Dinner mit Baal

  • Rastplatz - 03:00 Uhr



    Es war beinahe eine romantische Stimmung auf dem Rastplatz, nahe der Autobahn. Es war still, die Nacht war klar und herrlich mild, als wäre es schon Hochsommer. Dabei war es erst Mitte Mai, eine Zeit in der man sogar hin und wieder noch mit Bodenfrost rechnen musste. Doch keiner der Polizisten der Autobahndienststelle musste bei diesem Einsatz lange Unterhosen tragen. Nur schusssichere Westen waren vorgeschrieben. Sie hatten sich verteilt positioniert, allesamt in Zivilfahrzeugen im Schutze der Dunkelheit. Das MEK war einsatzbereit, die Handys der Verdächtigen geordet. Hartmut saß auf dem Rücksitz von Semirs BMW und fragte im Minutentakt die aktuelle Funkzelle ab, in der das Handy eingeloggt war, während die beiden Polizisten mit Argusaugen den beleuchteten Parkplatz beobachteten.
    Kevin und Jenny im zweiten Fahrzeug standen auf der anderen Seite des Rastplatzes, uneinsehbar und versteckt zwischen geparkten LKWs. Sie würden genau sehen, wenn sich ein Fahrzeug nähern würde und in den unbeleuchteten Teil des Rastplatzes einbog. Hotte und Dieter, sowie einige Einsatzkräfte des MEKs hatten den restlichen Platz im Auge, sowie einen Teil des angrenzenden Waldes, um mögliche Fluchtwege abzuschneiden, oder zu sehen, falls die Verdächtigen sogar aus dem Waldstück zu Fuß kamen.



    Drei Wochen war es jetzt her, seit Kevin und Jenny im Büro zum ersten Mal aufeinander getroffen waren. Der junge Polizist wusste bei der Rückkehr aus England noch nichts von seiner neuen Partnerin, und als er ins Großraumbüro trat und durch die Glasscheibe Jenny gegenüber seines Platzes sitzen sah, blieb er erst mal wie vom Blitz getroffen stehen. Semir und Ben sahen ihren Kollegen nur von hinten, und konnten seinen Gesichtsausdruck nicht sehen... Ben sagte scherzhaft, er würde auf eine Woche Schokocroissants verzichten, wenn er in diesem Moment Kevins Gedanken hätte lesen können. "Dann muss es dich aber schon verdammt interessieren...", war Semirs sarkastische Antwort.
    Zögernd, wie ein misstrauischer Kater im fremden Terrain tastete sich Kevin in sein Büro, ohne einen unfreundlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Er war eher... nichtssagend. So wie immer. Er wusste auch nicht, ob er von der Überraschung jetzt positiv oder negativ berührt war. Es war eher ein Gefühl dazwischen. Ein Ausschlag nach oben und unten gleichzeitig. Wie eine Schaukel, die gerade wenn sie ganz oben war sofort wieder im Begriff war, zu fallen. Er freute sich, dass es Jenny gut ging, dass sie lächelte als er sie begrüßte, dass die Kälte in ihren Augen verschwunden war, mit der sie ihn noch vor einigen Wochen mit den letzten Worten "Es gibt kein Kind mehr." abwies. Die kurze Umarmung, ein Küsschen auf die Wange, nichts was irgendwas bedeuten würde... ja, da war das positive Gefühl. Doch das negative beschlich ihn dann langsam, je länger sie miteinander sprachen. Konnte das gutgehen, eine Zusammenarbeit? Nachdem was zwischen ihnen passiert war? Was noch zwischen ihnen stand? Und was war mit seinen Gefühlen Jenny gegenüber? Über die, die Jenny noch für ihn hatte, wusste er ja nicht Bescheid.



    "Was machst du denn hier?", fragte er ehrlich überrascht. Dass sie wieder hier arbeitete war unverkennbar, denn sie hatte sich auf ihrem Schreibtisch mittlerweile schon eingerichtet. Aktenordner, ihre Tasse, einige private Kritzeleien auf der Tastaturunterlage. Aber das "Warum" und "Weshalb" enthielt Kevins Frage natürlich auch. "Ich wollte wieder nach Hause.", war Jennys ehrliche Antwort, und mit einem Lächeln versehen, die genaueres Nachfragen für Kevin unnötig machten. Natürlich hatte es mit den Vorkommnissen in Hamburg zu tun. Natürlich mit Timos Tod, vor dem sie genauso floh, wie sie vor Kevins Tod und der Erinnerung hier geflohen war. Es waren, bis auf die Freude über das Heimatgefühl, keine schönen Gründe. Und weil der junge Polizist Jennys Stimmungshoch nicht nur spüren, sondern auch sehen konnte, und er selbst sich nach zwei Wochen bei Annie ebenfalls gut fühlte, so wollte er die Gründe nicht ansprechen. Gelegenheit, nochmal über unschöne Dinge zu sprechen, würden sie bestimmt haben... irgendwann.
    "Wie war es in England? Wo warst du überhaupt genau?" Kevin setzte sich an seinen Schreibtisch und begann, in gewohnt knappen und kurzen Sätzen, zu erzählen. Von den tollen Küsten in Cornwall, den weiten grünen Wiesen und den schönen Straßen die man mit einem gemieteten Motorrad herrlich erkunden konnte. Er erwähnte Annie mit keiner Silbe... warum auch? Jenny hatte klipp und klar gesagt, dass es zwischen ihnen vorbei war, unabhängig derer Gefühle, die die beiden noch hegten. Und was zwischen ihm und Annie in diesen zwei Wochen geschehen war, war für seine Gefühle zu seiner jungen Kollegin nicht von Belang.



    Das Experiment der Chefin schien, gegen jede Skepsis ihrer Mitarbeiter, zu funktionieren. Jenny schaffte es, alle negativen Gefühle und Erinnerungen, die sie an den Vorfall in Hamburg hatte, zu unterdrücken. Sie war einfach froh, wieder zu arbeiten, so zu arbeiten wie in Hamburg, nur diesmal im Kreise ihrer "Familie." Und sie war Kevin dankbar, dass dieser es ihr so leicht wie möglich machte. Er sprach sie nicht auf das kalte Gespräch vor ihrer Wohnung an, er sprach sie nicht auf Timo oder das Baby an... er beschränkte sich auf die Arbeit. Natürlich redeten sie auch mal über Privates, (dass Jenny im Park beim Joggen von einem Regenschauer überrascht wurde zum Beispiel) aber das blieb völlig an der Oberfläche. Es war nichts zu spüren von Freundschaft, wie sie zwischen Semir und Ben herrschte, aber sie schafften es kollegial zusammen zu arbeiten.
    Das Gleiche schaffte Kevin auch mit Semir und Ben, genauso wie vor der Schul-Geiselnahme. Mit dem jungen Kommissar, obwohl der am ehesten von dem Gedächtnisausfall seines Partners zu leiden hatte, deutete sich sogar wieder so etwas wie eine Freundschaft an. Zumindest drängte er den schweigsamen Kollegen dazu, mal die Gitarre mit ins Büro zu nehmen um nach Feierabend bei einem Bierchen einfach nur ein bisschen Musik zu machen. Ben wusste ja, dass Kevin momentan wieder alleine bei Kalle lebte, und er erinnerte sich dass vor allem die gemeinsame Musik damals das erste Eis zwischen ihnen brach. Und was schon mal klappte, kann auch wieder funktionieren. Gegenüber Semir hatte der Polizist immer noch den ungeheuerlichen Verdacht gegen sich im Hinterkopf, den er eher zufälligerweise mitbekommen hatte. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, mit Misstrauen zu reagieren, verdrängte er es. Ja, er hatte sogar Verständnis für Semirs Gedanken, wenn er sich in dessen Lage hineinversetzte. Er würde ihn darauf ansprechen... irgendwann. Wenn es passte. Wenn sie wieder näher zusammengerückt waren.



    Das junge Team hatte den ersten Fall auf dem Tisch, und in dieser Nacht sollte ein großer Schritt getan werden. Bei einem Tankstellenüberfall wurde der Kassierer angeschossen, und dank des beherzten Eingriffs eines Kunden, der zufällig Lehrer einer Schule für Selbstverteidigung war, konnte zumindest die Waffe des Räubers sichergestellt werden. Der Tankstellenraub war deshalb, und auch aufgrund der Überwachungskameras, schnell aufgeklärt, doch durch die Aussagen des Räubers, der seine Situation verbessern wollte, kamen Kevin und Jenny, mittlerweile mit Semirs und Bens Unterstützung, einer Gruppe Waffenschieber auf die Spur. Durch viel Polizeiarbeit, einigen Handy-Überwachungen und Kevins Kontakten war man der Gruppe einen Schritt voraus. Heute sollte hier ein Deal stattfinden.
    Jenny schüttete sich aus einer Thermoskanne heißen Kaffee ein, pustete und nahm einen Schluck. Dabei blickte sie kurz auf ihren Nebenmann. "Ich kann mich an meine letzte Observation mit Festnahme erinnern.", sagte sie lächelnd. "Du auch?" Sie spielte darauf an, dass sie dabei war als Kevin bei einem, von der Drogenfahndung fingierten Deal erwischt wurde. Der große Polizist nickte: "Ich kann dir versichern, dass derjenige heute nicht verhaftet wird, und sich von dir auch kein blaues Auge einfängt.", meinte er mit seiner monotonen Stimmlage. "Das Veilchen war Hotte. Eigentlich war es die Autotür.", widersprach Jenny. "Cobra 11 Team 1 für Team 2... alles klar bei euch?", knarzte Bens Stimme aus dem Funkgerät. Jenny antwortete: "Wir könnten Decken und Kissen gebrauchen, wenn das noch länger dauert.", sagte sie ganz ohne Hintergedanke. Ben's saloppes: "Ach, so weit sind die schon wieder?" zu Semir konnten die beiden nicht hören.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Rastplatz - 03:10 Uhr



    Die Minuten zogen sich zu Stunden. Passierte nichts, konnte so eine Observation verdammt lange dauern, zumindest gefühlt. Doch die Polizisten von der Autobahnpolizei sollten für ihre Geduld belohnt werden, als sich von der Rastplatzauffahrt eine dunkler SUV näherte und schon, bevor er überhaupt anhielt, die Lichter ausschaltete. Er fuhr an den ersten Zivilfahrzeugen, die aussahen wie ganz normale parkende Autos, vorbei und hielt direkt hinter einem der LKW-Auflieger. Kevin beobachtete den Wagen sofort konzentriert und nahm dabei das Fernglas mit Nachtsicht zur Hilfe. Jenny bemerkte sofort die ernste, konzentrierte Haltung ihres Kollegens und nahm das Funkgerät zur Hand. "Achtung, da scheint sich etwas zu tun.", sagte sie leise, als hätte sie Angst dass die fremden Männer sie hören könnte.
    Aus dem SUV stiegen zwei Männer aus, einer vom Beifahrersitz, einer von hinten. Der Fahrer blieb sitzen. Jenny hörte Kevins monotone Stimme: "Das sind sie...". Kevin hatte bereits während den Ermittlungen festgestellt, dass es sich scheinbar um eine Gruppe im organisierten Verbrechen handelte, die er von früher kannte... so sagte er es jedenfalls. Konkret, woher und aus welcher Beziehung, sagte er nicht. Das brauchte auch niemand so wissen, dachte er und hoffte, beim Abschlussbericht mit einigen Standardfloskeln als Begründung hin zu kommen.



    Kevin sollte, wenn er die Männer erkannt hatte, das Startsignal geben, doch noch zögerte er. Die zweite Partei fehlte noch, nämlich die, die die Waffen schließlich kaufen sollten. Die Plane des LKW-Anhängers, der ganz in der Nähe stand, bewegte sich leicht und wackelte, was nur Kevin durch das Fernglas sehen konnte. Semir, der ebenfalls durch ein solches blickte, konnte das aus seiner Perspektive schlecht sehen. Es dauerte einige Sekunden, bis der junge Polizist realisierte, dass der Mann sich durch die Plane mit jemandem unterhielt. Scheinbar saß der Käufer im LKW-Anhänger. Als Kevin einen Kopf erkennen konnte, der sich durch den Schlitz der Plane ins Freie wagte, rief er über Funk: "Es geht los! Zugriff!!"
    Gleichzeitig wurden Lichter, Blaulicht, Sirene und Motoren angeschaltet, und mehrere Männer bekamen einen gehörigen Schreck, bevor sie sich in Bewegung setzten. Der SUV war bereits auf Flucht gepolt, so wie er sich positioniert hatte und gab direkt Vollgas. "Wir schnappen uns den SUV!", rief Ben sofort über Funk, den in Richtung Ausfahrt waren sie am ehesten dran. Hartmut klappte auf dem Rücksitz bereits den Laptop zu und verstaute ihn in der sicheren Tasche, denn er kannte Semirs Fahrweise bei Verfolgungsjagden.



    Die beiden Männer, die hinterm LKW standen, flüchteten zu Fuß. Während einer verschwand für Kevin und Jenny in Richtung der Bäume, der andere kam fast auf die zu, denn viel Ausweg gab es nicht, weil von allen Richtungen Blaulichter angerauscht kamen. Der junge Polizist bremste hart ab und kaum dass das Fahrzeug zum Stillstand gekommen war, rissen beide die Türen auf. Jenny verfiel sofort in einen Sprint und verfolgte den Mann, der Richtung Bäume abgehauen war während Kevin sich dem Zweiten annahm. Der lief ihm quasi fast vor den Dienstwagen, schlug einen Haken um nicht überfahren zu werden, wurde aber von dem Nahkampfexperten ganz unsportlich einfach mit Wucht über den Haufen gerannt. Beide Männer fielen nach dem Zusammenprall auf den harten Asphalt, Kevin rollte sich aber kontrolliert und elegant ab, so dass er schon wieder auf den Füßen stand, als der Flüchtige sich noch am Boden orientierte.
    Die Männer des MEK umstellten den LKW-Anhänger von allen Seiten, da bereits einige Taschenmesser versuchten die Plane aufzuschneiden um unerkannt zu entkommen. "Hier, übernehmt den mal!", rief Kevin einen der maskierten Männer heran, der mit einem Kollegen verstärkt sich um den Verbrecher kümmerten. Dann verfiel auch Kevin in einen schnellen Sprint und lief in die gleiche Richtung, wie seine Kollegin. Er konnte den Lichtschein ihrer Taschenlampe zwischen den Bäumen erkennen, sprang über die Leitplanke und verschwand ebenfalls im Wald.



    Jenny hatte bereits in Hamburg wieder mit ihrem Sportprogramm begonnen, nachdem sie vom Arzt grünes Licht bekommen hatte. Ein wenig Kampfsport, viel Ausdauer und Laufen. Beim Joggen hatte selbst Kevin, den Ben mal als Konditionswunder bezeichnete, gegen sie das Nachsehen. Das bemerkte auch der flüchtende Verbrecher, als er hinter sich bemerkte wie das Licht der Taschenlampe immer näher kam, die laute Stimme immer dichter hinter ihm war, die ständig rief: "Stehenbleiben! Polizei!!". Der Weg im Wald wurde tükisch, Sträuche und Äste streiften den Mann am Gesicht und am Körper. Er versuchte hinter einer dichten Reihe an Gebäuschen dem Lichtschein zu entfliehen, kroch ins Unterholz und hielt die Luft an. Plötzlich war alles still, nur weit entfernte Stimmen und Sirenen waren noch zu hören.
    Auch Jenny ergriff die Stille. Das Geraschel vor ihr, dem sie gefolgt war, war plötzlich verstummt. Sie bremste, stand und drehte sich um die eigene Achse. Der weite und helle Lichtschein ihrer Taschenlampe striff an Bäumen vorbei, an Sträuchern und Büschen. Jeder Schritt knackte unter ihren Füßen und plötzlich fühlte sie sich komplett unwohl. Sie hatte den Mann verloren und konnte nicht mal sagen, ob er in ihrer Nähe war. Sie spürte, wie das Herz fest gegen ihren Brustkorb schlug, und ihr erster Reflex war: "Kehr um..."



    Doch diesem Reflex konnte sie nicht mehr nachgeben, und der Verbrecher nutzte die Orientierungslosigkeit der jungen Polizisten aus. Mit einem kräftigen Stoß beförderte er Jenny zu Boden, die Waffe flog auf den dunklen Waldboden. Doch die junge Frau war gewandt, drehte sich auf den Rücken und ihre Hand klammerte sich fest an die Taschenlampe, die nun eine Pistolenmündung anleuchtete. Jenny riss geistesgegenwärtig einen Fuß hoch, und traf den Angreifer unterhalb der Hand, der abgefeuerte Schuss traf nur Äste in den oberen Baumetagen, bevor auch die zweite Waffe verlorenging. Knurrend stürzte sich der Mann auf Jenny, die versuchte schnell aufzustehen und es schaffte, dem Mann mit der Faust einen Schlag zu verpassen.
    Doch so gewandt und geübt im Nahkampf Jenny auch war, sie war eben auch recht schlank und zierlich. Gegen einen breiten, ebenfalls im Zweikampf nicht unerprobten Mann, hatte sie einen Stärkenachteil. Sie spürte seinen Griff an ihrer dünnen Lederjacke, der sie unsanft vom Boden riss und sie zurück in die Senkrechte holte. Der Schmerz des ersten Trittes in ihre Magengrube raubte ihr fast den Atem, doch sie blieb auf den Beinen, als sie erneut zurückgestoßen wurde. Mit einem gezielten Tritt auf die Niere hatte der Angreifer nicht gerechnet, doch er blieb hart im Nehmen. Wieder packte er grob und mit unglaublich viel Kraft Jennys Jacke, die junge Frau verlor Halt und Gewalt über ihren Körper. Der Sturz endete mit einer schmerzhaften Begegnung mit ihrem Kopf an einem Baumstumpf, so dass ihr für einen Moment schwarz vor Augen wurde. Sie konnte nur noch grob erkennen, wie der Mann drohend auf sie zu kam, als sie hilflos am kalten Boden saß.



    Kevin konnte so lange folgen, wie er den Lichtschein sehen konnte. Als der Zweikampf begann, begann er zu rennen, denn die Taschenlampe machte auf einmal komische Begegnungen. Er selbst war im Dunkeln unterwegs, die Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, trotzdem übersah er die Baumwurzel am Boden und knallte der Länge nach hin. "Fuck...", murmelte er, bevor er sich wieder aufrappelte. Er sah gerade noch als Silhouette den breiten Kerl, wie er zu Boden sah und sich aufbaute. Noch bevor Kevin den Zustand von Jenny überprüfen konnte, nutzte er den Überraschungsmoment und trat dem Kerl gezielt in die Kniekehle, was diesen aufheulen ließ. Für einen Moment schien es, als würde der Kerl zu Boden fallen, doch der Tritt schien ihn nur noch wütender zu machen.
    "Peters! Diese linken Dinger kenne ich doch.", rief er wütend, als er Kevin im Mondlicht scheinbar erkannt hatte, jetzt aber mit dem Rücken zu ihm am Boden kniete. "Quatsch keine Opern. Hände hinter den Kopf!", sagte der junge Polizist und zielte mit der gezogenen Dienstwaffe auf den Kerl. Den wuchtigen Stock, den der Kerl aus dem Unterholz zog sah Kevin ebenso wenig, wie den Schlag mit jenem Stock, der ihn mit solcher Wucht auf den Unterarm traf, dass seine Hände einen Moment nicht mehr dem Gehirn gehorchten, und auch seine Waffe zu Boden fiel und er selbst kurz auch auf die Knie sank.



