Zurück in der Hölle

  • 2008
    Mein Senior-Chef, Erwin, hat mich gleich heute Morgen zu sich gerufen. Er ist ein alter Mann. Mit viel Erfahrung, als Bäcker und im Leben. Er hat die blauen Flecken an meinen Armen gesehen. "Laura? Das da ist doch nicht etwa bei der Arbeit passiert?"
    Ich schüttelte den Kopf, schaffe es aber nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Dafür nach draußen - sein Büro hat im Gegensatz zur Backstube ein richtiges Fenster. Draußen regnet es auf den Schnee. Richtiges Matschwetter.

    Erwin stellt sich vor mich: "Was ist los? Hast du Probleme? Kann ich dir helfen?"

    Ich war so überrascht, dass ich nur mit dem Kopf schüttelte. Wie soll er mir auch helfen? Ich habe mich umgedreht, bin gegangen. Er ging ein paar Schritte hinter mir her. Ich begann, zu zittern. Er sagte tatsächlich:
    " Vertrau mir. Ich kann dich da rausholen."

    Was weiß er schon! Ich will nicht, dass er zusammengeschlagen wird. Dass meine Eltern bedroht werden - die haben schon genug mit sich selbst zu tun. Ich traue André alles zu.
    "Laura?! Ich will, dass du heute um 13 Uhr an Moni übergibst und gehst. Okay?" Ich nicke. Es hätte keinen Sinn, zu widersprechen. Vielleicht kann ich ja das Auto abholen.

  • Kurz vor 11 kommt Erwin nochmals zu mir. Er nimmt mich zur Seite, damit Moni nichts mitbekommt. "Laura, wenn das dein Mann war: Zeig ihn an und hau ab! Ich habe noch einen guten Freund aus der Meisterschule. Hermann könnte eine gute Kraft wie dich brauchen. Es wäre weit genug weg von hier und keiner müsste es mitbekommen. "
    Ich schüttele den Kopf. Sage: "Danke, aber ich glaube, du irrst dich."
    Ich gehe wieder an die Arbeit. Verkaufe den Jungs von der Baustelle gegenüber ihren Mittagsimbiss. Hole die Körnerbrötchen aus dem Ofen, stelle die ersten Transportkisten in die Industriespülmaschine. Die Arbeit lenkt mich ab. Lenkt mich ab von den Gedanken daran, was heute zu Hause passieren wird. Und dem klitzekleinen Gedanken daran, wie es wäre, ein neues Leben anfangen zu können. Aber es ist ja mein Mann und in der Ehe gibt es eben auch schlechte Zeiten.

  • 2008
    Ich konnte das Auto abholen. Es hat ein bisschen gedauert und es hat hinten eine ordentliche Delle. Aber es fährt noch. Jetzt komme ich nach Hause, trotz allem viel früher als sonst. Er ist noch nicht da. Ich habe die Handschuhe noch gar nicht ausgezogen. Da sehe ich es: Wie ein Begrüßungsgeschenk liegt da etwas im Flur. Ein kleines Päckchen aus Plastikfolien, Tütchen vielmehr. Mit weiteren zwei Tütchen drin, Tabletten und weißem Pulver. Plötzlich wird mir klar, dass er nicht aufhören wird. Dass er mich weiter anlügen und misshandeln wird. Dass er das Zeug in meinen Händen mehr liebt, als mich. Und, dass ich da jetzt raus muss, dass ich es wenigstens versuchen muss. Sonst bringt er mich vielleicht noch um.
    Ich rufe die Polizei. Die kommen ganz unauffällig und nehmen das Päckchen mit. Ob er noch bleiben soll, hat er gefragt, der Polizist. Er hat mir geraten zu gehen. Schnell zu meine Sachen zu packen, abzuhauen. Aber wohin? Bei meinen Eltern taucht er bestimmt auf. Ob meine Mutter das übersteht?

  • Noch auf dem Rückweg von dem Schießtraining hatte Alex den Anruf von Kim Krüger erhalten, in dem sie ihm gratulierte, dass er ab morgen wieder im Team war. Alex erkundigte sich direkt nach den neuesten Entwicklungen in dem Fall um die entführten Kinder. Er erfuhr, dass die Suche der Hundestaffel und der Hundertschaft nach Leon Bährle erfolglos geblieben war. Und auch, dass der Ex-Mann von Laura Bährle dringend tatverdächtig war. Bei den Gerkans zu Hause angekommen, freute sich Semir mit Alex sehr über das gute Ergebnis des Schießtrainings. Semir hatte inzwischen Kaffee gekocht und türkisches Frühstück zubereitet, so dass sich Alex nur noch setzen und essen musste. Der Kaffee tat gut. Anja hatte bereits gegessen. Sie stand gerade auf, um ihr Geschirr in die Küche zu bringen, da fiel ihr Blick auf Alex' Smartphone. Er scrollte derweil durch die Ermittlungsakte des Falles. Anja fragte ihn:
    "Hey, warum schaust du dir das Bild von Arno Weber an? "
    "Wieso Weber? Das ist Andre Wieler. "
    "Nein..."
    "Du kennst ihn?"
    Anja schien kurz mit ihren Gedanken wo anders zu sein. Zögerlich erklärte sie: "Also, das war so : Ich war im Januar auf Fortbildung. Da war ein Mann, der genau so aussah, aber er hieß Arno Weber. Stand so auf der Teilnehmerliste. Und auch die E-Mail-Adressen, er hat mir mehrfach geschrieben. Er hatte eine eigene Praxis in Köln. Wir haben uns echt gut verstanden..."
    In Alex keimte Eifersucht auf. Doch er hatte sich gut genug im Griff um Anja nur aufzufordern :" Erzähl weiter, ich höre zu... " Die hübsche Physiotherapeutin legte ihm die Hand auf den Arm und wischte sich die Haare aus dem Gesicht:
    "Alex, ja, ich hatte mich etwas in ihn verguckt. Und: Ich habe kurz wirklich davon geträumt, mit in seine Praxis einzusteigen. Weißt du, einfach mal raus aus dem Klinikding. Ein bisschen Großstadt statt Landleben. Er hat immer so nett gefragt, schien sich zu kümmern - Nicht nur um mich, auch um meine Familie. Er schien Kinder zu lieben : Er hat auch noch Laura gefragt und vor allem nach Marie, was sie macht und so. Er schien sich voll mit uns zu freuen, als Leon zur Welt kam. Aber - " sie sah Alex an und zuckte mit den Schultern:
    "Plötzlich war Funkstille. Ich habe mehrmals nachgefragt und er meinte nur, es würde wohl doch nicht so passen zwischen uns. Ich war echt stinkig, hab es echt nicht verstanden. Ich bin nach Köln, aber er war weggezogen, an sein Handy ging plötzlich niemand mehr. Seine Praxis gab es nicht mehr...die Website war offline. Totaler Kontaktabbruch."
    "Und dir sind nie Zweifel gekommen? Ich meine, dass er dir das vorspielt?"
    "Warum sollte er das tun?" Anja sah Alex ratlos an. In diesem Moment wusste er nicht, ob er diese Naivität süß finden sollte. Oder hieß es, dass sie emotional immer noch an diesen Mann gebunden war? Oder schlichtweg etwas schwer von Begriff? Das Kribbeln in seinem Bauch machte in jedem Fall gerade Pause.
    "Du meinst, ihm ging es gar nicht um mich, sondern um die Kinder," fragte sie entsetzt. "Du hast sein Bild ja nicht ohne Grund da bei dir ..." Alex nickte erleichtert. Vielleicht war er als Polizist auch einfach offener gegenüber den menschlichen Abgründen... "Wir recherchieren noch. Du weißt, dass Laura schon mal verheiratet war?"
    "Ja, aber nicht lange. Laura meinte nur, es wäre die Hölle gewesen - sie wollte nicht darüber sprechen..." Sie sah Alex nachdenklich an. Dann fragte Anja: "Das ist doch nicht etwa ihr Ex-Mann?"
    "Es sieht alles danach aus..."
    Anja war völlig entsetzt.
    "Oh mein Gott! Oh nein! Jetzt weiß ich, was du meinst.... Sie ist zurück in der Hölle und ich bin schuld..."
    "Nein, Anja. Bitte, so solltest du das nicht sehen..."
    In diesem Moment verriet ein lautes Jammern nach "Mama!" , dass Marie aufgewacht war.

  • 2008


    Ich habe meine Sachen gepackt. Ich war schon fast fertig und dann kam er; viel zu früh. Er hätte Kopfschmerzen, meinte er und was ich da mache, wollte er wissen.
    "Ich gehe," habe ich gesagt. Ich war so ruhig wie schon lange nicht mehr.
    "Wohin willst du gehen? Raus? Dafür brauchst du keine Koffer ..."
    "Nein. Ich verlasse dich."
    Er sieht much ungläubig an. "Das wirst du nicht tun!"
    Er steht vor mir. Er hebt seine Hand. Er will zuschlagen. Aber zum ersten Mal spüre ich die Kraft der Verzweiflung. Ich balle meine Hände zu Fäusten, hebe meine Arme vors Gesicht und schreie:
    "Wenn du es wagst, breche ich dir die Nase!"

    Tatsächlich lässt er von mir ab. Aber er schließt die Wohnungstür zu und wirft den Schlüssel vom Balkon, mein Handy wirft er hinterher.
    "Jetzt kommst du nicht mehr raus. Nicht ohne mich oder nicht lebendig.Aber ich verzeihe dir natürlich, wenn du versprichst, dass das nur ein Scherz war. Ich meine: Du bist doch meine Frau...Zeig mir, dass es nur ein blöder kleiner Scherz war..."
    Er sieht mich wieder mit diesem lüsternen Blick an. Oh nein! Er wirft sich auf mich und ich schreie ihn an: "Wenn Du das wieder tust, werde ich es jedem erzählen!
    "Du wirst es nicht mehr erzählen können." Er grinst.
    "Dann wird man es mir ansehen. Jeder wird wissen, dass du es warst!"
    Plötzlich verzieht er die Miene. Er fängt an zu heulen. Wie ein kleines Kind:
    "Laura! Du darfst nicht gehen! Ich brauche dich doch! Was bin ich denn ohne dich? Wir sind doch verheiratet! Ich brauche dich doch ," er heult weiter, wirft sich in meine Arme: "Bitte, streichel mir den Kopf!"
    Ich streichel ihn im Kopf.
    "Dieses Zeug macht mich total verrückt. Es tut mir so Leid !"
    Ich darf nicht aufhören, ihn zu streicheln. Irgendwann schläft er ein. Ich lege seinen Kopf auf ein Kissen, gehe auf die Toilette. Er wacht auf: "Wo willst du hin? Du gehst nicht!"
    "Nein. Ich muss nur aufs Klo."
    " Du gehst nicht?!"
    "Nein. Kann ich gar nicht, die Tür ist doch zu und du hast die Schlüssel."
    Er setzt sich auf. Er grinst. Er versucht es noch mal, packt mich, sieht mich an.
    Ich schaue ihn fest in die Augen. Sage: "Du wirst es nicht tun! Vergiss es!"
    Irgendwann schläft er ein. Ich liege daneben, wage kaum, mich zu rühren. Es ist 3 Uhr , als ich doch aufstehe und versuche, die Wohnungstür mit den Schlüsseln, die sich aus seiner Hand gelöst hatten, aufzubekommen. Nur leise sein, nur leise sein! Es geht nicht! Ich bekomme die Tür auch mit Schlüssel nicht auf. Wahrscheinlich hat er das Schloss kaputtgemacht. Der Schlüssel lässt sich nicht drehen.
    Aber wie komme ich hier raus? Keine Polizei - wenn er die hört, ist alles aus. Wir sind im ersten Stock. Mein Blick fällt auf die Wäsche auf dem Wäschekorb, in dem ein Leintuch liegt. 2m auf 2m - die Diagonale, das könnte gehen! Leise gehe ich auf den Balkon, verknote das Tuch an der Brüstung. Ich komme noch mal rein. Er schläft immer noch. Ich nehme meinen Koffer, werfe ihn hinunter. Ganz schön hoch. Und Klettern war noch nie mein Ding... Den letzten halben Meter springe ich. Geschafft! Jetzt stehe ich in der Dunkelheit, glücklicherweise ist bald Vollmond. Ich habe ja den Autoschlüssel. Mein Handy hat den Flug vom Balkon leider nicht überstanden. Ich nehme es trotzdem an mich. Dann renne ich mit dem Koffer zum Auto.

