IX

  • New York - 5:00 Uhr



    Es war verdammt früh, aber das machte ihm nichts aus. Schlafen konnte man, wenn man tot ist, dachte er oft. Jetzt war es Zeit für's Geschäft. Lucas stand vor dem Spiegel im Bad seines kleinen, aber feinen und nicht günstigen Appartement und knöpfte sich die letzten Knöpfe des blendend weißen Hemdes zu. Wurde es am Hals langsam ein wenig eng? Hatte er in letzter Zeit die Nackenmuskulatur zu sehr trainiert? Ausgeschlossen, dass er dick wurde... dachte er grimmig. Überhaupt konnte man von aussen meinen, dass der Mann vor dem Spiegel ausschließlich negative Gedanken in seinem Kopf trug, wenn man ihn beobachtete. Keine traurigen Gedanken, sondern grimmige. Sein Blick oft klar und stechend, sein Mund verriet keine Emotionen. Die Falten im Gesicht waren in den letzten Jahren nicht tiefer geworden, die wenigen Haare, die er rund um die Halbglatze noch besaß, hatte er sich auf wenige Millimeter rasiert. Auch das machte ihn nicht unbedingt jünger als Mitte 40, die er war.
    Ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass er voll im Zeitplan lag. Wie immer, den zu Verabredungen kam er immer pünktlich. Vor allem, wenn sie wichtig waren. Und diese war verdammt wichtig. Er nahm die schwarze Krawatte vom Kleiderständer, band sie sich mit schnellen und geübten Griffen um den Hals und zog den Knoten fest. Das Band der Krawatte verschwand unterm Hemdkragen. Dann schaltete er das Licht im Bad aus und ging zurück ins Wohnzimmer mit der kleinen noblen Küchenzeile.



    Dort auf dem Tresen lag seine Waffe, die er mit kurzem Blick prüfte. Das Magazin prall gefüllt, ein Ersatzmagazin war bereits in der Tasche seines Jackets. Die Waffe verschwand im Holster hinter seinem Rücken, der danach vom Jacket verdeckt wurde. Sicherheitshalber. Aber er glaubte nicht daran, dass er sie heute Nacht brauchen würde. Seine Auftraggeber hatten ihm mehr als einmal eingeredet, wie wichtig dieser Job heute Morgen sei. Dass es vielleicht seine letzte Chance sei, doch Lucas war kein Mann, der sich unter Druck setzen ließ. Würde jemand eine Statistik über ihn erstellen, wäre seine Erfolgsquote wohl im hohen 90iger Prozentbereich, und viele seiner Aufträge löste er vor allem mit seinen Charaterzügen: Ruhe, Genauigkeit und Zuverlässigkeit.
    Seine letzte Handlung, bevor er die Wohnung über den Aufzug verließ, war der Griff zu seinem Autoschlüssel und dem Aktenkoffer. Die Kabinentüren öffneten sich erst, als er in der Tiefgarage des großen Mietshaus in der Innenstadt von New York ankam, wo er zielgerichtet seinen schwarzen Audi A5 ansteuerte. Er fuhr seit 10 Jahren kein anderes Auto mehr als einen Audi, denn er war überzeugt dass Deutschland die besten Autos baute. In dieser Hinsicht hatte Lucas so manche Angewohnheit, von der er sich von niemandem abbringen ließ.



    Röhrend verließ der Sportwagen die Tiefgarage und ordnete sich in den, noch sehr überschaubaren Verkehr der Millionenmetropole ein. Wieder ein Blick auf die Uhr... er lag im Zeitplan. Die Adresse war in einem etwas heruntergekommenen Viertel, wo er seinen "Termin" treffen sollte. Klassisch, in einem kleinen Burger-Imbiss, der um diese Zeit Durchreisenden, müden Trucker-Fahrern die auf Stadttour waren, oder hungrigen Nachtschwärmern, die aus der Disko stolperten, das Geld mit fettigen Burgern, süßen Waffeln oder zuckergussüberzogenen Donuts das Geld aus der Tasche zogen. Vor diesem Laden parkte Lucas seine Luxuskarosse und stieg, mit prüfenden Blick nach links und rechts auf den Bürgersteig, aus. Punkt 5:30 Uhr war es, als er den Laden betrat und seine braunen Augen scannten den Laden. Keiner der wenigen Kunden traf auf die Beschreibung seines Termins zu. Mit dem Aktenkoffer in der Hand
    Er hasste Unpünktlichkeit, und eigentlich sollte sich der Typ, den er treffen wollte, bewusst sein um die Wichtigkeit dieses Termins. Er presste die Lippen zusammen, nahm Platz in einer der Tischnischen und bestellte bei dem asiatisch aussehnden Mann mit Schreibblock einen schwarzen Kaffee. Der bedankte sich mit einer leichten Verbeugung und verschwand hinter dem Tresen. Es dauerte nur einige Augenblicke, in denen Lucas nachdachte, wann er zum ersten Mal in dieser Lokalität eine asiatische Bedienung, und dann noch einen Mann, hatte, bevor der Mann den Imbiss betrat, der verdächtig nach der Beschreibung aussah. Groß, dunkle Haare, ein wenig fülliger aber nicht dick. Er war lange nicht so ruhig wie Lucas nach aussen wirkte, denn er sah sich gehetzt um und kam mit schnellen Schritten zu der Nische.



    "Sind sie...?", begann er in schlechtem Amerikanisch und Lucas machte sofort eine abbrechende Geste. "Sscht. Nicht so laut. Muss ja nicht jeder mitbekommen. Setzen sie sich.", sagte er mit seiner dunklen, leicht knarzigen Stimme. Er wartete nicht ab, dass der nervöse Mann seiner Anweisung Folge leistete und zog ihm am Jackenärmel um ihn zum Hinsetzen zu bewegen. Es war draussen recht kühl, der Herbst schickte seine Vorboten nach einem, bis dahin, sehr warmen September. "Ist ihnen jemand gefolgt?", fragte Lucas, und es war so etwas wie eine Standardfrage bei solchen Treffen. Ein nervöses Kopfschütteln war die Antwort, und anhand des Eindrucks seines Gegenübers war sich Lucas der Antwort nicht besonders sicher. Aber was sollte er machen, das Geschäft musste jetzt über die Bühne gehen.
    "Na dann...", war die kurze Forderung, die von dem Mann im schwarzen Anzug mit einem fordernden Blick aus seinen braunen Augen unterstrichen wurde. Der nervöse Mann griff in die Innentasche seiner Jacke, so dass sein Gegenüber alle Muskeln anspannte... schließlich traute er diesem Typen keinen Meter und nur so weit, wie er musste. Doch es kam keine Waffe zum Vorschein, es war kleiner so dass es von der gesamtem Handfläche verdeckt wurde, was er jetzt auf den Tisch legte und mit verdeckter Hand zu Lucas schob. Der wiederrum legte seine, etwas größere Hand über die des nervösen Mannes, beide sahen sich dabei um... Lucas wesentlich unauffälliger als sein Gegenüber, und doch hatte er mit seinem geübten Auge alle Leute im Blick. Es war nun nicht soviel los, und auch die Arbeitskraft hinter der Bar war beschäftigt mit dem Braten frischer Burger. Der Gegenstand unter seiner Handfläche, die er jetzt zu sich zog, fühlte sich genau nach dem an, was er haben wollte... klein, metallen. Er ließ ihn in seine Innentasche wandern.



    "Sie wissen, was drauf ist?", fragte er in einem kurzen Satz und nahm einen Schluck seines Kaffees. "Ich kanns mir denken, und ich bin froh, das Ding los zu sein.", war die leicht zitternde Antwort. Lucas nickte und schob den Aktenkoffer mit dem Fuß unterm Tisch herüber. "Wir sind ihnen sehr dankbar. Aber zu ihrer eigenen Sicherheit wäre es gut, wenn sie für einige Wochen das Land verlassen würden." Es war keine Drohung, doch aus Lucas' Mund klang sie wie eine. Der Mann schwitzte, er war bleich um die Nase, und er nickte. Als er zunächst keine Anstalten machte, zu gehen, half ihm sein Gegenüber auf die Sprünge. "Worauf warten sie? Ich würde meinen Kaffee gerne in Ruhe trinken." Der Blick auf den kleinen grünen Augen war von leichter Angst durchzogen, als der Mann den Aktenkoffer griff und mit kleinen schnellen Schritten, und mehrmaligem nervösen Umschauen das Lokal verließ. Es schien ihm egal zu sein, ob in dem Koffer Zeitschriften, Esspapier oder tatsächlich viele kleine 500 $-Scheine waren... hauptsache weg. Lucas beobachtete aus dem Fenster, wie er in ein Mietauto stieg und zügig davon fuhr. Dabei sah er ihm etwas missbilligend hinterher, und hatte zugleich Verständnis für seine Nervosität, denn wenn seine Informationen stimmten, war er einfach nur ein Physiker und hatte mit solchen heiklen Geschäften nichts am Hut. Völlig ruhig trank er seinen Kaffee aus, zahlte und verließ das Lokal. Nichts fiel ihm auf, als er sich in den Fahrersitz seines Audis gleiten ließ, den Motor startete und losfuhr. Doch wenige Meter später, als er an der ersten Ampel hielt, legte sich wie von Geisterhand aus dem Nichts hinter ihm eine Drahlschlinge um seinen Hals.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Friedhof Köln - 09:45 Uhr



    Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel an diesem recht kühlen Herbstmorgen. Die Blätter der Bäume, durch die die Strahlen auf den Friedhof Köln durchschienen, begannen langsam das Grün zu verlieren und ein gelbrotes Farbenkleid anzunehmen. Sie beobachteten stumm die junge Frau vor einem ziemlich schlicht gestalteten Grab. Sie ging in die Hocke, und wischte das moderne gläsernde Gehäuse ein wenig ab, das schmutzig wurde von den letzten Sommer-Unwettern die vor der Kältephase gewütet hatte. Darin war eine weiße Kerze, die die junge Frau und ihre zwei Kollegen vor einigen Monaten noch "Hoffnungskerze" getauft hatten. Damals war sie sinnbildlich dafür, dass die drei ihren jungen Partner Kevin Peters, im kolumbianischen Urwald verschollen, noch nicht abgeschrieben hatten. Sie klammerten sich an jeden Strohhalm, an jede Unsicherheit nachdem soviel für seinen Tod sprach. Sie wurden nicht enttäuscht, zumindest was seinen Verbleib anging.
    Doch die Kerze hatte sich gewandelt... von einer Hoffnungs- in eine Trauerkerze. Jenny hatte sie aufgehoben, hatte sie oft in Hamburg und später in Köln angesehen und an die gemeinsame Zeit mit Kevin gedacht. Die grausame Erfahrung in Patricks Keller immer präsent hatten sie sich angenährt... wieder mal. Sie hatte ihm zugehört, er hatte ihr vertraut... die Einzige, der er vertraut hatte. Er hatte eine Entscheidung gefällt, gegen seine Vergangenheit und für seine Freunde Semir und Ben. Und dann hatte Kevin Jenny das Leben gerettet, gleich zweimal.



    Doch beim zweiten Mal hatte der junge Polizist teuer bezahlt. Die Verletzungen, die er durch die Schüsse seines Gegenspielers aus frühester Jugendzeit erlitten hatte, waren zu schwer und Kevin hatte das Kämpfen aufgegeben. Es war ein großer Schock für die Dienststelle, die sich im ewigen Kampf um Kevin befand. Gerade Ben und Semir lag unglaublich viel an dem eigensinnigen und schweigsamen jungen Mann, der so viele Schicksalsschläge erlitten hatte und immer gleichzeitig auf der Jagd nach, aber auch auf der Flucht vor seiner eigenen Vergangenheit war. Sie misstrauten ihm, er misstraute den beiden erfahrenen Polizisten. Sie rauften sich zusammen, sie stritten sich und Stück für Stück tauchten sie in die dunkle Seele des Mannes ein. Doch bis aufs Letzte blieb er ihnen immer fremd. Nur Jenny lernte ihn wirklich kennen.
    Als sich seine Vergangenheit endlich aufgeklärt hatte, er endlich sowohl die drei Mörder seiner Schwester, als auch den Verräter innerhalb seiner damaligen Jugendgruppe ausgerechnet mit seinem Mentor Jerry entlarvt hatte und er in seinem Innersten endlich zur Ruhe hätte kommen können, passierte der Anschlag vor der Autobahndienststelle, die ihn nach einigen Tagen Koma das Leben kosteten. Jenny war bis zum Schluß an seiner Seite und hatte ihn am Ende doch verloren. Die Tage danach waren die schwersten im Leben der jungen Polizisten, die ansonsten ebenfalls bereits einige Schicksalsschläge erleiden musste.



    Diese Gedanken gingen ihr jetzt durch den Kopf, als sie vor dem Grab ihres Freundes stand. Es war wie eine Biographie, ein kurzer Zusammenschnitt, mit all den Fehlern und guten Momenten, die die beiden gemeinsam hatten. Mit allen Traumata, allen Glücksgefühlen, allen Grausamkeiten. Jenny hielt sich an das, was ihr die Trauer vorgespielt hatte, was ihr Gewissen und ihre Erfahrung mit Kevin in ihr auslösten... sie klammerte nicht. Sie wandelte die Trauer in Erinnerung, an gute Erinnerung. Sie wollte nicht den gleichen Fehler machen, den Kevin im Bezug auf seine Schwester machte, die er zu einem Dämon verwandelte, der ihm das Leben zur Hölle machte. Jenny versuchte, auch wenn es natürlich nicht immer funktionierte, die Trauer in Energie zu wandeln, für ihren Beruf, ihre Kollegen. Hin und wieder hatte sie das Gefühl, dass Kevin ihr dafür dankbar war, wenn sie von ihm träumte.
    Manchmal erzählte sie ihm auf dem Friedhof, wenn etwas aussergewöhnliches auf der Dienststelle passierte. Der neue Kollege zum Beispiel, der seinen Platz einnehmen sollte und sich dabei so arrogant verhalten hatte, dass der mental angeschlagene Ben ihm Prügel in Aussicht stellte, sollte er sein Verhalten nicht ändern. Die Folge war eine strenge Ermahnung der Chefin und ein baldiger Versetzungsantrag des Kollegen. "Kannst du dir das vorstellen, dass unser Sunnyboy so schnell gereizt reagiert?", fragte sie sorgenvoll und strich zärtlich über den steinernden Rahmen, in dem das Bild von ihm und seiner Schwester sicher eingeschlossen war. "Du hättest ihm besser das Gleiche gesagt, wie mir.", meinte Jenny gedankenverloren und stellte das Bild zurück.



    Es funktionierte, so oft sie sich daran erinnerte. Doch es gab auch dunkle Momente, und in den letzten Wochen hatte sie das Gefühl, dass jene dunklen Momente die guten Tage überwiegten. Aber es war anders als bei Kevin selbst. Sie spürte keinen Hass auf den mutmaßlichen Mörder Kevins, der in Jennys Wissen im Gefängnis saß, auch wenn der wahre Mörder eigentlich tot war (aber das wussten die drei Polizisten nicht). Sie hatte keine Rachegefühle, sie hatte auch kein wirkliches Schuldgefühl, was ihr das Leben zur Hölle machte, wie es ihr junger Freund damals hatte gegenüber seiner toten Schwester. Jenny hätte in dem Moment nichts tun können, der Mörder hatte es scheinbar nur auf Kevin abgesehen und selbst ohne seine Rettungstat auf Kevin gezielt. Nein, Schuldgefühle machten ihr nicht das Leben schwer. Es war viel mehr eine, für sie nicht erklärbare Angst, die sie zeitweise überkam, meistens nachts wenn sie alleine in ihrer Wohnung war.
    Sie bildete sich ein, Schritte zu hören und das Gefühl, beobachtet zu werden. Jenny war nie ängstlich oder schreckhaft, sie interessierte sich eine Zeitlang für paranormale Aktivitäten, allerdings im Rahmen der Wissenschaft, nicht im Rahmen des Okkultimusmus. Doch seit Kevins Tod hatte sie Probleme damit, alleine zu sein. Sie schlief schlecht ein, sie lag lange wach und lauschte. Zuerst schob sie es auf die Trauer, danach auf den Stress den sich die junge Frau auf der Arbeit selbst machte.



    Sanft strich sie über den hellen Marmorstein, der einen Hauptteil des Grabes ausmachte und nur wenig Platz für Erde und Blumen ließ. Kevin würde es vermutlich nicht schön finden, dachte sie etwas belustigend... und merkte in diesem Moment, dass sie eigentlich so wenig über seinen Geschmack wusste. Was hätte er denn überhaupt schön gefunden? Wieviel weiß ich überhaupt von dem Mann, den ich geliebt habe? Langsam erhob sie sich wieder und ging zwei Schritte vom Grab weg. Die Steine auf dem Weg zwischen den Gräbern knirschten unter ihren Schuhen, als sie langsam wieder den Weg nach draussen, vom Friedhofsgelände herunter, antrat. Den Grabstein zu verlassen fiel ihr immer noch genauso schwer, wie damals das Krankenhaus zu verlassen. Damals hatte sie panische Angst, Kevin würde ausgerechnet dann sterben, wenn sie nicht da war. Jetzt hatte sie das Gefühl, sie ließe ihn alleine auf dem Friedhof zurück.
    Wenn Jenny dann im Wagen saß, war es ganz still um sie. Sie wusste, dass sie ihn nicht zurückließ, denn er würde wiederkommen. Vielleicht heute Nacht, vielleicht erst in ein paar Nächten. Zu Beginn, direkt nach Kevins Tod, hatte Jenny das Gefühl seiner Anwesenheit genossen, doch immer öfter in den letzten Tagen wandelte sich dieses Geborgenheitsgefühl zu Angst. Dabei war die junge Polizistin sich so sicher, dass Kevin das nicht wollte... ihr Angst machen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • New York - 5:45 Uhr



    Die Berührung der Drahtschlinge mit Lucas' Hals war wie ein Schock. Sofort spannten sich alle Sehnen in seinem muskulösen Körper, sofort stieg sein Puls als es ihm unmöglich wurde, weiter normal zu atmen. Sein Kopf begann fieberhaft zu arbeiten, gleichzeitig hätte er sich für seine Unvorsichtigkeit ohrfeigen können. Doch zum Ärgern würde ihm hoffentlich später Zeit bleiben, zunächst versuchte er mit aller Macht einen oder zwei Finger unter den Draht zu bekommen, um wenigstens minimal atmen zu können. Doch die Gestalt hinter Lucas, die für den Anschlag verantwortlich war, schien zu wissen, was sie tat, und hatte dazu noch massig Kraft. Ein kurzer Blick in den Seitenspiegel seines Fahrzeuges verriet weiteren Ungemach, als mehrere schwarz gekleidete Männer mit Waffen aus dem Lokal kamen. Verdammt...
    Lucas tat das, was er am besten konnte... er trat aufs Gas. Der Audi heulte los und legte einen gewaltigen Sprint von der Ampel aus hin, denn der Motor war PS-stark und der Glatzkopf ein geübter Fahrer. Es hatte allerdings erst die unangenehme Folge, dass sich die Drahtschlinge noch tiefer in seine Haut und noch fester gegen seinen Kehlkopf drückte, weil der Mann auf den hinteren Sitzen nach hinten gedrückt wurde. Doch diese Physik machte Lucas sich zunutze, in dem er nach einigen Sekunden mit voller Wucht auf die Bremse stieg. Jetzt lockerte sich die Umklammerung seiner Kehle und er spürte im Rücken, wie der Mann gegen den Fahrersitz prallte.



    Für einen Moment sog der Glatzkopf gierig Luft in die Lungen, blitzschnell nutzte er aber die Überraschung, ergriff den Draht und riss ihn nach vorne. Er hörte das Schreien hinter ihm, denn der Angreifer hatte den Draht so fest in beiden Händen, dass er tiefe Fleischwunden in die Finger riss, auch Lucas tropfte danach Blut von der rechten Hand. Darum kümmerte er sich in diesem Moment aber nicht, denn er musste die Situation schnell nutzen, um den Angreifer auszuschalten. Mit geübter Bewegung drehte er seinen Oberkörper nach rechts um sich mit Blicken nach hinten orientieren zu können und kontrolliert zu zu packen. Er spürte den Hemdskragen des Mannes, denn er zuerst mit beiden Händen zu fassen bekam und hatte Glück, dass der Angreifer hinter ihm wohl ziemlich schmal, gewandt und leicht war. Lucas' Kraft in seinen Armen dagegen war nicht zu verachten, und so riss es den kleinen, in diesem Moment völlig unvorbereiteten Mann vom Sitz.
    Erst die beiden Vordersitze waren ein Hindernis, an denen er hängenblieb. "Ist das alles, was ihr Wich.ser zu bieten habt?", knurrte Lucas bevor er zwei blitzschnelle Schläge mit der geballten Faust ins Gesicht des Mannes knallen ließ. Blut aus der geplatzten Lippe tropfte dabei auf den Lederbezug der Mittelkonsole, es konnte aber auch von Lucas' rechter Hand sein. Die ganze Aktion ging für den Mann viel zu schnell, bevor er sich wirklich versah wurde er von Lucas am Hinterkopf gepackt und seine Stirn machte Bekanntschaft mit eben jener Mittelkonsole. Bei der Wucht und Kraft, die der Fahrer dabei an den Tag legte, fühlte sich das Leder an wie Stein - dem Mann gingen die Lichter aus. Er wurde von Lucas nach hinten zurück in die Sitze gestoßen.



