst zeigte. Sie war vielleicht nicht ganz so wagemutig wie Ben und Semir, wog Risiken eher ab... aber dass sie bei einem nächtlichen Besucher in Schockstarre verfiel, war ungewöhnlich. Diese Gedanken gingen Ben durch den Kopf, als er durch die nächtliche Innenstadt raste und dabei über zwei rote Ampeln fuhr, nachdem er vorsichtigerweise den Querverkehr gecheckt hatte. Mit quietschenden Reifen kam er vor dem Wohnhaus von Jenny, die in einem Mehrparteienhaus der gehobeneren Klasse wohnte, zum Stehen.
    Die Nacht war kalt, der Wind frischte auf, doch Ben spürte kein Empfinden. Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er zur Haustür lief und Jennys Klingel drückte. Ungeduldig wartete er darauf, dass Jenny den Knopf betätigte um die Tür zu entriegeln, doch nichts passierte. "Scheisse...", fluchte der Polizist. Sollte doch jemand in der Wohnung sein, und Jenny war in Gefahr? Er rüttelte an der Tür, doch das Haus war renoviert und die Tür eine Sicherheitstür, die so einfach nicht zu knacken sei, zumindest nicht mit der Kreditkarte.



    Ben griff in seine Mantelinnentasche, wo er sein Dietrich-Set hatte, das er mal "für Notfälle" von Semir geschenkt bekommen hatte. Dies war ein Notfall, Gefahr im Verzug... theoretisch hätte er auch die Tür eintreten können, doch den Sachschaden müsste er dann ausführlicher erklären. Er ließ das Werkzeug ins Schloß gleiten und hantierte herum. Kevin brachte ihm einige Kniffe bei, jedesmal mit einem mulmigen Gefühl im Bauch bei Ben. Immer wieder stellte er sich dabei Kevin in dunkler Kleidung und Basecap vor, wenn er als Jugendlicher Türen aufgebrochen hatte, um ihn Wohnhäuser oder Geschäfte einzusteigen. Er wollte sich das nicht vorstellen, und doch musste er im Laufe der Zeit damit umgehen, dass es bei Kevin zwei Leben gab. Eins vor seinem Polizeidienst, und eins danach. Zwei Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch hatte er sich von seinem ersten niemals ganz trennen können.
    Immer wieder sah der junge Polizist nach links oder rechts, doch die Straße war wie leergefegt. Es wäre peinlich gewesen, wenn ihn jemand erwischt hätte. Endlich sprang der Zylinder zurück und Ben konnte die Tür aufdrücken. Mit schnellen Schritten hetzte er nach oben zu Jennys Wohnungstür, wo er leise klopfte, um nicht die ganze Etage zu wecken. Als sich nichts rührte, klopfte er etwas lauter... unwissentlich, dass er Jenny damit große Angst machte. Es gab keine Reaktion hinter der Tür und Ben begann zu schwitzen. Wieder klopfte er und meinte plötzlich, er könnte ein leises Wimmern hören.



    Im Dunkel ein Wimmern hinter der Tür zu hören, ohne zu wissen was passierte, jagte ihm Schauer über den Rücken. Nun wollte er doch auf Nummer sicher gehen... er nahm die Waffe zur Hand und begann einhändig ebenfalls mit dem Dietrich zu hantieren. Die Kratz- und Klickgeräusche drangen auch im Inneren der Wohnung durch den Raum. Hier war das Schloß etwas nachgiebiger, und Ben brauchte nur einige Augenblicke, bis er die Tür vorsichtig aufdrückte, die Waffe im Anschlag. Das Wimmern wurde lauter, es mischte sich mit schnellem, ruckartigen Atmen, als würde jemand gerade einen Marathon laufen. Im gesamten Zimmer war es dunkel, und der junge Polizist musste die Geräusche orten. "Jenny?", flüsterte er leise und tastete nach dem Lichtschalter. Endlich... das Licht erhellte den Raum und schnell sah sich der junge Mann um, um nicht überrascht zu werden. Doch nichts war zu sehen.
    Aber er konnte erkennen, von wo das Wimmern jetzt kam... die Tür zum Bad war nur angelehnt, und die Geräusche kamen aus dieser Richtung. "Jenny?", flüsterte Ben leise und ging mit schnellen Schritten zur Tür. Das Wimmern wurde lauter, Ben machte Jennys Stimme aus, Bruchstücke von erstickten Worten zwischen Panik. Im Bad war es ebenfalls dunkel, aber der Polizist griff sofort um den Türrahmen herum, wo er den Lichtschalter in Erinnerung hatte. Auch das kleine, aber modern eingerichtete Bad wurde von dem Deckenfluter erleuchtet... und sofort ließ Ben die Waffe sinken. Was er sah ließ in seinem Hals einen Kloß wachsen.



    Jenny saß zusammengekauert in ihrer Dusche, die Beine fest an den Leib gezogen, den Kopf auf die Knie gelegt und sie hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Immer wieder kam neben Wimmern ein "Hör auf damit. Lass mich in Ruhe. Geh weg!" aus ihrem Mund, ohne dass sie aufblickte. Ben sicherte seine Waffe sofort, steckte sie weg und ging vor Jenny, die nur Unterhose und Shirt trug, in die Hocke. Vorsichtig, um die junge Frau nicht zu erschrecken, fasste er an ihr Handgelenk, damit sie ihn hören konnte. "Jenny... ich bins, Ben! Du hast mich angerufen." Ruckartig blickte sie in Bens Gesicht, und im Ausdruck ihrer Augen lag die pure Angst. Sie erkannte den jungen Polizisten, ihre Haut war kalt und sie zitterte. "Ben... er ist hier. Ich habe ihn gehört.", flüsterte sie. "Wer ist hier?" "Kevin... er ist in meiner Wohnung."
    Betroffenheit befiel Ben. Jennys Zustand war weitaus schlimmer, als sie alle ahnten. Die perfekte Fassade, dass sie relativ gut mit seinem Tod umging und vor allem ihre Arbeit ihr half, brach mit einem Mal zusammen. Die junge Frau steckte ganz tief in ihrer Trauer, die sich bei ihr völlig anders äusserte als bei Ben. Aber wer konnte es ihr verübeln?



    Den Grund für ihren Zustand sah er auch sofort. Neben ihr lag ein Döschen, das Ben sofort bekannt vorkam. Genauso wie der Inhalt... Kevins Hinterlassenschaft. Nachdem er es mit Jennys Hilfe schaffte, von den Drogen wegzukommen, hatte er immer ein Döschen zu Hause behalten. Für den "äussersten Notfall". Er füllte sich damit einfach sicherer als mit dem Gefühl, nichts zu haben. Er hatte es danach nicht mehr gebraucht, zumindest nicht so lange er bei Jenny war, und die hatte nicht mehr daran gedacht, dass es in ihrer Küche stand. Heute abend hatte sie sich im Zustand tiefer Trauer daran erinnert... mit jenen fatalen Folgen dass sie es Klopfen hörte, dass sie Kevins Stimme hörte und seine Anwesenheit spürte. Erst erfreut, dann hatte seine Stimmt bedrohlich geklungen und Jenny bekam furchtbare Angst.
    "Jenny komm... du musst aufstehen.", sagte Ben als er das Döschen sah... vielleicht konnte er noch etwas retten. Jennys Beine knickten beim ersten Versuch weg, sie wehrte sich nicht, gab aber unverständliche Laute von sich. Ben hob sie nur bis zur Toilette, wo er sie langsam wieder auf die Knie sinken ließ und den Deckel hochklappte. Er reagierte besonnen, im Notfallprogramm. "Sorry Jenny...", sagte er noch, obwohl sie es vermutlich gar nicht richtig mitbekam, dass er ihr zwei Finger in den Hals schob, damit sie sich erbrechen konnte in der Hoffnung, dass vielleicht ein Teil der Pillen nochmal mit heraus kommen würden. Das Döschen war noch sehr gut gefüllt, so dass Ben keine Überdosis befürchtete... aber er konnte Jenny jetzt erstmal nicht alleine lassen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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  • Jennys Wohnung - 1:15 Uhr



    Ben war erschüttert, was er gerade erlebt hatte. Jenny in einem Fiebertraum, im Drogenrausch vor Trauer um ihren Freund Kevin, und dann auch noch mit dessen Drogen. Das Röhrchen war noch beträchtlich gefüllt, so dass Ben keine Angst haben musste, dass die junge Frau eine Überdosis geschluckt hatte und sie hatte auch zwischen ihren wirren Sätzen gemurmelt, dass sie nur eine Pille genommen hatte. Die offenbar reichte vollkommen aus, um drogenunerfahrene Menschen auf einen Höllentrip zu schicken. Kevin schien kein Weicheier-Zeugs genommen zu haben, damals, sondern Zeug das reinhaut. Auch das erschütterte ihn... nachträglich immer noch.
    Jenny war ruhiger geworden, sie hatte über der Toilettenschüssel gekniet und hatte nochmal erbrochen, diesmal ohne fremde Hilfe. Danach war sie vor der Toilette zusammengeklappt, und nur von Bens Händen aufgehalten. Er hatte sie gestützt, zur Couch geschleppt und ihr dort ein weiches, warmes Lager mit Kissen und Decken eingerichtet. Immer wieder gab er ihr etwas Wasser zu trinken, damit ihr Kreislauf nicht in den Keller ging, damit die Drogen aus dem Körper geschwemmt werden konnten. Ähnlich, wie mit Alkohol und einem Kater. Irgendwann hatte sie auf der Couch leise angefangen zu weinen, so dass Ben ihr immer wieder durchs Haar strich. Ein Weinkrampf vor lauter Trauer, den sie in den letzten Tagen und Wochen scheinbar immer mal zurückgehalten hatte.