    Der Gangster hatte sich in dieser Zeit wieder aufgerichtet und der Stock, fast schon ein massiver Ast, sauste erneut in Kevins Richtung. Schnell ließ dieser sich komplett auf den Waldboden fallen und rollte sich unter dem schwingenden Ast hinweg, gleichzeitig suchten seine Hände über den Waldboden nach seiner Waffe. "Komm, steh auf!", knurrte der Mann und ließ es zu, dass der Polizist wieder auf die Beine kam. Dem nächsten Schlag konnte Kevin ausweichen und durch eine Körpertäuschung kam er dicht an seinen Gegner ran. Mit einem kurzen Zucken holte er aus und rammte diesem einmal, zweimal, dreimal die Faust in den Magen. Dabei spürte Kevin schon, wie sehr sein Gegner die Bauchmuskulatur anspannte, und die war nicht von schlechten Eltern. Zwar verspürte der Verbrecher Schmerzen und leichte Atemnot, doch wirklich aus der Fassung brachte es ihn nicht. Erst der Karatetritt gegen die Schläfe ließ ihn wanken.
    Doch Kevin begang einen Fehler. Ein Glitzern am Boden ließ ihn glauben, neben einer der Waffen zustehen, und sein Widersacher erholte sich schneller als gedacht. Das ganze passierte innerhalb Sekundenbruchteilen. Ein Hieb mit dem Ast auf Kevins Körperseite, den er nicht abblocken konnte, ließ ihn auf die Knie gehen und der Verbrecher packte den Polizisten von hinten, den Ast gegen Kevins Kehlkopf gepresst. Der Polizist bekam Atemnot, er war in einem effektiven, schmerzhaften Schwitzkasten gefangen, gegen einen Gegner mit unglaublicher Kraft, der den Ast von hinten zu sich, und damit gegen Kevins Kehlkopf drückte. Beide Männer sahen jetzt in eine Pistolenmündung... Jenny hatte eine Waffe am Boden gefunden und zielte auf den Verbrecher... doch der platzierte sich so geschickt hinter Kevin, dass die junge Frau in diesem Moment eigentlich auf ihren Ex-Freund zielte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 3:15 Uhr



    Semir war zufrieden... so musste er wenigstens nicht laufen. Die Arbeitsteilung gefiel ihm, als er die Rücklichter des flüchtenden SUVs direkt vor sich hatte, der zwei, drei Haken schlagen musste um den Rastplatz zu verlassen. Um diese Uhrzeit war die Autobahn zum Glück sehr wenig befahren, so dass die Gefahr für unbeteiligte Verkehrsteilnehmer quasi Null war. Der SUV beschleunigte schnell auf 180, Semir hielt mit dem gut motorisierten BMW mühelos Schritt, während Ben zum Funkgerät griff. "Ein Audi Q7 ist flüchtig, Farbe schwarz, Kennzeichen...", rief er in das kleine schwarze Plastikteil und gab das Kennzeichen durch.
    Der schwere Wagen und sein Verfolger konnten durchweg auf der Überholspur fahren, ohne anderen Autos auszuweichen, somit war es für den Flüchtenden fast unmöglich, Semir abzuhängen. Der grinste bereits und hielt das Lenkrad fest in beiden Händen. "Wenn die Verstärkung kommt, bremsen wir ihn aus.", sagte er zu seinem Partner, als wolle er ihn belehren, wie man das so macht. "Ach ne. Ich dachte, wir verfolgen ihn jetzt bis ihm der Sprit ausgeht.", antwortete der sarkastisch.



    Hartmut krallte sich mit den Fingern in die Sitze, ihm lagen diese schnellen Verfolgungsfahrten überhaupt nicht. Ursprünglich als Polizist bei der Autobahnpolizei beworben stellte er schnell fest, dass ihm bei Verfolgungsfahrten übel wurde, und die ganze Aufregung ihm eher weniger bekommt. Semir hatte ihn versucht an zu lernen, aber schnell verzweifelt aufgegeben und riet Hartmut dann zu einer Abteilung, wo er seine Stärken besser einsetzen konnte. Jetzt saß er hinten im Auto, hatte seinen Laptop im Fußraum untergebracht und betete dass sich die Sache schnell erledigen möchte. Vor allem, als der Zeiger der Geschwindigkeitsanzeige die 200 kurz streichelte.
    Der Fahrer des SUV sah immer in den Rückspiegel, aber egal wie sehr er sein Fahrzeug beschleunigte, das verdammte Blaulicht hinter ihm wurde nicht kleiner. Er würde sich etwas ausdenken müssen, denn die Bullen hatten mit Sicherheit Verstärkung angefordert. Mit dem Gewicht seines Autos würde er gegen ein Fahrzeug, das ihn stoppen wollte, ankommen, aber nicht gegen zwei oder drei. Innerlich hörte er schon die Handschellen klicken... verdammt, wer hatte sie verraten?



    Der Kerl sah einen Ausweg in Form einer offenen Leitplanke auf der rechten Seite. Ein kurzer Blick in die Spiegel und festzustellen, dass die Autobahn tatsächlich menschenleer war und er brachte den großen SUV gekonnt ins Schlingern. "Was zum...", rief Semir und trat bereits auf die Bremse, als er sah wie der Vordermann mehrere Pirouetten drehte und gegen die Fahrtrichtung zum Stehen kam, um wieder Gas zu geben. Der Mann lenkte nach links und verschwand zwischen den Leitplanken hindurch auf einen Forstweg, der auf die Felder neben der Autobahn führte. Mit quietschenden Reifen kam Semir zum Stehen, während Ben im Rückspiegel sah, wie die Scheinwerferlichter des SUV sich über die Felder bewegten.
    "Mistkerl...", grummelte der erfahrene Kommissar, und Hartmut atmete für einen Moment durch, um dann mit Wucht nach vorne gedrückt zu werden als Semir rückwärts beschleunigte. Noch mehr wirbelte es den Magen des Technikers durcheinander, als der geübte Autofahrer den BMW mit einer 180°-Wende ebenfalls entgegen der Fahrtrichtung stellte, um auch die Autobahn zu verlassen. "Zentrale für Cobra 11, der Flüchtende hat bei Kilometer 47 die Autobahn verlassen und flüchtete über die Forstwege. Wir haben noch Sichtkontakt, alarmiert aber trotzdem einen Helikopter.", rief Ben, der diese fahrerischen Kapriolen seines Partners gewohnt war, ins Funkgerät.



    Semir fuhr zwar jetzt ein wenig langsamer, dafür wurde es im Auto noch ungemütlicher, denn der Forstweg war schlecht asphaltiert, und das Auto drohte bei dieser Geschwindigkeit aus Semirs Händen zu hüpfen. Der SUV hatte dagegen leichteres Spiel, aber abhängen ließ sich der erfahrene Polizist nicht. Nur Hartmut hinten wurde immer mulmiger und merkte an, dass man vielleicht auch etwas langsamer fahren könnte. "Ja Hartmut, das wäre genauso wenn ich zu dir sage, dass man den PC auch mal ausschalten kann.", sagte Ben schnippisch, der sich aber auch mit der rechten Hand am Griff über der Tür festhielt.
    Immer wenn der SUV abbog, schleuderte der BMW durch seinen Hinterradantrieb hinterher. Einmal landete Semir fast im Feld und konnte den Wagen gerade noch abfangen. Doch jetzt steuerte der SUV in Richtung des Waldstücks und Semir ahnte Böses, was sein Partner aussprach: "Der will uns im Wald abhängen. Wenn er ins Gelände fährt, können wir ihm nicht mehr folgen." Wieder griff er zum Funkgerät: "Wo bleibt der verdammte Helikopter?" "Jaja, wir arbeiten dran.", schnarrte es als Antwort aus dem Lautsprecher.



    Die Vermutung trat ein. Als der SUV den Wald befuhr, bog er den ersten Feldweg ab. Die Nacht war zwar jetzt klar und mild, vor zwei Tagen hatte es aber noch kräftig geregnet und war gerade das Ende einer langen Regenperiode. Der Waldboden war matschig und aufgeweicht, Pfützen standen in Löchern und klatschen auf Semirs Frontscheibe, so dass dieser den Scheibenwischer anschalten musste. Der Wagen ächzte und stöhnte bei jedem Schlagloch, er setzte auf und Teile der tiefen Schürzen unter dem Kühlergrill zersplitterten. "Das wird wieder teuer.", murrte Semir und hielt mit größter Anstrengung das Lenkrad fest.
    Bei der nächsten Abzweigung passierte es. Semir fuhr zu schnell und rutschte über den glitschigen Boden in den Graben. Mit einem lauten "Rumms" kam der BMW in Schräglage zum Stehen, während der SUV mit Allrad keine Probleme hatte. Dreck flog, weil die Hinterräder des BMWs nicht mehr griffen und ohne fremde Hilfe würden sie nicht mehr rauskommen. "Na toll...", seufzte Ben, während Semir wütend aufs Lenkrad klopfte. "Hauptsache Hotte und Bonrath sitzen in ihrem Allrad-Porsche. Wo sind die überhaupt?? Verdammte Scheisse!!!" Nur Hartmut schien erleichtert, dass diese Tortur endlich ein Ende hatte, und er sah durch die Frontscheibe wie die Lichter des Fluchtautos immer kleiner wurden.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Wald - 3:20 Uhr



    Ersticken war kein schöner Tod, so viel war klar. Und Jenny musste auch nicht unbedingt dabei zusehen, wenns geht. Das waren Kevins Gedanken, die ihm mit Lichtgeschwindigkeit durch sein Großhirn flogen. Warum er gerade das dachte, als der Kerl hinter ihm einen Ast gegen seinen Kehlkopf drückte, was ihm den Atem raubte während Jennys Pistole, in die er sah, immer wieder schwankte... er würde sich später darauf keine Antwort geben können. Aber was er klar sah, war Jennys Gesichtsausdruck, und der machte ihm Sorgen. In ihm stand keine Entschlossenheit, keine Souveränität und keine Ruhe sondern Verzweiflung, Angst und sogar ein wenig Panik.
    "Na komm, trau dich!", rief der Verbrecher hinter Kevin um Jenny zum fatalen Schuss zu animieren. Doch die junge Frau zögerte und Kevin gab einen stöhnenden Schmerzlaut von sich. Was sollte er der jungen Frau jetzt zurufen? Dass sie schiessen sollte, egal ob sie ihn traf oder nicht? Dass sie auf die Beine zielen sollte? Konnte er überhaupt was rufen, oder war er durch den Ast an seinem Hals bereits so gehandicapt, dass nur noch ein Krächzen herauskam. Er versuchte es gar nicht erst und presste angestrengt die Lippen aneinander.



    Vor Jennys Blick schien sich ein Schleier auf zu tun. Es war surreal, dass es plötzlich umgekehrt war, als in ihren Träumen. In ihren Träumen saß sie auf einem Stuhl, gefesselt und dieser geheimnisvolle Mann mit den hellblauen Augen und den abstehenden Haaren richtete eine Waffe auf sie. Mal bettelte sie, mal schrie sie und spuckte ihm verächtlich ins Gesicht, mal weinte sie verzweifelt... es war abhängig, in welcher Stimmung sie vorher schlafen ging. War sie selbstbewusst oder unterlegen, lief ihr Tag gut oder schlecht. Sie erkannte den Mann, sie wusste wer er war, doch er schien ihr trotzdem fremd. Jenny träumte die traumatische Situation aus Patricks Keller, immer und immer wieder.
    Und jetzt hatte sie die Waffe und richtete sie auf diesen Mann mit den hellblauen Augen. Er war nicht gefesselt, aber fixiert. Er weinte und bettelte nicht, er schrie sie nicht an, er schaute nur angestrengt. Und gut versteckt hinter ihm der Verbrecher, den sie gerade festnehmen wollten. Immer wieder bewegte Jenny ihren Arm, um die Mündung von Kevin weg auf irgendein Körperteil des Verbrechers zu richten, und immer wieder hatte sie den Eindruck, als wolle ihre Fantasie ihr einen Streich spielen. Sie hatte den Eindruck, manchmal würde sie absichtlich nicht auf ihn, sondern auf Kevin zielen...



    Sie konnte dieses Gefühl nicht begreifen. Was trieb sie dazu, obwohl sie es bewusst vielleicht gar nicht tat. Diese Gedanken schnitten ihr in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Würde sie ihn treffen, wenn sie jetzt abdrückte? Würde sie den Verbrecher treffen, der den Ast jetzt nochmal mit mehr Kraft gegen Kevins Hals drückte? Oder würde die junge Polizistin mit der Waffe im Anschlag dort stehen und zusehen, wie ihr Kollege, den Mann den sie mal geliebt hatte und tief im Innersten immer noch Gefühle für ihn hatte, erwürgt werden würde? Ihr Finger weigerte sich, sich zu krümmen. Es ging nicht... sie konnte nicht abdrücken, denn sie zielte nicht auf ihren Kollegen oder den Verbrecher. Sie zielte auf den Mann, der sie beinahe umgebracht hatte und ihr das Gefühl gab, für einen Moment, dies wirklich tun zu wollen.
    Kevin wusste nicht, welche Gedanken sich in Jenny breit machten. Er spürte nur die Atemnot, den weichen Boden unter seinen Füßen und den massigen Körper an seinem Rücken. Sie traute sich nicht, sie hatte Angst den Falschen zu treffen. Das waren Kevins Gedanken, als er in Jennys apathisch wirkenden Gesichtsausdruck sah. So langsam wurde es eng, und er versuchte den Stock zu umfassen und ihn vom Hals wegzudrücken, mit einer Hand. Dadurch bekam er Platz, die er nutzen musste.



    Ein Ellbogen ist spitzer und damit schmerzhafter als eine Faust. Wo die Bauchmuskulatur eine flache Faust abwehren konnte, waren ungeschützte Rippen für einen spitzen Ellbogen verwundbar. Beim ersten Schlag hörte Kevin nur ein Aufstöhnen, und dass der Druck des Astes sich etwas lockerte. Beim zweiten Schlag konnte er hören und fühlen, wie eine oder mehrere Rippen unter der Haut etwas nachgaben, der Schmerzenslaut wurde lauter und der Ast fiel endgültig. Kevin bekam wieder Luft und der Schmerz, der durch das tiefe Luftholen über den geprellten Kehlkopf verursacht wurde, raubte ihm fast die Kraft, auf den Beinen zu bleiben.
    Doch er sah schnelle wieder klar, als sein Gegner, der wirklich viel einstecken konnte, aber jetzt auch langsam an sein Limit kam. Kevin sah auch keinen Grund mehr, sich an irgendwelche Regeln des gepflegten Zweikampfes zu halten, oder darauf zu achten, dass auch ein verdächtiger Straftäter nicht unnötig verletzt wurde. Er hätte ihn vermutlich jetzt greifen, und verhaften können, aber der Kickboxer ging auf Nummer sicher. Er packte, nachdem er sich umgedreht hatte, den Kopf des Verbrechers, drückte ihn ein Stück nach unten und zog gleichzeitig das Knie nach oben. Bei so einem Treffer ins Gesicht gingen auch beim stärksten Mann die Lichter aus, und weil der Kerl für einen Moment mit den Schmerzen seiner Rippen zu tun hatte, war er hier völlig wehrlos, und fand sich in halber Ohnmacht und mit blutigem Gesicht im Matsch wieder.



    Jenny hatte dem Zweikampf, der nur noch wenige Sekunden gedauert hatte, atemlos zu gesehen und dankte Gott, dass sie sich nicht mehr entscheiden musste, ob sie das Risiko einging oder nicht. Sie steckte hastig die Waffe weg, nachdem sie sah, dass Kevin sich mit den Händen auf die Knie aufstützte und heftig zu husten begann, so dass sie die eigentlicht Verhaftung vornahm, den Kerl ohne Vorsicht die Arme auf den Rücken zog und Handschellen anlegte. Seine Gliedmaßen ließen sich wie die einer Puppe bewegen, alle Kraft war aus seinem Körper entschwunden. Der Hieb mit dem Knie hatte seine Wirkung nicht verfehlt.
    "Kevin? Ist alles in Ordnung??", fragte sie sorgenvoll und legte dem hustenden Mann eine Hand auf die Schulter. Zwischen zwei Hustenanfällen krächzte Kevin ein heiseres "Ja, geht schon.", heraus wie es vermutlich alle männlichen Kollegen in dieser Situation machen würden. Semir und Ben waren genauso, dachte sich Jenny. Bis die sich vor anderen eingestehen würden, dass sie mal eine Minute bräuchten, oder es "jetzt eben nicht geht." waren schon mehrere Kugeln in lebensbedrohlichen Körperbereichen nötig. Später würden sie Witze darüber machen. Pah, ein gequetschter Kehlkopf und Atemnot? Kein Problem, wo ist der nächste Marathonlauf?



    So nahm sich der junge Polizist auch nur einige Sekunden, bevor das Husten in ein Räuspern über ging, und er die kalte Nachtluft gierig in die Lunge einsog. "Alles klar.", sagte er nochmals zur Bestätigung, als er Jennys skeptischen Gesichtsausdruck sah. "Wirklich!", setzte er noch hinzu und sie nickte. "Hier, Paket verschnürt und fertig zum Abstransport.", sagte die junge Polizistin, und ihre Wortwahl klang sicherer als ihre Stimme. Sie stand unter dem Eindruck ihrer kurzzeitigen Situation vorhin, und auch Kevin schien diese nicht unbemerkt geblieben zu sein. "Ist bei dir auch alles klar?", fragte er deshalb und meinte damit nicht nur die Schramme im Gesicht, die sie sich durch einen der Stürze zugezogen hatte, und über die ihr Finger jetzt strich. "Ja ja, alles okay.", nickte auch sie. Frauen waren in der Hinsicht eben auch nicht anders als Männer... zumindest für Jenny galt das.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 4:00 Uhr



    Es war recht ruhig im Büro der Autobahnpolizei, denn zur Nachtschicht waren, wie auch auf der Straße, eher weniger Leute zugange. Nur heute abend waren es einige mehr, die vier Kommissare und einige Streifenbeamte zur Verstärkung. Sie alle waren zufrieden über den Zugriff, auch wenn es ein wenig Gelächter noch am Rastplatz gab, als der Funkspruch reinkam, dass Semir und Ben im Wald stecken geblieben waren und einen Traktor zur Unterstützung riefen.
    Erstaunen und ein wenig Entsetzen auch bei Hotte und Dieter, als Kevin und Jenny im Schlepptau mit dem verhafteten Mann zurück zum Rastplatz kamen. Jetzt, im Licht der Scheinwerfer, sahen die beiden Polizisten erstmals das ganze Ausmaß des Zweikampfes. Nicht nur dass sie von oben bis unten schmutzig waren... Kevin hatte eine blutende Schramme am Hals, Jenny mehrere Kratzer und Schrammer über dem linken Auge, vermutlich vom Sturz auf den Waldboden. Der Gangster sah schlimmer aus, er blutete aus beiden Nasenlöchern und die Lippe war aufgeplatzt. "Was ist denn mit dem passiert?", fragte Hotte fast scheinheilig, während Kevin genauso eindeutig antwortete: "Ist gestolpert."