    Für eine Inspektion des bewusstlosen Mannes war jedoch keine Zeit, denn gerade wurde ihm bewusst dass von diesem Typ erstmal keine Gefahr mehr ausging, da sah er bereits zwei weitere Männer auf das Auto zu rennen. Die asiatischen Verfolger, die gerade eben noch hektisch aus dem Lokal liefen und sahen, wie der Audi mit einem ihrer Männer auf dem Rücksitz davonfuhr, hatten danach sofort ihre Fahrzeuge aufgesucht, obwohl der Audi bereits einige Meter später wieder zum Stehen kam. In der Hoffnung, ihr Freund hätte den Job bereits erledigt, eilten zwei von ihnen mit gezückten Waffen aus einem Fahrzeug, als Lucas geistesgegenwärtig den ersten Gang einlegte und aufs Pedal stieg. Mit quietschenden Reifen beschleunigte der Wagen und den Verfolgern wurde klar, dass die Sache gerade schief lief. Die Antwort waren einige Kugeln, die in den Kofferraum und die Heckscheibe der kompakten Limousine einschlugen.
    Lucas war jetzt in seinem Element und gekonnt ließ er den Wagen um zwei Kreuzungen tanzen, wobei er einige Meter zwischen sich und seine Verfolger legen konnte, die aus zwei weiteren Fahrzeugen und einem Motorrad bestanden. Das Motorrad, dessen Fahrer nicht abgestiegen war, war ihm am dichtesten auf den Fersen, denn die Maschine war schneller und gewandter als Lucas' Audi. Gerade als das Bike neben Lucas' Seitenfenster war und der Fahrer mit einer automatischen Maschinenpistole zielte, bremste der Glatzkopf und veriss dabei das Lenkrad nach rechts. Mit einem metallischen Krachen berührte er die Maschine, geschickt ließ sich der Fahrer auf die Motorhaube des Audis fallen und klammerte sich an der Kante zur Frontscheibe fest. In der anderen Hand hielt er immer noch die Maschinenpistole und musste sich für einen Moment orientieren. Sekundenbruchteile nur sahen sich die beiden Männer in die Augen... Sekundenbruchteile zu lange für den Motorradfahrer. Lucas zog aus der Mittelkonsole seine "Waffe für Notfälle" und erbrachte den Beweis, dass Motorradhelme nicht wirksam gegen Pistolenkugeln waren. Was übrig blieb war ein Loch sowie Risse in der Scheibe, Blutspritzer und ein schlaffer Körper, der in der nächsten Kurve auf die Straße fiel.



    Lucas atmete kurz durch, legte die Waffe zurück in die Mittelkonsole und sah in den Rückspiegel. "Oh Fuck...", murmelte er und das nachfolgende Geräusch machte deutlich, dass seine Vorahnung eintraf. Weitere Kugeln ließen seine Heckscheibe komplett zersplittern und der Mann duckte sich tiefer in den Fahrersitz und versuchte mit wilden Lenkbewegungen durch die Innenstadt, die bis auf die Gegenfahrbahn reichten, den Verfolger abzuschütteln. Dabei kam ihm ein, an der Straßenecke abgestellter Müllcontainer zur Hilfe, auf den er zuhielt und erst im letzten Moment auswich... zu spät für seinen Verfolger. Mit einem lauten Dröhnen prallte der schwarze Geländewagen gegen das metallene Monster, weißer Rauch stieg in Lucas' Rückspiegel auf. Vielleicht hatten sie Glück und würden unverletzt davonkommen, dachte Lucas noch, doch das war ihm auch reichlich egal. Der zweite Verfolger schien verschwunden, jedenfalls war die Straße hinter ihm, bis auf ein paar verschreckte gelbe Taxen, wie ausgestorben.
    Der Puls des Mannes, der einzig vom Adrenalin, nicht von Angst, bestimmt war, beruhigte sich. Eigentlich hatte er vermutet dass die asiatische Mafia versuchen würde, ebenfalls an den USB-Stick zu kommen... doch nicht sofort im Lokal. Irgendwo, ausserhalb der Stadt auf dem Weg zur Zentrale, da hatte er mit einem Angriff gerechnet. Er wischte sich unauffällig über die Stirn und setzte die Fahrt mit normaler Geschwindigkeit fort. Er hoffte, keiner Polizeistreife zu begegnen, denn ein zerschossenes Auto mit Blut auf der Frontscheibe und einem bewusstlosen asiatischen Mitbürger im Fond würde Fragen aufwerfen. Und eigentlich sollte Lucas jegliches Aufsehen vermeiden.



    Doch damit wurde es nichts... jetzt wurde ihm auch bewusst, warum er den anderen SUV nicht mehr sah. Der hatte eine Abkürzung genommen, weil der Fahrer den Weg zur Zentrale, wie Lucas vermutet hatte, kannte. Jetzt kam er Lucas entgegen und er sah genau die Mündungsfeuer aus den beiden Pistolen, gehalten von den Männern die sich rechts und links aus den hinteren Fenstern lehnten. Blitzschnell duckte er sich hinters Lenkrad, griff nach der eigenen Pistole und zielte mit links aus dem Fahrerfenster. In der Hektik bekam er nicht mit, wie zwei Kugeln den Mann auf den hinteren Sitzen, der bewusstlos zur Mitte zusammengesackt war, in Oberkörper und Gesicht trafen, was ein hässliches Blutbad auf den hinteren Sitzen hinterließ. Lucas konzentrierte sich nur halbwegs in Fahrerrichtung zu zielen und drückte den Abzug im Sekundentakt bis der SUV die Fahrspur ruckartig verließ und ungebremst in die New Yorker Häuserzeile raste. Zum Glück waren zu dieser Uhrzeit fast keine Menschen auf dem Gehweg unterwegs und der Laden, in den das Fahrzeug rauschte und dort zerschellte, hatte noch geschlossen. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte sich Lucas wieder aufrecht hin und sah drei bewusstlose oder tote Männer im Fahrzeug hängen. Den Fahrer hatte er definitiv tödlich getroffen, doch lange überprüfen konnte er das nicht. Die Anwohner hatten mit Sicherheit den Krach, die Schüsse und Lärm gehört, und würden zeitnah die Polizei verständigen, wenn nicht sogar eine Streife bereits aufmerksam wurde. Lucas trat aufs Gas und fuhr den schnellsten Weg auswärts aus der Stadt. Auf einer einsamen Landstraße hielt er an und blickte mit genervten Blick nach hinten. "Was eine Sauerei...", murmelte er. Soviel zum Thema "Keine Aufmerksamkeit erregen.", dachte er grimmig und musste jetzt auch noch das Auto los werden...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 10:00 Uhr



    Das Köcheln und Keuchen der Kaffeemaschine war im Moment das einzige Geräusch, das das kleine Büro der Autobahnpolizei erfüllte, bis Andrea mit den Fingerknochen von aussen an die Glastür klopfte. Semir sah sich kurz um, blickte in das lächelnde Gesicht seiner Frau und seine Mundwinkel hoben sich ebenfalls automatisch. Wenn so vieles hier in den letzten Wochen in die Brüche gegangen war... Andrea war Semirs großer Ankerpunkt. Und er war unendlich froh darüber dass sich das in diesen schweren Zeiten nicht geändert hatte. "Die soll ich dir geben... sind drei weitere Vorschläge der Chefin.", sagte die zweifache Mutter und gab Semir drei Akten in die Hand. Dabei machte sie einen etwas ernsten Gesichtsausdruck. "Sie meinte, wenn ihr euch nicht bald entscheidet, wird sie entscheiden." Der erfahrene Polizist nickte resignierend und das Lächeln verschwand. "Ich kanns mir denken..."
    Klatschend landeten die Akten auf Semirs Schreibtisch, mit der Kaffeetasse in der Hand landete Semir selbst wieder auf seinem Stuhl. Er spürte die kleineren Hände seiner Frau auf seinen Schultern, die ein wenig die Muskeln massierte. Sie wusste, was ihren Mann in den letzten Wochen bewegte und alles hatte seinen Ursprung auf dem Parkplatz vor der Dienststelle, wohin ihr Mann jetzt gedankenverloren durch die große Fensterfront schaute. Der Regen hatte den Blutfleck vom Asphalt gewaschen, doch die dunklen Wolken blieben und schienen sich zu vermehren.



    Semir erinnerte sich an die Tage, nachdem Kevin gestorben war, und da lief alles noch so, wie immer. Panikmodus, Trauermodus. Er kannte das, hatte er doch schon drei Kollegen verloren, dreimal getrauert und es wurde irgendwann zu einer Routine, die half. Denn er wusste, es würde vergehen. Der Schmerz, wenn man daran dachte, die Trauer wenn man ins Büro kam und ein Platz am Tisch blieb leer. Eine Stimme fehlte und der Autoschlüssel hing wochenlang unangetastet an seinem Platz. Irgendwann würde, Stück für Stück die Normalität einkehren. Aber zuerst tat es weh. Es tat weh, Jenny weinen zu sehen und im Arm zu halten, als der Arzt mit brutaler Ehrlichkeit mitteilte, dass die Wiederbelebungsversuche erfolglos blieben und letztendlich eine Lungenembolie wegen den Verletzungen ursächlich waren. Es tat weh, sich nicht richtig verabschieden zu können, weil sich das Krankenhaus und die Gerichtsmedizin strikt an die Gesetze hielt und nur nächste Verwandten zu ihm zu lassen. Die Mordkommission hatte auch Semir und Ben wegen Befangenheit nicht mal zur Gerichtsmedizin gelassen, was Jenny selbst auch nicht mehr wollte. Kevin, aufgeschnippelt und zugenäht auf dieser eiskalten Bahre liegen sehen... sie behielt ihn lieber anders in Erinnerung. Semir und Ben taten es ihr gleich, und so waren die beiden Polizisten neben Bonrath und Hartmut sowie zweier Träger des Bestattungsunternehmen die Sargträger an einem ungewöhnlich kühlen, windigen Sommertag. Sie kannten Kevins Verhältnis zu seinem Beruf, zur Polizei und sie erreichten zumindest dass seine Beerdigung nicht zu einem Polizeiakt verkam. Es kam niemand in Uniform, es wurde keine Rede des Polizeipräsidenten gehalten... nur Kevins Kollegen, seine Freunde, sowie Annie, Ole und Jerry waren da. Ben, der seine Emotionen hinter einer Sonnenbrille versteckte obwohl die Sonne dies hinter den Wolken ebenfalls tat, beobachtete kurz wie Jenny und Annie sich für einige Sekunden weinend in den Armen lagen und gegenseitig Trost spendeten.



    Zu diesem Zeitpunkt dachte sein älterer Kollege und bester Freund noch, dass alles in "geregelten" Bahnen verlief, doch das tat es nicht. Und ausgerechnet fiel es nicht ihm auf, sondern Carina, Bens Freundin. Im Laufe der Monate, in denen sie und Ben zusammen waren, freundete sich die blonde Frau natürlich auch mit Andrea und Jenny an, sie wurde Mitglied der großen "Familie". Und Andrea war es dann auch, der sie sich anvertraute. "Er ist seit Kevins Tod so schlecht gelaunt.", erzählte sie Andrea bei einer Tasse Kaffee in der Kölner Innenstadt, Jenny wollte sie damit nicht zusätzlich belasten. "Also nicht traurig... sondern... gereizt. Bei allem. Er mosert an mir herum, er schnauzt mich an. Ich weiß nicht, das hat er vorher nie gemacht." Andrea konnte die Sorgen von Carina verstehen, bedachte aber auch ihr gegenüber dass es für Ben sehr schwer war, die Sache mit Kevin zu verarbeiten.
    Ben konnte eine kurze Zündschnur haben, manchmal reagierte er impulsiv, bevor er nachdachte. Aber das beschränkte sich weitestgehend auf seine Arbeit. In einer Beziehung dagegen war Ben ein absoluter Harmoniemensch, der versuchte jeder Konfrontation aus dem Weg zu gehen und selbst, wenn seine Partnerin aus Stimmungsgründen weniger harmonisch unterwegs war schaffte er es mit seinem Witz und Charme jedes Streitpotential im Keim zu ersticken. Von manchem Verdächtigen ließ er sich schneller provozieren als der erfahrene Semir, aber Ben streitsüchtig in einer Beziehung? Das war für Andrea neu, und so erzählte sie es am Abend auch Semir. Der schüttelte zuerst nur mit dem Kopf. "Wir haben gerade unseren Partner verloren. Das gibt sich schon wieder."



    Doch er musste einsehen, dass er diesmal nicht Recht hatte. Ben reagierte unwirsch in Verhören... anfangs für Semir verständlich und er reagierte darauf eher tröstend als tadelnd. Als sich allerdings auch sechs Wochen nach Kevins Beerdigung, von denen Ben zwei davon im Urlaub zum "Runterkommen" verbrachte, keine Besserung eintrat, merkte auch dessen bester Freund, dass etwas nicht stimmte. Vor allem Bens Reaktion auf den neuen Kollegen stieß Semir sauer auf. Ja, Dominik Spenger war ein gewöhnungsbedürftiger Mensch... er stand gern im Mittelpunkt, schaffte es bereits nach drei Tagen sich durch sein arroganzes Verhalten mit Bonrath anzulegen (was bei dem gutherzigen, baumlangen Polizisten wirklich eine Kunst war) und kostete Semir bei dessen Eingewöhnung während Bens Urlaub manchen Nerv, weil er meinte, gewisse Situationen besser einschätzen zu können, als Semir selbst der diesen Job nun schon seit 20 Jahren machte.
    Ben staunte nicht schlecht, als ihn ein neuer Kollege begrüßte, der es sich an Kevins Tisch bequem gemacht hatte. Im Nachhinein wusste Semir, dass es nicht Dominiks Arroganz war, die Ben dazu brachte bei dem erstbesten Zwischenfall auszuflippen und dem neuen Kollegen Prügel anzudrohen, wenn er sich nicht sofort nach einer anderen Dienststelle umsehen würde... es war schlicht Bens Psyche und seine Vorstellung, dass dieser Kollege Kevins Platz besetzte. Als würde man ihn einfach "ersetzen" und damit vergessen machen. Dominik wollte es darauf anlegen, doch die Chefin, die von dem Charakter des neuen Kollegens eh nicht überzeugt war, zog schnell die Notbremse.



    Trotzdem konnte es so nicht bleiben. Nachdem ihr vor Monaten Kevin als dritter und Jenny als vierter Kommissar bewilligt wurde, vergrößerte sich ihr Einsatzgebiet, da eine kleinere Dienststelle an der Autobahn aus Personalgründen aufgegeben wurde. Sie brauchte also einen vierten Mann und beauftragte vor allem Semir in Zusammenarbeit mit Ben die möglichen Kandidaten anhand der Bewerbungen für diese Stelle auszusuchen, nachdem sie sich bei Dominik auf eine Bewertung "von außen" verlassen hatte. Doch Ben torpedierte dieses Vorhaben, wo er nur konnte... so auch heute, als er nach einer kurzen Pause in der Innenstadt zurück ins Büro kam und sah, dass Semir gedankenverloren über dem Schnellhefter brütete. Ein kurzer Blick über die kräftige Schulter seines besten Freundes, die Struktur eines Lebenslaufes auf dem Blatt.
    "Ah, mein Herr Kollege sucht den neuen Superbullen.", meinte er schnippisch, statt einer Begrüßung. Was Semir vor einigen Wochen noch als lustigen Spruch empfand, wie er auch damals auch gemeint war, klang jetzt wie eine schnippische Provokation. "Und mein Kollege benimmt sich immer noch wie ein kleines Kind.", war sein, ebenfalls wenig einfühlsamer Konter. Er hatte geredet, ruhig, besonnen, mit Trost, mit Aufmunterung in den letzten zwei Wochen als er feststellte, dass die "Down-Phase" in Bens Stimmung zu lange anhielt und sich keine Anzeichen der Besserung einstellte. Semir hatte es dann aufgegeben und reagierte ebenfalls giftig. Ben warf ihm dafür einen vernichtenden Blick zu und schüttelte den Kopf, während er sich auf seinen Platz setzte. "Du kannst sagen was du willst und suchen so lange du willst. Du wirst Kevin nicht ersetzt bekommen."



    Semir seufzte, er verdrehte die Augen bei soviel Sturheit. "Mein Gott, Ben... wie oft soll ich es dir noch erklären? Niemand will Kevin ersetzen. Nicht den Menschen Kevin, sondern ausschließlich Kevins Arbeitskraft. Wir brauchen noch einen vierten Kommissaren, oder sollen wir jeden Sommer um den Urlaub knobeln?", sagte Semir mit strenger Stimme und legte den Ordner für einen Moment beiseite. Ben dagegen schaute aus dem Fenster, als würde er merken, dass er sich mal wieder absolut daneben benahm, doch zugeben würde er das nicht. Es war für ihn einfach ein Unding, die Stelle von Kevin einfach mit einem fremden Polizisten zu besetzen. Er hatte das Gefühl, Kevin würde ihm das persönlich übel nehmen. Aber Kevin war tot.
    "Was meinst du, wie es mir ging, immer dann wenn die Chefin mit einem neuen Kollegen ankam? Als Chris Tom ersetzt hat. Als Tom André ersetzt hat. Und du weißt sicher noch, wie angenehm für dich unser erster Fall war, oder?" Ben musste das am eigenen Leib erfahren, wie ablehnend Semir sich ihm gegenüber benommen hatte, kurz nach Chris' Tod. Sein bester Freund seufzte, bevor er mit ruhiger Stimme fortfuhr. "Ich weiß, dass dieses Gefühl neu für dich ist. Und wenn man in den ersten Wochen mies gelaunt ist, ist das normal und okay. Aber irgendwann muss man auch wieder weitermachen... normal weitermachen." Er spürte, dass er nur Schweigen von seinem Gegenüber erntete, statt wie sonst eine Einsicht. "Oder glaubst du, Kevin wäre es Recht dass du seinetwegen dein Lachen gegenüber deinen Kollegen und deiner Freundin verlierst?" Ein kleiner Zusatz mit großer Wirkung, den bei dem Wort "Freundin", stand Ben ruckartig auf und zeigte mit dem Zeigefinger und wütendem Blick auf seinen besten Freund, bevor er ihn anblaffte: "Was in meiner Beziehung läuft, geht dich gar nichts an!" Er sprach noch, als er bereits zum Gehen ansetzte und verschwand mit einem Türknallen aus dem Büro. Semir saß da, wie zur Salzsäule erstarrt. Dieses Verhalten kannte er überhaupt nicht von Ben, und es schien, als würde es jeden Tag schlimmer.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 10:30 Uhr



    Er war gerade erst ins Büro gekommen, jetzt war er schon wieder unterwegs auf der Autobahn. Doch diesmal war seine Stimmung und seine Laune noch mieser als vorher. Und Ben wusste, dass er sich unmöglich benahm, aber er konnte nichts daür, redete er sich ein. Die Mittelmarkierung der Autobahn huschte an ihm vorbei, er hatte sich seine Sonnenbrille aufgesetzt, die Miene verkniffen und hielt das Lenkrad mit einer Hand an der Oberkante des Kranzes fest. Immer, wenn sich der junge Polizist selbst einredete, vernünftig zu sein, ruhig zu sein, passierte etwas und die unfairen Worte sprudelten aus ihm raus. Und er konnte es nicht stoppen, seit Kevins Tod überkam ihn zu oft das Gefühl, Ungerechtigkeiten zu bemerken. Und eine davon war, Kevins Stelle einfach mit einem fremdem Polizisten zu besetzen.
    Sicher, in den Ohren eines neutralen Menschen hörten sich Semirs Argumente sinnvoll an. Natürlich brauchen sie Ersatz für Kevin, natürlich nahm die Arbeit überhand solange auch Jenny nur begrenzt einsatzfähig war und sich auffallend oft krank schreiben ließ. Aber sie konnten den jungen Polizisten nicht einfach ersetzen. Nicht mit so einem arroganten Fatzke der vermutlich ebenso gegen Kevin als Polizist gewesen wäre, wie Torben und Sebastian. Ben steigerte sich in diesen Gedanken, so absurd er vielleicht auch war, dermaßen hinein, dass er die Beherrschung verlor als der neue Kollege es wagte zwei Bandfotos, die Kevin im Büro an die Wand hing, abzuhängen und bei Seite zu legen.



    Es kam Ben vor, als würde Semir alles tun um ihren ehemaligen Mitarbeiter und Freund zumindest auf der Dienststelle vergessen zu machen. Abzudrängen, bei Seite zu schieben. Der Vorwurf war ungerecht, doch der Mann mit der Wuschelfrisur hatte im Moment den Sinn und sein Gefühl für Gerechtigkeit gegenüber seinen Freunden und auch gegenüber Carina verloren. Er sah nur sich selbst. Oft war ihm das bewusst, meistens wenn er, so wie jetzt gerade, auf der Autobahn alleine unterwegs war. Oft wollte er sich selbst ins Gesicht schlagen und sagen: "Benimm dich nicht wie ein kleines Kind.", um dann im nächsten Moment wieder mit Erinnerungen zugeschüttet zu werden. Erinnerungen, die wehtaten und ihn traurig machten. Er griff in die Mittelkonsole und nahm seine Sonnenbrille um seine traurigen Augen zu verstecken.
    Semir hatte das ganze schon dreimal mitgemacht, und er hatte ganz Recht mit dem was er sagte: Die Beziehung zwischen ihm und Ben war zu Beginn sehr schwer. Der erfahrene Polizist hatte gerade seinen Partner Chris verloren, der Mörder stand kurz davor wegen gekaufter Zeugen freigesprochen zu werden und Semirs Familie war in Lebensgefahr. Das Nervenkostüm war sowieso zum Zerreißen gespannt, und dann kam da noch dieser Jungspung mit lockerer großer Klappe und redete davon, dass die Autobahnpolizei eh nur eine Durchgangsstation zur großen Karriere wäre. Ein toller Start. Als er das bei einem Bierchen und zwischen zwei Songs Kevin erzählt hatte, war dessen kurzer Kommentar: "Das war nicht so clever... irgendwie." Daraufhin mussten beide lachen.