    Der junge Polizist beobachtete Jenny und er fühlte sich hundeelend. Nicht nur, weil es ihm nahe ging, wie sehr Jenny um Kevin trauerte. Nicht nur, weil er selbst erneut brutal von der Tatsache eingeholt wurde, dass gerade soviel in seinem Leben und in dem Leben seiner Freunde aus dem Ruder lief. Er fühlte sich gerade schrecklich egoistisch, wie er sich in den letzten Tagen benommen hatte. Mit seinem Eigensinn, seiner aufgestauten Wut, die er gegen jeden herausließ, angetrieben von der Trauer. Statt die Trauer zu teilen und damit eine Stütze für Jenny zu sein, und auch für Semir, war er ein ekelhaftes Arschloch geworden und hatte sich auch so gezeigt. Gegenüber den Menschen, die ihm am wichtigsten sind. Semir, Jenny und vor allem Carina. Jenny hatte ihre Trauer verborgen, in sich hineingefressen und anders, als bei Kevins erstem Verschwinden, einfach in sich gefressen. Bewusst unterdrückt, wie es ihr Kopf ihr vorgespielt hatte, als Kevin in der Wohnung war und darum bat, dass die Trauer Jennys Herz nicht fesseln sollte. Sie hatte es zu wörtlich genommen und ihr selbst jede Trauer verboten. Doch das konnte nicht funktionieren, wie sie spätestens in dieser Nacht oder am nächsten Morgen feststellen würde. Semir, als erfahrener Polizist, der schon mehr als einen Freund verloren hatte, ging professionell damit um. Er hatte eine Schulter, eine Stütze bei seiner Frau, nachdem er merkte dass Ben im Bezug auf Kevins Tod nicht ansprechbar war... zumindest nicht als Freund. Deswegen war der Älteste der drei auch der souveränste und der, der nicht nur vordergründig mit der Tragödie am besten umging.



    Aber Ben übersah, dass es Jenny schlecht ging und sie das perfekt überspielte. Wäre er nicht mehr mit sich beschäftigt gewesen und vor allem damit beschäftigt, seinen Freunden das Leben schwer zu machen, hätte er es vielleicht erkannt... und hätte ihren jetzigen Zustand verhindern können. Sein Herz klopfte laut. Kevin war immer und für jeden, wenn er gebraucht wurde, ein Fels in der Brandung... egal wie schlecht es ihm selbst ging. Er schaffte es, die eigenen Probleme hinten anzustellen, und solange er gebraucht wurde, da zu sein. Ben hatte das nicht getan. Er war egoistisch, hatte zuerst sich gesehen und die ganze Welt für ungerecht erklärt. Hatte sich mit Semir gestritten, Carina vor den Kopf gestoßen und Jenny ignoriert. Es hatte diesen Zusammenbruch gebraucht, um ihn zu der Erkenntnis zu bringen. "Es tut mir so leid, Jenny", sagte er leise und die junge Frau wusste nicht, ob er es sagte um sich für sein Verhalten zu entschuldigen, oder ob es ein Ausdruck von Beileid war.
    Er kümmerte sich um die junge Frau und blieb bei ihr, er konnte sie jetzt nicht alleine lassen. Mit der Zeit wurde sie ruhiger, sie hörte auf zu weinen und sah langsam wieder klarer. Kein Klopfen mehr, keine Stimmen mehr und nicht dieses untrügerliche Gefühl, dass Kevin irgendwo in der Wohnung war. Sie erzählte langsam, wie heute abend plötzlich alles über sie hereinbrach, sie sich einsam fühlte, mehr als sonst. Und dass sie der Gedanke quäle, Kevin wäre nicht bei ihr, würde nicht auf sie aufpassen, würde sie vergessen. "Da habe ich die Pillen gefunden... und eine genommen. Weil ich dachte, ich könnte es dann vergessen." Sie tat den gleichen Fehler, den Kevin getan hatte.



    Jennys Glück war, dass sie nicht in der Jugend schon aus Spaß Drogen genommen hatte. Weil Kevin bereits vorher einmal abhängig war, kam er bei seinem depressiven Absturz nicht mehr davon weg. "Ich nehm die Dinger mit, okay? Damit du nicht mehr in Versuchung gerätst.", sagte Ben mit vertrauensvoller Stimme und steckte das Döschen in seine Jackentasche. "Würde ich... wohl sowieso nicht mehr. Aber es ist besser, wenn sie nicht mehr hier sind.", sagte Jenny mit schwacher, stotternder Stimme. Sie war froh, dass Ben bei ihr war. "Ich vermisse ihn einfach so sehr.", fügte sie leise hinzu und Ben nahm sie in den Arm. "Ich auch, Jenny... ich auch.", pflichtete er ihr bei, auch wenn er Kevin natürlich auf einer anderen Ebene vermisste. Als Freund, als Partner, als Musikerkollege.
    "Es tut mir leid, wie ich mich die letzten Tage verhalten habe. Wie ein Esel... dabei geht es dir soviel schlechter, und du knabberst soviel mehr daran.", gab er zu und schämte sich. Er war zwar nicht besonders eklig zu Jenny, aber ablehnend. Semir und Carina bekam den größten Teil seiner Wut ab. "Jeder trauert anders. Natürlich knabbert es auch an dir.", beschwichtigte die junge Frau. Aber sie verstand was er meinte. Während sie ihre Trauer auf niemanden projeziert hat, hat er jeden anderen Menschen in Mitleidenschaft gezogen.



    "Oh verdammt...", entfuhr es Ben plötzlich. Gerade fiel ihm ein, dass er Carina mit keinem Wort Bescheid sagte, wo er ist. Sie würde vermutlich längst zuhause wahnsinnig werden, vor Angst. Immer noch war er es nicht gewöhnt, sich zu Hause für ein späteres Kommen zumindest abzumelden. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte Carinas Nummer. Sie meldete sich schläfrig: "Ben?" Der junge Polizist war erstaunt... ein wenig auch traurig. Hatte sie sich gar keine Sorgen gemacht, dass sie scheinbar friedlich schlief, obwohl er nicht nach Hause kam. "Carina... es tut mir leid, ich habe vergessen anzurufen, dass ich noch in einem Einsatz war." "Hmm... aber dein Kollege hat doch angerufen?" Ben schaute ein wenig verwirrt. "Mein Kollege? Meinst du Semir?" Jenny blickte bei Bens überraschtem Gesicht ebenfalls auf.
    "Na klar. Er hatte so gegen acht Uhr angerufen und gemeint, dass ihr beide noch eine Observation am Laufen habt, die auch bis in die Nacht dauern könnte. Oder meinst du, ich würde ruhig schlafen, wenn ich nicht wüsste wo du bist." Semir hatte wohl, direkt nach dem sie im Streit auseinandergingen, Carina angerufen. Im Wissen, dass ein Ben auf Hochtouren sowas natürlich vergessen würde, und der erfahrene Polizist hatte Recht. Ben lächelte insgeheim über seinen Partner, der scheinbar seine Gedanken lesen konnte...

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  • Dienststelle - 8:00 Uhr



    Beide fühlten sich nicht besonders wohl, als sie geradewegs auf die Dienststelle zuhielten. Ben war erst gegen vier Uhr bei Jenny auf einem Sessel sitzend eingeschlafen, hatte Nackenschmerzen und rötliche Augen. Ausserdem pochte in ihm das schlechte Gewissen, seit er nach dem nächtlichen Erlebnis klarer sah. Auch wenn er sich ganz sicher war, aus jahrelanger Erfahrung mit Semir zusammen, dass dieser ihm keine Szene machen würde wenn Ben sich jetzt gleich aufrichtig für die letzten Tage und Wochen entschuldigt. Trotzdem fiel im dieser Gang jetzt schwer, zusätzlich stand heute wieder die Begegnung mit Lucas an. Wer weiß, ob der sie gestern bei der Observation bemerkt hatte... wenn er heute überhaupt nochmal auftauchte. Hatte er wirklich Dreck am Stecken und die Observation war aufgefallen, würde er vielleicht die Flucht nach vorne antreten.
    Jenny ging es aus anderen Gründen schlecht... Nachwirkungen ihres Horrortrips äusserten sich in Müdig- und Übelkeit, Kopfschmerzen und Augenbrennen. Doch sie wollte, gerade nach den letzten Monaten, nicht schon wieder krankmachen. Auch damit es keine Spekulationen unter den übrigen Kollegen gab, ob sie vielleicht doch mehr Probleme hatte, Kevins Tod wegzustecken. Äusserlich wollte sie die Rolle der starken, unerschütterlichen Frau aufrechterhalten, weswegen sie sich heute mehr schlecht als recht zum Dienst schleppte.