    Man wartete auf dem Rastplatz noch, bis Semir und Ben mit ihrem völlig verdreckten BMW von einem Geländewagen auf den Parkplatz gezogen wurde. Die Vorderachse hatte den Unfall nicht unbeschadet überstanden. Zu fünft zwängten sie sich in Kevins Wagen. Jenny, Semir und Hartmut nahmen auf der Rückbank Platz... die Kleinsten nach hinten, die Größeren nach vorne, wobei Hartmut lauthals protestierte, er sei sicherlich 2-3cm größer als Ben. Doch der ignorierte das Gezeter des Superhirns. "Du bist es doch eh gewohnt, hinten zu sitzen.", und beanspruchte den Platz neben Kevin für sich. "Habt ihr rumgetollt?", fragte er mit einem Blick auf Jennys und Kevins schmutzige Kleider. "Wir haben dabei wenigstens nichts kaputt gemacht.", kam Jennys Antwort von der Rückbank, woraufhin Ben mit dem Daumen nur auf Semir zeigte, der genervt die Augen verdrehte.
    Kevin sagte nichts. Er dachte nach, Jennys Blick als sie die Waffe unabsichtlich auf ihn richtete, hatte sich in seinen Kopf gebrannt. Er bildete sich ein, nicht nur Angst oder Unsicherheit in ihrem Blick gesehen zu haben, was auf diese Situation gemünzt war. Natürlich wusste er, dass es in einer völlig anderen Situation vor einigen Wochen noch umgekehrt war.



    Der Geflüchtete, der von dem Ex-Pärchen gestellt worden war, hatte sich auf der Autofahrt im MEK-Fahrzeug erholt. Langsam, mit grimmigen Gesicht, trottete er vor einigen Streifenbeamten in die Dienststelle der Autobahnpolizei, die die Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Waffenhändler geführt hatten. Die weiteren Verhafteten, scheinbar die Käufer der Waffe, wurden zum LKA gebracht, wo jener Sachverhalt getrennt geklärt werden sollte. Die Chefin war ebenfalls im Büro und schüttelte, angesichts des Ergebnisses ihre Beamten betreffend, wieder mal den Kopf. Ein Auto wieder in der Werkstatt, zwei Beamte sahen aus, als wären sie in einen Sturm im Wald geraten. Immerhin brachten sie auch ein positives Ergebnis mit, das jetzt geradewegs Richtung Verhörraum ging, zusammen mit Kevin und Ben.
    Wie immer setzte sich einer der beiden dem Verdächtigen gegenüber, der andere stand an der Wand... entweder hinter seinem Partner, oder gegenüber. Ben übernahm das Reden am Tisch, obwohl Kevin den Mann kannte, und noch vor dem Verhör die Akte besorgt hatte. "Benedikt Jecker, genannt "Benny"... hey, das ist ja fast ein Namensvetter.", las Ben vor und blickte sein gegenüber an, der über den Witz nicht lachen konnte. Kevin stand mit verschränkten Armen hinter Benny an der Wand.



    "Dicke Akte. Verdacht der Waffenschieberei, Verdacht der Prostituion, Verdacht der Geldwäsche...", las Ben nacheinander vor. "Richtig, Verdacht! Nur Verdacht, genau wie heute. Also kein Grund, mich hier festzuhalten.", knurrte der stämmige kräftige Mann und rasselte mit den Handschellen um die Handgelenke, die vor ihm auf dem Tisch ruhten. "Ha... Vorbestraft wegen Körperverletzung. Dazu Widerstand heute abend...", Ben blickte auf und grinste: "Ich glaube, wir haben doch einen Grund." Benny leckte sich zwischend mit der Zunge über die Lippen, als würde es helfen seine Aggressionen zu unterdrücken. Dabei rieb er mit der Fußsohle über den Boden, wie ein Pferd das losgelassen werden wollte.
    "Also, wir können die ganze Sache jetzt kurz und schmerzlos machen... du erzählst uns, was ihr für einen Deal gedreht habt, was ihr mit den drei Hanseln auf dem LKW zu tun habt, und wer in eurem Wagen saß... und dann können wir sicherlich was dran drehen, dass du in zwei Stunden in der Stadt zum Frühstück kannst." Der Verbrecher lachte auf: "Du bist wirklich lustig. Glaubst du wirklich, ich falle auf irgendwelche Deals von euch rein?", sagte er und lehnte sich zurück. Hätte er keine Handschellen an, würde er wohl abwehrend die Hände vor der Brust verschränken.



    Es klopfte und Semir streckte den Kopf rein. Kevin, der direkt neben der Tür stand, beugte sich zu ihm, damit er hörte was der erfahrene Kommissar im leise ins Ohr sagte: "Sie haben keine Waffen im LKW gefunden. Scheinbar ging der Deal noch nicht über die Bühne. Nur 3.000 Euro hatten die Typen dabei, die das MEK festgenommen hatte." Eine derart geringe Summe für einen Waffendeal bedeutete, dass man keinem besonders großen Deal aufgelauert war. Kevin nickte und Semir schloß die Tür wieder. "Benny, was bekomme ich denn bei dir so für 3000 Euro, wenn ich ne Wumme brauche?", fragte der junge Polizist und Benny drehte sich zu Kevin um. "Vergiss es."
    Die Taktik des Schweigens, der Nichtaussage hielt Benny durch. Nach 20 Minuten sagte auch Kevin in Bens Richtung: "Das bringt nichts." Er kannte Benny, zumindest von früher. Auch da war er ein brutaler Sturkopf mit Unmengen krimineller Energien. Er öffnete die Tür einen Spalt und rief "Hotte, Dieter? Nehmt ihr ihn mal?", woraufhin die beiden Streifenpolizisten den Verbrecher Richtung Zelle abführten. Kurz vor der Tür zum Flur, blieb Benny nochmal stehen und sah zu Kevin: "Das wird ihm gar nicht gefallen. Und das weißt du." Kevin blickte auf und sah Benny wort- und ausdruckslos mit seinen kalten blauen Augen an...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • Dienststelle - 4:20 Uhr



    Gerade als Benny aus dem Verhörraum gebracht wurde, fasste Ben seinen Partner Kevin am Ärmel. Natürlich hatte er mitbekommen, was der Verbrecher zwar leise, aber deutlich hörbar Kevin zugeraunt hatte. "Was war das denn?" Der junge Polizist sah seinen Kollegen mit der Wuschelmähne beinahe unschuldig an. "Was meinst du?" "Was der Kerl da gerade gesagt hat. Was wird wem nicht gefallen?" Zur Antwort bekam er zunächst nur ein Schulterzucken, dann bequemte Kevin sich auch zu ein paar Worten. "Keine Ahnung."
    Ben hätte schon wieder durchdrehen können. Er kannte Kevin jetzt anderthalb Jahre und langsam wurde der Polizist für ihn zum offenen Buch, zu oft hatte er schon den Unwissenden gespielt und Dinge vor seinem Partner verheimlicht. Gerade, als Kevin sich zum Flur drehen wollte, packte Ben wieder zu und zog seinen Partner zurück in den Verhörraum. "Sag mal...", protestierte Kevin sofort und schüttelte unter Kraftanstrengung seinen Arm frei, doch Ben unterbrach die aufkommende Beschwerde. "Du schwindelst mich doch schon wieder an. Kevin, hör auf damit!" Die Stimme des eigentlich immer gut gelaunten Polizisten wurde beinahe unterschwellig drohend. Manchmal konnte Kevin ihn mit seiner Geheimniskrämerei, seiner Verschlossenheit in den Wahnsinn treiben.



    Auch Kevin seufzte... natürlich wurde er immer durchschaubarer, je länger er mit Ben und Semir zusammenarbeitete. Und vielleicht hätte er Ben vor einigen Monaten reinen Wein eingeschenkt und ihm von seiner Vermutung, den mehr war es nicht, erzählt. Doch das Verhältnis zwischen ihnen war nicht mehr das von vor einigen Monaten. Es war, seit sie wieder zusammen arbeiteten, geprägt von latentem Misstrauen, das niemand klar zum Ausdruck brachte. Sie arbeiteten zusammen, sie redeten zusammen und scherzten auch. Doch jetzt, an diesem Punkt, zeigte sich ihre Zerrüttung und ihre unsichtbare Distanz. Der Eisblock, die Mauer die Kevins Seele umgab, schon als er zur Autobahn gekommen war... er hatte sie wieder aufgebaut und sie schien stärker als jemals zuvor. "Ben, wenn ich es dir doch sage, ich habe keine Ahnung, was er damit meint.", wiederholte der Polizist ohne die Stimme zu heben.
    "Du kennst den Typen von früher, das hast du selbst gesagt.", stellte Ben klar. Ja, das hatte Kevin gesagt. Bei den Ermittlungen war ihm der Name aufgefallen, und er hatte in dieser Sache Jenny ins Vertrauen gezogen. Es schien ihm nicht schädlich. Später war es dann natürlich auch Thema für Semir und Ben, und Kevin erinnerte sich noch an die Blicke des erfahrenen Polizisten, die er mit Ben austauschte. Er fühlte sich wieder an seine Anfangszeit bei der Polizei zurück erinnert. Ein Polizist, der Leute aus dem kriminellen Umfeld kannte, bedeutete Misstrauen. Semir hatte ihm das in den Anfangstagen bei der Autobahnpolizei niemals spüren lassen. Jetzt schon...



    "Ja und? Das habe ich euch doch erzählt.", sagte Kevin in aller Seelenruhe. "Und du hast überhaupt keine Idee, was er damit meinen könnte? Welchen Hintergrund dieser Satz hat?", hakte Ben weiter nach und seufzte, als Kevin erneut den Kopf schüttelte: "Nein, weiß ich nicht. Benny ist ein Großmaul, vielleicht denkt er, er könnte mir mit so einer Drohung Angst machen. Er weiß, dass ich auch noch andere Leute kenne, Leute die mich kennen." Ben war mit dieser Antwort nicht zufrieden. "Und wer sind diese anderen Leute?" Es kam ihm beinahe so vor, auch wegen ihrer Umgebung, dass Ben Kevin verhören würde. "Willst du ne Liste haben von den Leuten, mit denen ich in meiner Jugend Kontakt hatte, und die jetzt auf der Gegenseite stehen?", fragte Kevin sarkastisch, aber immer noch ruhig, was Bens Puls steigen ließ.
    Das spürte auch der junge Polizist, und er konnte sich nach wenigen Wochen, die er wieder da war, keinen Streit leisten. Er log Ben auch nicht an... er schwindelte höchstens ein wenig. Er wusste wirklich nicht, was Benny mit dem Spruch meinte. Aber einen Verdacht hatte er. Mehr aber nicht. "Ben, ehrlich. Ich weiß nicht, was Benny damit gemeint hat. Der Kerl ist ein Schwätzer. Lass uns lieber unsere Arbeit tun, damit der Typ nicht heute nachmittag wieder aus der Zelle spaziert." Mit diesen Worten verließ er nun endgültig den Verhörraum, während Ben mit verschränkten Armen an den kleinen Tisch gelehnt, im Raum blieb und sich auf die Lippen biss. Er spürte, dass Kevin nicht ehrlich war, und er hätte schreien können darüber. Dass ihr Vertrauen, das sich mühsam aufgebaut hatte, scheinbar wieder kaputt war. Er wollte doch nichts sehnlicher, als mit Kevin so gut und eng zu arbeiten und befreundet zu sein, wie mit Semir. Ihm bei seinen Problemen, die er immer noch hatte, zu helfen. Aber der schweigsame junge Mann ließ es nicht zu.
    Als Semir am Raum mit einer Tasse Kaffee vorbeikam, bemerkte er die offene Tür und sah seinen Partner darin. "Was ist los? Brauchst du ne Pause?", fragte er grinsend. Er hatte den Nebenraum kurz vor dem Ende des Verhörs verlassen, als klar war, dass nichts dabei herauskam. Ben stieß sich vom Tisch ab und ging an Semir vorbei, wobei er sagte: "Ich weiß nicht, ob das alles so ne gute Idee war." Damit meinte er Kevins Rückkehr... doch er sagte es nicht. Und er hörte nur ein fragendes "Hä?" von seinem Partner, der ratlos auf dem Flur stehenblieb.



    Kevin ging mit der Akte in der Hand zurück in sein Büro, wo ihm als erstes der schlanke hübsche Nacken seiner Ex-Freundin ins Auge sprang. Jenny saß an ihrem Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür und hatte das Gesicht in ihren Händen vergraben. Es schien, als sei sie völlg erschöpft, als würde sie nachdenken oder... weinte sie etwa? "Jenny?", fragte er zaghaft und legte eine Hand auf ihre Schulter, wobei sie erschrak. Sie sah auf, blickte mit ihren Augen zu Kevin hoch und nickte. "Ist alles okay?" "Ja... sorry, ich... ich hab grad nachgedacht." Ihr Blick war klar, keine Rötung um ihre Lider... nein, geweint hatte sie nicht. Der junge Polizist ging um den Tisch und setzte sich auf seinen Stuhl, wobei er Jenny ansah, die irgendeine Akte von einem Stapel auf den anderen legte.
    "Und über was hast du nachgedacht?" Wieder blickte die junge Frau auf. "Nichts wichtiges.", gab sie schnell zur Antwort, und Kevin kam sich in vertauschten Rollen vor, als noch vor 5 Minuten. Und plötzlich konnte er jedes Wort von Ben nachvollziehen. "Ist es die Situation eben? Im Wald?", sprach er den wunden Punkt an. Natürlich hatte er Jennys Gesichtsausdruck gesehn, der mehr ausdrückte als nur Unsicherheit darüber, ob sie es riskieren sollte, abzudrücken oder nicht. Mit seinen hellblauen Augen sah er die junge Frau an, und sie spürte auf einmal wieder das, was sie damals zu Kevin hingezogen hatte... diese Stärke, die Unerschütterlichkeit, die er perfekt simulierte, an die sie sich anlehnen konnte, den Fels in der Brandung.



    "Das... das hat sich so surreal angefühlt. Ich hatte das Gefühl, ich ziele auf dich... so wie ... so wie du...", sagte sie unsicher. Unsicher darüber, dass Thema überhaupt anzusprechen. Seit Jenny wieder auf der Dienststelle war, hatten sie über die Situation im Keller keine Worte mehr verloren. Aber es stand immer noch zwischen ihnen. "Das ist mir sofort in den Sinn gekommen." Kevin nickte, und er konnte es verstehen. Jede ähnliche Situation würde in Jenny diese Flashbacks hervorrufen, aber damit musste sie klar kommen. "Ich meine, was hättest du in meiner Situation gemacht?" "Ich weiß nicht... wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre, hätte ich vermutlich auch nicht geschossen, aus Angst dich zu gefährden.", sagte Kevin. Vor allem wollte er Jenny aber das Gefühl nehmen, dass es falsch war, nichts zu tun. Denn er merkte, dass sie sich Vorwürfe machte.
    Sie schwiegen für eine Zeitlang, und Kevin hatte die Akte von Benny aufgeschlagen. Jenny starrte auf den Monitor, ohne etwas zu lesen, was darauf stand. Sie spürte gerade ein inniges Gefühl der Geborgenheit, hier mit Kevin allein im Raum. Ein Gefühl, das sie lange nicht hatte und deswegen die Situation nutzen wollte. "Es... es tut mir leid, dass ich dich damals an meiner Tür einfach so... abserviert habe.", sagte sie leise und ihr Ex-Freund blickte von der Akte auf. Was sollte er dazu sagen? Sie hatte ihm, wenn auch verständlicherweise, das Herz ausgerissen und vor die Füße geworfen. Er wollte nicht sagen, dass es okay ist... dass es nicht so schlimm war. Es war schlimm. "Entschuldigung angenommen. Das war ne blöde Situation für uns beide. Ich hätte da vielleicht etwas abwarten sollen...", sagte er lächelnd und es wurde ihm warm ums Herz, als er auch Jennys Lächeln sah.
    Dann blickte er wieder auf die Akte von Benny. Er las sein Vorstrafenregister, seine Adresse und seine Arbeitsstelle. Sein Verdacht bestätigte sich, sein Lächeln gefror und er fuhr sich mit einer Hand durch die abstehenden Haare. Benny hatte zuletzt als Türsteher im Charmin, einer Nobel-Shisha-Bar gearbeitet. Kevin kannte diese Bar... und seinen Eigentümer.

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  • Villa in Köln - 7:30 Uhr



    Liane und Marlene stürzten zu ihrem Papa ins Schlafzimmer, bevor die Zwillinge zur Schule gingen. "Tschühüüüüs!", riefen sie laut, umarmten ihren Vater, der blinzelnd im Bett lag, es aber noch schaffte seinen beiden süßen Töchtern noch einen Kuss auf die Wangen zu geben. "Na kommt, wir kommen zu spät.", rief eine Frauenstimme aus dem Untergeschoss, die Anis Edhem Bourgiba nur zu gut kannte. Sie gehörte zu seiner Frau Anna, gleichzeitig die Mutter seiner beiden Kinder, die die beiden jetzt zur Schule brachte. Anis selbst gähnte und wusste, dass er jetzt nicht mehr einschlafen würde... also konnte er auch aufstehen. Er ging langsam nur in Boxershorts ins luxuriöse Bad, duschte sich, verzichtete auf das Stutzen seines Barts und befand, dass seine Haare auf dem Kopf langsam ausser Kontrolle gerieten. Trug er sie oberhalb länger, begannen sie sich zu locken. An der Kopfseite trug er sie stets kurz rasiert... wie früher.
    Er zog sich bequeme Sachen an, weil er den Vormittag immer zu Hause verbrachte. Zunächst kochte er sich einen Tee, original aus seiner zweiten Heimat Tunesien. Anis war als Sohn eines Tunesiers und einer Deutschen in Deutschland geboren, hatte seine Wurzeln aber niemals vergessen, vor allem weil er noch Verwandtschaft in Tunesien hatte. So oft es ging, schickte er Geld in die Heimat.



    Während er das heiße Getränk langsam zu sich nahm und sich dabei an der Küchentheke niederließ um auf seinem Tablet die Zeitung zu lesen, fiel ihm sein Handydisplay ins Auge. Drei Anrufe in Abwesenheit. Seine eigentlich, bis dahin gute Laune, sank ein wenig. Wenn Kamil ihn vor halb neun anrief, dann war es dringend. Und wenn es dringend war, dann war etwas Schlechtes passiert. Aber der morgendliche Tee und das Lesen der Zeitung war wie ein heiliges Ritual für Anis, und das ließ er sich jetzt nicht nehmen. Erst danach wählte er Kamils Nummer.
    "Hey Anis.", meldete sich die wohlbekannte Stimme, und der bärtige Mann erkannte sofort die Niedergeschlagenheit seines Freundes. "Kamil, Bruder. Was geht ab? Was ist passiert? Du weißt doch, dass ich vor halb 9 normalerweise nicht aufstehe." Dabei tappste er mit nackten Füßen und Jogginghose von der Küche ins Wohnzimmer, um sich dort auf seine Couchgarnitur zu setzen. "Ja, Mann. Sorry, aber es ist dringend." "Also, was ist los? Du klingst nicht gut." "Der Deal heute nacht. Er ist schiefgelaufen." Natürlich waren es schlechte Nachrichten. Wenn Kamil vor halb neun anrief, waren es meist schlechte Nachrichten, die er so schnell wie möglich von sich wegschieben wollte. Anis nahm das Handy vom Ohr, sah kurz zur Seite und ließ einen zischendes "Fuck" durch die Zähne.