    Lachen... es war etwas, was Ben nicht oft bei Kevin sah. Der junge Polizist, um den bei der Autobahnpolizei alle trauerten, hatte sein Lachen an seinem 18. Geburtstag verloren. Bei einem Überfall durch einen Bekannten von Kevin wurde Janine Peters vergewaltigt und getötet, Kevin wurde durch seinen damals besten Freund verraten, was er erst kurz vor seinem eigenen Tod erfuhr. Danach flüchtete er sich in Alkohol und Drogen, bevor er zur Polizei ging um die Mörder seiner Schwester zu finden. Von denen waren jetzt alle tot... einer beging Selbstmord vor Kevins Augen, der Zweite starb bei einem Unfall im Gefängnis und der dritte wurde von Kevin selbst kaltblütig erschossen. Jenny musste es mit ansehen, Ben wollte die Geschichte von Jenny glauben, dass es in Notwehr geschah. Mittlerweile wussten sie die Wahrheit, die sie damals schon ahnten.
    Ben schluckte und blickte stumm auf die Straße. Eine Hand hatte er am Schaltknüppel, die andere am Lenkradkranz. Das Radio war ausgeschaltet, was für ihn ungewöhnlich war und es war nur das Rauschen des Autos zu hören. Wo sollte er hinfahren? Sollte er besser wieder umkehren? Semir würde toben, es würde die ganze Sache nicht besser machen, waren in diesem Moment seine vernünftigen Gedanken. Er musste sich selbst auf die Reihe kriegen, wieder den Spaß am Job finden... oder, dachte er bitter, er müsse aufhören. So wie Jenny alles hinter sich lassen, nachdem Kevin in Kolumbien verschollen war.



    Plötzlich hatte er das Gefühl, Kevin würde neben ihm sitzen. Er hatte den Sitz ganz zurückgeschoben, seine Flieger-Sonnenbrille aus den 80ern auf der Nase und die Converse-Schuhe gegen das Handschuhfach gestemmt... das war für ihn eine bequeme Position nach harten Nächten und Ben hätte jedes Mal einen Anfall bekommen können, wenn er danach Spuren von Kevins Schuhe auf dem Handschuhfach fand. Sie unterhielten sich über das neue Album von einer bekannten Rockgruppe, über ein Konzert das sie besuchen wollten oder Kevin hatte irgendwelche Zettel auf dem Schoß liegen mit Texten, an denen er nicht weiterkam. Oft las er Texte von Ben Korrektur und beschwerte sich über dessen Denglisch, eine Mischung aus Deutsch und English, die mit englischer Grammatik nicht viel zu tun hatten, damit es sich reimt. "Nicht mal die Engländer halten sich an ordentliche Grammatik in Liedtexten.", maulte Ben, wenn Kevin den Rotstift zückte. "So einen Text würden dir die Amerikaner um die Ohren hauen... FALLS du jemals eine CD dort verkaufen solltest.", lachte Kevin, während sie auf Streife waren. Ja, er lachte... und Ben erinnerte sich daran, als würde er in diesem Moment neben ihm sitzen. Doch immer, wenn er während seiner einsamen Fahrt nach rechts auf den Beifahrersitz schaute, saß dort niemand. Kein Kevin, der seinen Handschuhfachdeckel verunzierte, keine Blätter mit Liedtexten... einzig Kevins Sonnenbrille in der Mittelkonsole erinnerte an seine Anwesenheit.



    Es war merkwürdig, dachte Ben, dass er sich oft an solche guten Szenen erinnerte. Es täuschte darüber hinweg, dass solche unbeschwerten Momente nur sehr selten waren. Als er mit Jenny zusammen war und Semir gerade eine schwere Zeit durchmachte, fand Ben seinen Halt an Kevins guter Laune... ansonsten wäre es Ben über die Dauer schwer gefallen, Semir beizustehen. Umgekehrt war Semir für Ben ein Anker, als es Probleme mit Kevin gab. Er stand unter Mordverdacht, er war in Kolumbien verschollen, er nahm immer noch hin und wieder Drogen, und am schlimmsten war, als er sein Gedächtnis verlor und dachte, Ben hätte seine Schwester ermordet. Nein, er wollte nicht daran denken, er wischte die Gedanken mit einer imaginären Handbewegung beiseite und hoffte, dass auch Jenny nur die guten Zeiten von Kevin im Kopf behielt. Er blickte wieder zum Beifahrersitz und konnte Kevin da sitzen sehen... die Schuhe auf der Ablage, die Arme verschränkt und er döste hinter seiner großen Sonnenbrille, weil der Abend gestern wohl mal wieder später wurde. Ben lächelte, bevor er an einer Ausfahrt kehrtmachte und zur Dienststelle zurückfuhr...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

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    Wie sie.


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  • New York - zwei Tage später - 14:00 Uhr



    Grau, grau, grau. Die ganze Stadt schien in Wolken zu versinken, dachte Lucas, als er einen Blick aus seinem Appartment warf. Heute morgen war der Himmel noch klar, als langsam die Sonne aufging auf dem Weg zu seinen Auftraggebern. Er lieferte seine, hart umkämpfte, Beute ab. Schulterklopfen, stummes Nicken. Lucas brauchte keine Komplimente, denn er wusste um seine gute Arbeit. Und nur wenn die Arbeit auch Bares abwarf, war es gute Arbeit. Doch hinter diesem Job stand mehr... hinter diesem Job stand seine Zukunft. Und es würde gut aussehn, sagte man ihm. Man müsse natürlich das Material checken und sehen, dass man alles bekommen hatte, was man brauchte. "Wir melden uns.", war ein klischeebehafteter Spruch, egal ob man sich auf eine Stelle als Bankangestellter bewarb, oder man gerade den Deal seines Lebens abgeschlossen hatte.
    "Gab es Komplikationen?", wurde er gefragt und Lucas verzog keine Miene - wie so oft. Er ließ sich nicht hinter die Fassade blicken und meinte nur, ohne Emotionen in der Stimme: "Keine, die die Sache gefährdet hätten." Damit machte er schon deutlich, dass nicht alles glatt lief, er aber jegliche Schwierigkeiten überwunden hatte. Der Mann, der ihm gegen überstand, zog die Stirn in Falten. "Wer?" "Sahen asiatisch aus... vielleicht eine Splittergruppe der Yakuza, vielleicht aber eine Organisation. Ich habe nicht nachgefragt."



    Der flapsige Spruch kam todernst rüber... sowar Lucas Naturell. Seine Auftraggeber waren zufrieden, ein Fahrer fuhr ihn in die nächstgelegene kleinere Stadt vor New York, von wo aus er mit einem Taxi in sein Appartment fuhr. In der Nähe frühstückte er, dann lebte er wie einer von Millionen unbescholtenen Bürger der Millionenmetropole. Das Wetter zog sich zu und um die Mittagszeit begann es, Bindfäden zu regnen. Der Herbst war da. Lucas war nicht nervös, als er in seinem Appartment auf einen Anruf der Organisation wartete... er war maximal unruhig. Schließlich hing seine weitere Zukunft davon ab, was jetzt passierte. Weitere dieser Laufburschen-Jobs im Halbdunkeln würde er nicht mehr machen. Dann würde er eher die Stadt verlassen und das Ganze hinter sich lassen... wenn es nur so einfach wäre.
    Richtiger war, dass diese Organisation jemanden nicht einfach so aus seinem Arbeitsverhältnis entließ. Was das anging, war es ein gefährliches Unterfangen. Man würde ihn finden, man würde ihn einkassieren. Und was dann passieren würde, das wollte sich selbst ein hartgesottener Lucas nicht ausmalen. Und dass er überhaupt in diese Situation geraten war, war seine eigene Schuld... an einem Tag in seinem Leben, als er eine falsche Entscheidung getroffen hatte. Dabei war sich der Mann so sicher, alles richtig zu machen, wie tausende Male davor. Er erlebte es in seinen Träumen, immer und immer wieder... immer wieder ging es gut auf. Wachte er auf, wusste er... es ging nicht gut aus. Verdammt...



    Heute früh hatte er noch seine Kontakte bemüht... Leuten, denen er vertrauen kann. Das Auto plus Inhalt sicher entsorgt, auch wenn es ihm um seinen Audi weh tat. Die Organisation würde hoffentlich für die gute Arbeit etwas mehr springen lassen, dass er sich dementsprechend Ersatz besorgen könnte, auch wenn seine Fahrzeuge aufgrund seines Jobs eine eher geringe Halbwertszeit hatten. Immer wieder blickte er auf sein Handy, um ja keinen Anruf zu verpassen. Vielleicht sollte er doch noch eine Stunde in den Keller des Appartments gehen, wo er sich in seinem Raum ein kleines Fitnessstudio eingerichtet hatte, aber dort hatte er wenig Handyempfang und könnte den Anruf verpassen. Ein Anruf, der sein Leben endlich wieder in geregelte... oder geregeltere Bahnen lenken könnte.
    Endlich - "Unbekannt" stand auf dem Display, als der Klingelton seines Smartphones durch das Wohnzimmer schallte. Er ließ es, gewohnheitsmäßig, dreimal läuten, bevor er abhob. "Ja?" "Hallo Lucas... es gibt ein Problem." Der Hammerschlag kam ohne Umschweife... ohne Vorankündigung, ohne vorsichtiges Abtasten oder Hinarbeiten. Lucas war selbst ein Mann weniger Worte, und das erwartete er auch von seinem Gegenüber. "Was ist los?" "Du hast es versaut, mein Junge."



    Lucas' Augen verengten sich und der Regen kam ihm dichter vor als vorhin. "Was soll das heißen?" "Auf dem Stick ist nichts, was uns weiterhilft." Der Mann mit dem Handy am Ohr ging von der Fensterscheibe zum Sofa, vom Sofa zur Küchenanrichte und wieder zurück zum Fenster. Er wirkte in diesem Moment nervös. "Wieso ist das meine Schuld? Ihr habt mir gesagt, dass der Typ die Informationen hat. Hätte ich im Cafe nen Laptop aufstellen sollen, den Stick entschlüsseln während mir vielleicht irgendjemand dabei über die Schulter guckt?", rechtfertigte er sich. Doch er wusste, dass Argumentieren bei seinen Auftraggebern nichts bringen würde... schuld waren grundsätzlich die, die die Jobs ausführten. "Du solltest die Informationen heranschaffen. Wie, ist uns egal. Wir haben nur den Kontakt zu diesem Physiker hergestellt."
    Der Mann mit den Millimeterlangen Haaren rund um seine Glatze presste die Lippen zusammen und strich sich über seinen kratzigen Drei-Tage-Bart. Diskussionen waren zwecklos und bewirkten nur das Gegenteil. War jetzt alles verloren, die Chance auf sein altes, neues Leben verspielt? Seine Hand fuhr vom Bart über seinen ebenfalls kratzigen Hinterkopf und weiter bewegte er sich durch den Raum. "Und jetzt? Was kann ich jetzt tun?", fragte er, denn ihm war klar dass nur er alleine das ausbügeln konnte. Die Organisation würde den Stick nicht einfach so verloren geben, zu wichtig war die ganze Sache.



    "Wir haben die Fluglisten der umliegenden Flughäfen gecheckt. Allzu viel kriminelle Energie scheint der Kerl nicht zu haben, denn er hat keinen falschen Namen benutzt. Er hat vor zwei Tagen, am Mittag der Übergabe, einen Flug mit Endstation Köln genommen." Lucas setzte sich auf die Lehne des Sofas und bliess durch die aufgestellten Lippen, dabei machte er eine passende Handbewegung zu seinen Worten. "Köln ist nicht unbedingt klein." Wo sollte er anfangen? Die Hotels checken, die Innenstadt beobachten... das konnte Monate dauern. "Ganz cool bleiben.", mahnte ihn die Stimme am anderen Ende, die soviele Widersprüche nicht gewohnt war. Doch sie wusste, wer und welcher Typ Lucas war, jemand der keine Angst vor niemandem hatte. Jemand, der wenig Respekt vor Menschen hatte, die ihm keinen Respekt entgegenbrachten. Von Seiten der Organisation war das zwar nicht der Fall, man hatte durchaus Respekt vor Lucas, seiner Vergangenheit und seinem Können... aber das zeigten sie nicht. Man zeigte harte Hand, klare Kante. Nur so konnte man in gewissen Situationen Druck ausüben. "Christian Jäger hat Verwandtschaft in Köln. Sein Onkel Konrad Jäger ist dort ein hohes Wirtschaftstier... wenn er dort untergekrochen ist, wirds nicht einfach, ohne mediales Aufsehen an ihn heran zu kommen. Aber wir verlassen uns auf dein Geschick.", sagte die Stimme am Telefon, die Lucas kurz höhnisch auflachen ließ. "Eine weitere Möglichkeit ist sein Cousin, Ben Jäger. Laut unseren Informationen ein Polizist. Das sind zumindest zwei Anhaltspunkte, die Sinn ergeben, nachdem er den Flieger nach Köln genommen hat." Unsichtbar für den Mann am Telefon nickte Lucas nachdenklich und legte sich bereits einen Plan zurecht. "Also, flieg so schnell wie möglich nach Köln, und schaff uns den Stick ran... bevor er in falsche Hände gerät. Das ist deine letzte Chance.", sagte sie eindringlich und der Mann, der gerade auf die triste Stadt blickte, würde diese letzte Chance endgültig nutzen.

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  • Köln - 20:00 Uhr



    Das Abendessen zwischen Carina und Ben verlief, wie so oft in den letzten Tagen, schweigsam. Überwiegend. Sie redeten, wenn überhaupt, in Halbsätzen miteinander. Standardgespräche, über die man irgendwie zu einer Konversation finden wollte, die aber nicht gelang. "Wie war dein Tag?" "Anstrengend... ging so." "Wir wollten am Wochenende doch mal wieder etwas unternehmen?" Carinas Bitte klang beinahe flehentlich und Ben nickte kauend, ohne seine Freundin anzusehen. "Ja, mal sehen." Es war ausweichend und die junge Frau spürte, dass er mit seinem Kopf woanders war. Es war so schwierig seit Kevins Tod, zu Ben vorzudringen. Er sprach wesentlich weniger, er war weniger gut gelaunt. Klar hatte er auch gute Tage an denen Carina das Gefühl hatte, dass es "klick" gemacht hat. Er war wieder wie früher. Doch es brauchte nur einen Gedanken, und Ben verwandelte sich.
    Er änderte sich in einen Mann, der sprach als wolle er mit aller Macht einen Konflikt provozieren. Er sprach gereizt, einsilbig, patzig. Ben gab nichtssagende Antworten auf konkrete Fragen, obwohl es gar keinen Anlaß gab. Als Carina ihm vor einigen Tagen, wie so oft am frühen Nachmittag eine Nachricht schrieb, was er abends essen wolle, kam ein kurzes: "Mir egal, du kochst ja eh was du willst.", zurück. Völlig ohne Anlass, die Nachricht erwischte die Blondine eiskalt. Vorausgegangen war eine Diskussion mit Semir, die Ben die Stimmung versaute. Doch früher ließ er das nicht an anderen aus.



    Ben räumte den Tisch ab, als sie fertig waren, während Carina niedergeschlagen am Tisch sitzen blieb. So hatte sie sich die Beziehung nicht vorgestellt, vor allem nicht nach den ersten schönen Monaten. Auch, wenn in Bens Leben viel passierte, viel unschönes passierte wie zum Beispiel Kevins Gedächtnisverlust, manche nervenaufreibende und gefährliche Fälle... sie hatten viele schöne Stunden. Der Polizist schaffte es, einen Schalter im Kopf umzulegen und mit Carina zusammen die Arbeit zu vergessen. Stressiger Tag? Egal, er war zuhause bei seiner Lebensgefährtin, er spürte dass es diesmal so völlig anders war als all seine Beziehungen zuvor. Das hier war ernst, das war real. Sie unterhielten sich über die Zukunft, sogar über Kinder sprach Ben.
    Sollte das jetzt alles zusammenbrechen? Das hätte Kevin doch niemals gewollt, dass soviel in die Brüche ging wegen seinem Tod. "Ben... ich bin unglücklich." Die ganze Zeit hatte Carina überlegt, ob sie eine Diskussion an diesem Abend beginnen sollte, oder lieber nicht. Es würde ja doch im Streit enden, und das wollte sie eigentlich nicht. Aber weiter alles in sich hineinfressen? Nein, das war nicht Carina. Sie hatte, auch wenn sie das seltener zeigte und meistens sehr still wirkte, einen sehr starken Charakter und hielt mental einiges aus. Ansonsten hätte sie die Krankheit ihrer Mutter nicht durchgestanden.



    Ben sah von der Küchenzeile nach hinten gedreht zu Carina. Natürlich wusste er, warum sie unglücklich war... ihm fiel sein Verhalten ja selbst auf. Aber er konnte es nicht steuern. Im Wissen, wie unmöglich er sich benahm, konnte er seine schlechte Laune, seine negativen Gedanken nicht verbergen. Aber heute hatte er keine Lust auf Streit, er war einfach müde. Müde von seinen Gedanken. Im Irrglauben dachte er, jetzt wüsste er wie Kevin sich manchmal fühlte... auch wenn es bei seinem Ex-Partner um ein vielfaches schlimmer war, als er selbst immer zugab. "Ich weiß...", sagte er nur leise und schloß die Klappe der Geschirrspülmaschine. "Aber ich kann es momentan nicht ändern." Es klang ein wenig resignierend, auch ablehnend auf eine ausschweifende Diskussion.
    "Ist es wirklich nur wegen Kevin?", bohrte Carina trotzdem ein wenig nach, mit leiser, vorsichtiger Stimme. Sie versuchte, keinerlei Vorwurf in ihre Stimme zu legen, und eigentlich war die Frage altbekannt... die junge Frau stellte sie bereits mehrfach ihrem Lebensgefährten um auf die Spur seiner momentanen anhaltenden Stimmung zu kommen. Aber immer wieder blockte Ben ab, wollte mit seiner Trauer alleine sein. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Arbeitsplatte und schüttelte den Kopf. "Ben... wenn wir unser ganzes Leben miteinander verbringen wollen, dann müssen wir uns in solchen Situationen zueinanderstehen... und diese gemeinsam überstehen." Dabei sah sie ihrem Freund in die Augen, der diesen Blick auch endlich mal erwiderte.



    In diesem Moment wurde das Gespräch durch die Türklingel unterbrochen. Carina hätte es am liebsten ignoriert, denn auf einmal spürte sie so etwas wie ein Einlenken in Bens Stimmung, doch der war über die Unterbrechung der Unterhaltung scheinbar froh... denn sofort bewegte er sich zu dem kleinen Tablet neben der Tür, womit er Zugriff auf die Kamera im Eingangsbereich hatte. Ein Sicherheitsaspekt seines modernen "Smarthome", was Hartmut ihm und Semir eingerichtet hatte. Der junge Polizist legte beim Blick auf das Display die Stirn in Falten. "Christian?", fragte er ungläubig und wartete, bis der Mann vor der Tür den Kopf ein wenig drehte, bis er in die Kamera sah. Tatsächlich... sein Cousin Christian, der eigentlich in den USA lebte, kam ihn scheinbar besuchen. Mit gemischten Gefühlen drückte Ben den Knopf zum Öffnen der Tür.
    Es dauerte nur wenige Sekunden, und ein breit grinsender Christian Jäger stand in der Tür zu Bens Wohnung. Er hatte die Haare in gleicher Farbe wie Ben, allerdings wesentlich kürzer. Die moderne, zur Seite gegeelte Frisur passte irgendwie zu seinem lockeren Kleidungsstil, mit teurer Jeans und Hemd, bei dem der oberste Knopf offen stand. Er war genauso groß wie sein Cousin, jedoch etwas dicker. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände und Christian fiel seinem Cousin kurz um den Hals. "Na, ist das eine Überraschung?", fragte er lachend. "Allerdings...", war die kurze Antwort, und er konnte sich für einen Moment nicht entscheiden, ob es eine positive oder negative Überraschung war...

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  • Köln - 20:40 Uhr



    Es dauerte einen Moment, bis Ben realisierte dass sein Cousin vor ihm stand. Er konnte, adhoc, gar nicht sagen wann die beiden das letzte Mal Kontakt hatten... also, richtigen Kontakt. Bis auf ein "Alles Gute zum Geburtstag", aber auch nur weil das Datum im Terminkalender des Smartphones gespeichert war, hatten sie schon bestimmt mehrere Jahre nicht mehr miteinander gesprochen. Es hatte keinen Krach gegeben, aber sie lebten einfach in zwei verschiedenen Welten und fanden schon früher nie einen wirklichen "Draht" zueinander. Keine gemeinschaftlichen Interessen, keine Themen in denen sie sich hätten mit der Zeit verlieren können. Christian hatte sein Leben der Physik verschrieben. Er hatte studiert, zuerst in Köln, dann zog es ihn in die Staaten. Ben hatte gehört, dass er dort nach dem Studium einen Job gefunden hatte, der ziemlich lukrativ war. War es NASA oder so? Ach, er hatte es gehört und verdrängt, weil andere Dinge wichtiger waren. Vermutlich würde er es gleich in aller Ausführlichkeit hören, denn Christian erzählte gerne, vor allem von sich selbst. Vor allem, gute Dinge von sich, erfolgreichen Dingen. Das tat er früher schon. Hatte er als Jugendlicher in seinem Fussball-Verein zwei Tore geschossen, konnte er diese seinem jüngeren Cousin so detailliert erzählen, als würde Ben eine Zeitlupe sehen... und das in drei Ausfertigungen. Wenn er zugehört hätte, was er meist nicht tat, denn damals wie heute war Fussball für ihn uninteressant.