    Semir blickte am Schreibtisch auf, als er Bens Frisur durch die große Glasfront sah. Nachdem er gestern wütend abgedampft war, hätte er nach einer Viertelstunde schon wieder zurückkehren können und den nächsten, ruhigen Gesprächsversuch unternehmen. Nicht nur weil Ben ihm natürlich am Herzen lag, auch weil Semir unerschütterlich daran glaubte, dass sich Konflikte nur so lösen lassen. Zumindest unter Freunden hatte er die Fähigkeit einer sehr langen Zündschnur und einer hohen Leidensfähigkeit. Aber, und das musste er dann abends zugeben, als er nach Hause kehrte und die ganzen Erlebnisse seiner Frau erzählte... diesmal hatte es ihn getroffen. Es hatte Semir traurig gemacht zu sehen, was ein Todesfall aus seinen Freunden, in diesem Fall Ben, machte.
    Und es kamen ihm wieder Gedanken, die er gerne aus seinem Kopf verbannte. Vielleicht war es doch irgendwann an der Zeit, die restlichen Jahre seiner Berufslaufnahm irgendwo zu verbringen, wo man nicht immer mal mit dem Tod von Freunden und Kollegen konfrontiert wird. Ihm wurde von anderen Dienststellen, aufgrund seines kriminalistischen Geschicks oftmals Leiterposten angeboten. Viel Organisation, Verantwortung, Koordination... und natürlich mehr Geld. Mit jedem gefährlichen Einsatz dachte er, dass ihm nicht mehr viele Chancen bleiben würden, die letzten Jahre ein wenig sicherer zu verbringen. Auch darüber dachte er in dieser, für ihn auch, unruhigen Nacht nach. Und das war unabhängig von Bens Launen.



    Dem erfahrenen Kommissar entging natürlich Jennys "Zustand" nicht. Sie sah wirklich nicht gut aus, kränklich und blass. "Frauenkrankheit", murmelte er in die Tasse und beruhigte sich damit selbst, als Ben zur Tür herein kam und nur ein zerknirschtes "Morgen" fallen ließ. "Guten Morgen." Semir hatte die Angewohnheit, Streitigkeiten nicht auszutragen. Sie hatten sich gestern gezofft... okay. Darüber musste man heute reden und ehrlicherweise erwartete der Polizist auch eine Entschuldigung von seinem Partner. Aber er ließ seinen jungen Freund nicht spüren, dass er sauer war oder dass man sich gestern in den Haaren hatte. Das Schokocroissant, mit dem Semir diese Woche an der Reihe war, lag auf seinem Platz. Semir hätte ja genauso gut sagen können: "Ne, heute nicht." und schmollen.
    Das machte es für Ben natürlich noch schwerer, zeigte es doch die Unsinnigkeit seiner Angriffe, wenn der Angegriffene so besonnen reagierte, zumindest im zweiten Moment. Und dennoch spürte der junge Polizist den durchaus fordernden Blick seines Partners auf sich. "Hmm... also... ich wollte mich bei dir entschuldigen.", meinte er kleinlaut und Semir atmete innerlich auf. Er hatte durchaus Befürchtungen, dass Ben dieses Spiel weiterführte, was die nächsten Tage sicher nicht angenehm gemacht hätten. Jetzt nickte er zufrieden... und hoffte, dass es nicht nur leere Phrasen waren.



    Mit dem Grund für die Entschuldigung wurde Semir dann aber geschockt. "Ich hab gestern vor Augen geführt bekommen, dass Kevins Tod bei Jenny mehr Schaden hinterlassen hat... und ich mich deshalb ziemlich egoistisch verhalten habe, dies nicht gemerkt zu haben." Der kleine Polizist zog die Stirn in Falten. "Was meinst du damit?" Ben seufzte: "Jenny hat mich gestern Nacht angerufen. Sie war vollkommen verängstigt, redete davon dass Kevin in ihrer Wohnung sei, dass sie ihn hören könne. Ich bin zu ihr gefahren und habe sie quasi... gefunden. Sie hat von Kevins Pillen etwas genommen, weil sie sich so schrecklich einsam gefühlt hat." Semir wurde mit einem Schlag schlecht und er blickte sorgenvoll über die Schulter in Jennys Richtung. "Ach du Scheisse...", murmelte er. Ben hatte mit Jenny abgesprochen, dass er Semir einweihte, und sie war einverstanden.
    "Genau... aber es war eine einmalige Sache, weil sie gemerkt hat, auf welchen Höllentrip sie von den Dingern geschickt wurde." "Ganz sicher?" "Todsicher. Glaub mir, sie hat die Wirkung völlig falsch eingeschätzt." Ben nickte und er vertraute Jennys Worte, was wiederum Semir überzeugte. "Am besten, wir sprechen sie erstmal nicht drauf an. Ihr gehts jetzt auch dementsprechend mies, aber sie wollte nicht krank machen. Sie hat versucht, das Ganze zu überspielen." Und etwas leiser, selbstkritischer fügte der Mann mit der Wuschelfrisur hinzu: "Und da ich mehr damit zu tun hatte, ein Arschloch zu sein, hab ich es nicht gemerkt." Semir legte seinem besten Freund eine Hand auf die Schulter. "Mir ist auch schon aufgefallen, wie stabil Jenny das Ganze wegsteckt. Letztlich können wir ihr aber nicht in den Kopf schauen. Aber jetzt wissen wir Bescheid."



    Ben war froh, dass Semir nicht weiter auf seinem Verhalten hackte, sondern still die Entschuldigung akzeptierte. Er nickte und setzte sich, wobei er den Mann mit längeren grauen Haaren bei der Chefin im Büro sah. "Das ist doch Staatsanwalt Kremer, oder?", meinte er. Semir nickte: "Ja... ließ sich nicht vermeiden. Er ist heute bei der Durchsuchung in dem chemischen Labor dabei." Beide Polizisten konnten den Mann nicht besonders gut leiden, der zwar vor Gericht ein ausgezeichneter Staatsanwalt war und sich gerne mit seinem Gegenüber, dem Verteidiger, anlegte, dabei rhetorisch meist die Überhand behielt, aber gleichzeitig ausserhalb des Saals zwischen Hochnäsigkeit und Cholerik schwankte. Ausserdem war er berüchtigt als "Killer", wenn es darum ging, Verfehlungen bei Polizeibeamten zu ahnden.
    Was, wie der erste Wermutstropfen auf den Morgen war, nachdem sich Ben und Semir nun stumm ausgesöhnt hatten, folgte der zweite in Form eines stämmigen Mannes mit kahlem Kopf und stechendem Blick. Lucas kam ins Großraumbüro, nickte zur Begrüßung in Richtung Jenny, statt "Guten Morgen" zu sagen und ging dann zielstrebig ins Büro von Semir und Ben. Die beiden hatten keine Chance sich kurz abzusprechen, wie sie auf den Mann, den sie gestern beschattet hatten, und dem sie nicht unbedingt vertrauten, gegenüber treten sollten heute. Beiden wäre es lieb gewesen, wenn er nicht bei der Durchsuchung dabei gewesen wäre, doch wie sollten sie das begründen? Lange überlegen, ob sie überhaupt etwas zu der letzten Nacht sagen sollten, brauchten die beiden Autobahnpolizisten sowieso nicht... denn Lucas kam ihnen zuvor, als er ohne Begrüßung Richtung Ben ein "War das nicht unbequem im Auto zu schlafen?" warf und den jungen Polizisten provokant und herausfordernd ansah...

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  • Dienststelle - 8:30 Uhr



    Die Temperatur im Raum kühlte innerhalb von Sekunden ab, als Lucas das Büro betrat und sofort auf die gestrige Überwachungsaktion zu sprechen kam. Bens Augen verengten sich zu Schlitzen und Lucas' Ruhe hatte ein wenig etwas von Kevins Arroganz, die er ausstrahlte wenn er seinen Schutzwall errichtet hatte. Und Lucas wusste das... er hatte sich heute morgen lange überlegt ob und wie er auf die gestrige Observation reagieren sollte. Natürlich wusste er, warum diese stattfand. Die beiden Polizisten waren ja auch nicht blöd und hatten sicherlich mitbekommen, dass die Angreifer gestern bei der Schiesserei seinen Namen gerufen hatten, dabei aber einen anderen Nachnamen nannten. Würde er nicht darauf reagieren und einfach nur seinen Stiefel durchziehen, wäre er der Beobachtung weiterhin ausgesetzt und müsste sich jeden Schritt überlegen. Also wählte er die offene Konfrontation.
    "Du solltest dir eher die Frage stellen, ob du uns weiterhin belügen willst.", trug Ben sein Herz mal wieder auf der Zunge und Semir verdrehte innerlich die Augen. In seinen Augen hätte man diese Konversation auch etwas gemäßigter beginnen können, um eventuelle Missverständnisse aufzuklären oder Lucas weitere Informationen zu entlocken. "Oder hatte der Asiate nur nen komischen Akzent?", legte Ben noch nach, so dass der Kahlkopf nur langsam nickte. "Ich hab mir schon gedacht, dass das der Grund für eure Verfolgungsfahrt war."