    Danach nahm er wieder Kontakt zu Kamil auf. "Wie konnte das passieren? Mann, Alter... das war ein scheiss normaler Deal. Drei Knarren ohne Herkunftsnachweis für ein paar Straßenräuber, oder was weiß ich was die waren. Alter, da bin ich einmal nicht dabei..." Dabei übertrieb der Mann eigentlich, denn die Häufigkeit dass seine Geschäfte schiefgingen, konnte man getrost als "überaus selten" beschreiben. Nicht umsonst hatte er es, von einem kleinen Dealer in seiner Jugend in einer Straßengang zum Kopf einer kriminellen Organisation geschafft. Waffen- und Autoschieber, Drogenhandel und Prostitution... in dunklen Kreisen gab es nichts, was Anis Edhem Bourgiba nicht möglich machen konnte, gegen das entsprechende Entgelt.
    Kamil erklärte in kurzen, stockenden Sätzen was passiert war. "Zetti ist allein zurückgekommen. Er wäre den Bullen knapp entwischt. Aber Benny haben sie gekriegt." Anis schüttelte resignierend mit dem Kopf. Zumindest war er sich sicher, dass von Benny keine Gefahr für ihn ausging. Einige Staatsdiener, Polizisten und Anwälte, standen sowieso auf seiner Lohnliste. "Dr. Breyer war vor einer Stunde schon bei ihm. Und... naja... der Name des Polizisten, der bei dem Zugriff beteiligt war, dürfte dir vielleicht bekannt vorkommen.", sagte Kamil unsicher. "Wer? Ich hab kein Nerv für Ratespielchen." "Kevin...". Anis Gesichtsausdruck wandelte erst in Verblüffung, dann grinste er. "Kevin... der liebe nette Kevin. Was für ein Zufall..."




    Dienststelle - 7:45 Uhr



    Anna Engelhardt schaltet den Monitor an ihrem Platz aus, griff sich ihre Handtasche und Jacke, um Feierabend zu machen. Nachtschichten war sie nicht mehr gewöhnt, und sie wollte sich auch nicht mehr dran gewöhnen. Heute war eine absolute Ausnahme bei dem Einsatz, weswegen sie jetzt auch so schnell wie möglich den Platz räumte. Man hatte noch eine Nachbesprechung, danach verschwanden ziemlich schnell Jenny, Ben und Semir ebenfalls in Richtung Zuhause. Nur ein junger Mann mit abstehenden Haaren saß noch hinter seinem Monitor und schien recht konzentriert, wenn auch mit müden Augen, irgendetwas nachzulesen, was dort geschrieben stand. "Wollen sie nicht auch so langsam Feierabend machen?", fragte die Chefin, als sie in der Tür des Büros stand. "Ja, mach ich gleich.", meinte Kevin höflich lächelnd, mit den Gedanken aber nicht ganz anwesend. Anna Engelhardt nickte, wünschte einen schönen Tag und verschwand nach draussen, wo die Morgensonne den neuen Tag längst begrüßt hatte.
    Kevin gähnte. Er hatte sich die Akte von Benny nochmal genauer angesehen, denn vor dem Einsatz hielt er das nicht für nötig. Aus den Telefongesprächen wusste er, dass er bei dem Deal dabei war, und das sagte er auch bei der Besprechung, dass Benny kein Unbekannter für ihn war. Und dass er ihn auf jeden Fall erkennen würde, und ungefähr wisse, wie er tickte. Aber er traute Benny eigentlich zu, dass er sein eigener Herr in seiner Berufsgruppe war... und kein Laufbursche. Schon gar nicht von Anis.



    Gerade als er den Monitor abgeschaltet hatte und entschloß, auch den Feierabend anzutreten, klingelte sein Handy. Aud dem Display stand "Unbekannt", und Kevin meldete sich mit einem kurzen "Ja?" Die Stimme in akzentfreien Deutsch, aber immer einem leichten Anflug von Jugendslang, den er sich nie abgewöhnen hat können (oder wollen), klang durch den Hörer. "Kevin... Alter, was geht?" Eigentlich hätte er es sich denken können... aber dass es so schnell ging, bis Anis sich bei ihm meldete, überraschte ihn doch etwas. "Bis gerade gings noch gut.", war die, typisch kurze Antwort des schweigsamen Polizisten. "Du warst schon lange nicht mehr bei mir. Magst du mich nicht mehr?", klang Anis' Stimme gespielt beleidigt. "Ich hab dich noch nie gemocht, Anis... das weißt du genau." Kevins Stimme verriet, dass er nicht zu Scherzen aufgelegt war.
    "So kenn ich dich, Junge. Aber du weißt auch bestimmt, warum ich dich anrufe." Der junge Polizist seufzte und versicherte sich mit einem kurzen Blick, dass die Bürotür geschlossen war. "Ich kanns mir denken." "Alter, wie kommst du darauf meinen Türsteher zu verhaften? Jetzt hab' ich heute abend wahrscheinlich nur Penner in meinem Laden. Oder hast du vielleicht heute Abend Zeit? Kleiner Nebenverdienst, hmm?" Der junge Polizist fuhr sich genervt durch die Haare. Wäre irgendein unwichtiger Vogel am Handy, würde er jetzt vermutlich auflegen.



    "Komm zum Punkt. Dein Lakai hat mir schon geflüstert, dass du nicht erfreut sein wirst. Er sollte das vielleicht nicht vor meinen Kollegen tun, sonst bekomme ich blöde Fragen gestellt." Für einen Moment blieb es stumm in der Leitung. "Und du weißt, dass ich blöde Fragen nicht mag.", setzte er hinzu. Damit hatte er Anis sofort auf einem Fuß erwischt, den der gar nicht mochte... wenn seine Mitarbeiter zuviel plapperten. Und dafür war Benny nicht unbekannt. Aber das war jetzt auch egal. "Kevin, pass auf. Benny ist ein guter Kerl, und nicht ganz unwichtig für mich. Nicht nur als Türsteher, verstehst du? Deswegen wäre es ein feiner Zug, wenn er nicht ganz so lange in U-Haft versauern würde für diese lächerliche Scheisse." Kevin musste grinsen und schüttelte den Kopf. "Vergiss es. Such dir jemand anderen."
    "Ach, du enttäuschst mich. Das klang früher, wenn ich mit Tütchen geraschelt habe und du Zack noch nicht in den Anus gekrochen bist, aber ganz anders, Alter. Und du weißt auch, dass jeder Mensch erpressbar ist." "Ich war nie erpressbar für dich, wir waren höchstens Geschäftspartner.", stellte Kevin klar, und ihm ging das Gespräch zunehmend auf die Nerven, denn aus seiner Sicht führte es ins Nirgendwo. Ausser, dass das Weiterverfolgen des Waffendeals vermutlich hier beendet war. "Die Betonung liegt auf WAREN.", setzte er hinzu. Beinahe konnte er durch das Telefon spüren, wie die Lockerheit aus Anis' Miene wich. "Du kannst dich doch bestimmt erinnern, dass ich solche menschlichen Enttäuschungen schon vor 10 Jahren nicht gemocht habe.", sagte er und obwohl Kevin nicht den Hauch von Angst verspürte, verspürte er aber eine Beklemmung in sich drin. "Ich kann mich auch erinnern, dass du vor 10 Jahren schon den gleichen Tee wie heute trinkst. Vielleicht hängts daran." Danach beendete er das Gespräch... und zahlreiche Erinnerungen fluteten seinen Verstand...

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  • Raststätte - 7:45 Uhr



    Die Vermutung der Chefin, dass ihre Mitarbeiter nach der anstrengenden Nachtschicht schnell den Weg nach Hause antreten würden, war nicht ganz richtig. Nachdem Semir sich bereits in den Feierabend, und gedanklich bereits ins warme Bett verabschiedet hatte, hielt sein Partner ihn auf dem Parkplatz am Ärmel fest. "Lass uns noch frühstücken gehen. Ich lade dich ein.", sagte Ben lächelnd, und sein bester Freund stimmte zu. Wenn Ben mal einlud, durfte man das nicht abschlagen. Ausserdem hatte der einfühlsame Kommissar bereits eine leise Ahnung, dass mehr hinter dem Frühstück stand, als einfach nur Hunger und die Angewohnheit, dass man seinen besten Freund hin und wieder einlud, was Semir auch tat.
    Semirs Ahnung bestätigte sich schon, als sie sich an ihren Stammplatz in der Autobahnraststätte setzte, die nur wenige Kilometer von ihrer Dienststelle entfernt war. Denn Ben erzählte ihm sofort von dem kleinen Schlusssatz, den dieser "Benny" Kevin an den Kopf geworfen hatte, und dessen ablehnende und spielend unwissende Haltung gegenüber seinem Partner. Die Erklärung für Bens Satz an Semir nach dem Verhör, den Semir genauso wenig einordnen konnte.



    "Du glaubst also, dass Kevin uns mal wieder etwas verheimlicht?", fasste Semir zusammen und rührte in seinem heißen Kaffee, der zusammen mit Brötchen und einer Aufschnittplatte für die beiden Kommissare gekommen war. Sein Partner hatte die Ellbogen auf dem Tisch aufgestützt, beide Hände verflochten und das Kinn darauf gelegt. "Ich weiß nicht. Vielleicht werde ich mittlerweile paranoid, wenn Kevin mir etwas erzählt und ich es anzweifle... aber..." Er seufzte. Ben spürte, wie tief der Graben zwischen ihm und seinem Freund war, wie sehr er ihm misstraute. Obwohl er es nicht wollte, und obwohl er sich vorgenommen hatte so unvoreingenommen Kevin gegenüber zu treten, wie zu Beginn ihrer Zusammenarbeit. Egal, was zwischen ihnen vorgefallen war.
    Doch schon jetzt wurde es auf eine Probe gestellt. Nachdem Semir so misstrauisch war, als seine Tochter verschwand und er Kevin verdächtigte und sich dieses Misstrauen als falsch herausgestellte hatte, war der erfahrene Kollege wieder ein wenig geeicht und stellte voreilig nichts mehr in Frage. Gesundes Misstrauen ja - vorschnelles Verurteilen nein. Es war so etwas wie eine Lehre. Kevin war einfach kein schlechter Kerl... aber er war nach wie vor undurchschaubar. Man sollte ihm nicht misstrauen, man durfte ihm nicht vertrauen. Es war schwierig.



    "Also irgendjemand findet es nicht gut, dass Kevin Benny festgenommen hat. Mal von der Frage abgesehen, wen Benny damit gemeint hat... warum sollte es Kevin interessieren, dass es jemand nicht gut findet?" Semir angelte sich beim Reden zwei Scheiben Salami und legte sie sich aufs Brötchen. "Ich meine, dass Bennys Boss es nicht gut findet, wenn der verknackt wird, ist ja logisch. Aber warum soll Kevin das wissen?" "Weil Kevin den Boss kennt.", antwortete Ben auf die Frage seines Partners. Abwegig war das nicht, hatte Kevin doch noch einige Kontakte als ehemaliger Krimineller in Jugendzeiten. Dass der junge Polizist auch gegen Bezahlung in Form von Drogen manche Razzia dem Betreiber des Schuppens angekündigt hatte, wussten die beiden jedoch nicht.
    "Mal angenommen, Kevin kennt Bennys Boss und der macht extra darauf aufmerksam, dass dieser nicht glücklich über die Festnahme ist... bedeutet das, dass er Kevin damit Angst machen möchte? Also das, was auch Kevin selbst gesagt hat obwohl er angeblich nicht weiß, wer dahinter stecken soll.", spinnte der jüngere Polizist den Gedanken weiter, während Semir zustimmend nickte und fortfuhr: "Oder verstößt Kevin gegen eine Abmachung."



    Ben blickte zu Semir auf. "Abmachung?" "Das ist nur so ein Gedanke. Vielleicht haben er und Bennys Boss noch Kontakt miteinander." Ben wusste, dass Semir sowas nicht aus Bosheit sagte, sondern nur weil er jeden möglichen Gedanke abklopfte, deshalb schob er auch gleich hinterher: "Aber ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass Kevin in den Kreisen noch so tief drinhängt. Er nimmt keine Drogen mehr seit Becker tot ist... warum sollte er noch irgendwelche Geschäfte machen." "Du glaubst ihm also, dass er keinen blassen Schimmer hat, warum Benny ihm diesen Gruß hinterlässt?", fragte Ben und biss in sein Brötchen. Semir dachte kurz nach.
    "Ich sag es mal so... ich glaube ihm, dass er nicht weiß, was genau hinter dem Gruß steckt. Aber ich denke, dass er genau weiß, WER hinter dem Gruß steckt. Und dass er uns das nicht sagen will." "Aber warum nicht? Warum dieses Geheimnistuerei. Wir bekommen es doch eh raus, wenn wir wollen. Und wenn er keine Geschäfte mit dem Typ laufen hat, dann kann er uns doch reinen Wein einschenken. Dass er einige in der Unterwelt kennt, und einige ihn kennen, wissen wir doch eh.", fragte Ben.



    "Tja, das kann er uns nur selbst beantworten.", sagte Semir schulterzuckend. "Wird er aber nicht.", grummelte sein Partner und lehnte sich zurück. Er fühlte sich immer noch nicht wohl bei dem Gedanken, dass Kevin ihnen etwas verheimlichte, abblockte und sie aus seiner Gefühlswelt wieder ausschloß. Sein erfahrener Partner sah ihm die Gedanken an. "Wir sollten nicht wieder den Fehler machen, und Kevin dafür verfluchen. Er ist nun mal wie er ist. Er braucht Vertrauen, und das hat er momentan nicht. Bis das wieder so ist, dass er uns sowas erzählt, wird es dauern.", erklärte er, und war mittlerweile, nach all dem was passiert war, bereit dieses Vertrauen wieder aufzubauen. Etwas, an das er vor einigen Wochen nicht mal dachte.
    "Das wird Zeit brauchen. Und solange müssen wir einfach akzeptieren, dass er sich verschließt." Ben nickte und war wie so oft beeindruckt über Semirs Weitsicht. Er trank den letzten Rest seines Kaffees und meinte: "Vielleicht lässt er Jenny eher wieder in sein Innerstes und vertraut ihr etwas an..."

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  • Erik Peter's Club - 9:00 Uhr



    Es war recht dunkel im Ausschankraum des Clubs in einem der "Vergnügungszentren" der Kölner Innenstadt. Die Gegend hatte nicht den besten Ruf, war er doch in den Diskotheken, Bordells und Clubs der Hauptumschlagplatz für Drogen und illegale Prostitution. Auf jeden Club in dieser Gegend hatte die Polizei ein Auge geworfen, mal mehr, mal weniger. Erik Peters hatte immer versucht, seinen Laden so sauber wie möglich zu halten. Türsteher, die selbst Drogen nahmen, waren für ihn tabu. Seine Mitarbeiter waren angewiesen, hin und wieder Taschen zu durchsuchen und zumindest harte Drogen wie LSD, Haschisch oder Kokain sofort aus dem Laden zu verbannen. Wurde mal ein wenig Gras gefunden, drückte er zwei Augen zu.
    Der Mann, im Moment Ende 50, saß an einem der Tische und machte Kassensturz von der letzten Nacht. Der Laden lief durchweg gut, den Clubs starben nie aus. Die Menschen gingen, trotz Facebook und Twitter, immer noch gerne raus. Musik, high sein und Alkohol trinken, sowie ein Schäferstündchen mit einer netten Dame in den oberen Zimmern ließen sich online eben nicht ersetzen. Und so lächelte Erik zufrieden mit einer filterlosen Zigarette im Mund und einem Schluck Whisky vor dem Schlafengehen, als er die Nachteinnahmen in einer Kassette einsperrte.



    Er hatte den Laden vor 20 Jahren bereits gekauft und nach seinen Wünschen ausgebaut. Vorher war der Mann vor allem im Zuhältergeschäft tätig, und hatte einige Jahre ein kleineres Bordell auf der Hamburger Reeperbahn. Doch die Sitten dort wurden ihm zu heftig. Zu dieser Zeit leistete er sich auch privat zwei Fehltritte, die in zwei Kindern endeten, die im Abstand von drei Jahren zur Welt kamen. Die Mütter verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren und Erik war mit der Situation einerseits überfordert, andererseits hatte er auch keinerlei Interesse an den Kindern. Mehrmals versuchte er erst den Jungen, später auch das Mädchen zur Adoption freizugeben, doch das Amt erkannte seine Gründe nicht an. Er war berufstätig, hatte einen festen Wohnsitz und sollte sich, verdammt nochmal, kümmern.
    Hilfe bekam er später von einem Transvestit-Künstler, Kalle, der in seinem damaligen Laden verkehrte und mit ihm zusammen als Geschäftspartner nach Köln ging. Er nahm sich zumindest zur Tageszeit den beiden Kindern an und bot ihnen ansatzweise ein Zuhause. Während der junge Kevin früh in seiner Jugend auf die schiefe Bahn, an Jugendgangs und Drogen geriet, schaffte Kalle es die jüngere Janine davon weitestgehend fernzuhalten, auch wenn ihr Bruder und dessen "Welt" das Mädchen faszinierte. Doch im Gegensatz zu dem Träumer Kevin war sie bereits im Teenager-Alter sehr geerdet. Mit 15 wurde sie allerdings traurigerweise vergewaltigt und ermordert. Nachdem Erik Peters seinem 18jährigen Sohn daran die Schuld gab, zerbrach das sowieso sehr problematische Verhältnis zwischen ihnen komplett.



    Der Mann, mit den dunkelbraunen Haaren die er im Nacken recht altmodisch etwas länger trug und somit das perfekte Klischee-Bild eines Club-Besitzers alter Schule abgab, stellte gerade das Whisky-Glas in die Spüle und drückte die Zigarette in den Aschenbecher aus, als die Eingangstür des Clubs aufschwang, die er noch nicht abgeschlossen hatte. Ein Mann mit Bart und lockigen dunklen Haupthaaren trat in das schummrige Ambiente und blickte direkt in die kaltblauen Augen des Besitzers. "Entschuldigen sie, aber wir haben geschlossen.", sagte Erik und das Glas, das er auf die Spüle stellte, klirrte ein wenig, so dass man es im ganzen Raum hören konnte.
    "Das macht nichts, Herr Peters. Ich wollte zu ihnen.", sagte der Mann mit sanfter, dunkler Stimme und trat herein. Jetzt trug Anis nicht mehr seine bequeme Jogginghose sondern eine moderne Jeans, Nike-Turnschuhe und einen modernen Kapuzenpulli. Er kleidete sich, wie ein Berufsjugendlicher, der seinen Stil nicht mehr geändert hatte, seit er 16 war, und so wirkte er manchmal jünger, als er eigentlich war. Dementsprechend erstaunt sah Erik Peters ihn an, als er ihm die Hand hin hielt.