    "Komm doch rein." Es war mehr die Höflichkeit Bens, die ihn zu diesem Angebot verleiten ließ. Familie war Familie. Christian nickte dankend und nahm das Angebot an, ein kurzer Blick über die Schulter, bevor Ben die Tür hinter ihm schloß. Er bemerkte sofort den Reisekoffer, den Christian in der Hand hielt. "Bist du auf Reisen?" "Geschäftsreise, um genau zu sein. Deshalb wollte ich mal reinsehen.", lachte er und ging durch den kurzen Flur. "Hübsch hast du es hier. Lohnt sich bei Papa in der Firma?" Ben sah ihn arggewöhnisch von der Seite an. "Ich bin Polizist..." ... und das hab ich dir schon 99mal erzählt, setzte er missmutig in Gedanken hinterher. Aber was war ein Polizist schon gegen einen Physiker bei der NASA... oder wo auch immer. Es ging damals wohl zum rechten Ohr rein und zum linken wieder raus.
    Überrascht blieb der unerwartete Besuch dann im Türrahmen stehen, als er Carina erblickte, die noch am Esstisch saß und aufblickte. "Oh... bist du... also, du... das hattest du damals aber nicht erzählt, als wir uns zuletzt trafen.", entschuldigte sich Christian gleich, denn er hatte Bens Tonfall vorhin nicht überhört. "Nein. Das ist Carina, meine Lebensgefährtin. Wir sind seit knapp einem dreiviertel Jahr zusammen.", stellte der Polizist seine Freundin vor. Christian machte einen kleinen Knicks. "Freut mich sehr. Christian Jäger, Bens Lieblingscousin." Carina rang sich ein Lächeln ab, was ehrlicher wirkte als es war. "Der einzige.", setzte Ben dahinter, als er zum Kühlschrank ging. "Darf ich dich auf ein Bier einladen?" "Da sage ich nicht Nein."



    Während Ben die eisgekühlte Flasche aus dem Kühlschrank nahm, bat Carina den Gast, Platz zu nehmen. Der dankte nickend und kam der Aufforderung nach, bevor er sich umsah. "Wie... ähm... also läufts denn so bei dir momentan? Also, im Job meine ich.", fragte er und es klang wie erzwungener Smalltalk. Das bemerkte auch Carina und sie konnte nicht genau den Grund erraten, weshalb der Cousin hier auftauchte. War es eins dieser peinlichen "Ich bin jetzt in der Nähe, also muss ich unbedingt die Familie besuchen, obwohl ich nicht möchte" - Besuch? Man kam, sagte Hallo, und wollte am liebsten wieder gehen? Aber irgendwie wirkte Ben selbst abweisender als Christian. "Ja, ganz okay. Ich bin immer noch bei der Autobahnpolizei, mittlerweile Kriminalhauptkommissar.", antwortete Ben als er zum Tisch kam, Christian eine Flasche gab und zuprostete.
    Carina stand währenddessen vom Tisch auf und entschuldigte sich. "Ich geh mal schlafen... hab ein wenig Kopfschmerzen." Sie gab Ben einen Kuss auf die Wange, er tätschelte sie kurz am Rücken. "Aber macht euch noch einen schönen Abend.", sagte sie höflich, denn sie wollte damit den Besucher nicht abwimmeln. Allerdings verspürte sie tatsächlich ein Pochen in der Schläfe und merkte die unangenehme Stimmung zwischen den beiden Männern. Sie wollte nicht so sehr darüber nachdenken.



    Christian sah Carina kurz nach und hatte danach eine etwas betretene Miene aufgesetzt. "Oh... ich wollte dir... also euch jetzt nicht den Abend versauen." Ben schüttelte den Kopf und winkte ab. "War eh nicht mehr zu retten." "Hört sich nicht gut an. Auch dein Satz zu deinem Job eben... von der Tonlage her." Hörte Ben da zum ersten Mal ernsthaftes Interesse aus Christian? Er war kein grundsätzlich misstrauischer Mensch, ganz im Gegenteil, aber... es schien ihm fast so, als wäre Christian hierher gekommen, um sich Bens Probleme anzuhören. Er beschloss, eher abzuwiegeln. "Ich hab vor kurzem einen Kollegen und guten Freund verloren. Deswegen fällt der Job mir momentan etwas schwer und das drückt auf die ... Gesamtstimmung.", umschrieb er das berufliche und häusliche Dilemma kurz und knapp. "Oh, das tut mir leid."
    Ben wollte ablenken und nahm einen weiteren kühlen Schluck Gerstensaft. "Was läuft bei dir so? Auf welcher Geschäftsreise bist du, und wo genau arbeitest du momentan?" "Ich bin momentan bei der PEC, Physical Enviromnent Company. Wir forschen zur Zeit vor allem, wie wir mit physikalischen Mitteln die Umwelt entlasten können... du weißt schon, regenerative Energien. Damit versuchen heutzutage alle Firmen in der Technologie-Branche Geld zu machen." Jetzt gehts los, dachte Ben... ein Vortrag, von dem er selbst vermutlich nur die Hälfte verstand, ausser dass Christian ein ganz schlaues Köpfchen war. Schade, dass Hartmut nicht da war... der würde vermutlich einiges aus Christians Vorträgen als Blödsinn entlarven.



    Aber Christian ging nicht tiefer darauf ein, er lächelte und nickte. "Jedenfalls treffen sich hier in Köln einige Firmen, die den gleichen Sektor bearbeiten, im Rahmen der neuen Umweltvorgaben. Ein paar Politiker sind da auch dabei. Alles sehr steif." "Wirklich interessant...", sagte Ben nickend, und beide wussten, dass es ihnn wenig interessierte. Aber Ben war ein höflicher Mensch. "Geht das nicht morgen ziemlich früh los?" Ein versteckter, aber kleiner Fingerzeig darauf, dass Christian doch sicher morgen fit sein müsse, jetzt noch ins Hotel, einchecken... "Ja, also... nein, gegen vormittag erst. Aber meine Firma hat das mit der Hotelreservierung verdaddelt." Er grinste, wie ein Schuljunge, der gerade ein modisches Wort erfunden hatte.
    "Wie kann denn sowas passieren?" "Unsere Company hat ständig Geschäftsreisen. Wir dürfen das selbst nicht mehr planen und buchen, dazu haben wir eine Abteilung. Da ist scheinbar was schiefgelaufen, und ich hab in den letzten zweieinhalb Stunden damit verbracht, Hotels hier in Köln abzuklappern. Eigentlich wollte ich dich so spät gar nicht stören, ich wäre morgen in der Pause mal hereingeschneit aber..." Ben beendete den Satz mit hochgezogener Augenbraue "Alles ausgebucht, und du brauchst eine Bleibe?" Verlegen grinsend nickte sein Cousin. "Deine Wohnung liegt super zentral, ich kann direkt gegenüber in die U-Bahn hüpfen." Ben kratzte sich am Hinterkopf... verdammt, solche Überraschungen mochte er gar nicht... aber er war sein Cousin, der morgen einen wichtigen Termin hatte. Er könnte ihn nicht einfach auf die Straße setzen. "Du... na klar. Das Sofa ist ne Schlafcouch, die kann ich dir schnell zurecht machen." "Danke, du rettest meine Karriere!", lachte Christian übertrieben und prostete Ben nochmals zu.

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Köln - 1:00 Uhr



    Jenny erlebte es immer wieder. Immer und immer wieder. Jedes Mal, wenn sie spürte, dass sie träumte und durch den Flur der Dienststelle ging, wusste sie wohin der Traum sie führte. Eigentlich hätte sie sagen können: "Hey Gehirn, ich weiß, was hier gespielt wird. Lass mich jetzt wach werden.", doch sie durchspielte ihn jede Nacht, wenn sie ihn träumte. Einerseits, weil er manchmal anders endete... und weil sie Kevin sehen wollte. Wie er am Auto lehnte, wie er gedankenverloren an der Zigarette zog, als sie ihn durch die Fensterscheibe beobachtete. "Wenn du Kevin die Wahrheit sagst, zeigst du ihm, dass er dir vertrauen kann.", hörte sie Semirs Stimme hinter sich, während ihr Blick auf Kevin ruhte.
    Der Weg nach draussen, durch den Flur und die Glastür hinaus, kam ihr jede Nacht länger vor. Mittlerweile glich er einer Wanderung zu einem Berg... sie schwitzte, die Beine brannten und die Tür nach draussen ließ sich nur mit einer unmenschlichen Kraftanstrengung aufstemmen. Kevin schien so weit weg von ihr. Jedes Mal, wenn sie diesen Traum träumte, wollte sie ihn retten. Ihr konnte nichts passieren, sie träumte ja. Und wenn sie ihn rettete, würde er neben ihr im Bett liegen, wenn sie aufwachte.



    "Bitte versteh das jetzt nicht falsch. Aber du darfst nicht mit Jerry weggehen. Er... er ist nicht der, für den du ihn hälst." Ihre Stimme klang wie im Hall und Kevins Blick tat ihr jedes Mal weh. Sein Bild seines besten Freundes brach zusammen wie ein Kartenhaus. Jerry war neben Jenny der einzige Mensch, dem er blind vertraute. "Das kann nicht sein.", stammelte der junge Polizist und in Jennys Händen fühlte sich das Handy wie ein glühender Plastikstab an. Sie stöhnte auf und ließ es fallen, es zersprang in tausende Teile auf dem Asphalt.
    "Es... es tut mir so leid, Kevin." Dann hörte sie das Auto. Sie blickte auf Kevin, der ebenfalls den Kopf in Richtung des dröhnenden Geräusches drehte. Die junge Frau achtete jedes Mal auf seinen Blick, und sie war sich sicher, dass Kevin den Fahrer erkannt hatte. Er erkannte Anis, der mit der Pistole auf ihn zielte... er wusste, wer sein Mörder war. "KEVIN!!", schrie sie laut und stellte sich diesmal vor ihn. Sie sah Anis in die Augen, blickte direkt in seine Waffe und blieb fest auf den Füßen stehen. Selbst Kevins Griff brachte sie nicht ins Wanken... sie würde ihn retten. Die Schüsse knallten ohrenbetäubend... und wieder hörte sie hinter sich ein Stöhnen. Entsetzt blickte sie sich um, und sah wie Kevin blutüberströmt an dem Wagen zusammensackte. Mit aufgerissenen Augen sah er zu Jenny hoch und flüsterte: "Hilf mir... bitte." Von ihrem verzweifelten Schrei wurde sie wach.



    Mit einem Reflex schlug sie die Augen auf. Ihre Bettdecke war zerwühlt, ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell. Sie spürte Feuchtigkeit auf ihrer Stirn und tastete mit der Hand nach dem Lichtschalter. Wenn das Licht funktionierte, war sie sich sicher, nicht mehr zu träumen. Die Energiesparlampe leuchtete auf und Jennys unsicherer Blick zur Seite bestätigte, dass ihre Rettung wieder nicht funktioniert hatte. Sie konnte tun, was sie wollte... sie hatte sich vor ihn gestellt, ihn selbst zur Seite geschubst oder ihn unter einem Vorwand vom Parkplatz weggelockt... es brachte nichts. Der Traum endete immer gleich. Träume ließen sich einfach nicht beeinflussen, obwohl die Wissenschaft mit dem Thema "Luzides Träumen" bereits gegenteiliges erforscht hatte.
    Jenny tapste ins Bad und hielt sich, nachdem sie auf Toilette war, den Kopf unter den Wasserhahn. Das kalte Wasser ließ sie mehr und mehr erwachen, obwohl sie gerade erst drei Stunden geschlafen hatte. Aber wie ein kleines Kind hatte sie nach einem Alptraum Angst, wieder einzuschlafen. Dann ging sie lieber ins Wohnzimmer, knipste dort das Licht an und setzte sich auf die Couch. Entweder nahm sie alte Bilder von Kevin, die ihn glücklich zeigten, oder andere Erinnerungsstücke hervor. Der Gedanke an ihre glückliche Zeit vertrieb alle bösen Geister. Sorgenvoll bemerkte Jenny jedoch, dass sich diese Prozedur immer öfter wiederholte... in immer kleiner werdenden Abständen.




    Am anderen Ende der Stadt hatte ein dunkler Volvo-SUV vor Bens Haus geparkt. Ein etwas kleinerer Mann, dunkel gekleidet, stieg auf der Beifahrerseite aus und ging mit schnellen Schritten zur Klingel. Er las die Namen, nickte kurz und begab sich zurück ins Fahrzeug. Der Fahrer hatte das Handy am Ohr und sprach in einer fremdartigen asiatischen Sprache. "Ja, wir haben ihn nicht aus den Augen gelassen. Wir dachten erst, er geht nur einen Bekannten besuchen, aber er ist da jetzt schon die ganze Zeit. Hier ist es nach Mitternacht." Die Stimme am anderen Ende der Leitung schien nicht zufrieden... sie klang gestresst. "Ihr geht jetzt da rein und holt mir den verdammten Stick. Wir dürfen nicht nochmal so versagen wie vor einigen Tagen."
    Der Fahrer des Wagens biss sich kurz auf die Lippen. "Wir wissen aber nicht, wer da noch alles drin ist. Also... ich denke, wir sollten..." Die Stimme aus dem Handy unterbrach ihn. "Du wirst aber nicht fürs Denken bezahlt! Ich denke gerade, was Ho Lee mit uns machen wird, wenn wir uns genauso anstellen wie die Jungs in den Staaten. Laut unseren Informationen wohnt an dieser Adresse, vor der ihr seit Stunden steht, genau ein Mann... und mit dem werdet ihr wohl noch fertig werden! Und das ist ganz sicher kein Lucas O'Connar!" "Alles klar..." Der Fahrer wusste, dass Widerworte wenig Sinn machten. "Meldet euch, wenn die Sache erledigt ist. Und versucht, nicht erwischt zu werden." Er legte auf und der Beifahrer entsicherte seine Handfeuerwaffe. Der Fahrer stieg ebenso aus und nahm eine kleine Uzi aus dem Kofferraum.



    Die Straßen waren menschenleer und mit einem Dietrich war es für den Mann ein Leichtes, das Schloß der Haustür zu knacken. "Erster Stock, Penthouse", flüsterte er seinem Kollegen dann zu. Die beiden Männer überwanden die Treppe beinahe lautlos und standen im Nu vor Bens Wohnungstür. Beide hatten die Waffe im Anschlag, während der Mann mit dem Dietrich auch jetzt zu Werke ging.
    Plötzlich wurde Ben von Carina geweckt. "Ben... hörst du das?" "Hmm?", murmelte der nur schlaftrunken und vergrub sein Gesicht im Kissen. "Ben! Werd mal bitte wach!!" "Was ist denn?" Er hörte Carinas ängstliche Stimme, sie saß bereits aufrecht im Bett. "Ich hab da ein... ein Poltern gehört." "Poltern?" "Ja... schau... schau doch mal bitte nach. Nicht dass dein Cousin irgendwo gegen gelaufen ist, auf der Suche nach der Toilette." Er hatte ihr, als er vorhin ins Bett kam, noch kurz gesagt, dass Christian bei ihnen übernachten würde. Als der Polizist das Schlafzimmer verließ und das Licht anknipste, sah er Christian halb aufrecht auf der Couch sitzen. Er bildete sich ein, sein Cousin wäre etwas blass um die Nase. "Hast du auch was gehört?" "Ich... ich glaube schon. Von der Wohnungstür..." Ben war nicht so vorsichtig... er selbst nannte es manchmal paranoid, um Semir zu ärgern... der bei unbekannten Geräuschen gerne zuerst den privaten Revolver aus dem Tresor holte. Ben dagegen griff zum Baseballschläger, den sein Vater ihm einst aus den Staaten mitbrachte. Damit ging er, mehr müde als wirklich ängstlich, Richtung Wohnungstür...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 1:15 Uhr



    Christian saß mehr auf seinem Schlaflager bei Ben auf der Couch, als dass er lag. Ihm war unwohl... das Ganze lief aus dem Ruder. Er wollte hier eigentlich nur für ein paar Tage untertauchen, ein paar Formalitäten erledigen um sich dann irgendwo "sicher" zu verstecken. Eine Südseeinsel oder irgendwas. Der Stick, den er bei seinem Gepäck versteckt hielt, brannte ihm auf der Seele. Er hatte seinen Geschäftspartner übers Ohr gehauen, um Vorsprung zu haben. Er hätte niemals gerechnet, dass derjenige den Fake-Stick so schnell entschlüsselt und drauf kommt, dass nicht die Informationen auf dem Speichermedium sind, die der Glatzkopf erwartete. Seine Hand grub sich in die Sitzfläche der Couch unter der Decke. "Vielleicht ist da ja gar nichts.", rief er Ben zu, als dieser bereits die Hand auf der Klinke hatte.
    Ben wartete einen Moment, bevor er die Tür öffnete und drehte sich zu Christian um. "Du hast doch selbst gesagt, dass du was gehört hast.", sagte Ben immer noch etwas schlaftrunken und nahm die ganze Sache scheinbar selbst nicht so ernst. "Naja..." Christian war blass um die Nase und sein Cousin schüttelte den Kopf. "Mach dir mal nicht ins Nachthemd.", meinte er nur lapidar. Er war selbst natürlich aus einem anderen Holz geschnitzt, was Gefahren anging, als sein Physiker-Cousin. Er drückte die Klinke und öffnete die Tür.



    Es dauerte nur einen Moment, und Ben hatte erraten, wo das Poltern herkam. Vor seiner Wohnungstür stand niemand, aber im Untergeschoss hörte er Stimmen, Lachen, Türenschlagen. Hans, ein älterer, etwas schrulliger Mann schien mal wieder Damenbesuch zu haben. Ben rätselte oft, ob er diese wohl irgendwo in einer Bar tatsächlich kennenlernte, oder ob es Escort-Damen auf Hausbesuch waren. Jedenfalls dauerte die Verabschiedung etwas länger und war etwas lauter. "Geht das auch etwas leiser? Hier wohnen auch Leute, die noch nicht in Rente sind.", zischte Ben durch das Auge des Treppenhauses. "Ja ja, Herr Kommissar.", kam lapidar und schallend von unten herauf. Dann kicherten wieder zwei verschiedene Frauenstimmen. "Mein Nachbar ist Polizist. Wir sollten leiser sein, sonst legt er euch noch Handschellen an.", meinte er schelmisch zweideutig. Die Antwort war wieder ein Kichern.
    Der angesprochene Polizist seufzte, liess ungesehen den Baseballschläger kreisen und überlegte, ob er ihn zum Einsatz bringen sollte... natürlich nicht ernsthaft. Halbwegs erleichtert schloss er die Tür und drehte den Schlüssel, entgegen seiner Gewohnheit, zweimal um. "Alles gut.", meldete er kurz angebunden zu Christian auf der Couch, dessen Atem sich, vor Ben gut versteckt, wieder etwas beruhigte. Trotzdem würde er dieses Spielchen wohl nicht lange durchhalten, wenn er bei jedem Geräusch in der Nacht eine Panikattacke bekam.



    Die beiden Männer, die bei den ersten Geräuschen von Hans und seinen beiden Gespielinnen in Windeseile die Treppe nach oben, die zum Speicher führte, nach oben gehuscht waren und in der Dunkelheit ungesehen und stocksteif verharrten, waren weniger entspannt, nach dem Schauspiel, das sich ihnen geboten hatte. "Verdammt... ein Polizist?" "Hat der das etwa ernst gemeint?" Sie sprachen weiter in asiatischer Sprache und sehr gedämpft, nach dem der ältere Mann wieder in seiner Wohnung verschwunden war und seinen Damenbesuch verabschiedet. "Und wenn? Ein Polizist kann sich wehren und eine zweite Pleite können wir uns nicht leisten!" "Aber er ist wohl allein! Wir sind zu zweit." Der Ältere der beiden schlug dem Jungen mit einem Klatschen gegen die Stirn. "Lucas war auch allein, verdammt!"
    Er dachte kurz nach, dann entschied er, erst einmal zum Auto zurück zu kehren, bevor einer der Hausbewohner auf die Idee kam, doch noch auf dem Speicher nach zu sehen, ob die Geräusche von dort kamen. Lautlos überwanden sie die Treppenstufen nach unten und saßen eine Minute später wieder im Auto. Der Fahrer zog wieder das Handy und drückte die Wahlwiederholung.



    "Das ging aber verdammt schnell!", meldete sich die Stimme von eben misstrauisch und ohne Begrüßung. "Es gibt ein Problem. Wenn dieser Typ wirklich hier untergetaucht ist, dann sitzt er gerade in der Wohnung eines Polizisten." "Was??", kam als Antwort, gefolgt von einem alten asiatischen Fluch, der im ungünstigsten Fall böse Geister beschwören könnte. "Das Risiko, dass wir erwischt werden, ist zu groß. Wir müssen abwarten und uns den Typ schnappen, wenn er alleine ist. Am besten auch ausserhalb des Hauses. Hier gibts Leute mit langen Ohren." Ein Schweigen war die Antwort, scheinbar dachte der Mann auf der anderen Seite der Leitung nach. Wieder ein Grummeln und der Fahrer fürchtete bereits den nächsten Wutanfall, der ihm um die Ohren fliegen wird.
    "Durch unseren Informanten, dass Lucas scheinbar gelinkt wurde, haben wir Vorsprung. Bis Lucas das rausfindet haben wir Zeit, aber die dürfen wir nicht verplempern. Na gut. Ihr beobachtet das Haus. Ihr regestriert jede Bewegung von dem Typen und bei der nächstbesten Gelegenheit nehmt ihr ihn in die Mangel. Wir brauchen den Stick." Der Fahrer nickte, für seinen Kommunikationspartner ungesehen. "Wobei ich mich immer noch frage, warum er Lucas verarscht hat? Was will der kleine Physiker mit dem Stick?" Die Antwort kam bellend: "Zerbrich dir den Kopf lieber über Dinge, die du zu lösen hast. Lee und mir ist es egal, welche Ziele der Typ verfolgt, und warum er sich einen ehemaligen Navy-Soldaten zum Feind macht! Wir brauchen den Stick, und damit ist alles gesagt. Ich melde mich morgen wieder." Daraufhin wurde die Leitung getrennt.