    "Und? War sie berechtigt?", fragte Semir mit Skepsis in der Stimme. Ihm war Lucas' Sicherheit verdächtig, als hätte er sich eine Story ausgedacht, die er jetzt zum Besten gab und die für die beiden Polizisten nur schwer widerlegbar war. "Ich habe mit dieser kriminellen Organisation schon öfters zu tun gehabt.", sagte er mit seelenruhiger Stimme, ging ein paar Schritte und sein Blick haftete dabei auf Ben, was diesen innerlich noch mehr provozierte. "Unter anderem habe ich mich schon einmal dort eingeschlichen. Und ich weiß nicht, ob ihr Erfahrung mit Undercover-Einsätzen habt, aber für gewöhnlich schleust man sich nicht unter seinem richtigen Namen in diese Organisation." Lucas drehte seine Geschichte um und sah in zweifelnde Augenpaare. "Tss...", war Bens kurze Antwort darauf und er schüttelte den Kopf.
    "Klingt etwas konstruiert." Semir saß mit verschränkten Armen im Stuhl und blickte zu den beiden, sich gegenüber stehenden Männern. Die Atmosphäre war zum Schneiden, auch wenn keine lauten Worte fielen und zumindest Lucas äusserlich völlig ruhig war. "Für euch vielleicht. Jedenfalls könnt ihr gerne über das auswärtige Amt eine Überprüfung meiner Person anhand meines CIA-Ausweises stellen... oder auch direkt beim CIA selbst, wenn jemand von euch der englischen Sprache mächtig ist." Bei diesem Satz nahm Lucas sein Smartphone aus der Tasche und hielt es erst Ben, dann Semir vor die Nase. Eine stumme Aufforderung, dass einer der beiden die CIA-Zentrale direkt anrufen sollte... und natürlich wussten die beiden, was im Zentralcomputer in der Personalakte gespeichert war.



    So ging auch keiner der beiden auf das Angebot ein. Lucas' Verhalten nährte weiter ihre Skepsis, es entkräftete nichts. Sie mussten höllisch aufpassen, dass er kein doppeltes Spiel spielte. "Ich verspreche dir... wenn du dafür verantwortlich bist, dass meinem Cousin etwas passiert... oder anderen Unschuldigen... dann nutzt dir auch dein CIA-Ausweis nichts.", drohte Ben, kam während er das sagte zwei Schritte auf Lucas zu und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. Mit einem kurzen Blick auf Kevins Bild neben der Kerze auf Bens Sideboard, das gleiche "Gedenken" wie bei der jungen Kollegin und dem Gedanken an das kurze Gespräch mit Jenny gestern, sagte er: "Man sollte nicht in Fällen ermitteln, in denen man privat beteiligt ist. Schon gar nicht, wenn man gerade mit in einer Trauerbewältigung ist."
    Was eigentlich gar nicht als Provokation gedacht war, sondern tatsächlich als gut gemeinter Rat eines erfahrenen Navy-Soldaten, geriet bei Ben völlig in den falschen Gehörgang. Es klang, als würde er Kevin verhöhnen... und nur weil er sich bei Semir für sein unmögliches Verhalten entschuldigt hatte, hieß das nicht dass er sofort weniger angespannt ist. Schon gar nicht im Bezug auf Kevin. Er packte Lucas am Kragen. "Was hast du da gesagt?", schnauzte der junge Polizist den Mann an, den er körperlich völlig unterschätzte.



    Semir konnte gar nicht so schnell aufspringen und eingreifen, wie Lucas sich mit einem festen Griff von Bens Händen befreite und den Polizisten zurückstieß. Die schnelle Bewegung hatte fatale Folgen, denn Bens Jacke war recht weit geschnitten und entsprechend waren seine Taschen groß. Bei der schnellen Bewegungen flog die Seite seiner Jacke ein wenig auf und aus der breiten Tasche fiel das Röhrchen mit den pinken Pillen. Mit Entsetzen in den Augen betrachtete Ben, als würde er einen Film in Zeitlupe sehen, wie das Plastikteil über den Boden rollte, durch die offnene Tür und erst an den Schuhen eines Mannes zum Stillstand kam. Die Schuhe gehörten Staatsanwalt Kremer, der gerade mit Anna Engelhardt zusammen die Vorgehensweise für die anstehende Untersuchung besprechen wollte. Jetzt blickte er mit großen Augen erst auf den Boden, dann zu Ben und Semir, bevor er sich bückte und das Plastikröhrchen aufhob.
    "Was zum Teufel...", zischte Anna Engelhardt mit Wut in den Augen, als Ben selbst merkte, dass ihm gerade schlecht wurde. Semir sah das Unheil ebenfalls schon kommen... ausgerechnet Kremer, der Kollegenschreck. Disziplinarverfahren, Suspendierung, das ganze Programm. Oh Mann... "Ist ihnen das gerade aus der Tasche gefallen?", fragte Kremer mit stechendem Blick und fast schon bedrohlichem Unterton in Bens Richtung... scheinbar hatte er, im Gegensatz zu allen anderen, nicht genau gesehen, wem das Ding aus der Jacke gefallen war.



    Doch bevor Ben antworten konnte, kam ihm Lucas zuvor. "Nein, das gehört mir." Ben und Semir versuchten, nicht alzu überrascht zu gucken und Ben fochte sofort einen Kampf mit sich aus, ob er es zulassen sollte, dass Lucas sich wie ein schützendes Schild vor ihn stellte. "Ach ja... und was ist das? Sieht mir nicht wie Smarties aus.", sagte Kremer mit prüfendem Blick, als könne er das erkennen. Semir erinnerte sich daran, dass nicht mal Drogenexperten wie Thomas Bienert diese Teufelspillen von Smarties unterscheiden konnte, und umgekehrt. "Sind es auch nicht. Das sind Psychopharmaka." Lucas redete ohne eine Miene zu verziehen und hielt die Hand offen, eine stumme Geste mit der er die Pillen zurückforderte. Auch Anna Engelhardt blieb stumm, genauso wie Semir und Ben. Eine Suspendierung konnten sie nicht gebrauchen, und Lucas war in seiner spontanen Rolle unglaublich selbstsicher.
    "Ein Polizist im Dienst, der Psychopharmaka braucht, gefällt mir aber gar nicht." "Ich habe sie auf Reisen nur für den Notfall bei mir, wegen eines Traumas aus Afghanistan bei der Navy. Und falls ich sie für einen Notfall brauche, können sie sicher sein, dass ich danach sofort den Dienst beende für diesen Tag, oder ihn gar nicht erst antrete." Ein Zucken mit den Fingern, eine erneute Aufforderung. "Ich hoffe, sie wollen mich deswegen nicht verhaften, Herr..." "Kremer. Na schön. Darum soll sich das CIA kümmern, solange sie hier unsere Ermittlungen nicht behindern mit ihrem... Trauma." Er gab Lucas das Döschen, der es, mit einem kurzen Blick auf Ben, in der Jackentasche verschwinden ließ, damit sie endlich die Besprechung beginnen konnten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

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  • Dienststelle - 9:00 Uhr



    Die Besprechung fand in einer, recht unterkühlten Atmosphäre statt. Es schien, als läge ein grundsätzliches Misstrauen in der Luft, die Stimmung war gedrückt. Semir und Ben blickten immer wieder arggewöhnisch auf den schweigenden Lucas, der undurchschaubar und undurchsichtig wirkte. Falsche Namen, richtige Namen, eine CIA-Akte die auffällig leicht auffindbar war... gleichzeitig rettet er völlig selbstlos und mit einer Überzeugung in der Stimme Ben vor einem möglichen Disziplinarverfahren, obwohl der ihn gerade beschuldigt hatte, eine falsches Spiel zu treiben. Es passte alles nicht zueinander. Keiner der beiden Polizisten war richtig bei der Sache, als Hartmut, der zur Besprechung gestoßen war, erklärte mit welchen technischen Mitteln man dem zentralen Computer des Labors auf den Leib rücken wolle.
    Die Chefin dagegen hatte ihre Mitarbeiter immer im kritischen Blick. Irgendetwas lief da schon wieder hinter ihrem Rücken, die Pillen hatten doch normalerweise nichts bei Ben zu suchen. Sie wusste von Kevins Vergangenheit, auch wenn ihr seine Drogen nie unter gekommen waren. Und sie hatte genau beobachtet, aus welcher Jacke das Döschen gefallen war... und das war nicht die von Lucas. Hatte Ben Probleme? Kam er so schwer über Kevins Tod hinweg, dass er sogar Medikamente oder Drogen nahm, neben seinen Stimmungsschwankungen? Und auch Jenny sah an diesem Morgen wesentlich "schlechter" aus, als die Tage zuvor. Sie hatte von dem "Döschen-Drama" zum Glück nichts mitbekommen und fuhr auch später bei der Durchsuchung nicht mit.



    Kremer versuchte, interessiert zu wirken, als Hartmut sich in technischen Erklärungen verlor, die die Chefin genervt immer wieder unterband. "Ja Hartmut... wie genau sie jedes Bit untersuchen ist jetzt nicht unbedingt von Belang. Wichtig ist, was wir tun müssen, um zu verhindern dass noch jemand die Möglichkeit hat, etwas zu löschen." Hartmut nickte und führte aus. "Wenn ich euch...", dabei deutete er auf Semir, Ben und Lucas, die zur Befragung gestern im Labor waren. "... richtig verstanden habe, ist ein Schlüssel im System hinterlegt, mit dem man auf die Daten zugreifen kann. Wenn die Sicherheitsstandards wirklich so hoch sind, dann dürften nicht viele Leute dort über diesen Schlüssel verfügen. Um zu verhindern, dass Daten gelöscht werden, müssen wir aufpassen dass der Geschäftsführer und der Verantwortliche Techniker nicht zum Handy greifen um Anweisungen zu geben oder selbst darüber auf das System zugreifen. Wenn der Techniker am Terminal ist, kann ich selbst aufpassen."
    Die Chefin nickte: "Semir, sie passen mir darauf auf. Notfalls beschlagnahmen sie auch das Handy." "Dateien restlos zu löschen dauert auch ein wenig. Das geht nicht innerhalb von Sekunden, ansonsten sind die Daten wieder herstellbar." Hartmut war ein Experte auf diesem Gebiet, die Polizisten glaubten ihm dahingehend jedes Wort und vertrauten ihm blind. Drei seiner Mitarbeiter waren dabei und stiegen sogleich in den Van aus der KTU, während Ben, Semir und Lucas in den Ersatz-BMW einstiegen. Kremer fuhr in einem Mercedes hinterher.