  • Anja stand auf und holte Marie aus dem Bett. Marie schmiegte sich eng an sie. Semir lächelte sie freundlich an, verschämt sah sie zurück. Alex versuchte das Gleiche, aber beim Blick in seine stahlblauen Augen, begann sie, zu brüllen. Erst als Semir Alex am Ärmel aus dem Blickfeld zog, gelang es Anja, ihre Nichte zu beruhigen.


    "Na, sie scheint ja eher auf dich zu stehen, "stellte Alex etwas resigniert fest.


    "Och, Alex! Sieh' es ihr nach. Ich hab halt schon ein bisschen Übung. Außerdem," Semir zeigte jetzt auf das Handy mit den Fotos von André Wieler "könnte das ein Hinweis darauf sein, dass wir dem Richtigen auf der Spur sind."


    "Wie meinst du das?"


    "Erkläre ich dir draußen. Komm, du solltest mich jetzt begleiten." An Anja gewandt sagte Semir:
    "Fühlt euch wie zu Hause, ja? Und Anja: Falls du einen Moment Zeit findest, schick doch bitte Alex alle Bilder, Adressen und Daten, die du von Arno Weber bzw. André Wieler noch hast. Okay?"


    Anja nickte und hatte Marie bereits erfolgreich auf ein Spielzeug von Lilly aufmerksam gemacht.
    Auch Alex stand vom Tisch auf.
    "Semir, ich komme gleich. Aber vorher brauche ich noch dringend eine Kopfschmerztablette, bitte," sagte er mit krächzender Stimme. "Ich glaube, ich kriege eine Erkältung."


    Semir sah Alex etwas zweifelnd an." Meinst du nicht, dass das auch von gestern kommen könnte ? Ich meine, Ben liegt nicht umsonst im Krankenhaus. Hast du sonst noch etwas außer Kopfschmerzen und dieser rauen Stimme? Ist dir schlecht oder schwindelig?"


    Alex sah Semir etwas genervt: "Du, ist echt kein großes Ding. Ich brauche nur eine Kopfschmerztablette und ich wäre froh, wenn ich mich nach unserem Ausflug ne Runde hinlegen könnte."


    "Du darfst dich auch jetzt gleich hinlegen..."


    "Lass gut sein. Das geht schon."


    "Hey, ich hab' aber keine Lust, dich demnächst bei Nela Stegmann zu besuchen..."


    Alex kam dabei ein leichtes Lächeln über die Lippen: "Was hast du denn gegen sie?"


    Semir schmunzelte "Nichts...", betrachtete seinen Freund aber weiter mit Argusaugen. Hoffentlich machte der weder sich noch ihm etwas vor! Wie plötzlich es Ben gestern schlecht gegangen war, hatte Semir doch sehr beeindruckt. Beim Telefonat mit Ben hatte der vorhin zwar schon viel fitter gewirkt, aber seine Stimme hatte noch rauer als die von Alex geklungen.


    Ein paar Minuten später machten sie sich auf den Weg nach Ehrenfeld.Anja nutzte die Zeit , in der Marie neben ihr spielte, um sich bei ihrem Bruder nach dem Stand Zustand ihrer Schwägerin zu erkundigen. Leider war der weiterhin kritisch.


    Traurig nahm sie Marie in den Arm, die auch ein paar Worte mit ihrem Papa wechseln sollte. Außer der Frage nach "Mama?" kam jedoch nichts über ihre Lippen. Verzweifelt und frustriert beendeten die Geschwister Bährle das Gespräch. Dabei hatte es Anja vermieden, ihrem impulsiven Bruder von ihrer möglichen Verwicklung in die Geschichte zu berichten. Das half ja alles nicht weiter und insgeheim hoffte sie noch immer, dass Alex und ihr Verstand sich täuschten.


    Sie wollte gerade ihr Handy weglegen, da vibrierte es. Eine ihr unbekannte Nummer wurde Anja angezeigt. Ihr Herz schlug schneller.

  • "Wer wollte diesen Engel töten?" Diese Schlagzeile über dem Bild der in starken, tätowierten Armen schlafenden Marie hatte am Morgen schon manchen Leser berührt. Beim Blick auf die Seite des Express, auf der die abenteuerliche Geschichte der kleinen Marie reißerisch verarbeitet wurde, hatte der Capo das Tatoo seines Mitarbeiters erkannt. Nach einem prüfenden Blick auf dessen umfangreiche Oberarme klopfte er Timur Köse auf die Schulter. Mit der anderen Hand hielt er ihm den Artikel vor: "Na, da hab ich heute nen echten Helden hier, was?" Er sagte das so laut, dass sich die anderen Bauarbeiter nach ihm umsahen.
    Timur war peinlich berührt. Er nickte und zuckte mit den Schultern, bevor er sich wieder an die Arbeit machen wollte. Aber der Capo hielt ihn fest. Inzwischen waren auch ein paar andere Bauarbeiter zu ihnen gekommen. "Mensch, Jungs, wer macht denn sowas," fragte der Vorarbeiter und trat damit eine kleine Diskussion unter seinen Mitarbeitern los. Timur fragte er aber direkt: "Hast'e Ahnung, wie's der Kleinen geht? Und der Mutter? Und ob sie den Bruder schon gefunden haben?"
    "Nein. Wirklich nicht, " sagte Timur und verdrückte sich schnell wieder an die Arbeit. Im Rampenlicht stehen, das war nicht seins. Das Lob seines Chefs tat natürlich gut. Aber hatte er nicht etwas völlig Selbstverständliches getan? Und: Die Sensationsgier der anderen war ihm zuwider. Das half doch Marie und ihrer Familie nicht! Dennoch quälte ihn der Gedanke an sie, so dass er seine Mittagspause nutzte und Anja anrief.
    Mit zitternden Händen nahm die den Anruf an. Doch das "Hallo?" klang ganz anders als von ihr befürchtet.
    Unendlich erleichtert beantwortete Anja Timur die Fragen nach ihrer Nichte, die sich jetzt leise zu ihr schlich und nach dem Hörer greifen wollte.
    "Hallo," rief sie und lachte. Anja reichte ihr das Telefon.
    "Hallo Marie," sagte Timur und verspürte seltsame Nervosität. Würde sich Marie an ihn erinnern?
    Tatsächlich kam ein glucksendes Lachen aus ihr und ein weiteres "Hallo!" aus ihr.
    "Wie geht es dir," fragte Timur vorsichtig und Marie antwortete nur knapp "Dut", bevor sie das Telefon an Anja gab und sich wieder Lillys Spielsachen widmete. Anja gab sich zu erkennen.
    "Wie geht es ihrer Mutter," fragte Timur
    "Leider nach wie vor schlecht." Sie versuchte zuerst, ihre Verzweiflung vor dem eigentlich völlig fremden Mann zu verbergen, doch dann brach es einfach aus ihr heraus:
    "Und Ich bin auch noch Schuld daran! Ich habe diesem Arschloch auch noch alles gesagt, was er brauchte! Ich konnte doch nicht wissen, dass der sich nur an mich ran macht, weil er ..." Laura schluchzte auf.
    Timur verstand kaum etwas, in seinem Kopf bildete sich daher seine Interpretation der Aussage.

  • Entsetzt fragte Timur: "Das war dein Freund? Der Typ, der da gestern so cool mit zur Polizei ist?"


    Jetzt war Anja verwirrt. "Polizei? Gestern?"


    Sie dachte kurz nach. Dann war ihr klar, dass Timur da etwas falsch verstanden hatte.


    "Oh Gott, nein! Gestern, das war Alex! Nein!" Sie sagte das so laut, dass Marie erschrocken zu ihr hoch sah. Gab es Anlass, zu weinen? Aber Anja strich ihr gleich beruhigend über den Kopf und erklärte Timur am Handy weiter:


    "Der Kerl, der die Kinder entführt und meine Schwägerin Laura töten wollte, hat sich vor ein paar Monaten an mich rangemacht. Und ich blöde Nuss war voll verknallt! Aber dem ging es wohl nur darum, mich auszuhorchen, um das alles vorzubereiten..."


    "Scheiße," entwich es dem kräftigen Bauarbeiter, der sofort seine Entgleisung bemerkte - vielleicht hörte das kleine Mädchen ja noch mit? "Sorry. So ein..."


    "Arsch, genau. Anders kann man es nicht sagen. Warte, ich schick' dir ein Bild."





    Unterwegs nach Ehrenfeld fragte Alex Semir: "Nun sag mir mal: Warum brüllt Marie bei mir - aber bei dir nicht?"
    Semir grinste: "Ist dir nicht aufgefallen, dass dieser André Wieler hellblaue Augen hat und ein markantes Gesicht mit dunkelblonden Haaren?"
    Alex sah Semir kurz an: "Du willst mir nicht gerade sagen, der würde mir ähnlich sehen, oder? "


    Semir hob entschuldigend die Hände: "Aus unserer Sicht vielleicht nicht. Aber Kinder sehen die Welt ja noch etwas anders. Ayda konnte lange keine Typen mit Bart ausstehen. Nur weil der Kinderarzt beim Impfen einen hatte...Was machen eigentlich deine Kopfschmerzen?"


    "Besser. Danke," krächzte Alex.