    Ben kroch wieder zu Carina ins Bett. Sie atmete leise und hatte angespannt die Geräusche verfolgt. "Wieder Hans?", fragte sie dann, denn sie hatte Bens Stimme gedämpft durch die Tür wahrgenommen. "Hmm...", murrte Ben zustimmend und legte sich wieder neben Carina. Ihre typische Bettstellung war, dass Carina auf ihrer Einschlafseite lag, mit dem Rücken zu Ben. Sie liebte es, wenn er dann als derjenige, der auf jeder Seite einschlafen konnte, seinen starken Arm um ihren Körper schlang, sein Gesicht in ihrem Haar vergrub und sie sein Atmen am Ohr vernehmen konnte. Sie wusste dann immer: Sie war nicht allein.
    Seit einigen Wochen aber tat er das nicht mehr. Wenn sie dann, hin und wieder verstohlen, herum sah, wie er denn lag, lag er meist auf dem Rücken und starrte an die Decke. Er konnte dann nicht schlafen und schien tausend Gedanken im Kopf zu haben. 900 davon, das konnte Carina wetten, drehten sich um seinen toten Partner Kevin. Die restlichen darüber, was er falsch gemacht hatte in der Beziehung zu dem jungen eigensinnigen Mann. Wenn es nur die gelegentlichen Reizbarkeiten bei Ben gewesen wären, die die Beziehung belasteten... darüber wäre die junge Frau wohl hinweggekommen, die Phase hätte man überstanden. Da aber in "normalen" Momenten die Zärtlichkeiten einer gewissen Gleichgültigkeit gewichen waren, machte es die schlechten Phasen besonders beschwerlich. Als sie sich gerade wieder in ihre Schlafposition gelegt hatte, wartete sie wie jeden Abend darauf, dass seine Hände über ihren Rücken strichen und den Weg um ihre Tallie fanden... auch jetzt wartete sie einige Minuten vergeblich.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 7:00 Uhr



    Am Morgen nach der, etwas nervenaufreibenden Nacht für Ben, wartete zumindest eine positive Überraschung. Als er auf dem Weg vom Schlafzimmer ins Badezimmer war, stieg ihm frischer Kaffeegeruch in die Nase. Normalerweise hielt er sich morgens nicht lange auf, duschte und rasierte sich und fuhr ohne Frühstück und Kaffee zur Dienststelle. Christian aber hatte wohl das Gefühl, sich für die Gastfreundschaft zu bedanken und war früher wach als sein Cousin. Und so stand eine dampfende Tasse für Ben auf dem Küchentisch, als der nur in Boxer-Shorts und Shirt bekleidet in die Küche, statt ins Bad stapfte. "Das wäre doch nicht nötig gewesen.", murmelte er verschlafen und nahm einen kleinen Schluck. Ben am Morgen als "muffelig" zu bezeichnen, wäre sicher übertrieben, aber es brauchte eine Zeitlang, bis er wirklich im Tag ankam.
    Christian hatte diesen Gang schon hinter sich. Er hatte geduscht und die Klamotten gewechselt, den Koffer gepackt und sah immer wieder auf seine Armbanduhr. "Bist du in Eile? Ich dachte, deine Veranstaltung geht erst am Vormittag los?", fragte der Polizist verwirrt. Er bemerkte die leichte Nervosität bei seinem Cousin... gestern war er einfach genervt von dem Besuch, mit den Gedanken bei Jenny, Kevin und Carina... heute war er etwas feinfühliger und seine Empfangsantennen wieder ausgefahren.



    "Ja... also schon. Aber ich wollte trotzdem etwas früher da sein. Weißt du, ich soll da auch einen Vortrag halten. Bin etwas nervös.", meinte Christian und lächelte. "Ich wollte in dem Hotel, wo die Tagung ist, alles soweit vorbereiten. Laptop anschließen, Beamer checken, und so weiter." Ben kannte so etwas nicht. Nervös sein vor einem Vortrag... er musste keine Vorträge halten. Und selbst wenn.... wenn etwas dabei schief ging, würde er die Situation mit seiner Lockerheit retten. Christian hatte diese Locherkeit gerade ganz und gar nicht. Er mochte zwar in Physik was auf dem Kasten haben, aber scheinbar machte ihm das Reden vor Leuten doch etwas zu schaffen. Nunja, dann konnte man auch mal nervös sein, dachte Ben.
    "Okay, hmm. Pass auf, ich hüpfe schnell unter die Dusche, und wenn du willst, hol ich dich gleich mit in die Innenstadt, ok?", bot Ben an und sein Cousin nickte. Die Kaffeetasse war in Rekordzeit gelehrt und Ben ging in Richtung Badezimmer, nicht ohne nochmal einen Blick über die Schulter zu Christian zu werfen, der sich nochmal auf die Couch setzte und die Laptoptasche neben sich stellte. Das musste ein ziemlich wichtiger Vortrag sein, dachte er... die Nervosität war greifbar.



    Eine Viertelstunde später war Ben fertig, gerade als auch Carina aus dem Schlafzimmer kam. Ein flüchtiger Abschiedskuss zwischen dem Pärchen ließ mehr Routine als Liebe zwischen ihnen vermuten... doch für solche Details hatte auch Christian kein Auge. Er schnappte sich seinen gepackten Koffer, die Laptoptasche und folgte Ben zum Treppenhaus, das bis in die Tiefgarage führte. Manchmal fuhr der Polizist mit dem Motorrad zur Arbeit, manchmal hatte er sein Dienstauto auch von der Arbeit mitgebracht, so wie heute. Die beiden Männer stiegen in den Mercedes und Ben steuerte den grauen Wagen zur Ausfahrt.
    Der dunkle Volvo-SUV, der sich auf der Straße hinter sie setzte, wurde von erstmal von keinem der beiden Männer regestriert. Ben, der sich auf den Verkehr vor ihm konzentrierte, nahm ihn nicht mal wahr. Doch Christian, deutlich paranoider in dieser Sekunde, sah immer wieder in den Rückspiegel. Zwei Männer, der Fahrer trug eine Sonnenbrille, sie hatten einen asiatischen Teint. Darauf konnte er sich keinen Reim machen... es schien alles Zufall zu sein. Doch als der SUV im dichten Morgenverkehr der Innenstadt alles dafür tat, hinter ihnen zu bleiben, wurde Christian nervös. Ein wenig zumindest... denn eigentlich hatte er Angst vor dem Mann, den er bei der Übergabe in Amerika übers Ohr gehauen hatte...



    Als Ben das Hotel erreichte, war kein Parkplatz an der Straße zu finden. "Verdammt...", murmelte er genervt. In der Nähe war eine gute Bäckerei, und dort wollte er für Semir und sich noch Frühstück holen. "Mach doch einfach kurz Halt, und ich springe raus.", meinte Christian mit Blick in den Rückspiegel. "Nein, ich will noch was besorgen." Er setzte den Blinker und fuhr ins Parkhaus des Hotels, wo man eine halbe Stunde umsonst parken konnte. Das würde genügen. Christian warf einen weiteren Blick in den Spiegel und beruhigte sich. Der schwarze Volvo war scheinbar geradeaus gefahren. Als sie die Schranke passierten, war niemand hinter ihnen und der Mercedes fuhr Stockwerk um Stockwerk nach oben, bis Ben endlich einen freien Parkplatz fand.
    "Ich danke dir für deine Gastfreundschaft.", sagte Christian ehrlich, als sein Cousin den Motor stoppte. "Kein Problem. Ich wünsch dir viel Glück bei dem Vortrag. Scheint ja wichtig zu sein, so nervös wie du die ganze Zeit bist." Christian lachte kurz, aber es war mehr ein verlegenes, kein ehrliches Lachen. "Hat man das etwa gemerkt?", meinte er und fuhr sich kurz durch die Haare. "Kaum.", merkte Ben sarkastisch an und lächelte. "Wenn alles geklappt hat, können wir vielleicht heute abend was essen gehen. Ich lad' dich ein, dich und deine Freundin." Ben nickte, obwohl er dazu weniger Lust hatte...



    Gerade öffneten beide die Tür, wurde es plötzlich hektisch. Ben wurde am Kragen gepackt und aus dem Auto gezerrt. Noch bevor er reagieren konnte, schlug ihm jemand einen harten Gegenstand an die Schläfe. Feuerwerk sprühte vor seinen Augen, ein stechender Schmerz verbreitete sich in seinem Kopf und die Kraft verließ ihn. Er spürte den Betonboden des Parkhauses unter sich und die Mündung einer Waffe an seinem Kopf. Und er konnte eine Stimme hören, die dicht an sein Ohr sprach. "Keinen Mucks!" Dafür war eine andere Stimme, die sich etwas weiter entfernt anhörte, wesentlich lauter. "Wo ist der Stick?" "Scheisse... was... was wollt ihr? Wer seid ihr?" Die Stimme seines Cousins klang verzweifelt, jammernd und ängstlich. "Den Stick wollen wir! Stell dich nicht dämlich." Ihr Deutsch war gebrochen, und ein Wort schleuderte der Mann hinterher, was sich wie ein Fluch in einer völlig fremden Sprache anhörte. "Na schön..." Das untrügerliche Klacken einer Waffe, wenn sie durchgeladen und scharf gestellt wird, war zu hören. Der Mann, der Christian ans Auto drückte und bedrohte, drückte ihm die Waffe ans Knie. Ein Schuss würde entsetzliche Schmerzen verursachen. Ben versuchte sich aufzurichten, doch der Mann bei ihm drückte ihn zu Boden. "Verdammt...", dachte er noch, halbwegs so weit er mit pochendem Kopf denken konnte. Dann fielen plötzlich Schüsse...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    <3

  • Parkhaus - 8:00 Uhr



    Was, zum Teufel, war hier nur los, schoß es Ben als erstes durch den Kopf. Sein Überlebensinstinkt hatte vor seinem Polizeiverstand die Überhand gewonnen, trotzdem bohrten sich die ersten Fragen durch den Kopf. Wer waren diese Leute? Was wollten sie von ihm, oder von seinem Cousin Christian? Um was für einen Stick handelte es sich? Doch einzig der Schmerz war es, der ihm Antwort gab, nachdem ihm der Mann, der ihn brutal aus dem Auto zerrte einen harten Gegenstand gegen die Schläfe schlug. Ben spürte warmes Blut über seine Wange laufen, alle Geräusche waren dumpf zu hören. Die Stimme seines Cousins war auf einmal ganz weit weg.
    Dann fielen Schüsse. Ben hörte, wie sie ins Blech des Wagens einschlugen, das Pröckeln des Betons des Parkhauses. Der Mann neben ihm fluchte wild und erwiederte das Feuer über das Auto hinweg. Ein Schmerzensschrei war zu hören, doch er gehörte nicht zu Christian, die Stimme war heller, greller. Sie gehörte zu dem Mann, der Christian gepackt hatte, zu Boden warf und mit der Waffe auf ihn zielte. Eine Kugel traf ihn in der Schulter und ließ ihn zu Boden gehen. Christian nutzte die Gunst der Stunde, rappelte sich auf und verschwand aus dem Blickfeld.



    Eigentlich lief wieder alles schief, dachte sich Lucas. Eigentlich wollte er dem Mann, der ihn in einem Schnellrestaurant in New York über den Tisch gezogen hatte, nur beschatten... ganz in Ruhe. Doch dann bemerkte er die Verfolger, die dem Physiker selbst gar nicht aufzufallen schienen. Als diese ihnen ins Parkhaus folgten, schaltete er schnell und kam gerade noch rechtzeitig. Sein gesamter Plan wurde da durch über den Haufen geschmissen, aber er durfte es nicht zulassen, dass der Stick den falschen in die Hände fiel. Er parkte ausser Sichtweite, lud seine Waffe durch und schlich sich im Verborgenen einiger geparkten Autos an. Er sah den Übergriff, sah Christian am Boden und die Waffe auf sein Kniegelenk gerichtet. Für einen Moment dachte Lucas nach, ob es ihm hilfreich wäre, wenn der Physiker verletzt wäre und nicht mehr flüchten könne, doch dann entschied er sich dagegen.
    Es wurde dann aber zu unübersichtlich. Die beiden Asiaten erwiederten das Feuer und Christian flüchtete. Lucas konnte ihm nicht einfach hinterher rennen, dazu hätte er seine Deckung verlassen müssen. Der verletzte Asiate kroch hinter das Auto in Deckung und schoss von dort aus mit blutiger Schulter in Richtung von Lucas' Deckung. Sein Freund unterstützte ihn, als er bemerkte, dass Ben von dem Schlag leicht benommen wirkte, doch er unterschätzte die Nehmerqualitäten des Polizisten.



    Als sich einen Moment beide auf Lucas konzentrierten, packte Ben den unverletzten Angreifer von hinten und drehte ihm den Schussarm auf den Rücken. Das Schultergelenk wurde überdehnt und Ben kugelte dem Mann stilecht den Arm aus. Ein gellender Schmerzensschrei, das Klackern einer Waffe auf dem Asphalt. Lucas sah hinter seiner Deckung überrascht auf, er hatte nicht mitbekommen dass hinter dem Auto noch der Fahrer des Wagens war, der sich offenbar zu wehren wusste. Ben schubste den Mann, dem vor Schmerzen die Beine versagten, genau in Richtung seines Partners, der sich vom Schmerzensschrei seines Freundes alarmiert, langsam umdrehte. Schnell konnte er sich aufgrund seiner Schussverletzung nicht drehen, und schnell reagieren ebenfalls nicht. Sein Kumpel in seine Richtung, was beide zu Fall brachte.
    Ben hechtete in Richtung der Waffe, griff sie und zielte auf das Menschenknäuel, bevor der angeschossene Mann abdrücken konnte... erstmal musste er sich von seinem wimmernden Kollegen befreien. "Runter mit der Waffe!", rief Ben und zielte, auf einem Knie kniend und mit festem Blick auf den Mann. Der dachte zunächst nicht daran, seine Waffe zu senken und zielte mit zitternder Hand und schmerzverzerrtem Gesicht auf Ben. Lucas dagegen hatte die Situation richtig erkannt, er wagte sich aus der Deckung und rannte hinter den Wagen, wo er dem verletzten Mann sofort die Waffe an die Schläfe hielt. "Nicht bewegen!", herrschte er ihn auf Englisch an und im Angesicht von zwei Mündungen, die auf ihn gerichtet waren, verließ den Mann der Mut. Er ließ sich ohne Widerstand von Lucas entwaffnen.



    Ben atmete durch und ließ die Waffe ebenfalls sinken. Mit einem schnellen Griff nach hinten an seinen Gürtel nahm er die Handschellen um die beiden Männer zu fixieren. Auch Lucas schaute ein wenig erleichtert drein und sicherte seine Waffe, die er unter seinem Blazer verschwinden ließ. "Wo ist mein Cousin?", war Bens erste Frage, als die beiden Männer gesichert waren und er mit kurzem Blick durch die Etage des Parkhauses schaute. Lucas blickte hektisch hin und her. "Fuck off...", murmelte er kaum hörbar. Seine Beute war weg. "Der Mann, der auf der andere Seite des Autos war?", fragte Lucas dann mit hochgezogenen Augenbrauen und gespielt, ratlos. Ben nickte heftig. "Ich glaube, der hat sich aus dem Staub gemacht." Der Polizist fuhr sich durch die langen Haare. "Das gibts doch nicht."
    Lucas machte ein verkniffenes Gesicht, als Ben sich abwandt um Verstärkung zu rufen. Dass es sich bei ihm um einen Polizisten handelt, hatte der Glatzkopf bereits recherchiert. "Semir? Schick mir bitte einen Einsatzwagen ans Hotel Hyperion in die Innenstadt. - Ja, ins Parkhaus. Und die Spusi, die müssen hier ein paar Kugeln aus der Wand puhlen. Was? Nein, ich bin okay. Nein, du brauchst... ja. Ich erklärts dir später, ciao." Danach versuchte Ben auch mit hektischem Tippen auf dem Smartphone, Christian anzurufen, allerdings ohne Erfolg. "Verdammter Idiot...", knurrte der Polizist mit der Wuschelfrisur.



    Dann drehte er sich zu dem schweigsamen Lucas um. "Darf ich fragen, wer sie sind?" "Oh, sorry..." Lucas sprach akzentfrei deutsch und griff in die Innentasche seines Blazers. Aus dieser zauberte er einen Ausweis, den Ben sich genau betrachtete und hörte von dem Mann quasi die Übersetzung. "Lucas Blake, CIA." Ben zog die Stirn etwas in Falten. "Kennen sie die beiden etwa? Und wie kommen sie hierher?" Er deutete mit der Hand auf die beiden Gestalten am Boden. Erstere Schusswunde hatte man notdürftig versorgt, der Krankenwagen wäre wohl jeden Moment da. Der zweite jammerte, denn eine ausgekugelte Schulter ließ auch einen Haudegen in die Knie gehen. "Nicht persönlich. Aber ich hab die beiden beschattet. Ich leite die Ermittlungen gegen eine Splittergruppe der Yakuzi."
    Wieder sah Ben sich um und fuhr sich durch die Haare. Yakuzi? Japanische kriminelle Organisation, manche nannten sie auch "japanische Mafia." "Aber was wollen die von meinem Cousin?" Lucas zuckte mit den Schultern. "Meine Aufgabe war es nur, die beiden nicht aus den Augen zu lassen. Aber das hat sich ja jetzt erledigt." "Sie hätten ja auch unerkannt bleiben können.", meinte Ben schnippisch. "Ja natürlich. Ich hätte unten einfach gewartet und hinterher ihre Leichen eingesammelt.", kam von Lucas kühl zurück, die beiden Männer begegneten sich mit Skepsis. Aber in Ben regierte in diesem Moment die Sorge um seinen Cousin.

    Wenn Engel hassen

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    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Wie sie.


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  • Parkhaus - 8:45 Uhr



    Semir hatte sich, entgegen der Worte seines Partners, natürlich sofort auf den Weg in die Innenstadt gemacht. Zeitgleich mit den Jungs der Spurensicherung und der Verstärkung in Form zweier Polizei-Bullys traf er auf dem Parkdeck ein, wo ihn sein Partner mit kurzem Augenrollen begegnete. "Was hast du jetzt wieder angestellt?", kam spaßeshalber von Semirs Lippen, gerade als er ausgestiegen war und sein Partner zwei Schritte auf ihn zukam. "Ich hab doch gesagt, du brauchst nicht unbedingt zu kommen, mir gehts gut.", sagte Ben. Auch seine Stimme klang genervt, allerdings ernsthaft. Er merkte schon wieder seine, in den letzten Wochen grundsätzlich schlechte Laune, und dass er viele Dinge einfach zu ernst nahm. Warum konnte sein älterer Partner nicht mal auf etwas hören, was er sagte. Warum musste er es immer besser wissen, und trotzdem hierher kommen.
    Aber der erfahrene Polizist überhörte Bens genervten Ton und besah sich zuerst kurz die beiden festgenommenen Asiaten. "Personalien schon überprüft?" "Bin ich ein Anfänger? Hat Andrea schon auf dem Diensthandy.", kam schmallippig von Ben, der sein Smartphone am Ohr hatte und ständig Christians Nummer wählte. Doch das Handy war ausgeschaltet. Wie konnte das sein... warum kam er nicht zurück oder versuchte selbst Ben zu erreichen, nach der Flucht. War er vielleicht doch verletzt? Angeschossen und hat sich in irgendeine Gasse geschleppt?



    Der erfahrene Polizist ging auf Lucas zu, der von Ben gebeten wurde, zu warten und später mit auf die Dienststelle zu kommen. Da er gegen diese Splittergruppe Ermittlungen führte, würde er ihnen sicher helfen können, was hinter der ganzen Sache steckte. Lucas, der Ben ziemlich wortkarg erschien und der mit einem prüfenden Blick alles um sich herum beobachtete, stand an einem der Betonpfeiler und schüttelte jetzt Semirs ausgestreckte Hand. "Semir Gerkhan. Sie haben meinem Partner geholfen?" Lucas nickte und nannte ebenfalls seinen Namen. "Manchmal kann man ihn nicht alleine lassen.", sagte Semir scherzhaft und Ben rollte mit den Augen. "Hast du heute morgen nen Clown gefrühstückt?", kam missmutig über seine Lippen, begleitet von einem Kopfschütteln und einem erneuten Versuch, Christian zu erreichen.
    Semir ging zwei Schritte zu ihm hin und sein Gesicht wurde ernst. "Was war denn los?" "Ich hätte es dir schon auf der Dienststelle erzählt, dazu hättest du dich nicht her bewegen brauchen." Bens Stimme klang angriffslustig. "Entschuldige bitte, wenn du mir am Telefon sagst, du auf dich geschossen wurde, dann überzeuge ich mich gerne selbst, ob mein Partner noch heil ist." Langsam wurde Bens Laune auch dem ausgeglichenen Semir zu viel. "Ich habe gesagt, dass ich okay bin. Glaub mir doch einmal was.", knurrte sein junger Partner, nahm das Smartphone erneut an sein Ohr und ging ein Stück von seinem Dienstwagen weg. Semir sah ihm ein wenig hilflos hinterher. "Was ist nur mit dir los?", rief er ein wenig lauter, hob kurz die Arme und ließ sie resignierend fallen. "Mein Cousin ist verschwunden, das ist los! Können wir jetzt endlich?", bekam er als laute Antwort entgegen geschleudert, bevor Ben in Semirs Dienstwagen verschwand. "Ja danke, das konnte ich nicht riechen."