    Ben kam um ein kurzes, zerknirschtes "Danke" nicht herum, als die drei Männer im Wagen saßen. "Kein Ding.", wiegelte Lucas ab und gab das Döschen wieder an Ben. "Aber warum brauchst du das Zeug?" "Das gehört mir nicht. Das gehört einem Freund.", sagte der Polizist mit der Wuschelfrisur. "Mann, warum hast du das Zeug nicht einfach entsorgt, du Esel!", raunte Semir vom Fahrersitz aus, er wusste natürlich dass es die Pillen waren, die Jenny gestern Abend genommen hatte, und die eigentlich Kevin gehörten. "Weil... ach, ich hab halt nicht dran gedacht. Ich hab sie eingesteckt und heute morgen waren sie noch in der Tasche." Semir kannte ja Bens Zerstreutheit, und es brachte jetzt nichts, weiter darauf herum zu hacken. Lucas hatte die Situation geistesgegenwärtig geregelt, zumindest für Staatsanwalt Kremer. "Anhand des Gesichtsausdrucks der Chefin kann ich dir sagen, dass sie gemerkt hat, dass du die Pillen verloren hast, nicht Lucas.", kündigte Semir schon mal einen späteren Anschiss an. "Ja, dann muss ich es ihr halt erklären.", meinte Ben nur kurz. Er drehte sich dann zu Lucas um. "Stimmt das, was du gesagt hast?" Der kahlköpfige Mann blickte mit seinen wachen Augen vom Fenster weg nach vorne zu Ben. "Was meinst du? Mit dem Trauma?" Ben nickte. "Ja... beziehungsweise generell. Warst du wirklich in Afghanistan?" Die Frage resultierte aus reiner Neugier, aber natürlich auch mit dem Hintergrund, ein wenig hinter die Fassade dieses Mannes zu blicken. Auch Semir hörte aufmerksam zu und Lucas räusperte sich kurz. Eigentlich wollte er nicht zuviel von sich preisgeben.



    "Ich habe kein Trauma. Aber ja, ich war bei der US-Navy und ich war in Afghanistan vor einigen Jahren." Dabei nickte er. Ein Szenario, das für Ben und Semir nicht vorstellbar war. Klar hatten sie einiges über den Nahost-Konflikt gehört, gelesen, in den Nachrichten gesehen. Für Semir war Krieg immer unwirklich, er passierte Tausende Kilometer weit weg und war einfach nicht greifbar. In gefährlichen Situationen, in die sie ja zur Genüge gerieten, war ihm die Gefahr immer bewusst. Sie ließen sich darauf ein, manchmal war es ja auch kontrolliert. Aber in einem Krisengebiet, ständig unter Beschuss, der Gefahr eines Anschlages... es war eine andere Welt. Aber es passte auch irgendwie zu dem Mann, der bei ihnen auf der Rückbank saß, dachte der erfahrene Ermittler, der Lucas durch den Rückspiegel kurz beobachtete.
    "Und warum nicht mehr?", fragte Ben interessiert, und er glaubte zu sehen, dass die Augen ein wenig kühler wirkten. "Ein schlechter Einsatz der auf meine Verantwortung ging." Eine kurze Antwort, die nichts aussagte... ausser, dass ein Einsatz schiefging. "Schlechter Einsatz?", wiederholte Ben, was sich eher wie ein "Erzähl mehr" anhörte. "Ja genau... schlechter Einsatz. Jedenfalls wurde mir danach die Stelle beim CIA angeboten, und das wars soweit." Man merkte das Abblocken, etwas was die beiden Polizisten schon von Kevin kannten. "Wars schlimm dort?" Ein kurzes Nicken. "Ziemlich schlimm."



    Die Ankunft am Labor beendete das Fragespiel, und die drei Männer stiegen aus. Staatsanwalt Kremer bat sofort um den Geschäftsführer, der glücklicherweise auch im Haus war. Unter Argusaugen beobachtete Semir und Ben, dass der Mann nicht zum Handy griff, während er den Durchsuchungsbeschluss las, dann rief er seinen Leiter der IT-Sicherheitsabteilung an. "Kommen sie bitte in mein Büro." Keine Anweisung und wenn "Kommen sie bitte in mein Büro" nicht ein Codesatz für "Vernichten sie alle heißen Daten" war, waren die Polizisten auf der sicheren Seite. Der Mann, der sich als "Herr Michels" vorstellte, las den Durchsuchungsbeschluss ebenfalls. Beide Männer waren nicht sonderlich erfreut, doch der Geschäftsführer machte professionell gute Miene zum bösen Spiel. "Natürlich werden wir die Arbeit der Polizei unterstützen."
    Während Hartmut und seine Mitarbeiter sich von Herr Michels den Serverraum zeigen ließen, bat Semir um die Personalakten, die der Durchsuchungsbeschluss ebenfalls mit einschloss. Herr Bretten, der Personalchef den die Polizisten schon kannten, kam wenig später mit mehreren gefüllten Ordnern. Der Klingelton von Bens Handy unterbrach das Arbeiten. "Sorry...", meinte er nur und entfernte sich ein wenig von der Gesprächsgruppe aus Semir, Lucas, dem Geschäftsführer und Bretten. "Ja?" "Ben... du... du musst mir helfen! Bist du allein?" Es war Christian...

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  • Labor - 10:30 Uhr



    Ben schaute sich kurz um, ein Blick auf Semir und auf Lucas. Im ersten Affekt wollte er seinen besten Freund herbei winken, doch etwas hielt ihn zurück. Das Misstrauen gegenüber Lucas und die ängstliche, leicht panische Stimme von Christian am Telefon. "Christian? Verdammt, weißt du was ich mir für Sorgen..." Doch weiter kam er nicht. "Ben!! Hör mir zu! Bist du alleine?" So hatte der junge Polizist Christians Stimme noch nie gehört. Er biss sich auf die Lippen und entfernte sich noch weiter von der Gruppe um Lucas, Semir und den Beamten, die zur Unterstützung gekommen waren. Semir sah nur, wie Ben auf dem Flur verschwand mit dem Handy am Ohr und wunderte sich ein wenig. War es Carina? Gab es etwas wichtiges zu klären? Die Chefin vielleicht, die mit ihrem Anschiss wegen den Pillen nicht mehr warten wollte? Wohl kaum, aber er vertraute seinem Partner... der erfahrene Beamte konzentrierte sich wieder auf die Unterlagen.
    Der wiederrum verließ den Raum und durchquerte den Flur bis zum Ende. Immer wieder blickte er sich um. "Okay, ich bin alleine. Wo, zum Teufel, steckst du? Weißt du, was hier los ist?" "Du musst hierher kommen. Ich glaube, ich steck echt in der Scheisse." Ben schüttelte den Kopf. "Das kannst du laut sagen. Wo bist du?" Wieder mal musste er sich über seinen Cousin wundern. Keine Frage danach, wie es Ben ging, immerhin war das letzte, was er von seinem Cousin mitbekommen hatte, dass gerade auf ihn geschossen wurde, während Christian selbst aus dem Parkhaus flüchtete.



    "Das kann ich dir nicht sagen." "Hä? Wie soll ich dann zu dir kom..." "Hör zu! Konzentrier dich jetzt. Erinnerst du dich an den Kirschbaum bei meinem Vater im Garten?" Der junge Polizist runzelte die Stirn. Wieso kam er jetzt auf den Kirschbaum? "Wieso, was soll mit dem Kirschbaum sein? Christian, sag mir wo du bist, und ich bin in kürzester Zeit da." "Ich kann dir nicht am Telefon sagen, wo ich bin. Sie würden mich sofort finden." Immer noch klang Christians Stimme panisch, aber halbwegs kontrolliert. "Wer würde dich finden?" "Alle! Sie sind alle hinter mir her. Sie hören auch garantiert mein Handy ab! Ich hab mir das alles einfacher vorgestellt." Sein Cousin sprach in Rätseln und eine innere Unruhe machte sich in Ben breit. Christians Nervosität schien anzustecken.
    "Bleib jetzt ganz ruhig. Dass diese Asiaten etwas von dir wollen, wissen wir mittlerweile. Sie haben uns mehrfach angegriffen." "Scheisse... scheisse.", murmelte der Mann am Telefon. "Okay, pass auf. Sag mir wo du bist und dann kommen wir vorbei und du erzählst uns alles. Und dann finden wir eine Lösung." "WIR? Auf keinen Fall. Du musst alleine kommen. Ich vertraue niemandem, auch nicht deinen Kollegen. Diese... diese Typen sind überall. Die hängen überall drin." "Christian, aber nicht mein Partner Semir. Den kenne ich in- und auswendig.", versuchte Ben seinen panischen Cousin zu beruhigen. "Ich aber nicht!! Du musst alleine kommen! Versprich mir das, sonst lege ich auf und du hörst nie wieder etwas von mir."