    Timur Köse betrachtete nach dem Telefonat die Bilder, die ihm Anja geschickt hatte. Irgendwie kam ihm diese Visage bekannt vor. Wenn er nur wüsste, woher? Fitnessstudio? Bau? Motorradclub? Er ging in Gedanken alles durch. Aber die Erinnerung, wo er diesen Typen schon einmal gesehen hatte, wollte sich einfach nicht einstellen. Also widmete er sich wieder seiner Arbeit auf dem Bau - allerdings fragte er erst noch per Messenger seinen besten Freund, ob ihm dieser Mann auch bekannt vorkam.




    Semir stand jetzt vor dem Haus in Ehrenfeld. Ja, hier war er schon einmal gewesen. Zwei Mal, um genauer zu sein. Es war noch heruntergekommener, als er es in Erinnerung hatte. Auch der Außenbereich schien selten gepflegt und nur notdürftig gereinigt zu werden. Über all lagen Müll, zerlegte Elektronik und Kartons herum.


    "So. Da wären wir. Und jetzt?"
    Alex stand neben Semir und sah an der Fassade hoch, von der der Putz bröckelte. Aber Semir war gerade völlig in Gedanken versunken. Ben hatte ihm vorhin von seinem Traum in der vergangenen Nacht erzählt. Ja, genau das war es, was in tausend kleinen Erinnerungsfetzen vor ihm auftauchte: Seine erste bewusste Begegnung mit Laura vor zehn Jahren. Aber er war nochmals hier gewesen. Er dachte angestrengt nach. Immer wieder sah er von Hauseingang unten nach oben, wo früher die Wohnung der Wielers gewesen war. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich.

  • 2008
    Die Woche, in der sie André Wieler nach Hause und seine Frau zur Arbeit gebracht hatten, war noch nicht zu Ende, als Ben und Semir als nächste Kräfte zu einem Überfall gerufen wurden. Schon bei der Anfahrt stellte Ben fest, dass ihnen die Adresse bekannt war: Vor ein paar Tagen hatten sie am Ende ihrer Schicht doch die junge Frau hier her gebracht!
    "Mensch, gib Gas," drängte Ben seinen älteren Kollegen. "Was meinst du, was ich mache," gab dieser gereizt zurück. Irgendwie hatte er so gar kein gutes Gefühl bei der Sache! Als sie ankamen, erwartete sie bereits ein älterer Mann im Schneematsch vor der Bäckerei. Er presste ein Stofftaschentuch an seine Stirn, stand jedoch aufrecht vor ihnen.
    "Erwin Lubkowitz, mir gehört die Bäckerei. Kommen Sie bitte, " forderte er die Polizisten auf.
    "Gerkan, mein Kollege Jäger von der Autobahnpolizei. Wir waren von allen Einsatzkräften am Nächsten. Was ist denn passiert? Besteht noch Gefahr?"
    Der alte Bäcker schüttelte den Kopf. "Nein. Aber ich glaube, meine Moni, die braucht nen Arzt..."
    "Ein RTW ist schon unterwegs," bestätigte Ben mit Blick auf die sichtlich mitgenommene Bäckereiverkäuferin mittleren Alters. Auf dem Boden des Verkaufsraums lag eine zertretene Damenbrille und auch sonst vieles, was eigentlich in die Regale gehörte. Ein Glas der Auslage war geborsten, aber noch hielt das Glas stand und verteilte sich nicht auf die Backwaren darunter.
    "Was war denn hier los? In welche Richtung sind der oder die Täter geflüchtet," fragte Semir, bereit, sofort wieder ins Auto zurück zu steigen und loszujagen. Doch der alte Bäcker winkte ab. "Das war André Wieler, der Ehemann meiner Angestellten Laura."
    Ben und Semir sahen sich an. Als hätten sie das geahnt!
    "Und was wollte er?"
    Die Verkäuferin, um die sich gerade ein Kollege aus der Backstube kümmerte, sagte: "Er wollte mit Laura "reden". Aber sie ist gar nicht da. Sie hat plötzlich Urlaub genommen. Ich glaube, die beiden hatten ziemlich Ärger miteinander. Der war ziemlich dicht. Jedenfalls ist er völlig ausgetickt, als er gehört hat, dass sie nicht hier ist. Er hat rumgebrüllt, alles abgeräumt, die Regale umgeworfen. Dann hat er mit Milchflaschen nach mir geworfen, eine traf mich hier," die Frau zeigte auf ihre Schulter. "Dann hat er mich vorgezerrt. Ich habe geschrien. Er hat mich angebrüllt. Wollte wissen, wo Laura hin ist."
    "Da bin ich dazu gekommen. Ich bin jetzt 75. Seit 60 Jahren steh' ich in der Backstube. Aber sowas, nee, so'was gabs hier noch nicht! " Der Senior schüttelte den Kopf. "Ich hab' nach mein' Jungens aus der Stube gerufen. Als die auftauchten, hat er die Beine in die Hand genommen. Vorher hat er noch irgendwas nach mir geworfen..." Er zeigte auf die Verletzung am Kopf. "Kommen Sie, wir unterhalten uns hinten weiter," lud Erwin Lubkowitz die Kommissare ein, ihm zu folgen. Denn inzwischen kümmerten sich Sanitäter um die verletzte Angestellte.

  • Seufzend setzte sich der Senior an seinen Schreibtisch.
    "Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe auch noch ein paar Versuch's- Stückchen, die ich nicht verkaufen kann. Wenn Sie möchten : Greifen Sie zu!"
    Er schob einen Teller mit einer schiefen Puddingbrezel, einem kugeligen Croissant und mehreren krummen Brötchen zu Ben. Der lächelte und neigte den Kopf zu Seite "Bevor ich mich schlagen lasse..."
    "Gerne, danke," sagte auch Semir. Auch er griff gerne zu, denn zum Mittagessen waren sie noch nicht gekommen.
    Nachdem er den Polizisten Kaffee eingeschenkt hatte, erklärte er: "Ich möchte Anzeige erstatten gegen diesen André Wieler. "
    Ben nickte und Semir fragte: " Können Sie uns etwas mehr über die Hintergründe erzählen?"
    "Laura kam heute morgen um halb fünf recht aufgelöst in die Bäckerei. Sie sagte, dass ihr Mann sie über Nacht eingeschlossen und bedroht hat. Es gab zwischen den beiden schon länger Spannungen und soweit ich weiß, ist er auch handgreiflich geworden."
    "Wie kommen Sie darauf ," wollte Ben wissen.
    "Nun, zum Beispiel hatte sie Blutergüsse an beiden Armen, die nicht von der Arbeit herkommen konnten. Ich habe sie darauf angesprochen und sie hat es abgestritten. Aber ihre Augen ... ich bin ein alter Mann. Man kann mir nicht mehr viel vormachen. Und Laura schon gar nicht! Das ist so ein ehrliches Mädchen."
    Er seufzte kurz auf. Ben konnte absolut verstehen, dass der Chef seine junge Angestellte sympathisch fand und lächelte hinter der Kaffeetasse hervor.
    " Um auf den Punkt zu kommen: Ich habe Laura schon vor ein paar Tagen geraten, ihn zu verlassen, ihn anzuzeigen. Ich habe Laura Unterschlupf und eine neue Stelle vermittelt."
    "Wow," sagte Ben anerkennend "Das ist 'ne ganze Menge für einen Chef..."
    Der ältere Herr streckte abwehrend beide Hände von sich. "Nicht, dass Sie da was falsch verstehen: Ich bin seit 40 Jahren -meist glücklich - verheiratet. Ich weiß, wo mein Platz ist. " Er lächelte die beiden an und Semir nickte anerkennend. Wow, eine echte Leistung! Der Senior fuhr fort:
    "Seit langem bin ich Mitglied im Weißen Ring. Laura ist doch da nicht mehr sicher! Als ich ein Junge war, hab' ich miterlebt, wie der Vater eines Klassenkameraden dessen Mutter misshandelt hat. Das war ein Kriegsrückkehrer, der nicht mehr in die Normalität zurück fand. Eines Morgens hat man die Mutter tot aufgefunden, erhängt. Selbstmord, hieß es. Aber ehrlich: Ich zweifele bis heute daran..." Er sah wieder von Ben zu Semir und fuhr dann fort:
    "Laura soll nicht so enden. Ich hätte sie wirklich sehr gerne hier behalten. Aber jetzt wird sie erstmal bei meinem Freund aus der Meisterschule bleiben können, bis sie diesen Typen los ist."


    Semir erinnerte sich nun wieder deutlich an jenen Tag und auch daran, dass er kurz darauf zum zweiten Mal diesen Wohnblock gesehen hatte - als sie nämlich André Wieler zur Vernehmung abholen sollten. Leider hatten sie ihn damals nicht angetroffen. Der Fall hatte ohnehin wenig mit der Autobahn zu tun, sie hatten ja nur Amtshilfe für die Kollegen der normalen Polizei geleistet. So kümmerten sich dann auch diese weiter um den Fall, der bei Ben und Semir schnell in Vergessenheit geriet.
    Alex stupste Semir, der immer noch nachdenklich das Haus betrachtete, von der Seite an: "Hey du Träumer! Anja hat mir gerade alles geschickt , was sie noch über den Typen hat. Ich leite das mal an Susanne und Hartmut weiter. Können die ja dann mehr über ihn herausfinden."
    Semir sah seinen hustenden Partner etwas unverwandt an. Dann sagte er: "Ja, mach das. Ich habe mich gerade daran erinnert, wie ich diesem André Wieler vor 10 Jahren begegnet bin. Hätte nie gedacht, dass daraus mal so etwas wird!"
    "Vielleicht ist er Anja zufällig begegnet und hat seine Pläne dann geschmiedet, als er Laura auf seinen Bildern wieder erkannt hat..." mutmaßte Alex.
    "Oder er hat absichtlich den Kontakt zu ihr gesucht... Egal wie: Wir müssen ihn kriegen. Vor allem aber: Das Baby finden."
    Alex nickte und fuhr weiter

  • Bei den Gerkans zu Hause legte sich Alex wie angekündigt zunächst eine Runde hin. Semir telefonierte so lange mit Susanne.
    "Susanne, kannst du mir schon mehr zu der Handynummer sagen, die Alex dir geschickt hat?"
    "Also, alles, was ich ich sagen kann ist, dass das Handy derzeit nicht eingeschaltet ist. Zuletzt war es jedoch irgendeiner Mobilfunkwabe südlich von Köln eingeloggt - gestern Abend."
    "Das heißt, die Nummer ist tatsächlich noch aktiv?"
    "Ja, und sie war auch zuletzt in mehreren Funkzellen entlang der A61 eingeloggt, alles gestern Nachmittag!"
    "Susanne, du bist ein Schatz! Könnt ihr den letzten Ort, an dem das Handy eingeloggt war, genauer feststellen?"
    "Semir, die Anfrage an den Mobilfunk Provider läuft bereits. Aber du weißt ja, dass das dauern kann."
    Anja hatte mit Marie einen kleinen Spaziergang gemacht. Nun hatten sie Hunger und - als könnte Semir Gedanken lesen - setzte er ihr und Anja einen Teller Nudeln mit Tomatensauce vor. Ein Strahlen ging über die Gesichter. Wobei das von Marie bald ebenso orange war, wie der Tisch und Lillys altes T-Shirt, das sie trug. "Oh je! Keine Ahnung, ob das wieder raus geht?" fragte sich Anja laut. Semir lächelte schulterzuckend: "Ach, egal. Schmutzige Kinder sind glückliche Kinder." Wie zur Bestätigung lachte Marie in fröhlich an und Semir vergaß für einen kleinen Augenblick die dramatischen Umstände. Wenn er Marie so sah, bedauerte er zwar etwas, dass er diese Zeit bei seinen Kindern nicht so intensiv mitbekommen hatte - aber es war nun mal nicht rückgängig zu machen. Er freute sich, dass es Marie jetzt schmeckte, dass sie fröhlich und offensichtlich gesund war. Seine eigenen Schmerzen waren heute deutlich erträglicher - wenn es weiter so bergauf ging, würde er die Amtsärztin schon davon überzeugen, dass er wieder dienstfähig war!
    Anja ging nach dem Essen nochmals mit ihr zum Händewaschen. Dabei kamen sie am Schlafzimmer vorbei, wo Alex noch schlafend lag. Marie zog es rasch wieder zu den Spielsachen und Semir. Während Anja ihre Hände abtrocknete, hörte sie ihre Nichte bereits wieder vor Freude quietschen. Deshalb gönnte sie sich eine kleine Pause und ging zu Alex. Der wiederum hatte seinen Oberkörper auf eine zusammengelegte Decke abgelegt. Er hustete und war gerade am Aufwachen.