    Lucas beobachtete das Zusammenspiel der beiden Männer schweigend und sah zum Schluß, wie Semir für einen Moment, die Hände in die Hüften gestemmt und kopfschüttelnd stehenblieb, bevor er selbst in seinen BMW stieg. Zu gerne hätte er das Gespräch der beiden Männer noch mitgehört, wie es weiterging... aber das musste er wohl verschieben. Dafür, dass heute morgen schon wieder einiges schiefging, hatte er sich keine schlechte Ausgangsposition geschaffen. Bei dem Cousin seiner Zielperson, sollte diese den Stick noch haben, würde er wohl schneller fündig werden, als wenn er sich alleine auf die Suche nach Christian machen würde. Mit ein paar Infos würde er die Autobahnpolizei wohl unterstützen können. Er hörte von Semir noch ein kurzes: "Fahren sie uns einfach hinterher.", was er mit einem Nicken bestätigte und ein Stockwert tiefer in sein Auto stieg.
    In gemäßigtem Tempo rollte die Karawane aus zwei Fahrzeugen erst durch die Innenstadt, dann auf die Autobahn. Die Stimmung in Semirs BMW war zum Schneiden. Immer wieder versuchte Ben Christian zu erreichen, doch immer noch tat sich nichts. Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare und murmelte ein "Verdammt..." "Jetzt sag endlich, was genau passiert ist. Warum haben die Männer auf euch geschossen?", fragte Semir, kurz bevor sie die Autobahn erreichten, und um die Stimmung nicht weiter aufzuheizen, klang seine Stimme versöhnlich.



    Ben regestrierte das, und entschloß sich, grimmige Miene zum bösen Spiel zu machen. "Ich weiß nicht genau. Die waren plötzlich da, haben uns aus dem Auto gezerrt und die Pistolen an den Kopf gehalten. Einer fragte Christian nach einem Stick. Es ging alles ganz schnell. Dieser Lucas kam dazu und hatte sofort das Feuer eröffnet und in der Hektik ist Christian geflohen, und jetzt erreiche ich ihn nicht." "Vielleicht hat er sein Handy verloren bei der Rangelei.", vermutete Semir, um Ben Mut zu machen, aber dann hätte man das Gerät vermutlich längst gefunden. "Habt ihr euch zufällig getroffen?" "Er kam gestern abend zu mir nach Hause. Hätte heute eine Tagung und sein Arbeitgeber hätte die Buchung vermasselt, also hat er eine Bleibe gesucht. Mein Cousin arbeitet in den Staaten."
    Semir kramte in seinem Gedächtnis ob Ben schon mal etwas von seinem Cousin erzählt hatte, und erinnerte sich. Distanziertes Verhältnis, etwas großkotzig, Physiker in den Staaten. "Also reiner Zufall?" Semir sprach die Frage skeptisch und Ben spürte, dass sein bester Freund genau daran nicht glaubte. "Keine Ahnung." "Hat er gestern abend einen Stick erwähnt? Oder woran er arbeiten würde?" "Irgendetwas mit erneuerbaren Energien... aber nichts genaues. Und einen Stick hat er nicht erwähnt." Er versuchte es erneut. "Mach dir keine Sorgen. Wir lassen ihn zur Fahndung ausschreiben."



    Semir parkte auf seinem Parkplatz, Lucas nahm den Besucherparkplatz vor der Dienststelle. Er blickte sich um, alles wirkte hier eine Nummer kleiner als in den Staaten. Innen schüttelte er die Hand von Anna Engelhard, die sich als Dienststellenleiterin für seinen Einsatz bedankte, bevor sie sich an Semir und Ben wandte: "Gibt es schon irgendwelche Infos?" Ben berichtete kurz und knapp, was er auch Semir im Auto gesagt hatte. "Und weswegen hatten sie die beiden Männer beschattet?" Lucas strich sich kurz über seinen Drei-Tage-Bart. "Es gab keinen besonderen Anlaß. Einige Splittergruppen der japanischen Mafia betreiben illegale Geschäfte in den Staaten und verschiedene Mitglieder werden beschattet. Dabei geht es um alles, was das organisierte Verbrechen hergibt. Drogen, Falschgeld, Prostitution, Schutzgeld, Entführung, Waffenhandel... die ganze Palette.", zählte er auf.
    Ben, der von Andrea ein Pflaster gegen seinen Cut an der Stirn bekommen hatte, ging unruhig auf und ab. "Und was wollen die von meinem Cousin? Mit Daten über erneuerbare Energien, falls es sich um seinen Stick handeln sollte?", fragte er und Lucas gab Antwort: "Auch das ist ein lukratives Geschäft, wenn es hier um Technologien geht. Japan ist normalerweise was Technik angeht, allen anderen Ländern immer einen Schritt voraus, aber gerade in Sachen Umwelt hat ganz Asien Nachholbedarf.", erklärte er, ohne eine Miene zu verziehen, oder sich aus seiner Sitzstellung, ein Bein quer über das andere gelegt und die Finger ineinander verknotet, zu verändern. "Es wäre wohl am besten, schnell ihren Cousin zu finden..." Vor allem war es in seinem Interesse...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 12:30 Uhr



    Das Erste, was anlief, war die Fahndung nach Christian. Die Chefin hatte zwar rechtlich ein wenig Bauchschmerzen diesbezüglich, denn eine Fahndung war immer noch "vorbehalten" für Verbrecher oder Vermisste, von denen eine Gefahr für sich und andere ausging, und beides traf auf Christian nicht zu. Aber sie sah, dass Ben doch ernsthaft besorgt war und Lucas befeuerte die Sorge indem er sagte, dass man annehmen könnte, dass die beiden Verhafteten nicht die einzigen Mitglieder der Verbrecherorganisation wären, die sich zur Zeit in Deutschland aufhielten. Insofern war Christian in ernsthafter Gefahr. Das überzeugte die Chefin dann, und lieferte ihr auch die entscheidende Begründung um die Fahndung einzuleiten.
    Ben versuchte es währenddessen immer wieder auf dem Handy seines Cousins, doch das war mittlerweile tatsächlich komplett ausgeschaltet. Hartmut wurde informiert den letzten Standort herauszufinden, was lediglich die Funkzelle war, die sich über der Innenstadt um dem Parkhaus ausbreitete. Entweder ging es auf der Flucht tatsächlich kaputt, oder man hatte ihn schnell einkassiert. Eine Möglichkeit war so beunruhigend wie die andere. "Oder er hat es selbst ausgeschaltet?", warf Semir eine weitere Möglichkeit in den Ring, als die beiden Polizisten für einen Moment alleine im Büro waren. "Warum sollte er das tun?" Bens Stimme war sofort angriffslustig, was Semir auch regestrierte und der erfahrene Polizist verlor immer mehr die Lust auf seinen streitsüchtigen Partner einzugehen und sachlich zu bleiben. "Keine Ahnung. Ist nur eine Möglichkeit.", winkte er sofort ab.



    Es graute ihm beinahe davor, mit Ben zusammen die Vernehmung der beiden verhafteten Männer durchzuführen. Es ging bereits auf die Mittagszeit zu, weil ein Dolmetscher für Japanisch nicht gerade im LKA Düsseldorf war, sondern von etwas weiter weg quasi "einreisen" musste, im Schnellverfahren von der Chefin beauftragt. Jetzt stand der Mann im dunklen Anzug und Krawatte vor Ben und Semir, schüttelte freundlich die Hände und entsprach einem tatsächlich freundlichen Klischee der Japaner - er lächelte durchgängig. Semir erwiederte dies, doch Ben ließ sich nicht mal von der Freundlichkeit anstecken, blieb wortkarg und mahnte zur Eile, nachdem er sich vorher über eine Stunde darüber ausgelassen hatte, warum es so lange dauerte bis der Übersetzer für diese schwere Sprache endlich eintraf. Er brachte Semir an den Rand eines Wutausbruchs.
    Jenny beobachtete aus ihrem Büro, wo sie alleine saß, besorgt die Mienen ihrer beiden besten Freunde. Sie hatten sie so rührend unterstützt nach Kevins Tod zusammen mit Andrea. Semir fast noch mehr als Ben, weil Jenny wusste dass Ben selbst am Tod seines Freundes so schwer zu knabbern hatte. Beide verarbeiteten die Trauer anders. Bei Ben schlug sie um in schlechte Laune, Wut und teilweise sogar Selbsthass. Jenny dagegen stürzte sich in Arbeit, was ihr besser gelang als damals, als Kevin verschollen war. Sie konnte sich ablenken, die Einsamkeit schlug erst zu, als sie zu Hause war.



    Semir und Lucas setzten sich mit dem Dolmetscher gegenüber des verhafteten Japaners, während Ben sich im Hintergrund hielt. Semir hatte das so angeordnet und nur ein wortloses Nicken geerntet. Ob er sich an diese Rangordnung hielt, würde er abwarten, entschied er für sich. "Wozu die Überfall auf meinen Partner und dessen Cousin? Was haben sie sich dabei erhofft zu finden?", fragte Semir als erstes und der Dolmetscher übersetzte ihn eine Sprache, die für die drei Männer keinen Sinn zu ergeben schien. Konnte man Englisch oder andere germanisch angehauchte Sprachen einigermaßen nachvollziehen und einzelne Wörter erkennen, so war asiatisch, in diesem Fall japanisch, ein komplettes Wirrwarr aus Buchstaben und Laute. Der Mann, der seinen Arm in einer Schlinge trug, da Ben ihm tatsächlich schmerzhaft die Schulter ausgekugelt hatte, sah nur den Dolmetscher an. Semir und Ben würdigte er keines Blickes, nur auf Lucas blieb sein Augenpaar kurz hängen.
    Seine Antworten waren kurz und kamen ohne großes Nachdenken. "Es war eine Verwechslung. Das hatten sie zu spät bemerkt." Semir zog die Augenbrauen nach oben. "Und wenn erhofften sie sich zu finden?" Der Dolmetscher übersetzte und sprach auf japanisch gefühlt doppelt so schnell, genauso schnell kam erneut die Antwort. "Er bittet um Immunität. Er sei ein Gast dieses Landes." "Als Gast dieses Landes hat man nicht das Recht, Menschen mit Waffen zu bedrohen!", rief Ben aus dem Hintergrund und Semir verdrehte die Augen, während der Dolmetscher das Gesicht verzog. "Sie übersetzen bitte nur, was ich sage.", meinte Semir beiläufig. Für Ben klang das wie eine Suspendierung.



    "Auch als Gast, müssen sie sich an unsere Regeln halten. Schusswaffengebrauch ist bei uns nicht erlaubt, und meines Wissens in Japan genauso. Also beantworten sie bitte die Frage." Er lauschte erneut der merkwürdigen Sprache und ein Kopfschütteln mit kurzer Antwort war die Folge. "Er sagt: Nein. Er hat ihnen nichts zu sagen, das sei nicht die Aufgabe ihres Landes." Semir presste die Lippen zusammen, er hatte sich schon so etwas gedacht. Sollte die Vermutung von Lucas stimmen, so würden sich Mitarbeiter von diesen Kartellen eher die Zunge abschneiden, als etwas Wissenswertes verraten. Das war in Japan nicht anders als in Deutschland oder Europa. "Arbeitest du für Ho Lee?", fragte Lucas nun ohne mit der Wimper zu zucken und sowohl Semir als auch Ben fiel die Reaktion des Mannes sofort auf. Eine kleine, aber feine Reaktion, eine Heben der Augenbraue, ein stechenderer Blick als vorher, der Lucas traf... aber nur kurz. Noch bevor der Dolmetscher übersetzte, was er erst tat, als er von Semir ein kurzes Nicken als Bestätigung erhielt. "Nein, er kenne diesen Mann nicht." "Wer sagt, dass es ein Mann ist?" Lucas lächelte kurz, ein undurchdringbares Lächeln, das auch Semir kurz aufschauen ließ. "Das wird nichts bringen.", sagte der Glatzkopf und stand vom Tisch auf. "Was soll das heißen? Irgendwelche Informationen muss er doch haben! Die haben doch eindeutig nach einem Stick gefragt!", sagte Ben laut in Richtung Lucas, der kurz vor der Tür von Bens lauter Stimme gebremst wurde. Dann kam Bewegung in den Polizisten und er ging auf den Japaner zu, in dem er ihn mit dem Zeigefinger fixierte. "Ausserdem versteht der Kerl jedes Wort! Im Parkhaus habt ihr auch Deutsch mit Christian geredet! Also rede endlich! Was wolltet ihr von meinem Cousin!"



    In Ben kam so schnell Bewegung, dass Semir erst eingreifen konnte, als sein bester Freund bereits auf dem Wege war, den Verdächtigen mit den Händen anzugreifen. "Nein, Stop! So nicht!", sagte er streng und stoppte seinen Partner mit einem Griff an die Schulter. Der Dolmetscher rückte erschrocken mit dem Stuhl nach hinten, während sein Landsmann stocksteif sitzen blieb. "Los, raus!", zischte Semir und Ben wehrte sich. "Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln.", rief er und ließ sich dann doch nach draussen schubsen, bevor er die Tür hinter sich schloß. "Was soll die Scheisse?", giftete Ben noch auf dem Flur, so dass sich einige Kollegen in der Nähe zu ihm umdrehten. "Wir klären das im Büro!", sagte Semir mit angestrengter, ruhiger Stimme. "Gehts noch? Bist du mein Vater, der mich auf mein Zimmer schicken will, um mir eine Standpauke zu halten?"
    Der erfahrene Ermittler presste die Lippen zusammen, und am liebsten hätte er seinem Freund eine gescheuert... in der Hoffnung, er würde wieder zur Besinnung kommen. "Gut, ok. Ich hab darauf keinen Bock mehr! Nicht auf dich und nicht auf deine Laune. Geh da hinein, dein Verdächtiger, dein Cousin, dein Fall!", knallte er ihm vor die Füße und ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei. Auf Höhe des Großraumbüros rief er, überdeutlich in Jennys Richtung. "Jenny! Komm bitte mit mir auf Streife!" Dann war er bereits auf dem Weg zum Parkplatz, während die Chefin ein wenig erstaunt durch ihre gläsernde Tür sah und Ben mit den Händen in den Seiten, schnaubend im Flur blieb. Jennys besorgter Blick in Bens Richtung bekam er noch mit. "Ist alles okay?", fragte sie besorgt. "Ach, fahr mit Papa Streife.", sagte er abweisend und widerspenstig. Dabei machte er eine abweisende Handbewegung, so dass Jenny verstand... kein Gespräch, keine Fürsorge erwünscht. Sie folgte Semir zum Dienstwagen.



    Als Ben sich umdrehte sah er Lucas im Türrahmen stehen. "Der Dolmetscher möchte wissen, ob er noch gebraucht wird." Dabei war Lucas Stimme so seelenruhig trotz der Aufregung, dass es Ben wie eine Provokation vorkam. "Nein, der kann nach Hause fahren. Sie von mir aus auch und ihre japanischen Freunde können sie mitnehmen." Er wusste, dass er sich unmöglich benahm, aber diese unbekannte Wut hatte erneut total Besitz von ihm ergriffen. Mit knallender Tür sperrte er sich in seinem Büro ein und warf einen Blick aus dem Fenster, wo Semirs Wagenheck sich gerade vom Parkplatz entfernte. "Ja, leck mich doch...", murmelte der Polizist, bevor er spürte, dass er gerade zwei Leute, die ihm helfen wollten, wieder vor den Kopf gestoßen hatte. Er konnte nicht sagen, auf wen er die Wut, die ihn ihm aufstieg, projezierte. Auf Semir, der ihn berechtigterweise zurechtgewiesen hatte? Auf Jenny, die nur helfen wollte? Auf Lucas, der sich über die Differenzen in dieser Dienststelle scheinbar amüsierte? Oder auf sich selbst? Er konnte es nicht sagen, aber in diesem Moment hasste er sich, als er vor Wut den Aktenschrank griff, und ihn mit einer kurzen Kraftanstrengung krachend zu Fall brachte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 14:00 Uhr



    Semir hatte sich fest vorgenommen, anders als sein Partner, die Wut nicht an anderen auszulassen. Also erwartete er seine Partnerin Jenny mit einem zwar recht künstlich aufgesetztem Lächeln... aber immerhin einem Lächeln. "Wir lassen uns den Tag doch nicht von dem seinen Launen verderben.", meinte er, als würde er Jenny nun zum Picknick ausführen und das bockige Kind einfach zu Hause lassen. Jenny brachte selbst kein Lächeln zustande, aber sie nickte neutral und schnallte sich an. Obwohl sie gerade selbst auch "Opfer" von Bens Laune wurde, hatte sie irgendwo Verständnis... schließlich ging ihr Kevins Tod ebenfalls sehr nahe. Näher noch als Ben selbst. Aber sie ging anders damit um als Ben. Und so schwieg sie für einen Moment neben Semir, als dieser den Dienstwagen auf die Autobahn lenkte.
    Die Landschaft flog am Fenster vorbei, es wirkte tatsächlich so, als seien die beiden auf einer normalen Streifenfahrt. Aber das waren sie natürlich nicht, es war eher eine Flucht. Semirs Flucht davor, seinem Partner demnächst eine zu langen, wenn er nicht wieder vernünftig wurde. Diesmal schien es, als würde jedes Gespräch, jeder Hinweis und jedes Verständnis nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Wie bei seinen Kindern, und da hatte Bens Vorwurf durchaus Sinn, musste hin und wieder auch die Holzhammer-Methode helfen.



    "Er kann das so nicht machen.", sagte Semir irgendwann mitten ins Schweigen, als würde ihn Jennys Stummheit zur Rechtfertigung herausfordern. "Es ist nicht in Ordnung. Er ist nicht der Einzige, der auf der Dienststelle trauert." Zwei LKWs lieferten sich vor ihm schon seit zwei Minuten ein Elefantenrennen, aber er griff nicht ein. Jenny nickte: "Ich weiß. Aber es trauert halt jeder anders." "Das mag ja sein, Jenny. Aber wenn man trauert, dann ist das keine Rechtfertigung jeden Menschen in seinem Umfeld, die alle nur Gutes wollen, so vor den Kopf zu stoßen. Ich habe den Fehler selbst gemacht... ausgerechnet bei Ben, nachdem Chris gestorben ist.", erinnerte sich der erfahrene Kommissar. Tatsächlich stand er nach Chris' Tod und der Jagd nach seinem Mörder dermaßen unter Druck, dass er gegenüber dem neuen Kollegen damals ziemlich ekelhaft war.
    Jenny schwieg einen Moment und sah aus dem Fenster. Sie hatte Angst, Angst vor der Zukunft, denn sie hatte das Gefühl, dass seit Kevins Tod etwas in der gesamten Dienststelle zerbrochen war. Und sie kam nicht umhin das vor allem mit Ben zu verknüpfen, und mit sich selbst. Semir hatte Erfahrung damit, Kollegen zu verlieren, so hart es auch klang. Er wusste damit umzugehen, er wusste dass sich alles irgendwann wieder einrenken würde wenn man zusammenhielt und jeder jedem den Raum zu trauern ließ. Er wusste, dass solche Wunder verheilen würden.



    Er wusste es aber auch nur deshalb, weil er es erlebt hatte. Und auch wenn Semir davon erzählte, konnten sich weder Ben noch Jenny darin hineinversetzen. Und im Moment war wohl in beiden das Gefühl übermächtig, dass diese Wunden niemals verheilen würden. Dass diese Träume niemals enden würden und dass es niemals mehr anders war, dass Jenny Kevin auf seinem Platz erwartete, wenn sie ins Büro kam. Dass sie seinen Dienstwagen vor ihrer Tür sah, wenn sie ihn abholte. Oder dass sie seine Gestalt und seine stacheligen Haare draussen Blumenkübel sah, wenn er eine Zigarette rauchte und sie ihn aus dem Fenster beobachtete. Dieses Gefühl machte sie ohnmächtig.
    Jenny konnte sich gut vorstellen, dass Ben ähnliches fühlte, ähnliches befürchtete. Es würde niemals mehr so sein wie vorher, und es würde niemals mehr so schön werden, wie es zeitweise zu viert war. Jetzt waren sie nur noch zu dritt, etwas Essentielles fehlte. Und eigentlich, wenn sie egoistisch war, fiel ihr der Verlust wesentlich schwerer. Ben verlor einen guten, engen Freund, den er mit Semir aber immer noch hatte. Jenny verlor das, was sie in ihrem Leben am meisten liebte. Den Mann, den sie in ihr Herz geschlossen hatte und selbst im schlimmsten Moment niemals hergegeben hatte. Den scheuen Straßenkater, dem sie unbedingt Liebe, Zuneigung und Vertrauen schenken wollte... etwas, was ihm in all den Jahren zuvor gefehlt hatte und was ihn zu dem Mann werden ließ, der er war.