    Der Polizist seufzte, blickte sich wieder gehetzt um. Jeden Moment konnte ein Mitarbeiter durch den Flur kommen oder Semir aus dem Labor gucken, um zu sehen was Ben da draussen schon wieder trieb. Er rieb sich mit den Fingern über die Stirn. "Okay. Was ist mit dem Kirschbaum?" Christians Stimme beruhigte sich ein wenig, auch wenn sie zittrig und hektisch blieb. "Erinnerst du dich an unseren Kirschzweig? Den Besonderen, weißt du noch wieviele Kirschen daran hingen?" Würde man Ben von aussen betrachten, musste man meinen, dass sein Gesprächspartner auf der anderen Seite gerade spontan begann, eine fremdartige Sprache zu sprechen, so verstädnislos war sein Gesicht. Krampfhaft dachte er nach... ja, es gab einen Kirschbaum unter dem Ben und Christian als Kinder öfters mal spielten. Und ja, dort hing einmal ein "besonderer Zweig". An ihm waren nicht, wie üblickerweise zwei Kirschen mit den Stielen zusammengewachsen, sondern vier. Sie hatten ihn vorsichtig gepflückt und wie einen Schatz behütet. "Ja... ich glaub, ich erinnere mich. Da waren ..." "Sei ruhig! Nicht sagen, wieviel dran waren!!", schrie Christian panisch, so dass Ben zusammenzuckte. Offenbar hatte der gelernte Chemiker wirklich panische Angst, dass sein Handy angezapft wurde. Er hielt sich für das Telefonat auch nicht am Treffpunkt auf, sondern entfernt, wo er das Handy und die SIM-Karte verschwinden lassen wolle, falls man versuchte ihn zu orten. "Okay... ja, ich weiß wieviele Kirschen dran waren.", sagte Ben und versuchte, beruhigend zu wirken, was ihm nicht gelang.



    "Gut. Und du weißt doch sicher noch, als wir damals Spione gespielt hatten, wie wir uns die Nachrichten geschrieben haben. Weißt du das noch?" Wieder ein verständnisloser Ausdruck in Bens Augen, er sah sich gehetzt um. Schon als Kinder war Chrisitan Neunmalklug und verschlang jede Pfadfinder-Zeitschrift, in denen Morsecodes, Verschlüsselungsszenarien und ähnliches beschrieben war, während Ben sich mehr für Autoquartett begeistern konnte. Die Spiele, wenn sich die Eltern mal trafen, spielten sie zusammen. Und als 10jährige war es aufregend, mit einer Zahl Wörter zu Kauderwelsch zu verschlüsseln und danach wieder zu entschlüsseln. Daran dachte Ben gerade, und so langsam ging ihm ein Licht auf. Noch während er sagte: "Ja, ich glaube, ich erinnere mich.", setzte er sich in Bewegung. "Wart mal kurz", meinte er noch und steckte das Handy in die Hosentasche.
    Er steckte den Kopf kurz durch die Tür des Labors. "Semir? Ich brauch mal kurz den Autoschlüssel?" Semir drehte sich erstaunt um. "Was ist denn los?" Auch Lucas schaute kurz, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Unterlagen, die er vom Personalchef erklärt bekam... vorgergründig. Natürlich bekam er jedes Wort mit, aber die Blicke sah er nicht. "Ich muss nur kurz was holen." Ein kurzes Augenbrauen-Hochziehen von Ben und ein Blick Richtung Lucas' Rücken... und Semir verstand. Es war etwas, was Lucas nicht hören sollte... also spielte Semir mit.



    Ben lief raus aus dem Gebäude, Richtung Dienstwagen. Mit einem Ruck öffnete der Polizist die Tür, ließ sich in den tiefen Sportsitz gleiten und war mit einem Zug an der Tür von der Aussenwelt abgeschottet. Im Handschuhfach fand er, ganz altmodisch, Zettel und Kugelschreiber. "Okay, ich bin wieder da." Er konnte sich denken, was jetzt kam. "Schreib mit: 94.907119. Hast du?" Ben nickte, was Christian natürlich nicht sehen konnte "Ja... weiter." "Okay: 0.425220." Ben kritzelte die Zahlen auf den Block, begann zu rechnen und schrieb die echten Zahlen darunter. Natürlich waren es Koordinaten. "Okay, ich habs." Hastig gab er die Koordinaten in sein Navi ein. "In 90 Minuten!", gab Christian ihm zu verstehen.
    "Christian! Es wäre wirklich besser, wenn ich meinen Partner... " "Nein, Ben! Ich vertraue nur dir, keinem anderen. Bitte lass mich nicht hängen. Die Sache geht nicht nur uns was an, die Sache ist viel größer. Ich muss dir vertrauen!! Das kann ich doch, oder?" Ben biss sich einen Moment auf die Lippen, die Hand schon am Startknopf, die andere Hand ums Lenkrad gelegt. Er zögerte... Semir mochte solche Alleingänge nicht. Aber wenn Christian dort hinten die Nerven verlor, wenn sie zu zweit ankamen... es musste einen Grund für seine Angst geben. "Ben??" "Ja ok... ich bin unterwegs..." "Pass auf, dass dir niemand folgt!", hörte er noch, bevor Christian die Verbindung trennte. Dann startete er den BMW und fuhr los.

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    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Autobahn - 11:00 Uhr



    Ben hatte die Koordinaten, nachdem er sie umgerechnet hatte, sofort in sein Navigationsgerät eingegeben. Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch, als das bunte Fähnchen, das im Navi das Ziel signalisierte, mitten in den Ardennen landete. Er steuerte den BMW im zügigen Tempo auf die Autobahn und folgte den Anweisungen des Navis. Dabe spürte der junge Polizist, wie ein wenig Nervosität in ihm hochstieg. Was würde ihn erwarten, wo hielt Christian sich versteckt und was jagte ihm diese Angst ein? Er klang am Telefon dermaßen überzeugend, dass es Ben schwer fiel auch nur einen Moment daran zu denken, dass sein Cousin ihn in eine Falle locken wollte. Was machte das für einen Sinn, schließlich waren die Asiaten hinter ihnen her, und auch hinter Christian.
    Seine Hände hatte er fest um das Lenkrad verkrampft, und viel schwerer als die Gedanken um Christian lagen ihm die Gedanken im Nacken, Semir anzurufen und Bescheid zu geben. Die Durchsuchung im Labor musste schon weit fortgeschritten sein, dachte er nach ungefähr einer Stunde Fahrtzeit. Aber es hielt ihn etwas zurück... was, wenn Lucas in seiner Nähe war. Hilfe hin oder her, dem angeblichen CIA-Mann trauten beide immer noch nicht über den Weg. Immer wieder griff Ben zum Handy, das auf dem Beifahrersitz lag, und immer wieder legte er es nach einer Minute Bedenkzeit wieder zurück.



    Als er nur noch wenige Kilometer vom Ziel entfernt war, klingelte sein Handy. Semir hatte die Initiative übernommen, gerade als Ben durch die ersten Wälder der Ardennen fuhr. Wieder zögerte der Polizist, aber er nahm das Gespräch an. "So Kollege... jetzt mal Tacheles: Was sind das schon wieder für Flausen in deinem Kopf?", bekam er sofort ins Ohr geschossen. Semir klang nicht gerade entspannt. "Bist du allein?", war eigentlich eine überflüssige Frage von Ben an seinen besten Freund. "Natürlich, sonst hätte ich nicht angerufen. Aber wohl nicht ewig, also rede er Klartext." Keine Zeit für Ausreden, Ben musste die Wahrheit rausrücken. "Christian hat mich angerufen, und will sich mit mir treffen." "Dann ist ihm also nichts passiert?" "Richtig. Allerdings hat er vor irgendetwas panische Angst."
    Semir schien einen Moment nach zu denken. "Du hättest mich doch unter einem Vorwand da rauslocken können.", sagte er dann vorwurfsvoll. "Christian hat verlangt, dass ich alleine komme." "Wie bitte?" Die Stimme des erfahrenen Ermittlers klang empört. "Ja... irgendwie hat er panische Paranoia, dass du oder irgendjemand in die Sache verstrickt ist, und ihn aufspüren will. Er hat sich irgendwo verkrochen, und ich bin der einzige, dem er vertraut." "Ben, das gefällt mir gar nicht. Wenn das eine Falle ist..." "Warum sollte es? Die Asiaten wollen doch auch ihn, und wissen selbst nicht wo er ist. Mach dir keine Sorgen um mich."



    Semir schien mit der Antwort nicht unbedingt zufrieden und er wollte gerade zu einer sehr wichtigen, entscheidenden Frage ansetzen: "Wo...", als er plötzlich das Thema wechselte. "... dann ruf mich einfach an, wenns dir besser geht, okay?" "Was?", fragte Ben verständnislos und verzog das Gesicht zu einer fragenden Miene. "Ja, das Hausrezept hilft bestimmt, Schatz. Ich muss jetzt wieder bisschen was arbeiten. Ich liebe dich, ciao!" Dann wurde die Leitung unterbrochen, und Ben verstand. Offenbar war gerade Lucas ins Zimmer gekommen, und Semir improvisierte blitzschnell. Es liess den jungen Polizisten kurz grinsen, bevor er sich jetzt darauf konzentrierte, die Abwzweigung zu finden. Irgendwann merkte er, dass kein, auf dem Navi eingezeichneter Weg zur Zielflagge führte.
    Ben musste sich nun konzentrieren, denn es konnte nur so sein, dass es ein Feld- oder Forstweg war, den er abbiegen musste. Und tatsächlich tat sich ein solcher hinter einer Kurve auf und führte tief in den Wald. Die Zeit wurde langsam knapp, aber er musste es versuchen, denn der Weg schien zumindest in die richtige Richtung zu führen. Der BMW wackelte und schwankte, als er über den Feldweg holperte. Ben versuchte nochmal seinen Cousin anzurufen, doch angeblich war die Nummer nicht erreichbar. Er kannte das von Leuten, die die SIM-Karte aus dem Handy genommen hatten. Es beunruhigte Ben gleichzeitig, wie es ihn beruhigte.