    "Na, das hört sich aber nicht so gut an?!"


    Alex fuhr hoch: "Anja! Oh...alles nicht so schlimm..." Tatsächlich waren die Kopfschmerzen auch besser. Nur sein Hals und gefühlt der ganze Weg bis zum letzten Lungenbläschen waren rau wie Schmirgelpapier. Anja goss etwas von dem Wasser ein, das neben dem Bett stand und reichte ihm das Glas. Alex bedankte sich und trank. Das tat gut!


    Dabei fiel sein Blick auf Anja. Sie sah gerade mit ihren großen Augen besorgt zum Fenster hinaus. Ihr Mund stand einen Spalt breit offen, ihre langen Haare fielen wie Wasser in einem Wasserfall auf ihre Schultern.
    "So eine wunderschöne Frau auf meiner Bettkante.."schoss es durch seinen Kopf. "Was ist," fragte Alex sie. "Hast du was Neues von Laura?"
    "Nein, der Zustand ist weiter kritisch. Und ich bin schuld..."
    Anja begann zu weinen. Alex setzte sich mit einem Hustenanfall auf. Er legte der hübschen Physiotherapeutin die Hand auf die Schulter und strich vorsichtig über ihre langen braunen Haare.
    "Nein. Anja: Schuld hat allein der, der euch das angetan hat! Und wir werden ihn finden!"
    Mit einer Mischung aus Besorgnis und Spott sprach Anja das aus, was sie dachte:
    "Ihr? Semirs Oberschenkel braucht bei gutem Training vermutlich noch 3 Monate, bis er voll belastbar ist. Ich meine, er ist ja auch schon 50!"
    Alex schluckte kurz. Nochmals 3 Monate - das war eine harte Prognose! Ihre Augen blitzten, als sie weiter sprach:


    "Und du keuchst hier auch rum. Ob du so dieses Arschloch fangen kannst..."


    Alex versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn das fehlende Vertrauen verletzte. Er unterdrückte den aufkommenden Hustenreiz und spülte den Kloß in seinem Hals mit einem weiteren Schluck Wasser hinunter.


    "Ich bin ja nicht allein - die gesamte Polizei sucht nach ihm. Wir wissen ja überhaupt nicht, ob er hier in der Region ist oder vielleicht schon wo ganz anders," gab Alex zu bedenken.
    "Okay. Mal angenommen, du oder auch ein Kollege, ihr kriegt den. Was passiert dann überhaupt?"
    Alex wies mit offenen Handflächen nach oben, um Selbstverständlichkeit zu signalisieren: "Der wird festgenommen und dem Haftrichter vorgeführt. Was sonst?"
    "Auch wenn er Leon getötet hat? Auch falls Laura stirbt?"

  • Alex erwiderte ruhig. "Ja, was sonst?"
    Aber Anja war sachlich gar nicht mehr erreichbar. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. "Das ist doch dann nicht mehr das Gleiche. Der kann doch da nicht einfach so davonkommen..."
    "Das heißt es ja auch gar nicht...was erwartest du denn? Dass man ihn über den Haufen schießt?" Alex war verwirrt.
    Anja zuckte weinend mit den Schultern und schluchzte: "Keine Ahnung. Aber für Lukas wird nie wieder etwas so sein wie noch vorgestern. Nie! Ist dir das klar? Alles, was ich will, ist, dass für Arno oder wie der auch immer heißt, auch nie wieder etwas so ist, wie vorgestern..." und in Gedanken fügte sie hinzu "und er nie wieder die Gefühle von anderen so missbrauchen kann, wie er das bei mir getan hat".


    Das Klopfen an der Tür kam Alex jetzt gerade recht - er wusste ohnehin nicht, was er Anja antworten sollte. Es war Semir, dem Susanne eben den genauen Ort mitgeteilt hatte, wo das mutmaßliche Handy von André Wieler zuletzt geortet worden war. Alex gab Anja einen Kuss auf die Stirn, schlüpfte in seine Jeans und zur Tür hinaus.


    Es war schon vor 8 Uhr abends, als Alex und Semir den kleinen Ort süd-westlich von Köln erreichten, in dem das Handy zuletzt geortet worden war.
    "Na super, irgendwo hier im Umkreis von 1 km war das Handy zuletzt. Die Kollegen waren heute Nachmittag schon hier unterwegs. Sie haben alle Leute befragt, die sie angetroffen haben."
    Semir sah sich um: "Allzuviele können es nicht gewesen sein." Es war eine eher ländliche Gegend. Der Ort bestand zur Hälfte aus einem ein alten Dorfzentrum und zur anderen Hälfte aus Reihenhäusern der 80er Jahre. Dass hier tagsüber mehr los sein sollte, als jetzt (es lief gerade mal eine Katze über die Straße), war schwer vorstellbar.
    Alex nickte und sagte nach einem kurzen Hustenstoß:
    "37 Personen, um genau zu sein. Niemand hat André Wieler oder ein Baby gesehen. Niemand einen BMW. Kein Handy wurde gefunden - wobei morgen nochmal gründlicher gesucht werden soll. Vielleicht hat er es auch einfach hier irgendwo aus dem Fenster geworfen und das war's. Was willst du hier noch, Semir?"


    "Hörst du das auch," fragte Semir.
    "Nö, was denn?"
    "Na das da : Ich glaube, da schreit ein Baby!"


    Alex sah Semir mit großen Augen an. Er öffnete sein Fenster. Ja, jetzt hörte er es auch! Es waren die Schreie eines kleines Babys!
    Semir hatte bereits die Tür geöffnet und war ohne Krücken ausgestiegen. Er versuchte, das Schreien zu lokalisieren.


    "Ich glaube, das kommt von da," vermutete er und zeigte auf ein Gebüsch. Jetzt stand Alex neben ihm. Er nickte und ging voraus. Semir folgte ihm so gut er konnte.
    Das Schreien wurde immer lauter, immer deutlicher.

  • Als Semir und Alex das Gebüsch erreichten, sahen sie, dass sich dahinter das befand, was vor 30 Jahren wohl mal ein Kinderspielplatz gewesen war. Die Grünfläche trennte den neueren vom älteren Teil des Dorfes. Im verbliebenen Sandkasten saß ein Kind, wohl deutlich jünger als Marie, und befühlte begeistert den Sand unter seinen Händen in den abendlichen Sonnenstrahlen. Auf einer Bank daneben saß -mit dem Rücken zu den beiden Polizisten - eine dunkelblonde Frau in einer kurzen weißen Bluse mit einem Säugling im Arm. Der hatte das Gesicht den beiden Polizisten zugewandt und brüllte aus vollem Hals. Alex tippte Semir auf die Schulter und gab ihm per Zeichen zu verstehen: "Komm mit! Hier sind wir falsch!"
    Aber Semir widersprach leise: "Nein, komm du mit mir."
    Alex blickte leicht genervt nach oben. Nun folgte er Semir zu der Frau auf der Bank.
    "Na, hat wohl Bauchweh," fragte Semir die Frau und deutete auf das Baby, das inzwischen an ihrer Brust trank und dabei seine darunter liegenden Hände knetete. Sie zog sich rasch den Schal über den Blusenausschnitt als sie die fremden Männer bemerkte und erwiderte:
    "Ach, der Arme hat die letzten Tage einfach viel mitmachen müssen - vorhin waren wir noch lange beim Kinderarzt. Das hat ihm den Rest gegeben."
    "Oh je, was hat er denn," fragte Semir mitfühlend.
    Er bekam ein Lächeln zurück.
    "Ach, das war nur zur Vorsorge. Wissen Sie, ich habe Leonhard erst gestern bekommen."
    "Oh, dafür sehen Sie aber fit aus," lobte Alex. Auch wenn er bei sich dachte:"Aber das ist doch kein Neugeborenes mehr?"
    "Danke, aber wir haben ihn adoptiert", sagte die Frau, an deren Brust das Baby scheinbar heftig zog, denn ihr Gesicht verkrampfte sich und ihr entwich' ein kurzes "Au!"
    "So einfach können Sie doch kein Kind adoptieren..." warf Alex ein. Die Blonde sah zu den ihr fremden Männern auf:
    "Es war auch alles andere als einfach, glauben Sie mir. Aber ich denke nicht, dass Sie das was angeht." Sie wandte den Blick von ihnen ab und ihrem anderen Kind zu, das gerade langsam aus dem Sandkasten aufstand.
    "Komm' Ludwig," rief sie.
    "Entschuldigen Sie," griff Semir ein. Es durfte einfach nicht sein, dass das Ganze jetzt eskalierte. Soweit er das vorhin gesehen hatte, war er sich fast sicher, dass das da Leon Bährle war. Aber fast sicher reichte eben nicht! Er zückte den Dienstausweis. Alex tat es ihm gleich.
    "Gerkan, Kripo Autobahn. Mein Kollege Brandt. Wir suchen nach einem entführten Baby..."
    Die junge Frau sah sie mit einer Mischung aus Wut und Entsetzen an. Sie reichte ihrem älteren Kind die Hand und sagte zu den Polizisten:
    "Ach...und jetzt meinen Sie...? Ich kann Ihnen da nicht helfen. Bei Leonhard ist alles ordnungsgemäß gelaufen. Sie können ja beim Jugendamt anfragen..." dabei drehte sie sich demonstrativ weg von ihnen.
    "Hören Sie," nahm Semir wieder das Gespräch auf und brachte sich wieder in ihr Blickfeld "ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Sie haben da wirklich zwei wunderbare Kinder. Ich habe selbst drei Töchter und ich würde alles tun, um sie zu beschützen."
    Alex nickte und bestätigte: "Wirklich alles -ich kann das bezeugen." Dabei lächelte er leiderfahren so schief, dass sogar der jungen Frau ein kurzes Lächeln über das Gesicht huschte. Semir nahm das erleichtert wahr und fuhr fort:
    "Allein die Vorstellung, dass jemand ein hilfloses Baby entführt - ist doch furchtbar, oder?"
    Die Frau nickte. Instinktiv schloss sich ihre Hand fester um die ihres älteren Sohnes, während ihre andere die Tragehilfe mit dem inzwischen eingeschlafenen Säugling stärker umfasste. Alex zückte derweil sein Smartphone.
    "Sie waren vorhin beim Kinderarzt, sagten Sie?"
    "Ja, den ganzen Nachmittag. Wir haben heute ewig warten müssen..." Sie strich ihrem älteren Kind über den Kopf.
    "Das heißt, unsere Kollegen konnten Sie heute nicht befragen," schlussfolgerte Semir, was die Frau mit einem erstaunten Kopfschütteln bestätigte.
    "Kennen Sie diesen Mann oder haben Sie gestern hier einen BMW mit Kölner Kennzeichen gesehen, " fragte Alex und hielt ihr das Smartphone vor. Augenblicklich änderten sich Druck und Farbe der jungen Mutter. Sprachlos stand sie da. Dennoch fragte Semir:
    "Sie kennen diesen Mann?"
    Sie nickte und suchte Halt.
    "Mein Mann," stammelte sie "mein Mann..."