    "Willst du Ben mit der Sache wegen seinem Cousin jetzt wirklich alleine lassen?", fragte Jenny nach einer kurzen Weile des Schweigens und sah Semir von der Seite unsicher an. Das würde irgendwie überhaupt nicht zu dem erfahrenen Ermittler und zweifachen Vater passen. Und er schüttelte auch sofort den Kopf. "Natürlich nicht. Aber der soll jetzt einfach mal zwei Stunden nachdenken, ob er sich nicht mal ein wenig zusammenreißen will. In der Zeit fahren wir mal zu Hartmut und schauen, was er bisher so herausgefunden hat, über die Spuren am Tatort." Jenny nickte beruhigt... beruhigt deshalb, dass Semir es nicht darauf anlegte weiter einen Keil zwischen sich und Ben zu treiben. Auch wenn sie die heftige Reaktion von Semir widerrum auch nachvollziehen konnte. Wenn man es immer auf vernünftige Art und Weise versuchte, Ben zu helfen, und immer wieder scheiterte, verlor jeder mal die Geduld.
    "Ausserdem...", meinte der erfahrene Ermittler noch, als sie bereits von der Autobahn abfuhren... "will ich, dass unser Superhirn mal ein paar Erkundigungen über unseren CIA-Ermittler einholt, je nachdem wie weit das für ihn möglich ist." Jetzt blickte die junge Frau neben ihm überrascht auf. "Wieso denn das? Hast du einen Verdacht?" "Einen Verdacht nicht, aber es macht mich alles ein wenig misstrauisch. So oft, wo wir schon von angeblichen Kollegen aus dem In- und Ausland übers Ohr gehauen wurden... sein Eingreifen, so wie es Ben beschrieben hat, war mir da auch ein wenig zu beherzt, dafür dass er nur allgemeine Infos über die beiden Jungs hatte."



    Der Wagen rollte durch das Industriegebiet, wo die KTU ihre Werkstatt hatte... unauffällig und trotzdem extrem gut gesichert. "Ich will nur mal sehen, was Hartmut über ihn herausfindet, sonst nichts. Damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Das kann nicht schaden." Jenny verließ sich in solchen Fällen gerne auf Semirs Erfahrung und würde ihm niemals widersprechen. Und sie dachte in den letzten Wochen oft, wie Kevin wohl die Entscheidung in diesem Falle gefällt hätte... er hätte Lucas vermutlich ebenso wenig vertraut...

    Wenn Engel hassen

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  • Dienststelle - 14:00 Uhr



    Das tippende Geräusch der Fingerkuppen auf der Tischoberfläche hatte etwas beunruhigendes... gefährliches. Die Chefin wartete. Auf eine Entschuldigung, eine Erklärung oder auch nur ein Wort ihres Mitarbeiters Ben Jäger. Gerade wollte sie ihn in ihr Büro bitten, um die erste Standpauke zu verteilen, warum ein festgenommener Verdächtiger nun schon seit geraumer Zeit im Verhörzimmer sitzt, nur von einem uniformierten Beamten ihrer Dienststelle und dem CIA-Mitarbeiter Lucas bewacht, da platzte sie in Bens Wutausbruch. Lucas wiederum hatte vergeblich versucht, den Beamten nach draußen zu schicken um sich alleine mit dem Koreaner zu unterhalten, doch der pflichtbewusste Polizist lehnte dies ohne Weisung der Chefin ab. Lucas musste das mit grimmiger Miene akzeptieren und verkniff sich weitere Kommentare oder Versuche, es würde zu sehr auffallen. Er musste, wohl oder übel, abwarten.
    Gerade, als die Chefin zur Tür hereinkam, hatte sich der Inhalt des kompletten Aktenschranks über den Boden des Büros ausgebreitet, der Schrank lag halb auf dem Schreibtisch und es herrschte ein heilloses Durcheinander. Anna Engelhardt sah ihren Mitarbeiter für einen Moment ausdruckslos an, während Ben selbst mit den Händen in den Haaren erst die Chefin anblickte, sich dann abwandt und aus dem Fenster starrte. Was hatte ihn jetzt nur geritten. "Kommen sie mal bitte in mein Büro.", war dann das Einzige, was sie in diesem Moment zu sagen hatte. Vermutlich hätte sie es genauso gesagt, wenn Ben kein heilloses Chaos angerichtet hätte.



    Jetzt saß er wie ein Schuljunge auf dem Stuhl und wusste nicht, was er sagen sollte. Warum wollte sie ihn überhaupt sprechen, sie war ja quasi schon an der Tür, bevor der Schrank fiel. "Ben, glauben sie mir... alle hier können verstehen, was sie zur Zeit umtreibt. Kevins Tod, das Verschwinden ihres Cousins.", begann sie mit katzenscharfer, aber ruhiger Stimme. "Aber sie sind nicht der Einzige, den Kevins Tod mitnimmt." Für einen Moment wollte ein spitzer Kommentar Bens Mund verlassen, schließlich stand die Chefin nicht immer bedingungslos hinter dem schwierigen Polizisten. Von aussenstehend konnte man das auch nachvollziehen, schließlich kannte sie Kevin nicht besonders gut und mit aussergewöhnlichen Vorkommnissen, die weit über das Verschrotten eines Dienstwagens hinausgingen, hatte er ihren Rückhalt mehrfach auf die Probe gestellt.
    Aber Ben schluckte die Bemerkung herunter. Er war nicht neutral, nicht objektiv. Jetzt schon gar nicht, und ein Satz hätte die ganze Situation nur schlimmer und komplizierter gemacht. Also schluckt er ihn herunter und die Chefin presste die Lippen aufeinander. "Wenn sie Hilfe brauchen, melden sie sich bei einem unserer Polizeipsychologen, dafür sind die da." Das kurze Verdrehen der Augen konnte er nun nicht mehr verhindern. "Chefin, ernsthaft? Ich muss meinen Cousin finden." "Ich werde darüber nicht diskutieren!", brach die Chefin den Einwand konsequent ab.



    Ben holte Luft, sein Innerstes schwankte zwischen Empörung und Einsicht. "Glauben sie nicht, ich würde nicht mitbekommen was hier in den letzten Wochen los ist. Ich habe auch das Gespräch zwischen ihnen und Semir mitbekommen, oder dass ihr Partner gerade mit Jenny Streife fährt, statt mit ihnen bei der Suche zu helfen.", gab sie Einblick darüber, dass sie schon genau über die Verhältnisse auf ihrer Dienststelle Bescheid wusste, auch wenn sie sich nicht ständig dazu äusserte. "Semir hat schon mehrere Partner verloren. Ich habe schon mehrere Mitarbeiter verloren. Diese Situationen sind schwierig, aber man kann lernen mit ihnen umzugehen. Also lernen sie es! Denn so brutal es klingt, das Leben wird weitergehen. Das würde ihr Freund Kevin genauso sehen." Was wusste sie schon von Kevin, dachte Ben missmutig.
    Anna Engelhardt schwieg für einen Moment, bevor sie aufstand und ans Fenster ging, aus dem sie für einen Moment hinaussah. Das Schweigen gefiel ihr gar nicht, denn es versprach weder Einsicht noch Verständnis. Es war eigentlich schlimmer als Widerworte, denn sie hatte das Gefühl, jedes Wort pralle von Ben ab und für einen Moment dachte sie, Kevin saß auf dem Platz, statt Ben.



    "Was ist bei dem Verhör herausgekommen? Der Festgenommene sitzt seit einer halben Stunde im Verhörzimmer mit dem Kollegen des CIA und der Dolmetscher, den ich mit Engelszungen hierher beordert habe, hat bereits den Rücktritt angetreten." Bens Antwort klang ebenfalls nach Kevin, nur die Stimme war anders. "Der redet nicht." "Und wie wollen sie jetzt weiter verfahren?" Die Chefin drehte sich vom Fenster weg und sah Ben wieder an. Seine Reaktion gefiel ihr gar nicht. "Er redet halt nicht. Genauso wie jeder Verbrecher, der in einem Syndikat steckt. Wir können ihn jetzt nach Asien zurückschicken, oder dieser Lucas nimmt ihn mit, keine Ahnung. Mich interessiert nur, wo mein Cousin ist, und was es mit dem Stick auf sich hat, mein Gott." Bens Stimme klang aggressiv, genervt und er wollte aus diesem stickigen Büro heraus, aus diesem heißen Stuhl. Alles in ihn schien zu brennen.
    Die Chefin kam zurück zu ihrem Schreibtisch und stützte die Hände auf die Tischplatte. Ihr Blick war fest und durchdringend. "Wenn ich in den nächsten Tagen von ihnen noch irgendwelche Beschwerden höre, oder Situationen mitbekomme, die mir nicht gefallen, werde ich Konsequenzen ziehen. Sie wissen, dass sie hier einen Kredit haben, aber der ist nicht unendlich und ein solches Verhalten werde ich nicht dulden. Besprechen sie mit Semir, wenn er zurückkommt, was zu tun ist. Aber vorher räumen sie ihren Saustall auf." Danach setzte sie sich auf den Stuhl, und ihre Stimme duldete keine Widerworte.



    Es war, als stünde Ben vor den Trümmern der letzten Wochen, als er zurück in sein Büro kam und das Chaos beobachtete, dass er angerichtet hatte. Seine Freundschaft zu Semir, sein gutes Verhältnis zu Jenny, seine Beziehung mit Carina und Kevins Leben... alles lag, wie ein großer Haufen Akten, Ordner und Bücher im Chaos und im Durcheinander. Nichts ließ sich ordnen, und bei dem Versuch etwas aufzuräumen, hatte er das Gefühl etwas anderes wieder durcheinander zu bringen. Andrea sah für einen kurzen Moment durch die Glasscheibe ins Büro hinein und überlegte, ob sie Ben helfen sollte, das Durcheinander zu beseitigen... doch sie unterließ es. Sie wusste ja um die Stimmung, und sie wollte nicht die Nächste sein, die sich eine verletztende Abfuhr einhandelte.
    Die Chefin hatte dagegen in der Zeit angeordnet, die verhafteten Asiaten dem Präsidium für organisierte Kriminalität zu übergeben. Lucas unterschrieb das Protokoll der Verhörung, und sicherte zu, für Rückfragen bereit zu stehen. Bevor er die Dienststelle verließ, blickte er in das Büro von Ben und Semir und sah, mit etwas hochgezogenen Augenbrauen, wie Ben am Boden kauerte und Ordner in den Schrank zurücksteckte. "Räumen sie um?" Ein vernichtender Blick traf ihn. "Nein, auf.", war die kurze Antwort, um dem glatzköpfigen Mann danach keine Beachtung mehr zu schenken. Der sah für einen Moment durchs Büro. "Als, ich muss noch ein paar Tage in der Stadt bleiben. Und was immer die Asiaten von ihrem Cousin haben wollten, kann mir in unseren Ermittlungen auch helfen. Also rufen sie mich an, wenn sie Hilfe brauchen." Lucas spürte die Ablehnung ganz deutlich, ohne dass Ben mehr als "Ja ja" sagen musste. Trotzdem ließ der CIA-Agent eine Visitenkarte auf dem Schrank liegen, bevor er die Dienststelle verließ.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • KTU - 15:00 Uhr



    Ein Genie fühlt sich nur im Chaos wohl... was eigentlich ein Vorurteil gegenüber schlauen Menschen ist, ist bei Hartmut durchaus Wahrheit. Auf seinem Schreibtisch sah es heute aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Aktenordner, Zettel, Notizen lagen über der Tastatur und dem kompletten Schreibtisch zerstreut. Rechts davon türmten sich leere Bäckereitüten und mindestens ein halbes Dutzend schmutzige Kaffeetassen. Neben seinem Hauptrechner hatte er noch drei Laptops mit verschiedenen Programmen auf dem Schreibtisch stehen, aber auch diese waren teilweise vom Chaos ergriffen und blockiert. Unter dem Schreibtisch hatte sich eine ganze Batterie von leeren Mineralwasserflaschen gesammelt, die dringend zurück in den Supermarkt gehörten. Aber das rothaarige Superhirn brachte nur volle Flaschen mit, statt leere zu entsorgen.
    Man musste annehmen, dass der Besitzer des Tisches im Vollstress war, so sehr sich die Arbeit dort aufzutürmen schien. Man musste auch annehmen, dass der Besitzer ob dieses Chaoses kurz vor einem Burnour stehen musste, wenn ihn auch nur einer nach einer gezielten Notiz fragte. Doch Hartmut saß entspannt an einem zweiten Tisch, wo er die Platine eines Mobiltelefons durch ein Vergrößerungsglas blickend, reparierte. Mit ruhiger Hand und genauem Auge berührte er den Lötzinn mit der heißen Spitze des Kolbens, dabei stießen sich kleine Dampfwölkchen von der Apparatur ab.



    "Wagt es nicht, mich anzustoßen.", knurrte er drohend, als Semir spaßeshalber schon ausgeholt hatte. "Ich hab auch hinten Augen." "Erschreckend... kann man das behandeln?", fragte der erfahrene Polizist mitleidvoll. Endlich mal wieder ein Mensch, mit normal-guter Laune. Nach Tagen des Mufflons Ben Jäger eine willkommene Abwechslung. Selbst Jenny lächelte. Hartmut beendete die Arbeit in Windeseile und die Konzentration hielt ihn nicht ab, einen Vortrag zu halten. "Ich behandel das Ding gerade nach der EDL-Methode, nachdem ich mir selbst den Bootloader zerschossen hab. Damit kann ich es manuell flashen und wieder mit einer anderen ROM ans Laufen bekommen." Bei EDL-Methode war Semir ausgestiegen, aber er nickte anerkennend und meinte "Spannend." Hartmut durchschaute das Spiel natürlich und zog missbilligend die Augenbraue hoch.
    Semir, Ben und Jenny schätzten die Intelligenz und das Können in technischen Dingen von Hartmut sehr, er konnte sich nicht über fehlende Wertschätzung beklagen. Allerdings stellte er immer wieder fest, dass er mit seinen kurzen Erzählungen auf Gähnen und taube Ohren stieß. Aber er nahm es, wie so vieles, mit Humor. Mit dem Stuhl rollte er an seinen Hauptschreibtisch, nahm einige der Blätter von der Tastatur und schaltete dann mit einer Tastenkombination den Monitor an. "Ich nehme an, ihr kommt wegen heute Morgen. Wo ist Ben?" "Der sitzt auf der stillen Treppe. Also, was hast du für uns?"



    Hartmut konnte die kurze Bemerkung bezüglich Ben nicht genau einordnen, aber er fragte auch nicht nach. Mit schnellen Klicks manövrierte er sich durch die vielen Ordner, bis er zu den Ergebnissen von heute Morgen gelangte. "Tja, viel gibts da leider nicht zu erzählen. Wir haben ein paar Kugeln aus den Betonwänden gepuhlt, die aber nichts hergaben. Die Waffe wurde zumindest nicht hier in Deutschland verkauft und fiel auch noch in keinem Verbrechen auf. Die Waffennummer ist unangetastet, Anfragen nach Amerika und Asien sind raus, das kann aber dauern." Semir machte ein verkniffenens Gesicht... nach seiner Erfahrung waren Anfragen ins entfernte Ausland selten von Schnelligkeit oder Erfolg geprägt. Das konnte Wochen dauern, bis sich jemand dort erbarmte, Auskünfte zu erteilen.
    "Ansonsten gibts nicht viel. Die Fahndung nach Ben's Cousin läuft. Wir haben versucht sein Handy zu orten, das ist aber wohl nicht im Netz eingebucht. Letzte Einbuchung war heute morgen in Bens Wohnung." "Hmm... hat er es dort abgeschaltet? Als ob er wüsste, dass etwas passiert?", fragte Jenny interessiert. Hartmut zuckte mit den Schultern. "Schwer zu sagen. Er war in einer LTE-Zelle eingebucht und LTE-Zellen sind unglaublich groß. Sie erstreckt sich sowohl über Bens Wohnung, als auch übers Parkhaus." Mit dieser Antwort musste Jenny sich zufrieden geben.



    "Wir hätten noch was für dich. Check mal bitte diesen Namen für uns.", sagte Semir und legte Hartmut den Zettel mit Lucas Vor- und Zuname auf den Tisch. "Wer ist das?" "Der CIA-Agent, der uns heute morgen geholfen hat. Ich weiß nicht warum, aber ich hab da ein Gefühl." "Ein Gefühl?" "Ja, ein Gefühl, dass mit dem etwas nicht stimmt." Hartmut sah zweifelnd. "Der wird kaum im Personenverzeichnis sein, wenn er in den USA lebt. Oder willst du wissen, ob er schon mal an Ermittlungen beteiligt war?" Semir lächelte verschmitzt. "Am liebsten wäre mir seine CIA-Akte." Hartmut konnte sich ein sarkastisches Auflachen nicht verkneifen. "Seine CIA-Akte? Sehe ich aus, als könnte ich mich einfach mal so auf einen CIA-Server hacken?" "Wenns einfach wäre, hätte ich Andrea gefragt.", war der Konter des erfahrenen Kommissars.
    Früher hatte sich seine jetzige Frau oft damit hervorgetan, Informationen aus IT-Systemen zu beschaffen, oftmals nicht ganz legal. Hartmut hatte darauf sehr erstaunt reagiert, er wusste von dieser Vergangenheit bis vor kurzem gar nichts, Ben ebenso. Auch Jenny war darüber verblüfft. Doch seit Hartmut bei Ihnen im Team war, hatte Andrea diese "Angriffe" zurückgefahren, sie war auch nicht mehr ganz auf dem neuesten Stand der Technik. Die Herausforderung mit Semirs Bemerkung zu Andrea, nahm der Rotschopf aber gerne an.



    "Na schön... ich hab da vielleicht noch andere Möglichkeiten, als Hacken." Er wählte eine Skype-Nummer und es dauerte nicht lange, bis er eine Konversation in englischer Sprache führte. Auf einem IT-Kongreß in Los Angeles hatte er Bekanntschaften geschlossen, unter anderem auch mit Mitgliedern des FBI und des CIA. Er wusste, dass solche Bekanntschaften immer mal nützlich seien. Nach 10 Minuten Gespräch legte er das Headset zur Seite. "Sergej hört sich mal um. Auf offiziellem Wege, quasi.", meinte er lächelnd. "Pfff... das sind also die Tricks. Von wegen, ich komme in jedes verschlüsselte System. Telefonbuch gucken kann ich auch.", brummte Semir und stieß Jenny an, die ebenfalls grinste. Zwischendurch sah sie immer mal auf ihr Handy, ob nicht Ben irgendeine Nachricht geschrieben hatte... eine Entschuldigung, zB.
    Sie hielten noch etwas Smalltalk, als eine halbe Stunde später sich Hartmuts Computer mit einem Klingeln meldete. Er meldete sich auf Englisch, wieder wurden Worte ausgetauscht. "Thank you", war das letzte, was er an Sergej weitergab. "Also... es gibt zu diesem CIA-Beamten in seiner Akte nichts auffälliges. Ganz normale Karriere beim CIA, vorher bei der Navy. Mehrere Auszeichnungen. Keine Lücke im Lebenslauf." Semir war schon beinahe enttäuscht. "Aber..." "Aber?" Der erfahrene Polizist wurde hellhörig. "Sergej hatte sich gewundert... normalerweise sind die Akten von CIA-Ermittlern, die international arbeiten... und vor allem gegen Verbrechen aus dem Ausland, wie in diesem Fall Asien, besonders geschützt. Diese war es nicht. Sie war für ihn offen einsehbar, wie alle Akten der inländischen Agenten. Das hatte ihn nur verwundert, aber keine Ahnung, ob das wichtig ist." Jenny und Semir bedankten sich bei Hartmut, der sich nun wieder voll und ganz seinem Smartphone widmen konnte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Innenstadt - 16:00 Uhr



    Ben stand vor dem Glasgebäude und sah in Richtung Himmel. 15 Stockwerke, modernster Bau, eine Unmenge an Geld, die hier hinein geflossen sein muss. Aber das Unternehmen stand auf festen Füßen... und der Besitzer, Manfred Jäger, ebenso. Ausser, dass er gerne in seiner Freizeit Oldtimer sammelte, mochte man ihm manchmal nicht abnehmen dass er der Geschäftsführer eines Millionen-Unternehmens war, das weltweit mehrere Fabriken zur Plastikherstellung leitete. Eine erfolgreiche Familien-Dynastie, die beiden Gebrüder Jäger, Konrad und Manfred, beide unabhängig voneinander aber gleichermaßen erfolgreich. Daneben der aufstrebende Christian, auf dem Weg zu einem angesehenen Physiker in den Staaten zu werden. Und dann noch Ben... der war Polizist und fühlte sich oftmals ein wenig wie das schwarze Schaf der Familie.
    Sein Vater hing ihm ständig im Rücken und bewirkte durch seine penetrante Art, den Sohn doch auf den rechten Weg zu führen, hin zur Wirtschaft und weg von der Musik, genau das Gegenteil. Denn im Gegensatz zu Christian hatte Ben wohl wesentlich mehr Gene seiner Mutter geerbt, statt die der männlichen Jäger-Familie. Freiheit, Abenteuer... und kein Spießerleben. Auch wenn es Vorteile mit sich brachte. Aber um Geld musste sich Ben definitiv keine Gedanken machen, schließlich würde er die Firma seines Vaters eines Tages erben, und sowieso ist er mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund groß geworden.



    Gedankenverloren betrat er das supermoderne Gebäude, zeigte seinen Dienstausweis bei der Empfangsdame und bewegte sich zum Treppenhaus. Den Aufzug im Inneren des Gebäudes ließ er natürlich aus. Ohne Semir wurde er auch nicht dazu gedrängt, seine Angstzustände durch Konfrontation zu bekämpfen. Und so stieg er ohne Probleme die Stufen bis zum 12. Stock hinauf, wo Manfred Jäger sein Büro hatte. Er klopfte und wurde von einer gutaussehenden Sekretärin (dahingehend erfüllte Ben's Onkel dann doch ein gewisses Klischee) hereingerufen. "Ben Jäger, ich würde gerne meinen Onkel besuchen.", gab er an und verzichtete darauf, den offiziellen Weg über den Dienstausweis zu wählen. "Werden sie erwartet?" "Ich denke nicht." "Einen Moment bitte." Die junge Frau hebte den Hörer ab und wählte eine Kurzwahltaste.
    "Chef? Haben sie Zeit? Ja, ihr Neffe ist hier und wollte sie besuchen. Wie? Ben Jäger. Ja, alles klar." Das Gespräch dauerte nur wenige Sekunden, dann deutete die junge Frau auf eine Zwischentür, hinter der sich wohl das Büro des Direktors lag. Ben war als Kind öfters hier, aber er hatte das Gefühl, je älter sein Onkel wurde, desto jünger wurden die Sekretärinnen. Brauchte man das, als mächtiger Mann im höheren Alter? Als Statussymbol? Wurde bei großen Wirtschaftskongressen vielleicht weniger mit Bilanzen und Verkaufszahlen geprahlt, als mit dem Alter der Sekretärin? Ben wusste es nicht. Für ihn war das, von seinem Vater abgesehen, eine andere Welt.