    Die Entscheidung für den Weg war richtig. Fast exakt dort, wo das Navi anhand der Koordinaten eine Markierung gesetzt hatte, war so etwas wie ein weit zugewachsener Bunker. Man konnte die Erhöhung sehen, ähnlich eines Hügels, Büsche, Gras und versteckt eine verrostete Tür. Ein Versteck, das niemand finden würde, wenn er nicht explizit in diesem Wald suchte... und selbst dann würde es, bei der Größe, Tage dauern. Der Polizist stoppte den BMW und stieg aus. Stille ergriff ihn, die Landstraße war weit weg und die Natur in den Ardennen atemberaubend. Die Herbstsonne schien durch das bunte Laub über ihm, irgendwo entfernt konnte man eifrige Vögel hören. Es war, als würde die ganze Welt um Ben herum einen Moment stillstehen, und am liebsten hätte er sich hier auf einen Stein gesetzt und diese Atmosphäre auf sich wirken lassen.
    Stattdessen wurde er, wie magisch angezogen von der verrosteten Tür, hinter der sich hoffentlich sein Cousin verbarg. Die Zeit war jetzt genau abgelaufen, und wie auf Signal bewegte sich die Eisentür und das bekannte Gesicht kam zum Vorschein... fluchtfertig. Christian wäre nicht mehr hiergeblieben und hätte seine Flucht weiter fortgesetzt, hätte Ben es nicht geschafft. "Gott sei Dank, bist du da.", sagte er mit aufgeregter, zittriger Stimme. Er war blass, tiefe Augenringe zeugten von schlaflosen Nächten. "Natürlich bin ich da. Was soll die Schnitzeljagd?" "Komm schnell rein... hast du das Handy aus?" "Ja, hab ich.", log Ben. Er wollte nicht, dass sein Cousin in Panik geriet und folgte ihm in den Bunker.



    Eigentlich waren es nur anderthalb Räume, kahl, nicht besonders warm und klamm. Er hatte sich hier ausgebreitet, mit Schlafsack und Wolldecke. "Ben... ich wollte dich da nicht mit reinziehen, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen." "Das ist jetzt nicht wichtig.", wiegelte Ben sofort ab. "Wichtig ist, dass du mir jetzt genau erzählst, was hier abgeht. Was auf dem Stick ist, und warum die Asiaten so scharf auf das Ding sind." Ben konnte sehen, wie Christian die Hände zitterten, als er sich auf eine wackelige Britsche setzte. "Auf dem Stick... sind Dokumente. Dokumente für die Zusammensetzung der schlimmsten chemischen Waffe, die man sich vorstellen kann. Neun der giftigsten Chemikalien in richtiger Zusammensetzung, die ganze Technik und die nötige Menge Sprengstoff... und niemand wird mehr über Vietnam, Agent Orange oder Assads Giftgas in Syrien reden." Seine Stimme zitterte dabei. "Das IX-Projekt."
    Ben konnte sich selbst atmen hören und er sah seinen Cousin fassungslos an. "Was hast du damit zu tun?" "Ich... ich hab davon erfahren dass unser Labor für die Forschungsarbeit daran genutzt wurde." Der Cousin von Ben sah aus, als würde er Höllenqualen leiden. "Ich habe dann rausgefunden, dass die Forscher dazu gezwungen wurden. Von wem, weiß ich aber nicht." Ben hing an den Lippen seines Cousins, folgte ihm jedes Wort. Wenn das stimmte, was er erzählte, dann stank die Sache bis zum Himmel. Und er fühlte, wie er mit der ganzen Situation ganz plötzlich überfordert war.



    "Wieso bist du dann nach Deutschland gekommen? Wie bist du überhaupt an den Stick gekommen?" Christian rieb sich mit der Hand über den Nacken. "Ich... ich habe mitgemacht. Also... ich wurde genauso dazu gezwungen. Ich sollte das Ding übergeben." Er biss sich auf die Lippen, stand auf und wanderte in dem engen Bunker hin und her. "Aber ich... ich hab sie ausgetrickst. Der Typ, dem ich das Ding gegeben habe... es war nicht der richtige. Und danach bin ich direkt nach Deutschland." Ben blickte seinen Cousin direkt an, er verfolgte ihn mit den Augen, wie bei einem Verhör. Sprach er der die Wahrheit? Er sah so fertig aus, übernächtig, hypernervös.... konnte man das schauspielern und gleichzeitig noch perfekt lügen. "Gut, du bist also nach Deutschland gekommen. Warum? Wenn du gekommen bist, um mich um Hilfe zu bitten... warum hast du mir nicht gleich alles erzählt." Der Mann atmete schwer und sah an die Decke.
    "Das hatte ich auch erst vor... aber dann.... dann hatte ich Angst. Ich wollte dich, als ich sah dass du Familie hast, nicht mit reinziehen. Verstehst du, ich habe Skrupel bekommen. Dann haben uns im Parkhaus die Asiaten aufgelauert, und ich dachte dass ich nirgends wirklich sicher bin. Die haben doch Kontakte in alle Kreise, ich konnte deshalb auch nicht zur Polizei.", sagte er hektisch und sah sich wieder verängstigt um. "Du... du musst mir das glauben, Ben." Scheinbar blickte der gerade nicht so drein, als würde er seinem Cousin diese Story abkaufen. Aber was blieb ihm gerade anderes übrig... sie tappten im Dunkeln, und wenn es stimmte, was er sagte, waren das die ersten und einzigen handfesten Infos.



    "Warst du in der Hütte deines Vaters?" "Ja, da hab ich mich zuerst versteckt. Aber als ich da ein paar Typen herumschleichen sehen habe, bin ich auch von dort geflohen." "Ich habe dort den Plan eines Labors in Köln gefunden. Darauf war ein Raum verzeichnet. Was hat es damit auf sich?", fragte Ben mit fester Stimme. "In... in dem Labor sind einige Apparaturen, die in weltweit einmalig sind. Sie werden zur Herstellung benötigt und wir sollten diese Information beschaffen, in welchem Raum diese Apparatur zu finden ist." Der junge Polizist schüttelte entsetzt den Kopf. "Ihr hättet das sofort in Amerika zur Anzeige bringen sollen." "Die hätten uns alle umgebracht, Ben!", sagte dessen Cousin erregt... und Ben verstand diese Haltung natürlich. Sollte man für die Firma den Kopf hinhalten? Sicher nicht... für ein paar Tausende Menschenleben, die bei dem Einsatz der Bombe ums Leben kommen? "Habt ihr mal daran gedacht, was man mit den Bomben anrichten kann?" "Jede Minute!", zischte Christian nun wütend. "Aber guckst du überhaupt Fernsehen? Überall herrscht Krieg, gibt es Tod und Elend. Am Ende ist das "Wie bringen sie sich um?" nicht entscheidend. Soll dafür ein Familienvater sein Leben riskieren? Würdest du?" Ben biss sich für einen Moment auf die Lippen. "Du weißt nicht, an wen die Asiaten die Dinger verkaufen.", gab er dann zur Antwort. "Vielleicht an einen Diktator in Syrien, vielleicht aber auch an irgendwelche Fanatiker, die damit in Europa zu schlagen." Der Phsyiker schüttelte den Kopf und wollte diese Diskussion nicht fortsetzen, denn dafür war er nervlich gerade nicht in der Lage.



    "Okay...", brach auch Ben die Sache ab. "Wir packen jetzt deine Sachen zusammen, und du kommst mit zurück." "Nein, auf keinen Fall." "Was willst du denn sonst machen? Wir müssen die Sache irgendjemandem in die Hand geben. BKA, Verteidigungsministerium, irgendwem. Du kannst nicht dein Leben lang mit dem Stick davon laufen." Dann stockte er kurz: "Warum zerstörst du das Teil nicht einfach? Ich nehme an, es gibt keine Kopien... sonst würden die nicht einem einzigen Stick hinterher jagen." Christians Antwort kam kleinlaut: "Das... das Herstellungsverfahren dieses Stoffes... es wurde von mir entwickelt. Allerdings in guter Absicht, es ist das gleiche zur Herstellung eines umweltbewussten Treibstoffs und Energieträger. Nur eben mit anderen Stoffen. Wenn... wenn ich den Stick zerstöre, würde ich die komplette Entwicklung 10 Jahre zurückwerfen."
    Ben packte seinen Cousin am Kragen. "Bist du völlig bescheuert? Was sind denn 10 verdammte Jahre Entwicklungszeit gegen Tausende Menschenleben?", schrie er Christian erregt an. Er konnte es nicht fassen, Fortschritt hin oder her. Und er glaubte, auch die alte Profit und Geltungsgier in Christians Blick erkennen zu können, egal wieviel Angst er hatte. "Die werden mich töten, wenn ich das Ding zerstöre!!", rief er verzweifelt. "Was sollte ihnen das bringen, hä? Diese Typen haben einen Auftrag, die sind nicht auf Rache aus. Wir nehmen jetzt diesen verdammten Stick und bringen ihn postwedend zu einer Firma für Datenvernichtung!" "Der... der Stick ist nicht hier. Ich hab ihn versteckt.", gab Bens Cousin kleinlaut zu. "Wo?", war die scharfe, beinahe drohende Antwort, ohne dass Ben ihn losließ... dann blickten beide stumm zur Decke. Sie hörten ein Helikoptergeräusch, das nicht weit entfernt sein konnte...