  • Semir und Alex sahen, dass sie sich dringend setzen musste und griffen der Frau unter die Arme. Nicht auszudenken, wenn sie mit dem Baby zusammen stürzen würde! Sie führten die entsetzte Frau zur Bank. Es dauerte einen kleinen Moment bis sie wieder mehr Farbe im Gesicht hatte. Der kleine Ludwig klammerte sich hilfesuchend an seine Mutter. Er spürte genau, dass da gerade etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. "Entschuldigung. Die letzte Nacht war schlimm. Der Kleine hat geschrien und hatte Hunger..."
    "Wo ist ihr Mann jetzt," fragte Alex zielstrebig.
    "Zu Hause... Ich muss dringend mit ihm sprechen!"
    "Wir auch," stellte Semir fest. "Wir brauchen die Adresse!" Er zückte sein Smartphone, um den Kollegen Bescheid zu sagen. Irgendwer musste sich auch um die Frau und die Kinder kümmern. Wenn sie tatsächlich von nichts wusste , war sie bei diesem Kerl in Gefahr!
    "Das auf dem Bild," begann die Frau da wieder zu sprechen, "das ist Herr Weber, der Bearbeiter vom Jugendamt. Er hat uns gestern Leonhard gebracht." Semir liess sein Smartphone sinken und erwiderte den Blick seines Partners Alex, der fragte: "Dürfen wir Sie nach Hause begleiten?"
    Obwohl es eigentlich recht warm war, zitterte sie am ganzen Körper. Sie nickte und sah sich kurz um. Semir sah den kleinen Ludwig, der sich ganz still und verschüchtert an seine Mutter drückte an. Er reichte ihm mit einem aufmunternden Lächeln seine Hand. Erst wich der zurück. Aber nachdem seine Mutter die Hand, die sich noch in ihrer gehalten hatte, an Semir reichte, akzeptierte er den Polizisten, der sagte:
    "Komm, wir bringen euch nach Hause!"
    Wie klein die Hand in seiner war! Ludwig konnte gerade gehen - Er war 13 Monate alt wie seine Mutter erzählte. Semir kamen die kleinen Schritte gerade recht. Er spürte so erst wieder etwas von seiner eigenen Einschränkung als der kleine Junge kurz strauchelte und er ihn auffing.
    Es war nicht weit - die Familie wohnte nur ein Haus weiter die Straße abwärts. Es war eines der alten Bauernhäuser des Ortes. Der Fußweg zum Haus war etwas verwildert, links und rechts davon ragten langes Gras und ein paar Brombeerranken hinein. Gerade behielt Semir die eine Ranke im Auge, da hielt ihn eine andere an seinem lädierten Bein fest. Semir spürte sofort den Schmerz. Er lies Ludwig los, um sein Bein zu befreien. Sein Blick verfolgte dabei die Ranke bis in den verwilderten Garten hinein. Da fiel ihm ein Gegenstand auf, der dort lag.
    Semir fasste in seine Jackentasche. Wie gut, dass er gestern Abend von Hartmut neue Beweismittelbeutel mitgenommen hatte! Mit der Plastiktüte umfasste er seinen Fund - ja, er spürte deutlich, dass seine Beweglichkeit noch nicht wieder die alte war. Aber es ging. Er hob die Hand mut seinem Fundstück und rief Alex zu: "Schau mal!"
    Alex wandte sich an die Frau: "Kennen Sie dieses Handy?"
    Sie schüttelte den Kopf: "Nein. Nie gesehen." Dann reicht sie Alex den Schlüssel zur Haustür und er schloss auf. Sie blieb bis dahin mit dem Baby in der Tragehilfe, die sie mit einer Hand umschlungen hielt, an der Hauswand angelehnt. Sie betrachtete kritisch nochmals das verpackte Handy, das er in seiner rechten Hand hielt. "Wobei... Ich glaube, so eins hatte Herr Weber vom Jugendamt gestern. Aber was macht das bei uns im Garten?"
    Semir sah sie kurz an. Es war klar, dass sie völlig fertig mit den Nerven war. Mitleid kam in ihm auf.
    Gerade da erschien ein Mann an der Tür. Er war kaum größer als Semir, aber etwas rundlicher. Seine Haare hatten einer Glatze Platz gemacht und bildeten nur noch einen leichten hellbraunen Kranz. Seine braunen Augen sahen freundlich hinter einer Brille hervor.
    "Sabine, was ist denn los?" Er umarmte seine Frau behutsam, die jedoch etwas reserviert wirkte. Er ging auf den kleinen Jungen zu, der an Semirs linker Hand auf ihn zu tapste und wie eine jüngere Ausgabe seiner selbst aussah.
    "Die Herren sind von der Polizei. Ich glaube, da stimmt was nicht," presste sie mit tränenerstickter Stimme hervor. Sie hielt das Baby in ihrer Trage nun mit beiden Händen fest umschlungen, als sie schnell ins Haus ging.
    "Gerkan, mein Kollege Brandt, Kripo Autobahn."
    Der Mann nickte Semir erstaunt zu und stellte sich als "Leander Weis" vor.
    "Wir ermitteln im Fall zweier entführter Kinder. Eines davon ist ein Säugling," erklärte Semir, während er den vor Freude glucksenden Ludwig an seinen Vater übergab.
    "In diesem Zusammenhang suchen wir diesen Mann. Haben Sie ihn schon einmal gesehen," fragte Alex und hielt ihm das Bild auf seinem Smartphone entgegen.
    Mit hochgezogenen Augenbrauen bat der Mann die Polizisten herein.

  • Sie gingen durch einen dunklen Flur zu einem von den letzten Sonnenstrahlen ehemaligen Stall, der nun ein heller, großer Raum war. Er konnte durch einen - jetzt zurück gezogenen- dunkelroten Vorhang in Wohnbereich und Esszimmer aufgeteilt werden. In letzterem stand ein großer Tisch mit passenden Stühlen, alles aus hellem Massivholz. "Bitte, nehmen Sie Platz," sagte der kleine Mann mit besorgtem Blick auf seine Frau. Diese saß tränenüberströmt mit dem noch immer schlafenden Baby auf dem Sofa in der Nähe.


    "Das auf dem Foto ist Herr Weber vom Jugendamt...er hat uns Leonhard gestern überraschend gebracht. Wir konnten unser Glück nicht fassen!"
    Herr Weis ging mit dem größeren Kind im Arm zu seiner Frau.


    "Warum überraschend," fragte Alex.


    "Wir haben nicht damit gerechnet, dass es doch so schnell gehen könnte. Ich meine, Herr Weber war vor gut 8 Wochen schon mal hier. Er hat sich alles genauestens angesehen. Sogar, wie sauber Spül- und Waschmaschine sind! Er war aber sehr freundlich. Wir waren so froh, dass er jetzt unser Ansprechpartner war. Seine Kollegin war weit weniger ...naja...die hat halt gesagt "es gibt zu wenig Kinder und Sie sind irgendwo ganz unten auf der Liste..." Fertig. Nur: Der Weber, der war hier. Er fand es sogar toll, dass Ludwig noch gestillt wird. Gleichzeitig hat er uns aber wenig Hoffnung darauf gemacht, bald ein Kind adoptieren zu dürfen."


    Das Ehepaar sah sich in die Augen. Dann richteten sie ihren Blick auf das Baby, das gerade begann, sich zu räkeln. Herr Weis fuhr fort:
    "Tja, dann hat er gestern Mittag plötzlich angerufen. Er sagte, Leonhards Eltern wären bei einem Unfall verstorben. Es gäbe keine Angehörigen, die sich um den Kleinen kümmern könnten. Ob wir ihn nehmen würden.Auch gleich zur Adoption, nicht nur zur Pflege."


    "Wir haben sofort "ja" gesagt. Er kam mit ihm, der vor Hunger schrie. Er legte ihn mir in den Arm. Leonhard drehte gleich den Kopf zur Brust..." ergänzte seine Frau stockend vor Traurigkeit.
    Wie zur Bestätigung suchte der eben Erwachte wieder nach seiner Nahrungsquelle. Als sie ihm zugänglich gemacht wurde, begann jedoch Ludwig, ebenfalls, seinen Bedarf anzumelden. Er musste doch seinen Platz bei seiner Mutter verteidigen!
    "Sie entschuldigen," bat der Mann die Polizisten und zog den schweren Vorhang vor. Dann setzte er sich zu ihnen an den Tisch. Er zog eine Sammelmappe vom Sideboard und legte sie ihnen vor.
    ."Sehen Sie, er hat alles mitgebracht. Alle Unterlagen. Ich war damit vorhin beim Standesamt. Sie haben alles angenommen. Leonhard steht jetzt offiziell in unserem Stammbuch."
    Herr Weis schob mit einer Mischung aus Stolz und Trotz das kleine Ringbuch mit dem Samteinband zu Semir. "Er ist mein Sohn. Genau wie Ludwig..."


    "und Louis.." ergänzte Semir, der rasch im Stammbuch geblättert und dabei gesehen hatte, dass vor der Geburtsurkunde zwei weitere Urkunden abgelegt waren: Die Geburts- und eine Sterbeurkunde eines kleinen Jungen, der gerade mal 8 Tage alt geworden war.


    "Ja. Und Louis, unser erstes Kind. Er ist an einem unerkannten Herzfehler gestorben. Lag einfach tot in der Wiege...seit dem..ist unser Leben anders."