    "Anis Edhem Bourgiba", stellte sich der Mann vor und Erik Peters sah den Mann mit kurzem Erstaunen an. Natürlich sagte ihm der Name etwas... zumindest der Nachname. Er stand für eine Art Clan in Kölns Unterwelt, für Drogenhandel und Schutzgelderpressung. Und er stand ein wenig für die Vergangenheit seines Sohnes. Vor einigen Jahren kamen schon einmal Männer von Bourgiba zu ihm, und Erik Peters erwähnte den Namen seines Sohnes, der damals bereits bei der Polizei war. Anis und Kevin kannten sich von früher, und seitdem war der Club-Besitzer von jeglichen Schutzgelderpressungen aus dem Bourgiba-Clan verschont geblieben. "Was kann ich für sie tun?"
    "Wie gehts ihrem Sohn?", fragte Anis recht scheinheilig, während er durch den Raum ging und sich umsah, als wolle er den Laden kaufen und schaute sich alles ganz genau an. "Gut, denke ich. Ich habe ihn schon ein paar... ähm, Wochen nicht mehr gesehen." In Wahrheit hatten sie seit mehreren Monaten kein Wort mehr gewechselt, nachdem sie sich zufällig bei Kalle über den Weg gelaufen waren. Davor ging die Kontaktaufnahme hin und wieder mal von Erik aus, doch sein Sohn blockte total ab. Er wollte nichts mehr mit seinem Vater zu tun haben.



    Dass Anis den Laden von Erik Peters ausließ wegen Kevin, wusste der gar nicht. Dies wiederrum wusste aber der Vater des Polizisten, und schwindelte deswegen bei der Zeitangabe. "Ich wollte ihnen nochmal das Angebot unterbreiten, das ich vor einigen Jahren schon einmal getan hatte. So ein schöner Laden braucht Schutz, und den kann ich ihnen garantieren." Dabei setzte sich Anis auf einen der Drehstühle an die Bar, griff über den Tresen und nahm sich einen Jack Daniels. Erik biss sich auf die Lippen. "Ich... ich dachte, dass wir das damals schon geklärt hatten.", sagte er mit Hinblick darauf, dass sich Kevin und Anis kannten.
    "Hmm ja... nur leider hat ihr Sohn unser..." dabei besah sich Anis genau die dunkelbraune Flüssigkeit im Glas "unser Geschäftsverhältnis beendet." Dieser Wort betonte er besonders, so dass sich Eriks Kehle kurz zuschnürte und er schärfer als er eigentlich wollte, nachfragte: "Was haben sie mit Kevin gemacht?" Anis drehte sich auf dem Drehstuhl zu Erik, während seine dunklen Augen eher bedrohlich strahlten, lächelte er: "Nichts. Wir haben nur kurz heute morgen miteinander gesprochen."



    Für einen Moment blieb es mucksmäuschenstill im Raum, und die beiden Männer blickten sich an. In Eriks Kopf raste es... Kevin wusste nicht, was es für seinen Vater bedeutete, dass er diese ominöse Beziehung beendet hatte... er wusste nicht mal, dass sein Vater davon profitierte. Jetzt war er nur ein Club-Besitzer unter vielen, die an den Bourgiba-Clan Schutzgeld bezahlen mussten, wenn man nicht wollte dass ständig Schläger den Club verwüsteten, oder es zu anderen "Vorfällen" kam. "Ich... ich muss mir das mal genau überlegen.", sagte Erik Peters unsicher und nahm das, von Anis geleerte Glas um es wieder in die Spüle zu stellen.
    Dieser lächelte und nickte. "Tun sie das. Lassen sie sich ruhig Zeit... sagen wir, zwei oder drei Tage. Dann unterhalten wir uns über alles weitere." Wieder schüttelte er dem Club-Besitzer die Hand und verließ den Laden. Es trat ein, was er wollte... Peters würde seinen Sohn anrufen, und von diesem Treffen berichten. Danach wäre der Polizist sicherlich bereit, über Anis Bitte nachzudenken.
    Erik reagierte, wie Anis es sich ausrechnete. Seine Hand fuhr in die dunkelblaue Jeans und griff zum Handy, wo er immer noch die Nummer seines Sohnes gespeichert hatte, die er wieder und wieder von Kalle bekam. Es klingelte einmal, zweimal... dann ging die Mailbox ran. Der Club-Besitzer wusste, was das bedeutete... Kevin hatte ihn weggedrückt.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 14:00 Uhr



    Sie hatten sich zu viert bei der Chefin im Büro versammelt. Anna Engelhardt hatte ihre Mitarbeiter gebeten, am Nachmittag noch für ein paar Stunden Dienst zu machen, da die Personaldecke zur Zeit sehr dünn war, und man am nächsten Morgen wieder in den Rythmus kam. Ben und Jenny hatten drei Stunden, natürlich getrennt voneinander, auf dem Sofa verbracht, während Ben und Kevin das Vorschlafen vor dem Einsatz gereicht hatte. Ben ging seinem liebsten Hobby nach und klimperte um die Mittagszeit auf seiner Gitarre herum, während Kevin sich beim Sport auspowerte. Eine Stunde Laufen, eine Stunde Krafttraining mit lauter Musik in den Ohren.
    "Wenn wir Benedikt Jecker nur anklagen wegen Widerstand, wird er sich ins Fäustchen lachen. Vielleicht kriegt ihn ein guter Anwalt sogar auf Bewährung raus und wir alle wissen ja, was auf dem Rastplatz wirklich gelaufen ist.", sagte die Chefin, während ihre vier Mitarbeiter allesamt irgendwo im Büro Platz gefunden haben. "Gibt es denn gar keine Chance, ihn irgendwie zum Reden zu bewegen? Aussicht auf Strafmilderung etwa."



    Kevin schüttelte den Kopf und ergriff zuerst das Wort. "Benny wird nichts sagen. Der weiß ja, dass er bei seiner jetzigen Lage ganz leicht wieder rauskommt. Ausserdem ist er immer loyal zu seinem jeweiligen Boss gewesen." "Sie glauben also, dass er selbst noch jemanden über sich hat?" Diesmal nickte der junge Polizist. "Benny hat zwar Kontakte, aber er ist kein Anführer. Er hat ganz sicher im Auftrag gehandelt." "Ja, und zwar vermutlich in seinem Auftrag.", sagte Ben nun, der direkt am Schreibtisch der Chefin saß und eine Akte mitgebracht hatte. Er legte sie der Chefin vor, die sofort einen Blick darauf warf. Kevin erkannte das Gesicht auf Seite 1 sofort.
    Er hatte damals kürzere Haare, an den Seiten abrasiert und sein Bart war kurz und akkurat gestutzt. Ben hatte Benedikts Akte heute morgen aus Kevins Büro genommen und selbst noch einmal genauer durchgelesen. Eine kurze Recherche im Polizei-Netzwerk, zwei Anrufe bei den Drogen-Ermittlern und bei der LKA-Dienststelle für organisierte Kriminalität später hatte er den Eigentümer der Bar, in der Benny arbeitete, herausgefunden. Er war sich für einen Moment unsicher ob der Nachforschungen, doch Semir bestärkte ihn. "Wir ermitteln alle an dem Fall.", sagte er eben im Büro.



    "Anis Edhem Bourgiba ist eine recht große und bekannte Nummer in unserem Verein. Allerdings eine Nummer, die es immer wieder schafft, sich den Handschellen zu entziehen.", erklärte Ben, während die Chefin einige Zeilen der Akte las. Immer wieder wechselte Bens Blick zu Kevin, der an der Seite des Büros an die Glaswand gelehnt, stand und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Seine Miene blieb unbeweglich und ausdruckslos. Kein Zeichen der Verärgerung, der Verwunderung oder sonst irgendetwas. Kevin blieb undurchdringbar. "Man sagt ihm Kontakte in die Drogenszene, Prostituiertenszene und auch zum organisierten Verbrechen nach. Quasi alles, was Geld verspricht." Wieder ein Blick zu Kevin. "Es gab sogar mal Ermittlungen, weil einige Kollegen von uns auf seiner Gehaltsliste stehen sollen. Aber da ist nie etwas herausgekommen." Er spürte, wie ihn der Blick aus den kalten blauen Augen traf.
    Auch die Chefin sah nun zu Kevin, da sie ja wusste dass er zumindest Benny von früher kannte. "Kennen sie ihn?" Der junge Polizist sah einen kurzen Augenblick zu Boden. Es ging hier um Ermittlungen, und auch hier sah er keinen Grund, die Chefin anzulügen. Er versuchte für sich selbst den Balanceakt zwischen vertraulichem Arbeiten, und sich selbst nicht zu weit zu öffnen.



    "Ja, ich kenne ihn. Was Ben sagt, stimmt. Er hängt in allem Kriminellen drin, was hinter dunklen Club-Türen so passiert. Aber er ist ziemlich gerissen, jedoch nicht zu schade auch selbst bei gewissen Coups dabei zu sein." Ben war ein wenig überrascht, doch das brachte er nicht zum Ausdruck. Eigentlich hatte er erwartet, dass Kevin auf die Frage der Chefin mit einem Kopfschütteln reagiert. "Und warum schafft man es nicht, dem Kerl das Handwerk zu legen?", fragte Jenny von der schwarzen Leder-Sitzgruppe aus. Daraufhin zuckte der junge Polizist nur mit den Schultern: "Wie das halt bei den Köpfen ist. Er schickt andere vor, andere springen für ihn in die Bresche... oder er lässt sich einfach nicht erwischen."
    "Würden sie ihm Waffendeals zutrauen? Denken sie, das ist ein Teil seines Geschäftes?", fragte die Chefin, klappte die Akte wieder zu und schob sie zurück zu Ben, in dem es arbeitete. Sollte er jetzt und hier vor allen Kevin auf Bennys Andeutung ansprechen? Würde er es wieder unter vier Augen tun, im Vertrauen, würde er wieder eine Abfuhr bekommen. Es wäre zwar unangenehm für den jungen Polizisten, aber vielleicht würde er dann endlich mit der Sprache rausrücken. Oder hatte er ihm heute morgen etwa die Wahrheit gesagt? Ben entschied sich für die Konfrontation... so leid es ihm tat. Aber er hatte die Geheimnistuerei satt.



    "Könnte Benny diesen Anis gemeint haben, gestern?", fragte er direkt in Kevins Richtung, und die Blicke der beiden Männer trafen sich wieder. "Bei was? Er hat doch nichts gesagt.", war dessen Antwort und seine Stirn legte sich etwas in Falten. "Ich meine am Schluss... diese... naja, diese Drohung in deine Richtung. Dass "ihm" das gar nicht gefallen wird." Für einen Moment herrschte eisige Stille im Raum und Ben hatte das Gefühl, Kevins Augen würden sich einen Moment verengen... oder bildete er sich das nur ein? Semir strich sich mit den Fingern über die hohe Stirn und war erstaunt, dass Ben so offen Kevin darauf ansprach... vor den Kollegen, okay. Vor der Chefin empfand Semir das als falsch.
    Doch wieder kam nur ein Schulterzucken von dem schweigsamen Polizisten. "Keine Ahnung. Kann sein, dass er Anis gemeint hat. Aber den Hintergrund, warum und weshalb, weiß ich immer noch nicht." "Haben sie Kontakt zu diesem Anis.", fragte die Chefin genau die Frage, die Kevin nicht hören wollte. Denn nun musste er lügen... vorsätzlich. Denn egal, welchen Grund er der Chefin nun auf den Tisch legte, es war nicht duldbar dass ein Polizist privaten Kontakt zu einem Mann hatte, der bekanntermaßen eine große Nummer im organisierten Verbrechen ist. "Nein, habe ich nicht.", sagte er und die Chefin nickte.



    "Ich würde trotzdem vorschlagen, auch wenn sich dieser Anis schon mehrmals aus dem Netz gewunden hat... irgendwann macht jeder mal einen Fehler. Semir und Ben, sie fahren zu dieser Bar und sehen sich dort mal um, befragen ihn. Vielleicht sagt er ja etwas, was uns weiterhilft. Kevin und Jenny, sie verhören nochmals Herrn Jecker. Versuchen sie alles, ihn zum Reden zu bewegen... aber bitte im Rahmen der Genfer Konvention, Herr Peters.", endete sie scherzhaft, bevor sie die Versammlung auflöste.
    Während Kevin und Jenny in ihr Büro abbogen und damit ausserhalb der Hörweite von ihren beiden Kollegen kamen, beugte sich Semir zu Ben und sagte leise: "Das war nicht vertrauensfördernd..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Zelle - 14:30 Uhr



    Man hätte die Türen im kleinen Zellentrakt unter der Dienststelle mal ölen müssen... so wurde jeder Besuch zu den Gefangenen mit einem Quietschen der Haupttür angekündigt. Harald, der heute Wachdienst im zur Zeit sehr schlecht belegten Trakt hatte, schloß Kevin und Jenny die Tür auf, und gewährte ihnen eintritt. "Klopft einfach, wenn ihr wieder rauswollt.", sagte er und schloß zur Sicherheit hinter ihnen die Zellentür ab. Benny lag auf der unbequemen Liege in der Zelle, hatte die Arme hinterm Kopf verschränkt und sah genervt Richtung Kevin. "Die Betten hier sind beschissen." "Ja, in Ossendorf sind sie besser.", meinte Kevin sarkastisch und zog sich eine Zigarette aus der Hosentasche, die er anzündete und sich ein wenig von Jenny entfernte. In der Zeit als sie zusammen waren, hatte er fast geschafft, aufzuhören mit der Raucherei. Jetzt hatte er den Konsum wieder gesteigerte, und was er tagsüber im Vergleich zu früher weniger rauchte, machte er abends mit Joints wett.
    Benny lachte kurz auf, ob Kevins kurzer Bemerkung. "Als ob du wüsstest...", was Kevin nun zum Grinsen brachte und Jenny zu einer Gänsehaut. Natürlich wusste sie, dass Kevin auf den Gefängnisaufenthalt anspielte, zu dem er unschuldigerweise vor fast einem Jahr gekommen war.



    "Also...", wollte Jenny schon mit der Befragung beginnen, und wurde von dem Mann auf der Liege sofort unterbrochen. "Lass es, Schätzchen. Ich werde exakt die gleichen Antworten geben wie heute morgen.", versuchte er das Verhör möglichst kurz zu halten. "Hör auf mit dem Blödsinn.", sagte Kevin und kam zwei Schritte auf Benny zu, der sich nicht von der Liege wegbewegte. "Kennen sie einen Anis Edhem Bourgiba?", fragte die junge Polizistin unbeirrt dessen, was sie von dem Verbrecher an den Kopf geworfen bekam. Bennys Kopf drehte sich zu Kevin, die beiden Männer sahen sich einen Augenblick an. In seinem Blick an Kevin gerichtet lag ein: "Was soll die Frage... du weißt, dass ich ihn kenne. Und du kennst ihn auch!", doch es blieb unausgesprochen. "Ich arbeite für ihn, mehr weiß ich nicht über ihn." "Und was arbeitest du? Waffen schieben oder Türsteher?", fragte der Polizist rhetorisch und ein sarkastisches Grinsen legte sich über das Gesicht des Verbrechers. "Türsteher... NUR Türsteher."
    Die kurze Stille wurde von einem Handyklingeln unterbrochen. Jenny griff in ihre enge Jeans und sah kurz auf das Display. "Oh sorry... ich muss kurz rangehen.", sagte sie, klopfte zweimal an die Tür und bekam aufgeschlossen. Hinter ihr fiel die Tür wieder ins Schloß und Kevin kam diese kurze Pause sehr recht... fast wie ein Geschenk des Himmels.



    "Warum bist du so wichtig für Anis?", fragte er unvermittelt und der Gangster zog die Augenbrauen hoch. "Dein Spruch war richtig. Keine paar Stunden nach deiner Verhaftung ruft er mich an, erinnert an unsere alte Abmachung und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass du aus dem Knast kommst... warum?" Wieder grinste Benny und schaute verschwörerisch. "Das darf deine kleine Kollegin wohl nicht wissen, was? Der böse kriminelle Ex-Punk, der auch als Bulle nicht ganz sauber ist... steht wohl nicht so auf die Bad Boys.", alberte er und provozierte Kevin damit, der aber noch cool blieb. "Wenn du hier nicht versauern willst, würde ich ein bisschen kooperieren... also. Was hast du mit Anis am Laufen? Warum ist ihm ein Laufbursche wie du so wichtig, dass er hier ein Fass aufmacht?" Wieder spürte er das Vibrieren seines Handys in der Jeans, wie schon den ganzen Vormittag, und wieder drückte er das Gespräch weg.
    Benny winkte mit dem Finger den Polizisten heran und flüsterte: "Muss ja nicht jeder erfahren..." Mit misstrauischem Blick und jede Faser im Körper gespannt kam Kevin näher und beugte sich zu dem, immer noch liegenden Kerl herunter, der ihm jetzt leise ins Ohr flüsterte: "Weißt du... ich blase Anis jeden Tag zweimal einen. Und das vermisst er jetzt. Und ich mache das besser als deine kleine Freundin." Dann begann er zu lachen, wie ein kleiner Junge der einen schmutzigen Witz gemacht hat, während der Polizist sich langsam wieder aufrichtete und seine blauen Augen funkelten.



    So schnell, wie Kevin die Hände nach Bennys Kragen ausfuhr, konnte der Verbrecher gar nicht reagieren. Mit Wucht wurde er von der Liege hochgerissen, und ehe er sich versah, lag er eine Etage tiefer auf dem kalten, schmutzigen Zellenboden. "Du willst lustig sein, hmm? Du sagst mir jetzt sofort, was du für Anis arbeitest und komm mir jetzt nicht mit Türsteher oder Scheisshauslecker! Laufburschen ohne Hirn kriegt der an jeder Ecke! Warum will er dich so schnell wie möglich hier raus haben?", sagte Kevin mit bestimmter Stimme und hatte sich über Benny gebeugt, ihm ein Knie gegen den Magen gedrückt. Doch er wusste, dass Benny ein Sturkopf war und tief im Inneren wusste er auch, dass er so loyal war, dass er sich notfalls auch von dem Polizisten verprügeln lassen würde, und trotzdem den Mund hielt.
    Letztendlich war es aber Jenny, die dem Verbrecher zur Hilfe kam. Als sich der Schlüssel klickend wieder meldete und die junge Polizistin von Harald wieder reingelassen wurde, bot sich ihr ein groteskes Bild. Kevin über Benny, das Knie in den Magen gedrückt und die Hände fest am Kragen, während die beiden Männer sich ansahen. Benny grinsend, Kevin mit wütendem Blick. Der Unterlegene drehte den Kopf leicht zu der Polizistin. "Seit wann hat der so ein Temprament.", witzelte er immer noch.