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  • Wald - 12:30 Uhr



    Sie durften keine Zeit verlieren, und zunächst vergass Ben die wichtige Frage nach dem Aufenthaltsort des begehrten USB-Sticks, als sie das Rotorgeräusch des Hubschraubers hörten. Sein Instinkt sagte ihm, dass da irgendetwas faul war... es konnte kein Zufall sein, dass gerade vielleicht ein belgischer Polizeihubschrauber im Wald nach einer vermissten Person suchte oder ein Rettungshubschrauber einen Unfall anflog. "Wir müssen hier weg.", sagte er noch kurz und knapp zu seinem Cousin, bevor er ihn am Arm packte. "Nein! Hier drin sind wir sicher!!", zeterte dieser und wollte sich unter Gewalt am Arm losreissen. "Wenn die den Wald überflogen haben, dann haben sie sicher mein Auto gesehen. Die werden uns hier ausräuchern! Wir müssen weg, zurück nach Deutschland und dann rufen wir Verstärkung."
    Ben musste zwischen Geduld und Konsequenz balancieren. Würde er seinen Cousin jetzt hysterisch anschreien, wonach ihm gerade durchaus war (wahlweise auch ein Schlag auf den Kopf), würde der komplett dichtmachen. Er musste aber auch klar machen, dass eine Flucht nun das Beste war. "Komm schon, vertrau mir! Ich häng die Typen ab." "Sie sind dir bestimmt gefolgt!" Er konnte einen Vorwurf in Christians Stimme hören, und Ben wurde lauter: "Komm jetzt, verdammt!!" Als müsse er einen geliebten Ort verlassen, folgte er seinem Cousin nur widerwillig.



    Der junge Polizist zog die Waffe, entsicherte sie und lud sie durch. An der Öffnung nach draussen lugte er erst raus, die Waffe im Anschlag, nach rechts und links. Der Wald lag stumm vor ihm, nichts bewegte sich, sogar die Vögel hatten das Zwitschern eingestellt. Nur das gleichmäßige Brummen des Helikopters war jetzt recht laut, obwohl er wieder abgehoben war um sich weiter Überblick zu verschaffen. Ben winkte hinter sich, ein Zeichen dass Christian ihm folgen sollte aus der schrägen Tür, die wie eine alte Kellertür angelegt war und sofort zur Treppe führte. Es waren einige Meter bis zum Auto und der Hubschrauber kam wieder etwas tiefer. Er war komplett schwarz, weder Polizei-Zeichen noch ADAC oder ähnliches. An der offenen Tür konnte Ben einen Mann mit Maschinengewehr ausmachen.
    "Fuck...", fluchte er leise und zog den Kopf wieder zurück. "Warte noch...", flüsterte er obwohl die Männer im Helikopter sicher nichts hörten, so laut wie das Fluggerät war. "Die warten nur auf uns, dass wir da raus kommen." "Scheisse scheisse! Wir sollten hier bleiben." "Nichts da!" Ben atmete tief durch, lugte wieder heraus und begann dann zu schiessen. Die Schüsse knallten in Christians Ohren und immer wieder zog Ben den Finger am Abzug durch. Der Mann im Helikopter zog den Kopf zurück, eine Kugel zersplitterte die Seitenscheibe, eine weitere prallte vom Flügel und vom Motor ab.



    Um den Helikopter zu schützen, zog der Pilot nach oben... genau was Ben wollte. "Los jetzt! Schnell!", rief er laut und zog Christian erneut mit sich. Sie überwanden die Meter bis zum Auto in wenigen Sekunden, so schnell dass Steine und Moos von den Schuhen flogen. Gerade als Christian schon eingestiegen war, senkte sich der Helikopter wieder etwas, was Ben, halb im Fahrzeug stehend, halb draussen, mit weiteren Schüssen beantwortete, bevor er sich blitzschnell ins Auto fallen ließ. "Die beiden sind garantiert nicht alleine hier.", meinte er gehetzt und startete den Motor. Mit lautem Poltern legte er den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Dreck und Sand flog von den Reifen nach vorne, der junge Polizist schaute durch die Heckscheibe nach hinten um nicht mit dem Kofferraum gegen einen Baum zu fahren. Die ersten Kugeln schlugen in die Motorhaube.
    Das Blech und die Federung des BMW ätzten und krachten, als Ben den Wagen brutal aus dem Waldweg auf die Straße schlittern ließ, weil der Übergang uneben war. Auch die beiden Insassen wurden durchgeschüttelt, so dass es Christian ein Schmerzstöhnen entlockte. Geübt und blitzschnell wechselte Ben in den Vorwärtsgang und gab auf der Landstraße Gas, ignorierte das Hupen des Verkehrsteilnehmers, dem er gerade die Vorfahrt genommen hatte... sie hatten jetzt andere Probleme. Sein Cousin blickte sich gehetzt um.



    "Die sind garantiert nicht alleine.", meinte Ben und seine Vorahnung bestätigte sich. Ein schwarzer Transporter kam ihm entgegen und stellte das massive Fahrzeug auf der Straße quer. "Neeein!", schrie Christian geschockt als Ben die Handbremse des BMWs zog und mit quietschenden Reifen den Wagen um 180 Grad wendete. Das Rücklicht zersplitterte als es von einer Kugel getroffen wurde und Ben beschleunigte das Auto sofort wieder, während Christian im Sitz zusammensank. Der Mann hatte Todesangst neben seinem Cousin, nachdem der letzte Überfall bereits glimpflich ausging. Er bereute es bereits, Ben angerufen zu haben. Der Motor röhrte laut auf als er von Bens Fuß beschleunigt wurde, doch die nächste Gefahr stellte sich ihnen nur zwei Kurven weiter in Form eines weiteren Transporters entgegen.
    Wieder kam er ihnen entgegen und wollte gerade ein Wendemanöver einleiten, doch diesmal war Ben schneller und näher dran. Statt zu bremsen drückte er das Gaspedal weiter durch, umklammerte das Lenkrad und blickte entschlossen die Lücke zwischen Transporterfront und Grasspur an, die wie in Zeitlupe immer kleiner wurde. Christian schlug sich schreiend die Hände vor die Augen weil er den frontalen Zusammenstoß schon kommen sah, doch Ben schaffte es. Mit dem rechten Rädern über die Grasnarbe holpernd schoss er an dem Transporter vorbei, der den BMW noch an der hinteren linken Flanke kurz erwischte, doch mit einer blitzschnellen Lenkbewegung hielt der Polizist sein Vehikel unter Kontrolle und sah in den Rückspiegel, wo die beiden Transporter erst mühsam wendeten. "Alles eine Frage der Physik.", meinte er erleichtert.



    Als die beiden Männer den Wald verließen, waren sie aber wieder der dritten Gefahr ausgesetzt. Der Helikopter konnte nun tiefer fliegen und der MG-Schütze nahm den BMW ins Visier, so dass sich die beiden Männer tief in ihren Sitz duckten. Nur noch einzelne Bäume säumten die Straße. "Hier kommen wir nie wieder raus.", schrie Christian, während Ben fieberhaft versuchte, Semirs Kontakt im Smartphone zu finden. Der Helikopter überflog sie nun, flog eine Schleife und begann, dem BMW entgegen zu fliegen, während der Mann mit dem MG nun auf Motor und Frontscheibe hielt. Es war beinahe unmöglich für die beiden Insassen, sich nun vor den tödlichen Kugeln zu schützen, obwohl mehr in die Motorhaube geschossen wurde, schließlich wollte man die beiden Männer lebend haben.
    Ben ließ geistesgegenwärtig das Smartphone fallen, nahm seine Pistole und hielt sie mit der linken Hand aus dem Fenster. Wieder knallte es mehrmals, so oft er abzog und gleichzeitig mit der rechten Hand das Lenkrad festhielt. Zwei Kugeln zersplitterten die Scheibe des Helikopters und der Polizist sah zu spät, was passierte. Der Helikopter sackte ab in dem Moment, wo der Pilot tot nach vorne auf den Steuerknüppel sank. Das mächtige Fluggerät trudelte, geriet in Schräglage und fiel wie ein Stein auf die Landstraße. Ben griff so schnell und heftig mit der zweiten Hand zum Lenkrad, dass er sogar die Waffe verlor, doch die Zeit reichte nicht mehr aus, zum Bremsen. Mit einem gewaltigen Knall und einem riesigen Feuerball explodierte der abgestürzte Helikopter. Die beiden Männer spürten die Hitzewelle, bevor der Polizist das Lenkrad verriss um nicht in das Inferno zu rasen. Die Alternative war allerdings ein Feld, auf dem mehrere große Findlinge standen, die die Wirkung einer Betonwand hatte, in die der BMW krachte. Ben spürte noch den Schlag des Airbags, dann wurde alles schwarz.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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