    Er sah mit Tränen in den Augen nach draußen. Dann beugte er sich zu den Polizisten und flüsterte:
    "Meine Frau konnte Ludwig als Baby einfach nicht ablegen. Sie hatte rund um die Uhr Körperkontakt mit ihm, bis er sich so weit selbst bewegen konnte...und die vom Jugendamt hat noch in der Wunde gestochert.Hat behauptet, es könnte bei Louis ja auch eine Kindsmisshandlumg vorliegen.Junge Eltern wären oft überfordert. Erst nach dem wir ihr den Obduktionsbericht vorgelegt hatten, war Ruhe. Da hat sie sich aber gar nicht mehr gemeldet. Erst Herr Weber..."
    Alex räusperte sich. Dann fragte er laut: "Und Ludwig - ist ihr leiblicher Sohn?"


    "Ja. Aber für mich wird da kein Unterschied sein, glauben Sie mir. Wir haben uns klar für die Adoption entschieden...naja...die Schwangerschaft und die erste Zeit mit Ludwig waren sehr belastend. Nochmals das alles durchmachen? Aber wir wollten auch unbedingt ein Geschwisterchen für ihn."


    Semir nickte. Dann sah er zu Alex, während der das Smartphone rüberschob und sagte:


    "Herr Weis, wir suchen dieses Baby. Ich finde, es sieht Leonhard recht ähnlich. "


    "Und Herr Weber - den wir unter einem anderen Namen kennen - ist dringend verdächtig, es entführt zu haben." ergänzte Alex.
    "Außerdem haben wir vorhin das Handy dieses Herrn in Ihrem Vorgarten gefunden...Können Sie uns das erklären, " fragte Semir.
    Herr Weis schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor dem Körper.


    Semir seufzte: "Gut. Ich fasse zusammen: Der von uns Gesuchte ist Ihnen als "Herr Weber" vom Jugendamt bekannt. Er hat Ihnen gestern das Baby, das dem von uns gesuchten Kind sehr ähnlich sieht, mit allen offiziellen Adoptionsunterlagen gebracht, obwohl das nach allem was ich weiß, nicht so üblich ist. Und zufällig hat er sein Handy in Ihrem Garten verloren..."


    Er sah dem jetzt zustimmend nickenden Mann fest in die Augen. Dann schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch:
    "Schluss mit den Märchen. Was ist passiert? Woher kennen Sie den Mann? Haben Sie für das Baby bezahlt?"


    "Nein!" kam wie aus einem Mund von beiden Eheleuten. Auch Frau Weis kam mit beiden Kindern hinter dem Vorhang hervor. Sie weinte immer noch, als sie sagte:
    "Doch, genau so war es!"
    Dem widersprach aber das Verhalten ihres Mannes, der etwas nervös auf dem Stuhl herumrutschte. Das blieb auch seiner Frau nicht verborgen, die entsetzt fragte:
    "Oder etwa doch nicht? Leander!"

  • "Doch, doch, " beeilte er sich zu sagen. "Es gibt nur eine Sache, die ich bislang nicht erzählt habe."
    Er sah die Polizisten entschuldigend an.
    "Na los, raus mit der Sprache," wurde jetzt auch Alex ungeduldig.
    "Also beim ersten Besuch von Herrn Weber bei uns, da ist mir aufgefallen, wie gründlich er sich hier alles ansah...Zuerst fand ich das nachvollziehbar und gut. Es geht ja schließlich um ein Kind, das einem anvertraut wird. Aber dann habe ich bemerkt, wie auffällig lange er sich in unserem Arbeitszimmer umsehen wollte. Ich bin Steuerberater. Die Daten meiner Klienten sind mir heilig. Meine Frau macht die Buchhaltung für eine kleine Firma - das geht ihn nun wirklich nichts an! Und ihr Schmuck, mein Kästchen mit den Uhren, im Schlafzimmer - da hingen seine Augen auch zu lange dran!" Herr Weis legte seine Hände offen vor sich auf den Tisch bevor er weiter erklärte:
    "Als er gestern anrief war ich zu Hause. Ich habe extra ein paar Geldscheine in der Küche offen liegen lassen - so dass man das sehen konnte, wenn man hinausging. Und auch den Kasten mit den Sammleruhren und den Schmuck habe ich gut greifbar im Schlafzimmer hingestellt. Tatsächlich hat Herr Weber uns dann kurz allein mit dem Baby gelassen. Angeblich musste er zur Toilette. Ich bin ihm nachgeschlichen - er hat Geld, Uhren und Schmuck genommen! Mir klopfte das Herz bis zum Hals! Nie zuvor habe ich einen Dieb so inflagranti erwischt!"
    "Warum haben Sie nicht gleich die Polizei geholt," fragte Alex und auch seine geschockte Frau schien sich die gleiche Frage zu stellen.
    "Zuerst wollte ich es ja. Aber dann fiel mir wieder ein, wie herablassend uns seine Kollegin behandelt hatte. Ich wollte nicht, dass er seinen Job verliert. Und ich habe es ja jeden Tag mit Leuten zu tun, die es mit der Ehrlichkeit nicht so eng sehen ..deshalb habe ich ihn draußen zur Rede gestellt - die Polizei rufen, damit habe ich ihm gedroht, nachdem er erst alles abgestritten hat. Und er hat mir gleich alles wieder gegeben."
    Kritisch sahen Alex und Semir den Steuerberater an. Nach allem, was sie bisher wussten, war André Wieler niemand, der so einfach von seinen Zielen abzubringen war.
    In diesem Moment unterbrach sie ein lautes Bellen. Vor dem Wohnzimmerfenster jagte ein dunkler Hund durch den etwas verwilderten Garten. Herr Weis stand auf und öffnete die Glastür, die zum Garten führte. Sofort kam der Hund, eine offensichtliche Mischung aus Border Collie und Großspitz schwanzwedelnd angerannt. Er schleckte erst Herrn Weis die entgegengestreckte Hand und knurrte dann Alex an.
    "Das ist Jackie - der Hund unser der Nachbarn unsere Nachbarn. Sie war schon da, bevor wir hierher gezogen sind. Da war das alles ihr Revier. Ihr das auszutreiben wäre schwerer, als ihr klar zu machen, dass wir Teil ihres Rudels sind," erklärte Herr Weis.
    "Glücklicherweise ist sie ein toller Hütehund. Außerdem kann sie super gut mit Kindern und solange sie da ist, brauchen wir uns keine Sorgen machen, dass Ludwig mal auf die Straße rennt, " fügte seine Frau hinzu, die mit einem Leckerli den Hund vom Knurren und vom Abschlecken der Kinder abhielt.
    "Jackie kam gestern auch an, als ich unsere Sachen gerade von Herrn Weber zurückgefordert habe..." Herr Weiß lächelte und Alex schmunzelte - lies aber den Hund nicht aus den Augen: "Sie hat Ihre Forderung unterstützt..."
    "So war es. Ich hatte Uhren und Schmuck wieder. Damit war es für mich erstmal erledigt..."
    "Brave Jackie," lobte Frau Weis das Tier mit einer kräftigen zusätzlichen Streicheleinheit - konnte aber nun nicht mehr verhindern, dass das Baby auf ihrem Arm ein Mal quer über sein Gesichtchen abgeschleckt wurde. Das Kind quittierte dies mit einem erstaunten Auflachen, doch Herr Weis wies dem Hund den Weg nach draußen.
    Semir sah Alex an. Dann fragte er: "Dürfen wir das Uhrenkästchen mitnehmen? Wir möchten anhand der Fingerabdrücke überprüfen, ob es tatsächlich der von uns gesuchte Mann war...Außerdem wären Kopien von den Adoptionsunterlagen nützlich."
    "Ja, verstehe. Moment, ich gehe kurz ins Arbeitszimmer," sagte der kleine Steuerberater und nahm die Papiere mit sich. Seine Frau hielt das Baby, das Leon so ähnlich sah, immer noch auf dem Arm. Es schien sich wohl zu fühlen, betrachtete neugierig seine Umgebung. Das Lächeln von Semir wurde erwidert, dann drehte es sich kurz weg, um sich gleich wieder zu vergewissern, dass der türkischstämmige Polizist immer noch ein Lächeln übrig hatte.
    "Die Unterlagen sind doch korrekt. Das Standesamt hat die Adoption bereits umgesetzt," sagte sie.
    Alex drehte sich mit einem Hustenanfall weg. Es war wirklich eine vertrackte Situation - zumal sie sich ja noch nicht einmal hundertprozentig sicher waren. Allerdings waren es ein paar Zufälle zu viel!
    Gerade da kam Herr Weis mit den Kopien und dem in eine Tüte gewickelten Kästchen zurück. Semir stand auf, Alex tat es ihm gleich.
    "Ich muss sie beide auffordern, den Ort erstmal nicht verlassen und sich zu unserer Verfügung zu halten, bis wir Sicherheit über die Herkunft dieses kleinen Rackers haben." Semir kitzelte das Baby an den nackten Füßchen, welches dies mit einem herzlichen Lachen belohnte.
    Das Ehepaar Weis nickte. Die Frau fügte hinzu: "Warten Sie, ich bringe sie raus. Wenn sie draußen ist, verteidigt Jackie ihr Revier sehr gründlich."
    Entgegen ihrer Erwartungen war der Hund jedoch nicht zu sehen, so dass sie sich am Gartenzaun ungestört von der Frau mit dem Baby verabschieden konnten. Diese sah sie flehentlich an: "Bitte, nehmen Sie mir nicht noch ein Kind! Das pack' ich nicht! Sie würden mich direkt in die Hölle zurück schicken, aus der ich es gerade 'rausgeschafft habe!"


    "Chefin, ich glaube wir haben ein Problem," begann Alex sein Telefonat mit Kim Krüger. Dann schilderte er, was ich in den letzten eineinhalb Stunden ereignet hatte. Kim Krüger seufzte laut auf: Dass sich ihre Leute auch nie an Absprachen halten konnten! Wie sah das bloß wieder aus? Aber letztlich war es ja wirklich eine Spur - um nicht zu sagen eine Brandt-heiße Spur.
    "Was machen wir jetzt," fragte Alex, nachdem er ihr alles so deutlich wie möglich erklärt hatte.
    "Sie machen erstmal gar nichts mehr in dieser Sache," beschloss Kim Krüger,"Ich setze mich sofort dem Notdienst das Jugendamt es und der Staatsanwaltschaft in Verbindung. Danach werden wir weitersehen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, besteht ja kein Anlass, eine Kindeswohlgefährdung anzunehmen?"
    "Das ist richtig," bestätigte Alex und ergänzte: "Wenn ich es beurteilen sollte, würde ich sagen: Das Kind ist im Moment bei dieser Frau wirklich gut aufgehoben. Aber ein Spezialist dafür bin ich eben nicht."
    "Natürlich.Wie geht es Marie," wollte Kim Krüger wissen.
    "Soweit ich weiß, geht es ihr gut. Sie und ihre Tante sind immer noch bei den Gerkans."