    "Ben. Was für eine Überraschung!", begrüßte Manfred seinen Neffen und stand hinter dem Schreibtisch auf. Er machte auf den ersten Blick nicht den Eindruck eines Firmenchefs... zumindest nicht den, eines seriösen. Seine Haare trug er als grauen Pferdeschwanz, Anzüge verabscheute er, Hemden duldete er nur zu besonderen Anläßen. Zugegebenermaßen teure Markenjeans und Poloshirts waren sein Aussehen, das Jacket dann nur, um nicht mit einer abgewetzten College- oder Lederjacke zur Arbeit zu erscheinen. Er war ein, im Geiste ziemlich jung gebliebener Anfang-Sechziger mit drahtigem Körper und Lachfältchen im Gesicht. Einziges Laster waren sein Zigarrenkonsum am Wochenende nach einer harten Arbeitswoche. Ben hatte ihn immer als lockeren und coolen Onkel in Erinnerung, und nicht selten wünschte er sich, er und Christian könnten die Väter tauschen. Vielleicht war auch der eher lockere Umgang Manfreds mit seinem Sohn der Grund, dass Christian nicht von dem Streben nach wirtschaftlichen Reichtum abgeschreckt wurde, während Ben vorsätzlich die Konfrontation mit seinem Vater suchte.
    Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. "Setz dich doch. Das ist ja ewig her, dass du mich in meinem Büro besuchst. Was kann ich für dich tun?", fragte Manfred überschwänglich und lächelte übers ganze Gesicht. Ben nahm dankbar Platz, seine Laune wurde aber durch seinen Onkel nicht zum positiven angesteckt.



    "Hast du gewusst, dass Christian in der Stadt ist?" Der Gesichtsausdruck wich ins Überaschte. "Nein. Er hat mir nichts gesagt. Wir telefonieren einmal die Woche, wenn keine stressige Woche ansteht. Vielleicht überrascht er uns heute abend." "Ja, das wäre wünschenswert.", murmelte Ben für einen Moment. "Wie bitte?" "Onkel Manfred, ich befürchte, dass Christian etwas zugestoßen ist." Der Firmenchef zog die Augenbrauen nach oben. "Zugestoßen? Wie meinst du das?" Ben seufzte, es war immer schwer unangenehme Nachrichten zu überbringen. Innerhalb der Familie war das doppelt so schlimm. "Christian ist gestern bei mir aufgetaucht und wollte bei mir übernachten. Weil irgendwas von seiner Firma mit dem Hotel nicht gepasst hatte." "Warum ist er nicht zu uns gekommen?", warf Manfred sofort verwirrt ein.
    "Jedenfalls habe ich ihn heute morgen zu dem Hotel gefahren, und wir wurden im Parkhaus von zwei Asiaten attackiert. Die wollten irgendeinen USB-Stick von ihm haben. Jedenfalls ist Christian geflohen und seitdem nicht mehr erreichbar. Hat er sich bei dir gemeldet?" In Manfreds Kopf schien es zu arbeiten, seine Gesichtsfarbe wich der ungesunden Blässe. "Nein... also... heute nicht. Was? Welcher Stick? Was soll das alles.", fragte er verwirrt. Seine oft geschätzte Souveränität hatte er verloren, und langsam ließ er sich in seinen Stuhl gleiten. In diesem Moment sah man ihm plötzlich sein Alter an.



    "Das weiß ich alles noch nicht. Ich weiß nur, an was er zur Zeit gearbeitet hat, und dass die Angreifer scheinbar zum organisierten Verbrechen gehören.", sagte der junge Polizist und hatte die Hände gefaltet im Schoß liegen. "Ich will dir keine Angst machen, Onkel Manfred, aber ich mache mir Sorgen. Einerseits müssen wir rausbekommen, was es mit dem Stick auf sich hat und andererseits natürlich müssen wir Christian finden." Der Mann nickte. "Natürlich! Ich... ich weiß, woran er gearbeitet hat. Eine neuartige Entwicklung der sauberen Energie. Chemische Reaktionen mit verschiedenen Stoffen, die Energie freisetzen würden. Christian war ganz stolz darauf, er hatte gesagt, es sei das, was man vor 60 Jahren mit der Kernenergie eigentlich vor hatte. Sauber, ohne Abfälle, ohne Risiko." Ben hing an Manfreds Lippen, ohne eine konkrete Frage gestellt zu haben. "Ich verstehe ja nicht soviel davon, habe aber damals schon gesagt, dass man doch kein Risiko ausschließen kann, wenn es um chemische Prozesse geht. Aber er war Feuer und Flamme dafür." "Vielleicht doch Industriespionage?", vermutete Ben. "Das wären aber neuartige Methoden der Spionage. Warum hat er so wertvolle Daten auf einem Stick bei sich? Da gibt es doch ganz andere Möglichkeiten heutzutage.", widersprach ihm sein Onkel. Sein logisches Denken setzte auch in diesem emotionalen Moment nicht aus. "Wenn er geflohen ist, dann schaltet er vielleicht das Handy nicht an, um nicht geortet zu werden. Vielleicht kennt er seine Gegner und dessen Möglichkeiten.", dachte der junge Polizist laut nach und sah seinen Onkel an.



    "Hast du irgendeine Idee, wo er sich verstecken könnte? Ein Rückzugsort. Ich weiß, dass ihr das Ferienhaus in der Eifel verkauft habt, und sonst ist mir nichts eingefallen." Manfred nickte schnell. "Ja, das haben wir nicht mehr. Aber wir haben eine kleine Blockhütte in der Nähe des Fühlinger Sees. Aber einsam... naja. Da würde man schon hin finden, wenn man ihn dort suchen würde." Ben dachte nach... es war der einzige Anhaltspunkt. "Okay... ich fahre dorthin." "Ich komme mit." Manfred stand mit einem Rück auf. "Nein!" wurde ihm von Ben widersprochen. "Ich weiß nicht, was mich da erwartet. Das ist viel zu gefährlich. Bleib hier, falls er sich hier meldet, das ist wichtiger." Das überzeugte den Firmenchef und in diesem Moment besorgten Vater völlig.
    Die Treppen nach unten gingen plötzlich wesentlich schneller mit einem Ziel vor Augen. Wo Ben vorhin gedankenverloren den schwarzen Audi hinter sich nicht bemerkt hatte, so bemerkte er ihn auch jetzt nicht, weil er sich beeilte und fokussiert war. So fokussiert, dass er auch seinen Partner nicht anrief, um ihn zu informieren.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Fühlinger See - 17:00 Uhr



    Ben bot sich ein wahres Farbenspiel, als er den feuchten Feldweg abseits der Landstraße Richtung Fühlinger See befuhr. Die Bäume hatten ihr buntes Blätterkleid angelegt, die Luft war feucht und kalt, der Himmel hatte sich zugezogen. Unter dem Auto spritzten Steinchen und Matsch vom Reifen an die Karosserie, es ergab den typisch knirschenden Klangteppich, wenn man schnell über einen Feldweg fuhr. Eichhörnchen suchten im Wald letzte Nahrung für die kommende Winterruhe und im Hintergrund der Dämmerung, die in einer Stunde einsetzen würde, hörte man die Schneegänse schreien - das letzte Signal dafür, dass der Sommer vorbei war, und es zukünftig verdammt kalt werden würde. Der junge Polizist erinnerte sich an einen Satz seines Ex-Partners, der überhaupt nicht zum kühlen Kevin passte: "Am liebsten würde ich jetzt einschlafen und erst im März wieder aufwachen."
    Ben kannte die Hütte seines Onkels nicht, sonst hätte er die Idee vermutlich schon vorher gehabt. Scheinbar hatte er sie noch nicht so lange in seinem Besitz. Die erste Enttäuschung stellte sich ein, als er nirgends ein Mietauto oder sonstiges Fortbewegungsmittel sah, als er bei der hübschen Blockhütte ankam. Aber versteckt lag sie tatsächlich nicht, sondern direkt neben einem Wanderweg. Jetzt, um diese Zeit, war kein Wanderer mehr zu sehen, aber um die Mittagsstunde hatte man hier sicherlich keine absolute Ruhe.



    Der Polizist stoppte das Auto und schaltete den Motor ab. Als er ausstieg umgab ihn eine seltsame Stille, die beinahe unheilvoll war. Nur das Geschrei der Schneegänse war hin und wieder zu hören. Kein Lufthauch, kein Windrascheln, kein Wasserplätschern. Nur ein leises Rascheln der Blätter, durch die Ben schritt, das Knacken der Dielen, als er die Stufen zur Veranda hochging. En kurzer Blick durch das Fenster, allerdings sah er nicht mehr als Vorhänge und Dunkelheit. Natürlich wollte er seinem Onkel keinen Schaden anrichten, aber irgendwie musste er in die Hütte kommen... also musste sein Spezialwerkzeug ran. Mit einem Dietrich, den er aus einem Lederetui zog, hantierte er zwei Minuten am Schluss herum. Kevin hatte dafür nur ein paar Sekunden gebraucht...
    Irgendwann gab die Tür nach, und seine Nase nahm wahr, dass sich der Geruch nicht änderte. Es roch frisch im Haus, keinerlei muffiger Geruch. War sein Onkel vor kurzem hier? Das müsste er nachfragen... oder war es ein Beweis dafür, dass Christian hier war? Langsam, mit dem leisen Knarren der Dielen unter seinen Füßen, erkundete Ben die ersten Zimmer. Wohnzimmer mit angeschlossener Küche, ein kleines Badezimmer, die Garderobe. Natürlich war die Hütte nicht besonders groß, aber komfortabel. Die Fenster waren alle verschlossen, aber die Luft war frisch...



    Mit langsamen Schritten ging Ben die Treppen in das ausgebaute Dachgeschoss. "Christian? Bist du da?", fragte er zaghaft. Oben waren unter der Dachschräge zwei Schlafzimmer eingerichtet, und Ben bekam keine Antwort. Sollte er hier alles durchsuchen, auf Hinweise? Eigentlich wollte er nur sehen, ob Christian sich hier versteckte... und warum sollten Hinweise seines Verschwindens in der Hütte seines Vaters sein? Manfred hätte ihm die wahrheit gesagt, sollte sich hier etwas befinden, was ihm weiterhalf, da war Ben sich sicher. Hartmut... er musste die Funkzelle überprüfen, ob Christians Handy sich hier eingeloggt hatte.
    Er nahm das Handy und ging dabei die Treppen wieder herunter. Er hörte das Freizeichen, dann das Klingelzeichen, als er das Erdgeschoss betrat und in den monotonen Ton, der aus seinem Smartphone kam, vertieft war. Er hatte die kleine, kräftige Gestalt nicht gesehen, weder wie sie ins Haus kam, noch wo sie sich geschickterweise versteckt hielt. Das einzige, was er von ihr spürte, war ein gezielter Handkantenschlag gegen die Halsschlagader, die ihm sofortt alle Lichter ausgehen ließen, bevor Hartmut den Anruf entgegen nahm. Schlapp wie ein Sack, krachte Ben zu Boden, das Handy neben ihm, und alles um ihn herum wurde schwarz.



    "Scheisse...", war das erste, was er murmelte, als er wieder zu sich kam. Unsicher, wo er sich gerade befand, alles um ihn herum war dunkel, was allerdings weniger an der Ohnmacht, sondern mehr an der Tatsache lag, dass mittlerweile mehrere Stunden vergangen waren. Draussen war es stockdunkel, das leise Rufen eines Uhus war zu hören, und Ben spürte jeden Knochen auf dem harten Dielenboden. Er stöhnte angestrengt, als er sich aufrappelte und die Augen durch die Dunkelheit schweifen ließ. Sein Handy lag neben ihm am Boden und zeigte mehrere Anrufe in Abwesenheit. Semir, Jenny und Hartmut hatten versucht, ihn zu erreichen. Stöhnend hielt er sich die schmerzhafte Stelle am Hals, wo ihm das Licht mit einem Schlag weggeknipst wurde.
    Die Bescherung sah er erst, als er sich mühsam nach einem Lichtschalter vorgetastet hatte. Er hätte hier keine Informationen vermutet... die Person, die ihn niedergeschlagen hatte, dagegen schon. Alle Schubladen waren aus den Schränken gezogen, der Inhalt auf dem Boden verteilt. Es wurde wirklich überall gesucht, in jedem Küchenschrank, im Wohnzimmer und selbst den Spülkasten der Toilette hatte man abgeschraubt. Egal was man hier suchte... es musste wichtig und wertvoll sein. Ben stand, mit der Hand im Nacken mitten im Raum, sah sich um, und war ratlos. Die Sache kam ihm immer undurchsichtiger vor...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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  • Hütte - 17:20 Uhr



    "Tut mir leid, Junge...", murmelte Lucas leise mit seiner leicht kratzigen Stimme, als er Ben möglichst sanft zu Boden gleiten ließ, nachdem er ihm mit einem gezielten Schlag das Licht ausknipste. Der Mann konnte zwar ein ziemlich skrupelloser Mensch sein, wenn er wollte, aber dem jungen Polizisten wollte er nichts Böses. In diesem Moment war er ihm einfach im Weg, und dieses Mal wählte Lucas nicht den Weg der Zusammenarbeit, nachdem er feststellte in welcher Verfassung Ben war. Er hätte wohl jede Zusammenarbeit abgelehnt, ausserdem befürchtete Lucas, dass seine Neugier langsam auffalle und mehr als nur als bloßes Job-Interesse gedeutet werden könnte. Den Zweck hatte der junge Polizist eh erfüllt... er hatte ihn zu der Hütte geführt und bevor Ben etwas fand, was für Lucas interessant war, griff er lieber selbst zu.
    Mit schnellen Schritten bewegte sich der Mann mit der hohen Stirn durch die Hütte und hatte durch seine langjährige Erfahrung so etwa wie Routine. Er kannte die typischen Verstecke von Informationen wie Unterlagen, USB-Sticks, Festplatten oder anderen Gegenständen, die von Interesse sind. Sowohl die plumpem Verstecke unter Socken oder der Matratze, als auch kreative wie Tresore unter Dielen, einen doppelten Schrankrücken oder anderes. Immer wieder blickte er zu dem Mann am Boden, ob er nochmal einen Nachschlag verpassen musste, um nicht gestört zu werden.



    "Verflucht...", knurrte er missmutig, denn die Suche dauerte ihm jetzt schon zu lange. Und endlich gab es einen Hoffnungsschimmer, als er innerhalb eines Schrankes eine Zwischenwand fand. Er konnte sie ertasten über das Regalbrett bis zur Rückwand. Für einen Moment hatte es den Eindruck, das Brett wäre nicht sauber an die Rückwand angeschraubt, es gab einen Schlitz dahinter. Als Lucas aber mit dem Handyblitz unterhalb des Brettes leuchtete, sah er keinen Schlitz. Der Zwischenraum war dahinter, gereade breit genug für ein paar Blätter Papier. Das war schon etwas aufwendiger, eine kleine Sonderanfertigung. Schnell suchte der Mann die Rückwand ab, fand vier Schrauben die er zügig öffnete und die vordere Rückwand samt Regalbrett vorzog, wobei einige Bücher auf den Boden fielen. Sofort hielt er inne und sah herüber zu Ben, doch der Polizist war ausgeknockt.
    Die Papiere waren in Klarsichthülle verpackt, er konnte nur eine davon ertasten und schnell aus dem Versteck ziehen. Es war definitiv etwas, was nicht jeder sehen sollte. Ansonsten war das Gefach leer. Lucas blickte durch die durchsichtige Schutzhülle auf das erste Blatt, um zu sehen mit was er es überhaupt zu tun hatte, immer aufmerksam auf den bewusstlosen Körper am Boden. Das ständige Klingeln des Handys in Bens Tasche ignorierte er natürlich.



    Seine braunen, schnellen Augen flogen über die Linien und Punkte auf dem Papier. Es war ein Gebäudeplan, soviel war sicher. Aber von was? Beschriftungen oder einen Hinweis, wo dieses Gebäude stand, oder zu was es gut war, war nicht zu sehen. Aber das dazugehörige Gebäude ausfindig zu machen, dürfte eigentlich nicht so schwer sein. Das zweite Blatt war noch wesentlich interessanter, und es bestätigte Lucas in dem, was er suchte. Das vermutete er zumindest... denn entziffern konnte er die zahlreichen chemischen Formeln nicht. Da er aber wusste, welche Daten auf dem Stick zu finden sind, konnte er es zuordnen... Nur es nützte ihm nichts. Es war kein Hinweis darauf versteckt, wo er den Stick suchen sollte, und wo er vor allem dessen Besitzer finden konnte, ausser das Gebäude gab Aufschluss darüber.
    Er legte die Seite mit dem Gebäudeplan auf den Tisch, fotografierte ihn mit seinem Smartphone ab und schob ihn danach wieder in die Klarsichtfolie. Falls seine "Kollegen" in den Staaten damit nichts anfangen konnten, würden vielleicht die hiesigen Behörden eher etwas herausfinden. Die Klarsichtfolie legte er ihn ein wesentlich offensichtlicheres Versteck und hoffte, Ben würde es finden wenn er wieder zu sich kam. Das Blatt mit den Formeln steckte er ein, nachdem er sich eine Sicherheitskopie per Schnappschuss aufs Handy sicherte. Dann verließ Lucas die Hütte.




    Dienststelle - 18:00 Uhr



    Semir hatte gerade den letzten Aktenordner des Schrankes wieder ins richtige Regal geräumt. "Was war hier nur los...?", hatte er sich mehrfach gedacht und dass sein bester Freund Ben nicht ans Handy ging, beunruhigte ihn zusätzlich. Sie hatten sich vor vielen Jahren auf ein einheitliches Sortiersystem der Ordnerrücken geeinigt. Plötzlich stand alles durcheinander, als hätte Ben plötzlich eine spontante Laune gehabt, alle Ordner zu vertauschen. "Was ist das nur für ein Kindskopf... unglaublich." Die Chefin kam gerade rein und sah überrascht auf. Sie hatte doch gesehen, wie Ben den Saustall wieder aufgeräumt hatte. "Was machen sie da?" "Ach, mein Partner kehrt scheinbar wieder ins kindliche Alter zurück.", murrte Semir und sah auf die Uhr. Eigentlich wollte er schon längst Feierabend machen, es dunkelte schon... aber Ben hatte sich noch nicht ausgetragen. Wo trieb der sich nur rum?
    "Naja... eben sah das hier noch weitaus schlimmer aus.", sagte die Chefin mit kryptischer Wortwahl, so dass ihr bester Mitarbeiter sich mit verständnisloser Miene herumdrehte. "Hä?" "Ihr Partner hatte eben... naja... ihr Büro umdekoriert. Mit einem Schlag, quasi." Dann zeigte sie auf eine Kerbe auf der Tischplatte, die den Fall des Schrankes bremste, danach auf eine ähnliche Kerbe an der oberen Schrankkante. Semir folgte ihrem Finger, sah auf den Tisch, auf den Schrank und dann auf die Strecke... ja, das kam hin, wenn der Schrank fiel... Oh Mann.



    Der erfahrene Kommissar liess sich in den Drehstuhl fallen und seufzte. "Er kommt überhaupt nicht mit Kevins Tod klar.", meinte er niedergeschlagen, und er kannte das Gefühl nur zu gut. Aber er hatte die Emotionen oft, nicht immer, nach innen gekehrt. Das Ben mehr ein Bauchmensch war als Semir, wusste der Deutsch-Türke. Er wusste auch, dass es Bens erster "Kollegenverlust" war, noch dazu mit Kevin ein besonderer Kollege. "Ich weiß, das ist eine sehr undankbare Aufgabe... aber sie müssen versuchen ihn ein wenig zu bremsen. Auch wenn sie sich vermutlich einiges anhören müssen, und ich verstehen kann, wenn ihnen auch mal der Kragen platzt." "Ich weiß, Chefin. Ich versuche es. Jetzt weiß ich auch, warum er noch nicht zurück ist... vermutlich ist er irgendwo am Schmollen... hoffe ich." Er notierte sich im Gedächtnis, gleich nochmal anzurufen. In ihm wuchs die Sorge.
    "Wie gehts Jenny? Wie kommt sie damit klar?" Wieder ein kurzes Seufzen von Semir. "Schwer zu sagen. Ich hab das Gefühl, sie gleicht sich da Kevins Strategie an. Sie spricht nicht viel, sie lacht nicht, sie wirkt total in sich gekehrt. Aber sie macht ihre Arbeit." Er blickte kurz von Anna Engelhardt weg. "Gut geht es ihr sicherlich nicht. Wenn ich ehrlich bin weiß ich nicht genau, wer von den beiden weniger dienstfähig ist." Er meinte den letzten Satz nicht unbedingt ernst, aber er gab doch zu denken. Die Chefin nickte kurz: "Halten sie mich auf dem Laufenden...", bevor auch sie Feierabend machte.

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    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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