    "Kevin, was machst du denn da?", fragte Jenny verwirrt und etwas empört. Ein plötzliches Ziehen machte sich in ihrem Bauch bemerkbar, als sie Kevins Blick bemerkte. Er war plötzlich wieder so fremd, so kalt und weckte Erinnerungen in ihr, die sie sofort wieder abschütteln wollte. "Lass doch, das bringt doch nichts.", klang sie schon versöhnlich, was dem Polizisten auch einleuchtete. Er zog den schweren Mann wieder hoch und schubste ihn zurück auf die Liege. Das Grinsen verlor dieser immer noch nicht. "Ich sag euch nichts mehr. Spart euch die Zeit." Dabei sah er besonders Kevin an, der plötzlich merkte wie sehr er in diesem Moment abhängig von Benny war. Würde der nochmals eine Bemerkung gegenüber dem Polizisten lassen im Bezug auf seine Beziehung zu Anis, hätte er mit Jenny noch eine misstrauische Kollegin. Ben reichte ihm schon...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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  • Charmin - 14:50 Uhr



    Der Parkplatz der äusserlich recht unscheinbaren Bar war um diese Zeit nur überschaubar gefüllt. Geöffnet war offiziell erst um 18:00 Uhr, allerdings hielten sich immer Mitarbeiter und der Chef Anis persönlich in der Bar auf. Wenn es am Tage dann noch recht warm war wie heute, obwohl sich am Horizont von Westen her dunkle Wolken auftürmten, stand auch die Eingangstür offen, als wäre bereits geöffnet. Genau durch diese traten nun die beiden Autobahnpolizisten Semir und Ben in das schummrige Dunkel der Bar und atmeten sogleich allerlei Geschmacksrichtung der Kohle, die für die Wasserpfeifen benutzt wurden. Ob Kaugummi, Wassermelone oder der typische Tabakgeruch, es gab für jeden Geschmack etwas.
    Der Geruch war von der letzten Nacht übrig geblieben, nur an einem Tisch saßen zwei Männer und hatten die Wasserpfeife, die an den runden Tischen in der Mitte stand und mehrere Schläuche hatte, in Betrieb. Sie blickten auf, und die Blicke, die die beiden Männer trafen, konnten nicht unbedingt als freundlich interpretiert werden. "Wir haben noch geschlossen.", sagte ein dicklicher Mann, dessen Glatze glänzte und kratzte sich am akkurat gestutzten Vollbart. Er sprach mit ausländischem Akzent.



    "Wir wollten Anis Edhem Bourgiba sprechen. Ist er da?", sagte Semir mit freundlicher Stimme von der Bar aus in Richtung der beiden Männer. "Wer will das wissen?" Die beiden Polizisten sahen sich kurz an, beinahe ein resignierendes Seufzen ob der Frage und beide zeigten ihren Dienstausweis auf die Distanz. Nun waren es die beiden Männer am Tisch, die kurz vielsagende Blicke austauschten. Sie hatten auf den Ausweisen weder Namen noch Dienststelle lesen können, sie sahen nur dass es Polizeiausweise waren, und Polizisten waren nicht gern gesehen, aber durchaus nicht unüblich. Sie hatten Anweisung von Anis, freundlich zu sein und kooperativ. Ausser, es läge etwas Besonderes in der Luft.
    "Warten sie, ich rufe ihn an.", schnarrte der dickliche Mann, während der zweite einen tiefen Zug an der Wasserpfeife nahm, wie das Blubbern im Behältnis verriet, bevor er dicke dichte Nebelschwaden ausstieß, die nach Pfefferminz rochen. "In dem Laden hätte ich nach einer halben Stunde Kopfschmerzen.", sagte Ben leise zu Semir. "Hast du das schon mal versucht?" "Na klar. Ist in der Türkei ziemlich weit verbreitet. Tee trinken und Wasserpfeife rauchen." Ben zog die Augenbrauen hoch. "Und dir schmeckt sowas?" "Schmecken ist übertrieben. Aber ich zieh dann halt, wenn wir mal in Urlaub bei der Verwandtschaft sind, zwei- dreimal dran, und dann ist auch gut."



    Währenddessen hatte der Mann sein Handy gezogen und in ausländischer Sprache zwei Sätze gesprochen. Wenige Minuten schwang die Tür hinter der Bar auf, und Anis kam herein. Er lächelte freundlich, kam zu den beiden Polizisten und schüttelte die Hände. "Guten Tag, Anis Edhem Bourgiba mein Name. Was kann ich für sie tun?" Nachdem er die Dienstausweise gesehen hatte und anhand Semirs Namen sich erkundigt hat, ob er womöglich ein Landsmann bezüglich elterlicher Herkunft sei, was Semir verneinte, kamen die Polizisten zu ihrem Anliegen. "Arbeitet bei ihnen ein Benedikt Jecker?", kam Semir zur Sache und Anis nickte sofort. "Benny? Ja, der arbeitet bei mir als Türsteher. Ist was passiert?"
    Der erfahrene Polizist spitzte ein wenig die Lippen. "Naja... er wurde gestern abend beim versuchten Verkauf von Waffen auf einem Rastplatz erwischt und hat erheblichen Widerstand geleistet." "Na sowas... der Benny? Das erstaunt mich.", meinte Anis mit hochgezogenen Augenbrauen, bevor er zwei Gläser auf den Tresen stellte und zwei Flaschen alkoholfreies Bier öffnete, dabei lächelnd bemerkte: "Ich nehme an, sie sind im Dienst. Das geht natürlich aufs Haus." Bevor die beiden Polizisten ablehnten, schenkte Anis bereits ein.



    "Mir ist aber jetzt nicht ganz klar, wie ich ihnen weiterhelfen kann. Wenn sie sagen, sie haben ihn erwischt, dann suchen sie ihn ja nicht." "Das ist richtig. Was wir suchen, ist die Herkunft der Waffen.", sagte Ben und nahm einen kühlen Schluck des alkoholfreien Gerstensafts. "Und wie kann ich ihnen dabei helfen." "Es gab da in der Vergangenheit einiges an Ermittlungen in Verbindung mit ihrem Laden, ihrer Person und ihren Mitarbeitern. Ich glaube, ich muss nicht extra ans Auto laufen, um die Akte zu holen und ihnen das vorzulesen, oder?", sagte der kleinere der beiden Kommissare und hatte mit einem Auge immer ein wenig die beiden Männer am Tisch im Auge. Aber die unterhielten sich leise in ausländischer Sprache und rauchten friedlich ihre Wasserpfeife.
    Anis nickte: "Ermittlungen die zumindest gegen meine Person und den Laden allesamt eingestellt wurden, da sie haltlos waren. Bezüglich unserer Mitarbeiter ist es in der Tat so, dass wir das ein oder andere schwarze Schaf haben. Wir verlangen bei Einstellung aber auch kein polizeiliches Führungszeugnis, vor allem da wir Leuten gerne eine Chance geben, die aus schwierigen Verhältnissen kommen. Dass dann auch mal ein paar schwierige Fälle darunter sind, kommt vor." Ben seufzte und murmelte, für Anis unüberhörbar: "Mir kommen gleich die Tränen."



    "Sie scheinen nicht überzeugt, Herr Kommissar.", reagierte der Barbesitzer auf den Satz. "Nein, bin ich nicht. Ich sag ihnen auch warum: Wenn ein Mann immer wieder ins Visier von Ermittlungen gerät, immer im Bereich der organisierten Kriminalität, aber man kann ihm nie etwas nachweisen... dann heißt das für uns nicht automatisch dass er unschuldig ist. Sondern ziemlich clever und hat ein ausreichendes Netz um sich herum aufgebaut. Ein bisschen Erfahrung haben wir auch." Anis nickte beinahe anerkennend: "Wenn sie diese Erfahrung haben, dann wird es ja ein Leichtes für sie sein, die Herkunft der Waffen zu ermitteln und mit mir... oder dem wahren Urheber in Verbindung zu bringen.", sagte er und der junge Polizist konnte nicht sagen, ob dies nun ein ehrliches Abwälzen der Schuld, oder ein cleveres Herausfordern war, doch erst einmal nachzuweisen, ob die Waffen wirklich von Anis stammten.
    "Ich kann ihnen nur sagen, dass ich nichts mit Waffen zu tun habe. Ich weiß nicht, welchen Geschäften Benny sonst noch nachging, wenn er nicht hier arbeitet. Tut mir leid.", verließ Anis den kurzen Ausflug aus der sanften Provokation zurück zur Freundlichkeit. "Ja, na klar...", sagte Semir resignierend und klopfte mit dem Finger auf dem Tresen herum. Eigentlich konnte er sich dieses Ergebnis der Befragung bereits denken, als die Chefin anordnete Anis zu verhören. Der Kerl war clever und mit allen Wassern gewaschen, nicht umsonst zog er seit Jahren immer den Kopf aus der drohenden Justizschlinge.



    Bevor sich die beiden Beamten zum Gehen wandten, fragte Ben: "Kennen sie Kevin Peters?" Plötzlich waren Anis' Augen aufmerksamer auf Ben gerichtet, als vorher... zumindest war das Bens subjektiver Eindruck. Auch die beiden Männer vom Rundtisch blickten nun stumm auf. "Nicht näher, und auch nur von früher. Habe aber gehört, dass er ein Kollege von ihnen ist, richtig?" Ben blickte dem Mann stumm in die dunkelbraunen Augen. Entweder war er ein genialer, eiskalter Lügner oder Bennys Spruch gegenüber Kevin hatte tatsächlich keinen Hintergrund... oder zumindest keinen, der auf Anis hindeutet. "Ja, das ist er. Schönen Tag noch.", sagte Ben mit düsterer, beinahe unfreundlicher Stimme und wandte sich zum Gehen.
    "Aber, wo sie gerade nach Kevin fragen...", rief Anis noch, bevor die beiden Männer die Tür erreicht hatten und brachte sie dazu, sich noch einmal umzudrehen. "... ich hatte vor kurzem noch mit seinem Vater zu tun. Geschäftlich. Sagen sie Kevin doch einfach mal einen schönen Gruß von einem Vater. Da freut er sich bestimmt." Anis freundliches Lächeln unterm Bart sah täuschend echt aus. "Das bezweifel ich...", kam entsprechend unfreundlich von Ben zurück, bevor sie endgültig die Bar verließen.

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    Wie sie.


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  • Untersuchungshaft - 15:00 Uhr



    Die Luft war ungewöhnlich drückend und schwül, doch mit dem Sommer kündigten sich an diesem Nachmittag auch die ersten Gewitter an. Die Wolkentürme wurden dunkler, je näher sie kamen und in weiter Ferne konnte man es bereits rumoren hören. Kevin parkte den Dienstwagen vor dem LKA in Köln, einem großen imposanten Gebäude im Herzen der Stadt. Er hatte keine besonders guten Erinnerungen an das Gebäude, hier war er einige Zeit bei der Mordkommission. Kommissar Plotz war damals sein Partner, der ihn nicht leiden konnte und ihn ob seiner Vergangenheit oftmals vorverurteilt hatte. Später hatte er diebische Freude daran, Kevin des mutmaßlichen Mordes zu überführen und ins Gefängnis zu bringen, holte sich dabei jedoch zumindest für seine Laufbahn eine mehr als blutige Nase ab. Ihm wurde vom Polizeipräsidenten nahegelegt, die Rente nicht unnötig aufzuschieben.
    Im Foyer hörte Kevin, der zusammen mit Jenny das Gebäude betreten hatte, eine bekannte Stimme: "Kevin? Was machst du denn hier?" Thomas Bienert, Leiter der Abteilung "Organisierte Kriminalität u. Drogenfahndung" kam auf Kevin zu. Sie schüttelten sich die Hände und Bienert hatte sein typisches Jacket bei diesem Klima ausnahmsweise zu Hause gelassen und den obersten Hemdknopf geöffnet. Der junge Polizist stellte seine Begleitung, seine Kollegin Jenny Dorn vor und Bienert nickte anerkennend. "Beneidenswert. Ich muss immer nur mit untrainierten noch älteren Kollegen in die Einsätze.", lachte er scherzhaft.



    "Wir sind ausnahmsweise mal dienstlich hier.", sagte Kevin und Jenny entfernte sich von den beiden Männern, um am Epmfangstresen den Besuch in den Zellen im Keller anzukündigen. Der Dienststellenleiter nahm Kevin ein wenig zur Seite: "Ich hab da von merkwürdigen Gerüchten gehört. Zuerst hab ich gehört, du wärst irgendwo in Südamerika verschollen, dann seiest du in Hamburg an einem Verbrechen beteiligt... und schließlich, dass du wieder bei der Autobahnpolizei bist." Für einen Moment sah Kevin zu Boden und Thomas merkte mit seinem Menschenverstand, dass ihm die ganze Geschichte nicht so angenehm war. "Das ist eine etwas längere Geschichte.", sagte er schließlich selbst. Bienert legte dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter.
    "Ich hab dir damals schon gesagt, dass du dich melden kannst, wenn es Probleme gibt. Was du damals getan hast, hab ich nicht vergessen." Kevin hatte sich, nachdem er suspendiert war, von Bienert anwerben lassen, einen Drogenring zu zerschlagen. Er ging dabei ein hohes Risiko ein, weil er nicht unter dem Schutz der Polizei stand. Seitdem versuchte der eifrige Drogenfahnder immer wieder mal, Kevin dazu zu überreden, zur Drogenfahndung zu wechseln, da er von dessen Erfahrungsschatz in der Szene profitieren wollte... und weil er Kevin für einen verdammt guten Polizisten hielt. "Ich weiß, aber es ist jetzt alles gut. Ich erzähls dir irgendwann mal." Sein Gegenüber gab sich damit zufrieden, wusste er auch um Kevins besonderen Charakter.



    Ein Beamter führte Jenny und Kevin durch den Flur zu den Zellen. "Wir haben einmal hier zwei Insassen aus dem Überfall, und hier in dieser Zelle ist noch einer. Hier sind die Akten.", sagte er und zeigte auf zwei verriegelte Türen. "Ich geh zu den beiden. Schaffst du einen alleine?", meinte der junge Polizist mit einem Lächeln im Gesicht in Jennys Richtung, die gespielt entrüstet meinte: "Ich werde ja wohl." Dann lachte sie, auch wenn das Lachen die Nervosität etwas vertreiben sollte. Mit den Beamten ging jeweils ein Beamter des MEKs, die die drei auch festgenommen hatten, mit in die Zellen.
    Kevin lehnte sich an die Zellentür, während die beiden Männer auf ihren Betten keine Anstalten machten, aufzustehen. "Also ihr zwei... von wem habt ihr die Waffen kaufen wollen." Der breitere der beiden schaute kurz herüber und winkte dann ab, der zweite setzte sich zumindest auf. "Hau ab, Mann." Die Art Abfuhr hatte er heute schon mal gehört. Im Beisein des MEK-Beamten konnte er hier allerdings nicht die gleiche Show abziehen, wie im Keller der Autobahnpolizei. "Passt mal auf. Mich interessiert es überhaupt nicht, ob ihr Schießübungen im Wald machen wolltet oder eine Bank ausrauben. Ich will nur wissen, von wem ihr die Knarren habt. Ihr werdet die ja nicht im Internet bestellt haben." "Doch. Die haben wir auf Amazon bestellt.", gluckste der Typ, der auf dem Bett saß und Kevin zählte innerlich langsam bis Zehn, auch wenn er äusserlich vollkommen ruhig blieb.



    Jennys Gesprächspartner saß auf dem Bett an der wand und hatte die Beine an den Leib gezogen. Ein junger Mann, vielleicht gerade mal 18 und mit schreckhaften Augen sah auf, als die attraktive Beamtin hereinkam. "Wer sind sie?", fragte er und sah den Ausweis. "Ich bin Jenny Dorn, von der Autobahnpolizei. Ich will dir ein paar Fragen stellen.", duzte sie den jungen Mann, weil sie ihn ebenfalls noch nicht volljährig schätzte. "Wo habt ihr die Waffen her?" Die Pupillen des Jungen flitzten zu der Wand, hinter der seine beiden Kumpanen saßen, ihn aber weder hörten noch sahen. "Ich.... ich weiß nicht. Ich bin quasi nur ein... ein Mitläufer.", sagte er, als hätte er die Aussage vorher auswendig gelernt, oder eingetrichtert bekommen. "Aber wenn du mit deinen beiden Freunden immer unterwegs bist, musst du doch wissen, wie sie Kontakt aufgenommen hatten."
    Die junge Polizistin sah in den Augen des Jungen Angst. Scheinbar war er in diese Sache mehr zufällig hineingeraten. Vielleicht ein Bandending, vielleicht brauchte er nur Geld und hatte sich an den geplanten Überfall gehangen, für den die Waffen benötigt wurden. Er machte nicht den Eindruck eines Killers, ausserdem wären die bei dem Kauf auch vorsichtiger vorgegangen. Es sprach alles für einen geplanten, wenn auch amateurhaft geplanten Überfall oder ähnliches. Der Junge, der jetzt vor Jenny saß, wusste etwas... aber aus Angst sagte er nichts.



    "Hör mal, wir können etwas für dich tun, wenn du uns hilfst. Hafterleichterung, vielleicht bekommst du sogar Bewährung. Schließlich habt ihr nur versucht, Waffen zu kaufen. Versucht.", sagte Jenny aufmunternd, und ihr Lächeln konnte ansteckend sein, was der Junge auch fühlte. Ganz davon abgesehen, dass die attraktive junge Frau auch ganz andere Gefühle in ihm auslösten. "Das heißt... ich müsste nicht ins Gefängnis?" "Wir würden dem Haftrichter sagen, dass du uns unterstützt hast. Das wäre gut für dich." "Aber... wenn meine Freunde... also, die Jungs...", stotterte er ängstlich, aber Jenny schüttelte sofort den Kopf. "Die werden davon nichts erfahren. Aber du musst mir wirklich alles sagen."
    Der Junge schluckte und nickte. "Ich... ich war nur dabei als Harry sich mit so einem Typen getroffen hat. Den kannte er von irgendwo, und er hat den Deal dort eingefädelt." "Kannst du den Typ beschreiben?" Der kleine Kerl beschrieb exakt das Gesicht von Benny, somit hatte Jenny keinen weiteren Verdächtigen. Aber ein Anhaltspunkt bekam sie doch noch, als sie fragte: "Wo habt ihr euch getroffen?" Sie erhoffte sich dadurch noch einen Anhaltspunkt und wieder zögerte der ängstliche Junge. "Komm schon. Ich verspreche dir, dass deine Freunde nichts erfahren und du wirklich mit einen Bewährung davon kommst." "Sie... sie haben sich im Ragnarök getroffen. Das ist ein heruntergekommenes Stundenhotel... in Zimmer 666." Jenny musste fast lachen ob der Symbolik, aber sie bedankte sich und verließ die Zelle.