    Nach dem Gespräch über die Freisprecheinrichtung mit seiner Chefin, wandte sich Alex Semir zu:" Ich fand das vorhin nicht so passend von dir."
    "Was denn," fragte Semir - er war sich keiner Schuld bewusst.
    "Ich meine, dass du so mit dem Kleinen geschäkert hast. Anja und ihre Familie leiden. Der Kleine ist den Armen einer fremden Frau. Du tust so, als wäre das alles gar kein Problem!"
    "Na hör mal," wehrte sich Semir. "Was gibt es Unschuldigeres als ein süßes kleines Kind! Egal ob es jetzt Leon ist oder nicht - der Kleine hat sich einfach über mich gefreut. Dem geht's gut! Ist doch wunderbar! "
    Sie fuhren Zeit lang schweigend Richtung Köln. Bald spürte Alex den Blick seines Partners auf sich ruhen, der mit kritischer Miene sagte:
    "Ich glaube das, Problem ist nicht mein Verhalten. Du weißt einfach nicht, wie du es Anja sagen sollst, dass wir ein Kind gefunden haben, das Leon so ähnlich sieht..."
    "Naja. Zu ihr bringen würde gar nichts helfen. Der Kleine will ja nur Milch aus der Brust und da ist auch sie die Falsche," krächzte Alex.
    "Na, siehst du, dann ist das Kind doch da gut aufgehoben. Wir wissen ja gar nicht, ob es Leon wirklich ist. Jetzt bringen wir Hartmut noch ein bisschen Arbeit und dann nichts wie ab nach Hause

  • "Hallo, ihr beiden! Ich bin gerade fertig mit dem Abendessen," wurden Semir und Alex von Anja empfangen, die freundlich lächelte und auch Marie kam freudestrahlend auf sie zu. "Es tut mir leid wegen vorhin," sagte Anja und strich Alex mit einem sanften Lächeln über den Unterarm.
    "Schon gut," meinte er, dem der Magen irgendwo an den Knien hing. Und auch Semir freute sich darauf, sich endlich etwas ausruhen zu dürfen. Es war schließlich schon nach 10. "Na, Mäuschen, musst du dann aber ins Bett," fand Semir, während er ihr durch die Locken wuschelte.
    Aber Marie protestierte: "Nein, nicht müde!"
    "Ja, sie hat vorher schon ein bisschen geschlafen und mir jetzt ganz fleißig beim Spätzleschaben geholfen," grinste Anja und stellte eine große Schüssel voller Käsespätzle mit angebratenen Zwiebeln auf den gedeckten Tisch, um den herum sich schnell alle versammelten.
    "Und? Gibt's etwas Neues," fragte Anja als sie bereits am Tisch saßen.
    "Tut mir leid, laufende Ermittlungen," wich Alex aus. Die Enttäuschung war Anja ins hübsche Gesicht geschrieben. Spannung lag in der Luft. Bevor die Situation jedoch eskalieren konnte, sagte Semir mit seinem typischen Kopfneigen - und er sprach obwohl er noch etwas im Mund hatte: " Daran musste sich Andrea auch erstmal daran gewöhnen, dass wir sie nicht immer alles sofort erzählen dürfen - das gehört einfach zu unserem Job."
    "Andrea, deine Frau?"
    "Ja."
    "Sie hat vorhin angerufen. Ich soll dir ganz liebe Grüße ausrichten. Es geht allen gut, sie war mit den Mädchen heute auf dem Affenberg."
    "Und? Keine dageblieben," lästerte Alex, der Aydas gelegentlichen Hang zu Dramen gut kannte.
    "Hey, pass auf, wie du über meine Familie sprichst," empörte sich Semir künstlich.
    "Nein,"lachte Anja. "Aber deinem Freund Ben geht es wohl wieder besser und wenn alles gut geht, darf er morgen aus der Klinik raus. Andrea holt ihn dann ab und sie würden übermorgen dann gemütlich nach Köln zurück fahren."
    "Ja, das ist vernünftig. Morgen - am Freitag - würden sie eh mehr im Stau stehen als fahren," bemerkte Alex
    "Ja, dann könnt ihr beiden euren Urlaub bei uns auch noch ein bisschen genießen. Deinem Bruder wird das recht sein, denke ich..." vermutete Semir und Anja stimmte ihm etwas bedrückt zu: "Ja, ich glaube, er hat gerade ne Menge Probleme..."



    Spät am Abend erhielt das Ehepaar Weis noch einmal Besuch vom Notdienst des Jugendamtes der von Kim Krüger alarmiert worden war. Die beiden Frauen versicherten sich, dass es dem Baby tatsächlich gut ging und beließen es dann in der Obhut der Familie.

  • Der nächste Morgen begann für Ben mit einem Schreck: Im Nebenzimmer gab es lautstarken Streit! Das konnte ja wohl nicht wahr sein - wie sollten sich kranke Menschen denn da erholen? Ohne lange nachzudenken, rutschte Ben aus seinem Bett. Er bog um die Ecke seines Zimmers und hörte jetzt deutlich die Hilferufe einer Frau und die dunkle Stimme des Angreifers brüllen: "Ich mach' dich fertig!"
    Ohne zu zögern, riss er die Tür seines Nachbarzimmers auf und dachte nicht mehr daran, dass dies eigentlich ein Zimmer für weibliche Patienten war. Er sah, wie Lukas Bährle sich auf Sabrina Schmid, die vor ihm im Bett lag, gestürzt hatte. Gegen den kräftigen Bäcker hatte sie keine Chance. "Herr Bährle, lassen Sie den Unsinn," schrie Ben schon an der Tür. Doch der reagiert gar nicht. Ben eilte auf die beiden zu, packte Lukas Bährle von hinten an dessen Schultern und zog ihn fort.
    "Los, runter da!" und als der Bäcker sich unter seiner Führung auf einen Stuhl setzte, schimpfte Ben weiter: "Sie sind wohl von allen guten Geistern verlassen!"
    Gerade da erschien eine Krankenschwester mit einem kräftigen Kollegen in der Tür - Sabrina hatte schließlich den Notknopf gedrückt und ihre Schreie waren auf dem ganzen Flur hörbar gewesen.
    "Was ist hier los? Herr Jäger, was haben Sie hier zu suchen?"
    Sabrina Schmid stöhnte nur kurz und schüttelte dann den Kopf: "Der Herr hat meinem Freund nur kurz geholfen, sich wieder zu beruhigen." Sie wies mit der Hand auf den Mann gegenüber mit dem immer noch rötlich glühenden Gesicht unter den rotblonden Haaren. Sowohl er als auch Ben nickten zustimmend. Mit skeptischem Blick kam die medizinische Fachkraft näher. Sabrina rang sichtbar um Atem. Die Krankenschwester legte ihr die Hand auf die Schulter: "Ganz ruhig jetzt, Frau Schmied," sagte sie und drehte sich zu Ben und Lukas Bährle um: "Jetzt aber raus hier. Sie braucht Ruhe und sollte sich nicht so aufregen."
    Aber da widersprach Sabrina Schmid selbst:" Einen kleinen Augenblick bitte. Ich glaube, wir müssen noch was klären", sagte sie und Lukas Bährle sagte: "Ja, das glaube ich auch!"
    Kritisch sahen sich die beiden medizinischen Fachkräfte an. "Gut! Aber nur für einen kurzen Augenblick - bitte keine weitere Aufregung! Herr Jäger - ich zähle da auf Sie!"
    Ben nickte ergeben - doch eigentlich kam ihm das gar nicht so unrecht. Er war schließlich neugierig und hoffte, endlich zu erfahren, was der Hintergrund ganzen Dramas hier war.
    Kaum hatte das Fachpersonal die Tür hinter sich geschlossen, fragte Ben: "So, was ist hier eigentlich los? "
    "Ich bin nicht der Partner von der hier - schon lange nicht mehr! Und wenn ich sehe, dass dieses Miststück deshalb meine Existenz vernichten will..." Lukas wollte sich vom Stuhl hochdrücken und wieder zu Sabrina an Bett gehen. Doch Ben hielt ihn mit festem Griff unten:
    "Das können sie mir auch im Sitzen erzählen!"
    Sabrina keuchte:" Ich kann schließlich nichts dafür, dass du nicht ordentlich mit deinen Unterlagen umgehst und alles einfach so auf der Straße herum liegt..."
    "Auf der Straße? Ja wohl kaum!" Lukas war außer sich und Ben hatte Mühe, ihn auf dem Stuhl zu halten.
    "So kommen wir nicht weiter! Frau Schmied, was ist hier los," fragte Ben eindringlich.
    Betreten sah sie nach unten. "Es war alles so leicht...Ich bin an der Bäckerei von ihm vorbei gekommen. Da lagen um den Papier-Müllcontainer lauter Dokumente herum. Verträge, Bestellungen, Buchhaltungssachen... Ich habe das nur mitgenommen und mal durchgesehen..."
    "Darüber würde sich Herr Bährle ja kaum so aufregen..."
    "Der regt sich doch gleich über alles auf..."
    "Sabrina, du Aas..."
    "Ruhig, Herr Bährle, auch wenn es schwer fällt,"sagte Ben und forderte dann die Frau vor ihm auf, weiter zu sprechen. Die druckste herum.
    "Naja, ich habe dann einfach mal ein bisschen damit herumgespielt, mir mal angesehen, wer denn damit was anfangen könnte..."
    "Tu doch nicht so! Du hast Lauras Unterschrift gefälscht- dann hast du dir damit fast 20.000 Euro überwiesen und es sieht aus, als hätte Laura das beiseite geschafft! Und uns mit gefälschten Unterlagen beim Finanzamt und der Sozialversicherung angeschwärzt...ich bin ruiniert!"
    "Oh, du Armer! Hättest du mal besser aufgepasst..."
    "Moment," griff Ben verwundert ein :"Sie geben das also zu?"
    "Laura...diese Laura...die hat alles kaputtgemacht! Wir wollten doch Kinder zusammen..."
    "Wir? Du hast es immer noch nicht begriffen, oder? Du wolltest welche von mir! Um mich festzunageln!"
    "Tja, das hast du jetzt davon... Wie willst du das beweisen, dass ich das war..." Sabrina sprach das leise aus - eigentlich fehlte ihr die Kraft. Aber sie wollte Lukas leiden sehen. Er sollte es endlich so fühlen, wie sie es hatte fühlen müssen...und wenn es das Letzte war, was sie erleben würde... Aus seiner Sicht hatte er nichts mehr zu verlieren. Voller Wut und Verzweiflung dachte er gar nicht mehr an seine kleine Tochter: "Jetzt ist doch eh alles egal," fauchte er, riss sich von Ben los und stürzte erneut auf Sabrina zu. Ben überwandt seine Überraschung schnell - und langsam wurde ihm das Theater hier zu blöd! Noch bevor der Bäcker seine Widersacherin erreichte, wurde er von Ben mit einer harten Rechten niedergestreckt. "Schluss jetzt," befand er und zog den noch immer benommenen Bäcker Richtung Tür.
    "Ich denke, meine Kollegen von der Polizei konnten da schon einige Bilder machen - und statt hier durchzudrehen, sollten Sie jetzt Anzeige erstatten. Die Beweise müssen gesichert werden, am besten, bevor die Dame wieder entlassen wird..."
    Lukas Bährle warf seiner Ex-Partnerin einen vernichtenden Blick zu, bevor Ben ihn endgültig aus der Tür und auf den Flur zerrte. Dort holten die beiden Männer erst einmal tief Luft - Ben, weil ihn das doch angestrengt hatte, Lukas Bährle, weil er eine gewisse Erleichterung empfand. Er rieb sich die Stelle, an der Ben ihn erwischt hatte. Dabei sah er ihm fest in die Augen. "So jemand wie dich könnt' ich in der Backstube brauchen...Danke!"
    Ben grinste: "Danke. Ich suche zwar eigentlich einen neuen Job. Aber das frühe Aufstehen wäre nichts für mich..."
    Lukas Bährle erwiderte:"Richtig gutes Brot, das ist die Arbeit vom Abend vorher..."