    Draussen traf sie sofort auf Kevin, der genervt aussah. "Sagen kein Ton.", meinte er kurz angebunden und hoffte, dass Jenny mehr Glück hatte. "Der Kleine hat geredet.", antwortete sie auf dem Weg nach draussen. "Er und seine Freunde hätten den Händler im Ragnarök getroffen, um den Deal einzufädeln." Kevin zog erstaunt die Augenbrauen hoch und wiederholte: "Im Ragnarök?" "Ja, so sagte er. Kennst du das?", fragte sie und war ein wenig entsetzt, als Kevin nickte. "Ja... das war zu meiner Jugendzeit schon ein Treffpunkt für das schlimmste Klientel. Dort ging wirklich nur jemand hin, dem selbst die Mädchen am Bahnhof zu teuer waren, die keine Angst vor Krankheiten hatten oder vor der Gefahr, aus Versehen mit einer 14jährigen ins Bett zu gehen." Der jungen Frau lief es eiskalt den Rücken herunter. "Warst du da... also..." "Nein, war ich nicht. Ich kenne es nur.", sagte Kevin sofort. "Sorry..." Jenny schämte sich. Sie wusste zwar, dass Kevin nach Janines Tod lange zwischen den Welten wandelte, aber selbst wenn er es so nötig hatte, hätte er auch bei jedem Club-Besuch geschafft, ein Mädchen abzuschleppen. Wenn... eigentlich war Kevin dazu nicht der Typ.
    Auf dem Weg zum Parkplatz sprach Kevin weiter, draussen war es bereits stockfinster. "Im Ragnarök hatte sich mal eine ziemlich schlimme Droge ausgebreitet, namens V." Dabei sprach er den Buchstaben amerikanisch aus. "Jerry hat mal gesagt, dass das Zeug direkt aus der Hölle kommt. Es verursacht 10 Minuten Hochgefühl und 50 Minuten Wahnsinn. Du verlierst komplett den Verstand und wirst sofort abhängig." Er schloss das Auto auf. "Davon hab ich noch nie gehört.", sagte Jenny und ließ sich in das Fahrzeug hinein. "Das Ding wurde nie verkauft, und nur im Ragnarök wanderten die Spritzen herum. Eine wahre Geisterdroge. Man vermutete, dass man einige Mädchen damit versuchte, wehrlos zu machen." Der junge Polizist startete den Wagen, als Jenny sagte: "Fahren wir mal hin?" Ihr Partner und ehemaliger Freund sah aus der Frontscheibe. "Ich weiß nicht ob es gut ist, dort alleine hinzufahren. Aber wir schauen es uns mal von außen an..." Der jungen Polizistin war diese Art der Zurückhaltung von Kevin ganz neu...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Ragnarök - 15:20 Uhr



    Als Jenny und Kevin das LKA in Köln verließen schien es, als sei die Sonne vom Himmel gefallen. Der Himmel war dunkelblau, grau und schwarz gefärbt, der Wind peitschte bereits einzelne dicke Tropfen durch die Gegend und das unheilvolle Grummeln war inzwischen einem gewaltvollen Donnern gewichen. Über Köln braute sich das erste Wärmegewitter zusammen und demnächst würden die Kollegen in der Führungs- und Lagezentrale, die den Verkehrsfunk koordinierten, Schwerstarbeit zu verrichten haben, wenn sie Notrufe von umgestürzten Bäumen und überfluteten Straßen weiterleiteten. Die beiden Polizisten schafften es noch trocken in den Dienstwagen und Kevin fuhr auf die Landstraße in Richtung des schlimmsten Viertels von Köln.
    "Wie bist du mit der Droge eigentlich in Kontakt gekommen?", fragte Jenny ohne ihre Befürchtung, Kevin hätte sie selbst mal genommen, direkt auszusprechen. "Eigentlich gar nicht. Ich war nur zweimal im Ragnarök weil dort ein Junge aus unserer Gang ein paar Wochen gehaust hat. Was ich da gesehen habe, hat mir eigentlich gereicht.", sagte er mit ehrlicher Stimme und für Jenny gab es keinen Grund an seinen Worten zu zweifeln. "Das Zeug ist schlimmer als Heroin oder Crystal Meth zusammen. Ich weiß gar nicht, aus welcher Motivation man sowas überhaupt nimmt." Jenny schluckte, und für sie als jemand der noch niemals Drogen auch nur angefasst hatte (ausser dass sie als Jugendliche auf einer Party mal an einem Joint gezogen hatte und ihr danach stundenlang übel war) war es schwer zu verstehen, warum man überhaupt Drogen nahm. "Aus welcher Motivation hast du damals Drogen genommen?", fragte sie und zwischen den beiden herrschte plötzlich wieder eine vertrauensvolle Atmosphäre, dieses unsichtbare Band zwischen ihnen, was sich nach Jennys Vergewaltigung verfestigt hatte, und Kevin vor seiner Reise nach Kolumbien erst angeschnitten und durch seinen Gedächtnisverlust schließlich gekappt hatte.



    Aber er spürte es auch. Er sah Jenny ganz kurz an, und für einen Moment befürchtete sie, er würde sich in sein Schneckenhaus zurück ziehen. Doch die junge Polizistin hatte eine Eintrittskarte in seine Seele. "Vor Janines Tod nahm ich das Zeug, weil es jeder nahm. Auf Partys, auf Konzerten, einfach um durch zu halten mit den anderen. Und ungefähr ein halbes Jahr vor ihrem Tod war ich fast weg, und hab nur hin und wieder gekifft, weil ich in einer Karateschule für Straßenkids gegangen bin, und sich der Trainer dort sehr um mich gekümmert hat." Jenny konnte sich das gut vorstellen, Kevin brauchte Menschen die ihm vertrauten und denen er vertrauen konnte. Bis jetzt war Jenny die einzige in seinem Leben, die sein Vertrauen nicht gebrochen hatte. Sie war bisher immer das Opfer... er der Täter. Ihre Nacht mit Ben zählte der Polizist selbst nicht dazu, weil sie noch nicht zusammen waren. "Nach Janines Tod bin ich dann nochmal, als ich quer durch Deutschland gezogen bin, eingebrochen. Bis auf Heroin und Crystal hab ich damals eigentlich alles ausprobiert." Die junge Frau nahm die Antwort stumm hin, nickte nur kurz und strich Kevin für Sekundenbruchteile mit der Hand über den Oberschenkel.
    Kevin selbst spürte die Vertrautheit in diesem Moment, als sie durch Sturm und Gewitter Richtung Ragnarök fuhren, ebenfalls ganz deutlich, dass er sich endlich zu der Frage durchrang: "Was... was ist jetzt eigentlich mit unserm Kind passiert?" Ein kurzer Stich in eine langsam verheilende Wunde in Jennys Seele tat kurz weh, aber auf diesen letzten Stich war sie vorbereitet. Es war klar, dass Kevin es irgendwann wissen wollte, und auch wissen sollte. Aber wie sollte sie ihm die Wahrheit sagen, ohne erneut in ihm Schuldgefühle auszulösen... etwas, was bei Kevin sehr schnell passieren konnte.



    "Ich... ich habe es verloren... in der Zeit als du in Kolumbien verschollen warst.", sagte sie, gerade als die beiden an einer roten Ampel zum Stehen kamen und sie bemerkte wie der junge Polizist gedankenverloren aus der Windschutzscheibe sah. "Die Ärztin sagte mir, dass... also, dass das Kind nicht gesund war. Und der Körper es deswegen abgestoßen hatte. Das kann am Anfang passieren, das ist nichts unübliches." Es war keine Lüge, aber eine kleine Schwindelei. Aus der Vermutung der Ärzte machte Jenny für Kevin eine Gewissheit, eine Tatsache. "Wenn ich nicht nach Kolumbien gefahren wäre...", sagte der junge Polizist leise und sah zu seiner Ex-Freundin herüber, die den Satz für ihn beendete: "... wäre es auch passiert." "Aber ich wäre da gewesen." "Semir, Ben und Andrea waren für mich da.", entgegnete sie und Kevin schüttelte den Kopf: "Das ist nicht das Gleiche." Was sollte Jenny darauf antworten. Er hatte Recht... es war nicht das Gleiche. Aber es war für Kevin nur ein weiteres Gramm auf seinem Schuldberg, den er mit sich herum schleppte, denn an der Reise nach Kolumbien klebte noch viel mehr Blut... Timos Tod, Patricks Rache, Ben und die ganze Situation im Keller.
    Der Rest der Fahrt verlief unangenehm schweigsam, und das Naturorchester ausserhalb des Wagens hatte den Ton übernommen. Der Regen begann lautstark auf die Windschutzscheibe zu trommeln, als Jenny durch den Schleier von Wasser ein altes großes, mehrstöckiges Backsteingebäude in einer Reihe alter Gebäude, erkennen konnte. In flackernden Lettern prangte "Hotel" über einer modrig aussehnden Doppelflügeltür aus Holz. Kevin hielt den Wagen an. "Sollen wir Ben und Semir rufen?", fragte Jenny, als sie merkte dass der Mann zögerte. "Ich habe keine Ahnung, was uns da drin erwartet. Früher waren dort nur Junkies und Nutten... aber heute?", zuckte er mit den Schultern. "Lass uns reingehen, dann können wir sie immer noch rufen.", schlug Jenny vor und der Polizist nickte, trotz seines untrügerlichen Bauchgefühls.



    Sie liefen nur über wenig befahrene Straße zum Hotel und waren sofort klatschnass. Jenny klebte ihr Top am Körper und Kevins abstehenden Haare legten sich beinahe andächtig an seinen Kopf. Die große Holztür war verriegelt. So modrig und baufällig sie aussah, so stabil war sie in Wirklichkeit. "Mist...", murmelte Jenny und streifte sich klebende Strähnen aus dem Gesicht. "Lass uns mal an der Seite des Gebäudes vorbei gehen, da gab es früher noch einen Kellereingang.", meinte Kevin und er musste etwas lauter reden, weil ein Donner ihn unterbrach der so laut war, dass die Erde bebte. Scheinbar war er in der Nähe eingeschlagen. Das Wasser spritzte an ihren Füßen hoch, weil der Bürgersteig und der Weg zwischen den Gebäuden hindurch bereits unter Wasser stand, als sie eine silberne Tür an der Seite des Gebäudes sahen, zu der eine kurze Treppe führte.
    Kevin legte die Hand auf die Klinke und musste nur ein wenig drücken, dass sie aus dem verrosteten Türrahmen sprang, der sie hielt. Knarrend gab sie den Weg frei ins Innere des Gebäudes und die beiden Polizisten traten ein. Die Tür fiel hinter ihnen wieder ins Schloß. Beide hatten ihre Taschenlampen dabei, und Jenny brauchte nur wenige Sekunden, da hatte sie den Lichtschalter gefunden. Kalte Neonröhren erhellten den Kellerraum, in dem nur einige Regale mit Fertigessendosen standen, die bereits in den 90ern abgelaufen waren. Langsam bewegten sich die beiden Polizisten vorwärts, kamen an einem Heizkessel vorbei, der scheinbar noch mit Kohlen geheizt wurde. Erschreckender für die beiden war jedoch, dass er kräftig heizte, das Feuer brannte und eine Schaufel lag direkt neben dem Ofen. Noch schlimmer... neben dem Ofen lag ein Holzstuhl, einige Fesseln an den Beinen des Stuhls und Blutspritzer am Boden ließen Jenny kurz das Blut in den Adern gefrieren. Doch ausser dem Knistern und Röcheln des Feuers war nichts zu hören.



    Kevin warf Jenny einen beruhigenden Blick zu, was paradox zu der Tatsache stand, dass er seine Waffe zog und entsicherte. Sofort bekam Jenny ein kurzes mulmiges Gefühl, doch sie versuchte den Gedanken ganz schnell abzuschütteln. Sie tat es Kevin gleich und folgte ihm langsam eine kurze Metalltreppe hoch um einen Zwischenstockwerk zu überbrücken. Die Holztür, die scheinbar aus dem Keller herausführte, war nicht abgeschlossen und öffnete sich lautlos, wenn man sie langsam öffnete. Die beiden betraten den Flur im Erdgeschoss, und es schlug ihnen ein unangenehmer Gestank entgegen. Es war eine Mischung aus süßlichem Fäulnisgeruch, künstlichen Blumen, Erbrochenem und Fäkalien. Der Flur war mit rötlichem Teppichboden, der in den 70ern vielleicht modern war, ausgelegt, voller Flecken, Brandlöchern und völlig verschließen. Ähnlich sahen die Wände aus, die Fototapete hing an manchen Stellen herab und dort, wo sie noch intakt war, konnte man vor Vergilbung das Muster fast nicht mehr erkennen. An manchen Stellen war ein Symbol mit Farbspray aufgezeichnet... eine Spritze, aus der ein Tropfen auslief, in ihr verschlungen ein V. Manchmal stand noch Valkyr darunter, der Langname der Droge.
    Jenny bekam eine Gänsehaut, die sich nicht mehr legen wollte. Dieser Ort kam ihr surreal vor, als hätte sie eine fremde, böse Welt betreten aus der sie so schnell wie möglich wieder herauswollte. Sie war grundsätzlich nicht ängstlich, aber das hier hatte nichts zu tun mit einem normalen Einsatz. Dieser Ort war böse, das spürte sie und sie hätte sich am liebsten von dem Mann neben ihr, dem das Regenwasser aus den Haaren tropfte, in den Arm nehmen lassen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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  • Dienstwagen - zur gleichen Zeit



    Der BMW von Semir rollte gemächlich durch den Innenstadtverkehr. Schnelles Fahren war sowieso nicht möglich, denn die Sicht durch die überschwemmte Scheibe war schlecht und der Scheibenwischer überfordert als über Köln ein Gewitter los brach, wie man es schon lange nicht mehr erlebt hatte. "Mein lieber Schwan...", murmelte Ben als er einen Blitz durch das Seitenfenster beobachtete, der sich vom Himmel den Weg abwärts bis zum Boden bahnte, wo er mit einem gleichzeitigen lauten Krachen einschlug, nur einige hundert Meter entfernt, vermutlich. Als es dann auch noch anfing zu hageln, beschloß Semir unter einer Eisenbahnbrücke den Wagen anzuhalten, denn er hatte keine Lust einen Schadensbericht wegen Hagelkörnern zu schreiben, oder wieder wochenlang auf sein Dienstauto zu verzichten.
    "Was denkst du von diesem Anis?", fragte Ben, der immer an der Meinung seines Partners interessiert war, dem er eine sehr gute Menschenkenntnis bescheinigte. "Undurchsichtiger Typ. Genügend kriminelle Energie traue ich dem schon zu." "Ich fand seine Freundlichkeit und vor allem seinen Gruß von Kevins Vater beinahe schon... bedrohlich.", erklärte er sofort seine Gefühlswelt, die er in dem Moment hatte als er die Worte Anis vernommen hatte, in Verbindung mit diesem selbstsicheren Lächeln. "Ja, das hatte ich auch in dem Moment gedacht. Der Gruß war nicht einfach so daher gesagt.", bestätigte Semir Bens Gefühl.



    Der Lärm wurde draussen immer lauter, jetzt kamen auch noch Sturmböen auf die die Hagelkörner zu Geschossen werden ließen. Das Wasser lief auf der leicht abschüssigen Straße wie ein Sturzbach unter der Eisenbahnbrücke durch und die Temperatur fiel ins Bodenlose. "Hat Kevin mal irgendetwas von seinem Vater erwähnt? Oder von seiner Familie, abseits seiner Schwester?", fragte Semir, denn er wusste dass Ben ein etwas engeres Verhältnis zu Kevin hatte, wenn gleich Semirs Beziehung zu Kevin wiederrum etwas Besonderes war, das empfand der erfahrene Kommissar, trotz allem was passiert ist, immer noch so. Selten war er so ergriffen, als der junge Polizist ihn als seinen großen Bruder bezeichnet hatte, da hatten sie sich gerade erst wenige Monate gekannt.
    "Ich weiß, dass er eine ziemliche Abneigung gegen seinen Vater hat, weil dieser sich nie um ihn gekümmert hat, genauso wie um seine Schwester.", erzählte Semirs bester Freund und musste gegen den Naturkrach anreden. "Und mit Abneigung meine ich auch Abneigung... keine Meinungsverschiedenheit, die ich vielleicht mal mit meinem Vater hatte, weil ihm meine Musik nicht gepasst hat." Dann wurde er kurz nachdenklich. "Ich würde, so wie er es mir erzählt hat, fast von Hass sprechen. Anderer Hass als gegen die Mörder seiner Schwester. Eher so eine Art... Verachtung." Offenbar hatte Kevin sein Herz zu diesem Thema für Ben weiter aufgemacht, als zu anderen Themen. "Er hat mir das erzählt, als es ihm mal richtig gut ging. Als er Vertrauen hatte... das war als du im Krankenstand warst." Semir nickte.



    "Das macht den deutlichen Gruß um so rätselhafter.", meinte der erfahrene Polizist und legte beide Hände aufs Lenkrad. "Also Benny sagt zu Kevin, dass "ihm" das nicht gefalle und meint damit die Verhaftung. Benny arbeitet für Anis, Kevin kennt Anis von früher.", zählte Ben die Fakten auf, die man bisher erfahren konnte. "Angenommen, mit "ihm" meint Benny tatsächlich Anis. Anis gefällt es nicht, dass Kevin Benny verhaftet hat und Anis gibt einen "freundlichen" Gruß von Kevins Vater an Kevin weiter." In Semirs Hirn arbeitete es auf Hochtouren, um die Informationen zu verarbeiten und in ein sinnvolles Konstrukt zu bringen. "Mit der Bedrohung könntest du gar nicht so verkehrt liegen.", sagte er zu seinem besten Freund. "Ein versteckter Hinweis darauf, dass man sich mit Papa Peters beschäftigen wird, wenn der Sohn nicht zur Vernunft kommt?" "Du meinst, Anis erpresst Kevin? Dann würde er aber auf dieser Schiene auf Granit beißen. Ich glaube, Kevin wäre es herzlich egal...", vermutete Ben und wog den Kopf hin und her. Sein Partner war anderer Meinung. "Sagen kann man viel. Fühlen auch. Aber irgendwo, tief im Inneren ist es immer noch sein Vater. Angenommen, Anis bedroht seinen Vater mit körperlicher Gewalt, mit Schädigung seines...", Semir stockte kurz. "Was arbeitet Kevins Vater überhaupt." "Ihm gehört ein Nachtclub in der Kölner Innenstadt.", antwortete Ben und wieder ließ ein lauter Donner das Auto erzittern, so dass die beiden Männer kurz zusammenzuckten.



    "Da läge doch Schutzgelderpressung nicht weit. Ist das nicht auch ein Geschäftsteil dieses Anis?", fragte Semir und bekam als Antwort nur ein Schulterzucken. "Vielleicht ist es nicht schlecht, Papa Peters mal persönlich zu fragen." "Ja klar, und der erzählt uns dann natürlich alles. Wenn Kevin nach seinem Vater kommt, zumindest in einigen Charakterzügen, dann verfahren wir unnötig Benzin. Ausserdem sollten wir Kevin vielleicht vorher persönlich darauf ansprechen.", mahnte der erfahrene Polizist vor übertriebener Eile. "Dann bekommen wir sicherlich Antworten...", begegnete ihm Ben mit Sarkasmus. Er war immer noch ein wenig über das mangelnde Vertrauen Kevins genervt, aber er konnte es auch verstehen. Nach all dem was passiert war, war Ben einfach nur froh, dass Kevin wieder arbeitete, normal arbeitete. Scheinbar clean war und keine psychischen Probleme mit seinem Gedächtnisverlust hatte. Und er selbst auch nicht mehr von dem Mordanschlag von Kevin, auch wenn es ihm in mancher Alptraumnacht noch in den Köpfen spuckte... sein Gesicht, sein Ausdruck in den Augen, als er die Hände um seinen Hals legte und zudrückte. "Ben?" "Hä?" Er schrack innerlich auf. "Bist du damit einverstanden?" Der junge Kommissar sah verwirrt auf, offenbar war er kurz in seine Gedankenwelt abgedriftet. "Mit was?" Semir verdrehte die Augen. "Sag mal, schläfst du mit offenen Augen? Ich hab gesagt, dass wir mal in die KTU fahren, vielleicht hat Hartmut rausbekommen, woher die Waffen stammen." Ben nickte eifrig. "Ja klar... gute Idee."