  • "Bei uns arbeitet kein Herr Weber, " erklärte die Leiterin des Landesjugendamtes bei welcher Kim Krüger trotz aller Dringlichkeit erst mittags einen Termin bekommen hatte. Die legte ihr die Unterlagen vor. Daraufhin kontrollierte die Leiterin den gesamten Vorgang und stellte einer kurzen Recherche in ihrem elektronischen System fest: "Aus meiner Sicht sieht hier alles gut aus. Das Verfahren lief ein halbes Jahr. Es sind alle Unterlagen vorhanden, die Unterschriften sind ebenfalls korrekt und -hier unten sehen Sie ja - der Vorgang ist sogar über meinen Schreibtisch gegangen. Und ich würde doch keine Adoption freigeben von einem Kind, das entführt wurde!"
    Kim Krüger seufzte: "Das glaube ich Ihnen. Aber Sie verstehen sicher, dass ich hier Ungereimtheiten sehe: Sie sprechen von einem halben Jahr - der Familie wurde etwas von einem plötzlichen Tod beider Eltern erzählt. Ausgerechnet von dem Mann, der im dringenden Tatverdacht steht, die Mutter schwer verletzt und zwei Kinder - darunter auch einen Säugling im Alter des hier betroffenen Kindes - entführt zu haben, werden der Familie Weis Kind und Unterlagen übergeben. Wie kommt dieser Mann, der bereits als Krimineller vorbestraft ist, an diese Dokumente," fragte Kim Krüger und zeigte der Leiterin das Bild auf dem Smartphone.
    "Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen," antwortete diese.
    "Aber wenn ich ihn mir so ansehe, irgendwie kommt er mir bekannt vor. Ich würde behaupten, ich hätte ihn schon mal gesehen. Bloß wo?"
    Die Frau machte ein nachdenkliches Gesicht. "Versuchen Sie sich zu erinnern: Wo könnte das gewesen sein - also, wenn es nicht in den Medien war..." bestärkte sie Kim Krüger.
    Erst legte die Leiterin ihren Kopf zur Seite und griff dann zum Telefon: "Einen Moment bitte, ich brauche die Unterstützung einer meiner Mitarbeitern"
    Kurze Zeit darauf erschien ein kleiner unauffälliger Mann um die 50 in der Amtsstube. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine zu weite schwarze Cargohose, die er mit einem Werkzeuggürtel vor dem Herunterrutschen bewahrte. Sein Blick ging im Büro spazieren, er klopfte auf eine kleine Blase im Putz und schüttelte dann den Kopf. Er wurde der Polizistin als " Facility Manager" vorgestellt. Seine Chefin erklärte ihm, warum sie ihn gerufen hatte. "Frau Krüger von der Autobahnpolizei ist auf der Suche nach einem Mann und ich glaube ich habe ihn schon einmal hier gesehen. Vielleicht können sie uns weiterhelfen."
    Der Mann nahm augenblicklich eine gerade Haltung ein, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und nickte Frau Krüger freundlich zu. Diese zückte erneut ihr Smartphone und zeigte dem Hausmeister das Bild. Der machte ein etwas erstauntes Gesicht bevor er sagte:
    " Klar, der gehört doch zu den Jungs vom Reinigungstrupp! Aber soweit ich weiß, ist der meistens in den beiden unteren Etagen eingesetzt. Ist er zu schnell gefahren, wenn ihn die Autobahnpolizei sucht?"
    Kim Krüger ging gar nicht darauf ein, sondern fragte zielstrebig weiter:
    "Wissen Sie, wo ich ihn finden kann oder kennen Sie seine Adresse?"
    "Nein, tut mir Leid, "sagte der Hausmeister "ich habe keine Adressen vom Reinigungspersonal. Das läuft alles über eine externe Firma. Aber den Kontakt kann ich gerne herstellen..."
    "Ja, bitte. Es ist dringend," bat ihn Kim Krüger. Und auch wenn er sich die attraktive Polizistin gerne noch weiter angesehen hätte - jetzt beeilte er sich besser: Die konnte bestimmt ganz schön unbequem werden!
    Als nächstes holte die Jugendamtsleiterin die Mitarbeiterin, die laut den Unterlagen den Fall bearbeitet hatte. Aber schnell stand fest, dass diese sich zwar dunkel an das Ehepaar Weis, aber gar nicht an den Vorgang erinnern konnte. Zudem war sie bis vor 2 Tagen im Urlaub gewesen und hatte das alles unmöglich bearbeiten können.
    "Dann erklären Sie mir doch bitte, wie das passieren kann? Wer hat noch ihre Kennwörter für die Systeme?"
    Die Frau schüttelte den Kopf:
    "Niemand! Aber den Typen da kenne ich! Der leert immer den Papierkorb bei uns," stellte sie fest, als sie das Bild von André Wieler sah.
    Die Chefin der Autobahnpolizei blickte ihrem Pendant vom Landesjugendamt ins Gesicht:
    "So. Was ist, wenn das Kind tatsächlich der entführte Junge ist?"
    "Schwierig. Also rein rechtlich ist eine Adoption da nicht möglich bzw. unwirksam. Aber wenn ich das von den Notdienst lese, ist der Junge dort gut aufgehoben und kann so ernährt werden, wie er es gewohnt ist. Und Sie sagten ja, dass das Überleben der Mutter noch unklar ist..."
    Kim Krüger nickte bedauernd.
    "Ich denke, wir sollten das Kind vom Vater oder einem nahen Verwandten anhand eines eindeutigen Merkmals identifizieren lassen. Wenn das nicht geht, brauchen wir einen DNA-Test," seufzte die Jugendamtleiterin.
    "Gut, ich frage mal beim Vater an. Informieren Sie das Ehepaar Weis?"
    "Ja. Aber erst, nachdem ich jemanden vom Psychologischen Dienst gefunden habe, der da mit kann. Das ist ja eine grauenvolle Situation für beide Parteien...."
    "Ich sorge dafür, dass da mindestens einer meiner Leute dabei ist. Hoffentlich eskaliert das nicht..."
    "Oh ja, das hoffe ich auch. Und ehrlich gesagt: Mein oberstes Ziel ist, dass es dem Kind gut geht."

  • <p><em>Ich sitze im Zug nach Ravensburg. Keine Ahnung, wo das sein soll, irgendwo weit im Süden. In mir ist alles leer. Irgendwie kalt und taub. Heute Morgen bin ich in die Backstube gekommen. Ich habe noch gezittert als ich sagte: "Ich muss weg." </em></p><div><em>Erwin nickte nur. Er hat mich mit meinem Auto bis nach Bonn zum Bahnhof gefahren. Da hat er mir den Lohn in bar ausgezahlt, eine Fahrkarte nach Ravensburg und drei Adressen in die Hand gedrückt. "Mädchen, wenn du in Ravensburg bist, geh' zur Helene. Adresse ist da. Erzähl ihr alles, was er dir angetan hat. Kannst ihr voll vertrauen. Dann geht ihr zusammen zur Polizei und verlangt nach Hauptkommissar Metzger. Danach schaust du, dass du zukünftig wieder allein Zugriff auf dein erarbeitetes Geld hast. Helene kann dir auch da helfen, wenn du den Kerl angezeigt hast. Und wenn du das hinter dir hast, dann gehst du zur Bäckerei Bährle. </em><em>Da arbeitest du ab morgen, hast ein Bett und Sicherheit."</em></div><div><em>Dann gab er mir noch eine große Tüte mit Gebäck vom Vortag und einen Bäko-Kakao. Ich spürte, wie mir die Tränen kamen und war mir gleichzeitig nicht sicher, ob ich das selbst war. Ich hörte mich ein "Danke, Erwin" sagen. Er schob mich in den Zug, klopfte mir auf die Schulter, sagte: "Du packst das schon! Meld' dich bald mal wieder!" </em></div><div><em>Als die Tür schloss und der Zug anfuhr, kam mir der Gedanke, dass ich jetzt wohl auf dem Weg in ein anderes Leben bin. Hoffentlich kann ich mich einmal über diesen Moment freuen. Jetzt sind gerade alle Gefühle weg. </em></div><div><em>Von Bonn aus bin ich erst mal bis Ulm gefahren. Ich bin eingeschlafen, wachte erst wieder auf, als der Zug langsam durch die kahle Schwäbische Alb fuhr (ich musste erst einen Mitreisenden fragen, wo wir waren). Ich war so erschöpft von der Nacht davor. Von den Wochen, Monaten, seit André so aggressiv geworden ist. Nach Ulm nickte ich nochmals ein. Ich habe wohl viel aufzuholen. </em></div><div><em><br></em></div><div><em>In Ravensburg scheint die Sonne. Es ist wärmer als in Köln, es riecht schon ein bisschen nach Frühling. Vielleicht ist das auch nur Einbildung. Weil ich eine ganz, ganz kleine Hoffnung habe, die letzten Tage hinter mir zu lassen. Vom Bahnhof aus rufe ich erst mal meine Eltern an. Mein Vater geht ran. Meiner Mutter geht es nach der Chemo vorgestern richtig mies. Ich will sie nicht mit meinem Kram belasten. Habe ihnen nur gesagt, ich sei für ein paar Tage weggefahren. Allein, zu einer Bekannten. Mädelszeit, ich würde mich sehr darauf freuen. Mein Vater atmet erleichtert aus und wünscht mir viel Spaß.</em></div><p></p><div><em>Ich mache mich auf den Weg zu meiner neuen "Bekannten", die mein Chef Erwin mir empfohlen hat. Sie ist ungefähr in seinem Alter und schon beim ersten Blick weiß ich, dass Erwin Recht gehabt hatte: Ihr kann ich alles anvertrauen.</em></div><div><br></div>

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