    Der Hagel hatte nachgelassen, genauso wie der Regen der aber trotzdem immer noch in hoher Intensität herunterprasselte. Semir startete den Wagen in dem Moment wieder, als Bens Handy klingelte und Kevins Nummer auf dem Display erschien. Der junge Polizist nahm ab: "Ja, was gibts?" "Ben? Hör zu, wir brauchen hier Verstärkung!", hörte er die keuchende Stimme seines Partners und Schüsse im Hintergrund. Sofort war Ben putzmunter, sein Puls beschleunigte sich und er griff Semir an den Arm, damit dieser sich noch nicht in den Verkehr einfädelte und eventuell noch die Richtung ändern konnte. "Wo seid ihr?", fragte er ohne Umschweife, oder nach dem Grund der Verstärkung zu fragen.
    "Wir sind im Ragnarök, einem Stundenhotel." Er nannte die Adresse und schwieg kurz, ein Schuss schien dicht bei ihm einzuschlagen. "Die haben uns hier eingekesselt! 6. Stock, ihr müsst an der Gebäudeseite zum Keller rein! Und beeilt euch bitte!" "Wir sind schon unterwegs.", versprach Ben und merkte, dass die Verbindung abgebrochen war. "Was ist los?" "Kevin und Jenny stecken in Schwierigkeiten, tret drauf.", sagte er und nannte Semir die Adresse, bevor er das Blaulicht anschaltete und sein Partner mit quietschenden Reifen die Richtung änderte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Ragnarök - 15:30 Uhr



    Jenny konnte die Fortbewegungsart, die sie wählten, nicht so recht beschreiben. Sie gingen nicht aufrecht normalen Ganges über den Flur hin zur ersten rechtwinkeligen Biegung. Sie schlichen auch nicht geduckt, die Waffe im Anschlag als würden sie hinter der nächsten Ecke Gefahr vermuten. Aber beide hatten die Waffe in die Hand genommen, die zwar zu Boden zeigte, den Arm aber nach vorne etwas durchgestreckt, jederzeit bereit zu zielen und sich Respekt zu verschaffen. Durch die dünnen Wände und das alte Haus konnte man sowohl den Hagel, als auch den Sturm und das Donnern dumpf aber laut vernehmen und jedesmal, wenn die Natur Lärm schlug, zuckte Jenny neben dem größeren Kevin ein wenig zusammen. Der sah mit konzentriertem Blick immer wieder hinter sich, als würde dort das Böse auf die beiden lauern.
    Bevor sie die erste Abzweigung erreicht hatten, konnten die beiden Polizisten ein Geräusch vernehmen, was nicht von der Natur draussen kam. Ein zittriges Atmen, das Klappern von losen Zähnen aufeinander, ein Keuchen und Wimmern. Jennys Herz wollte aus der Brust springen, die Atmosphere dieses Ortes hatte sie schon völlig gefangen genommen, und jetzt dieses unheimliche, menschlich klingende Geräusch hinter der ersten Abzweigung. Kevin festigte seinen Griff um die Waffe und ging langsam, wie in Zeitlupe um die Ecke. Seine Vermutung war richtig. Ein Junkie saß mit dem Rücken zur Wand und bot ein Bild des Schreckens. Seine Haut war fleckig, sein Körper eingefallen, als sei die Haut zu groß für seine Knochenstruktur. Er saß da und versuchte mit zittrigen Fingern sich eine Spritze mit leuchtend grüner Flüssigkeit in den Arm zu stoßen, ohne dass er ihn irgendwie abgebunden hätte. Von den beiden Polizisten nahm er keine Notiz, auch nicht als Kevin lautlos Jenny ein Zeichen mit den Fingern gab, einfach an dem Mann vorbei zu gehen. Bis sie diesen Flur verließen, trete sich Kevin aber auffallend oft um...



    Gerade als das Wimmern hinter ihnen leiser wurde, hörten sie ein ähnliches Geräusch. Es drang hinter einer Tür hervor, auf dem, mittlerweile sehr verblasst, das Zeichen für eine Herrentoilette abgebildet war. Ein paar Meter weiter war der Fahrstuhl, doch Jenny blieb an der Tür stehen. Sie sah zu Kevin, der ihn ihrem Gesicht Angst ablesen konnte, und er konnte es ihr nicht verübeln. Wenn man diesen Ort nicht kannte, oder nicht wusste was einen erwartete, bekam man Angst... nackte Angst. Der junge Polizist spürte zumindest ein beklemmtes Gefühl im Magen... es war viel schlimmer geworden als früher. Die Geräusche hinter der Tür waren kein undefinierbares Wimmern, sondern eine flüsternde, zittrige und, trotz des Flüsterns, hysterisch wahnsinnig klingende Stimme.
    "Er kommt... der Tod kommt...", konnte Jenny vernehmen, als Kevin mit dem Rücken zur Wand an der Tür diese einen Spalt aufdrückte. Jenny hob die Waffe ein paar Zentimeter, aber auch ihre Hand war nicht mehr ruhig. "Der Tod kommt... er kommt immer näher." Die leise Flüsterstimme verriet nicht, wie nah sie an der Tür stand, aber Kevin wartete. Er hoffte aus dem Selbstgespräch Informationen zu bekommen, doch im Moment waren die Worte nur ein Wirrwarr aus Wahnvorstellungen, schien es. Wahnvorstellungen, die Jenny das Blut in den Adern gefrieren ließ, nicht nur von den Worten die der Kerl wählte, sondern wie er sprach. Es klang fremd, bösartig und unheimlich.



    Die Flüsterstimme bekam ein wenig Volumen, sie wurde ein kleines bisschen lauter, blieb aber bei einer unheimlichen Tonlage. "Ich habe das Fleisch gekostet... das Fleisch der gefallenen Engel..." Jenny biss sich auf die Lippen, um ihr Zittern zu unterdrücken. "Das Fleisch der gefallenen Engel... ich habe das grüne Blut des Teufels gekostet. Es fließt in meinen Venen... in meinen Venen." Der junge Polizist sah auf den Boden und sein Gehirn schien zu arbeiten. Das grüne Blut... in seinen Venen. Damit konnte nur Valkyr gemeint sein. Der Typ war auf einem Horrortrip und seine Stimme wurde lauter. "Der Tod kommt! ER kommt! ER KOMMT! UND DIE HÖLLE FLOGT IHM!!", schrie er plötzlich und die Tür wurde zur Toilette aufgerissen, als hätte er nur auf diesen Moment gewartet.
    Jenny war so geschockt, dass sie stocksteif da stand, als ein, ebenfalls sehr dürrer Mann, nur in Lumpen bekleidet und wahnsinnigem Blick einen Schritt auf sie zuwankte. Nur das Messer in seiner Hand blitzte im Schein der schwachen Neonbeleuchtung. Bevor er aber der jungen Polizistin ernsthaft schaden konnte, hatte Kevin zugegriffen und dem Mann den Arm auf den Rücken gedreht. Es war erschreckend, wie dünn er war und wie wenig Kraft er gegen den Polizisten aufbot. Das Messer fiel zu Boden und in einer Bewegung schaffte Kevin es, ihm beim Fallen noch einen Schlag zu versetzen, der dem Mann sofort alle Lichter ausgehen ließ, und ihn schlaff auf den Boden zusammensacken ließ. Kevin sah zu Jenny: "Alles klar?" Die junge Frau war kreidebleich, senkte die Waffe langsam wieder und nickte. "Reiß dich zusammen, Jenny... mach jetzt nicht auf Angsthase.", dachte sie für sich selbst und griff die Waffe ein wenig fester.



    Die beiden Polizisten stiegen in den wackeligen Aufzug, in dem die Dudelmusik gefühlt schon seit 30 Jahren durch knarzige Lautsprecher lief, als hätten diese schon weit mehr als 10 Kurzschlüsse hinter sich. Kevin entschied sich für das Risiko Aufzug in dieser Bruchbude, weil er nicht unbedingt erkunden wollte, was ihn auf den Etagen 2 bis 5 so alles erwartete... und wer. Sie hatten Glück, die Türen öffneten im 6. Stock und Zimmer 666 lag direkt schräg vom Aufzug. Aus einigen Stücken der Wand waren Teile heraus gerissen und blanke Rohre zeigten sich. Daneben war im Flur eine Ausbuchtung wie eine kleine Fernsehecke, in der Sofas und Tische standen. Der Fernseher war angeschaltet, allerdings lief nur ein grieseliges Testbild. Vor dem Getränkeautomat daneben lagen einige Softdrinks in Dosen herum. Die jüngste war 1998 abgelaufen...
    Diesmal stellten sich Jenny und Kevin an der Tür zu dem betreffenden Zimmer so, als wollten sie sofort sichern, sobald sie hineingingen. Jenny mit dem Rücken zur Wand neben die Tür, mit der Hand leicht aufdrückend, während Kevin sogleich durch die aufschwingende Tür in das Zimmer trat und in jeden Winkel zielte... doch der Raum war leer. Jenny kam sofort hinterher und die Tür knarrte leise wieder zu. Der Raum war sehr spärlich eingerichtet, ein schmuddeliges Bett, Nacktbilder von jungen Frauen an den Wänden und ein Schreibtisch mit Blättern, für die sich die beiden Polizisten zuerst interessierten. Kevins aufmerksame Augen huschten über die Buchstaben und Zahlen der wenigen Blätter, die verstreut herumlagen. "Schau mal. Da stehen die Namen unsrer Käufer.", sagte Jenny, die an der Stirnseite des alten Schreibtisches stand, und ebenfalls las. "Und die Bestellung.", ergänzte Kevin, der in den weiteren Papieren wühlte. Doch es tauchten ebenfalls Namen auf und Waffentypen, manchmal auch Drogenmengen. "Das scheint hie sowas wie eine Bestellbank zu sein. Ein abgelegenes Hotel, für das sich kein Schwein interessiert ist sicherer als das Internet.", sagte Kevin leise, als ihm ein Name ins Auge fiel, der ihn erstarren ließ.



    Doch lange zum Nachdenken hatte er nicht, als er ein überraschtes "Was zum Teufel..." von der Tür hörte. Er blickte auf, denn er stand hinterm Schreibtisch mit den Gesicht zur Tür und schaffte es gerade noch, Jenny am Ärmel ihres Shirts zu ihm und zu Boden zu reißen, bevor der erste Schuss der Pumpgun hinter ihnen in der verblassten Tapete einschlug. Vorher hatte er das betreffende Blatt in Sekundenschnelle gegriffen, die restlichen Blätter flogen durch die Gegend. Es dauerte einige Sekunden, bis beide begriffen, was hier gerade passierte, als die nächste Ladung den Tisch traf und das Holz splittern ließ. Erst jetzt antworteten die Polizisten mit mehreren Schüssen hinterm Schreibtisch hervor, und scheinbar war der Angreifer einigermaßen überrascht, dass die Eindringlinge zurückschossen... sonst verirrten sich doch nur Junkies hierher, die wie seelenlose Zombies durch die Flure wankten, auf der Suche nach dem nächsten Schuss. Überrascht über die Antwort ging der Kerl hinter den Türrahmen in Deckung.
    Doch es dauerte nicht lange, und der Typ hatte lauthals um Hilfe gebrüllt. Ohne wirklich im Rauch der Schüsse und im sowieso düsteren Zimmer etwas zu sehen, schossen die beiden Polizisten Richtung Tür, wo sich mittlerweile drei oder vier Männer mit Waffen aufhielten und entweder auf die Deckung oder in die dahinter liegende Wand schossen. Jenny reagierte blitzschnell, als sich schräg hinter ihnen eine Verbindungstür zu dem Zimmer nebenan öffnete, um die beiden Polizisten unter Beschuss zu nehmen. Mit einem schnellen Schuss ins Knie konnte Jenny den Angreifer ausschalten. Das tat sie auch mit ihrem Kopf, versuchte nicht nachzudenken... nur zu überleben.



    Kevin griff nach seinem Handy und wählte hastig Semirs Nummer, während Jenny unaufhörlich Richtung Tür schoss. "Ben? Hör zu, wir brauchen hier Verstärkung!", rief er sofort, nachdem sein junger Kollege abgehoben hatte. Er nannte die Adresse und rief hinterher: "Wir sind im Ragnarök, einem Stundenhotel. Die haben uns hier eingekesselt! 6. Stock, ihr müsst an der Gebäudeseite zum Keller rein! Und beeilt euch bitte!" sagte er laut als Jenny neben ihm das Magazin wechselte. Schnell, damit die Gangster nicht auf dumme Ideen kamen, beendete Kevin das Gespräch und begann zu schießen, während Jenny nachlud. "Wir müssen aufpassen, wir haben nicht mehr viel Munition.", sagte sie verzweifelt, denn bei einen normalen Einsatz hatten die Beamten höchstens ein geladenes Ersatzmagazin dabei. Kevin sah hektisch schräg hinter sich, wo der bewusstlose Verbecher lag, den Jenny niedergeschossen hatte. "Pass auf, ich geb dir Feuerschutz und du rennst in das nächste Zimmer. Wir müssen hier irgendwie weg." Jenny nickte und drehte sich zu dem Ausgang, um sofort loszulaufen, wenn Kevin das Signal gab. "JETZT!", rief er laut, ging aus der Hocke nach oben und schoss, was seine Waffe hergab, damit die Verbrecher in der Deckung blieben und nicht auf die junge Beamtin schießen konnten, die in das nächste Zimmer lief. Sie tat es ihrem Partner dann gleich, schoss im Sekundentakt damit Kevin nachlaufen konnte. Jetzt waren sie ein Zimmer weiter, während die Verbrecher vom Flur komplett in das erste Zimmer gingen, um von den beiden Polizisten, die jetzt wieder Zugang zum Flur hatten, nicht überrascht zu werden. "Ich glaube ich hab im Flur eine Feuerleiter am Fenster gesehen. Die müssen wir erreichen.", sagte der junge Polizist gehetzt und die beiden gingen an die offene Tür zum Flur, während der erste Verbrecher bereits am Rahmen der Verbindungstür war und feuerte. Sie sahen die Lösung zwar vor sich, doch sie zu erreichen war ein langer Weg...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Ragnarök - 15:35 Uhr



    Die Zimmer waren erfüllt von Lärm der Schüsse und vom Dampf der Pistolen. Jenny sicherte sich ab, bevor sie das Zimmer verließ um im Flur Richtung Feuerleiter zu laufen, als Kevin ihr Rückendeckung gab und aus seiner Deckung auf die nachrückenden Verbrecher zielte. Beim nächsten Schuss der Pumpgun zog der junge Polizist den Kopf unter der Deckung ein, und das splitternde Holz der vielen Kugeln flog ihm um die Ohren. Dafür saß sein nächster Schuss und er konnte zumindest die gefährliche Waffe und deren Besitzer ausschalten, während Jenny endgültig zum Flur Richtung Feuerleiter lief. Doch Kevin war in diesem Moment so mit seinen Verfolgern beschäftigt, dass er nicht mitbekam dass die restlichen zwei Männer sich aufteilten. Einer kehrte zurück auf den Flur, lief einige Schritte, bevor er in die Hose griff und eine Handgranate entsicherte. Sie flog hinter Jenny her, ohne dass ihr Partner es mitbekam, weil er mit dem Rücken zur Tür stand und auf den zweiten Verfolger schoss.
    Erst der Knall ließ ihn herumfahren und mit aufgerissenen Augen sehen und spüren, wie das ganze Haus erzitterte und der dünne Holzboden unter ihm wankte. Jenny konnte von Glück sagen, dass sie schnell laufen konnte und der Typ schlecht werfen... die Granate war weit genug weg, um sie zu verletzen, doch die Druckwelle ließ sie stürzen, und mit ihr den Boden, der sie trug. Kevin sah seine Ex-Freundin erst fallen, und dann im Rauch ins untere Stockwerk verschwinden.



    "JENNY!!", rief er laut, drehte sich von seinem Verfolger weg und sprintete ungesichert in den Flur. Zu schnell für den Kerl, der die Granate warf und jetzt wieder die Waffe zur Hand nahm, schoss Kevin zweimal und traf den Kerl im Oberschenkel, bevor er an dem Loch stehenblieb und versuchte durch den Staub etwas zu erkennen. Holz war verkohlt, Steine und Dreck lagen im 5.Stock, und der junge Polizist konnte ein Stöhnen hören. "Jenny?? Bist du okay?", rief er nach unten und hörte ein, zwar schmerzerfülltes, aber lebendiges: "Jaa!" Der Staub lichtete sich etwas und er sah, wie Jenny voller Dreck, blutender Stirn und hustend am Boden lag, sich aber bewegte und langsam, stöhnend aufrappelte. Durch die kaputten Fensterscheiben waren Sirenen zu hören, und die retteten Kevin das Leben, denn der verbleibende Angreifer hatte ihn ins Visier genommen, er folgte Kevin durch das Zimmer in dem sie sich die Schiesserei geliefert hatten. Jetzt bekam er Panik ob der Verstärkung, zischte "Scheisse." und drehte sich um. Den Fluch konnte Kevin natürlich hören, und er sah sich um. "Scheisse, der haut ab.", rief er und blieb wie angewurzelt stehen, hielt ihn Jenny doch innerlich davon ab, sie jetzt hier alleine zu lassen. "Dann schnapp ihn dir! Ich komm hier schon klar.", rief sie von unten nach oben, als hätte sie seine Bedenken gespürt. "Bist du dir sicher!" "Lauf schon!!"



    Jennys energische Stimme machte dem jungen Polizisten Beine. Der Kerl rannte durch den Flur, bog um eine Ecke und öffnete ein weiteres Fenster an der Stirnseite des Gebäudes, wo eine weitere Feuertreppe angebracht war. Es war die gegenüberliegende Seite des Kellereingangs, den Semir und Ben bald ansteuern würden. Als der Flüchtende seinen Verfolger bemerkte, als er gerade aus dem Fenster stieg schoss er zweimal. Kevin warf sich im Laufen auf den Boden, um nicht getroffen zu werden. Als er aufsah um zurückzuschiessen, war der Kerl bereits draussen und rannte mit klirrenden Schritten über die Metallstufen der Feuertreppe. Kaum wieder aufgerappelt, erreichte Kevin dieselben und sprang über die Fenstererhöhung auf die Treppen.
    Die Wagen, die zwischen dem Gebäude und dem Nachbargebäude standen, hatten die beiden Polizisten bei Ankunft nicht gesehen. In eins davon stieg der Mann, nachdem er 6 Stockwerke über die Feuertreppen nach unten gerannt war und ziemlich ausser Puste war. Kevin war etwas fitter, doch auch er atmete heftig, als er am Boden ankam und der Wagen gerade aufs Gas drückte. Er schnaufte für einen Sekundenbruchteil durch, bevor er wieder sprintete, den Wagen aber bis zur Straße nicht mehr erreichte. Rücksichtslos fuhr der Flüchtige auf die, immer noch klitschnasse Straße, das Gewitter war etwas verzogen, es regnete aber noch. Der Fahrer eines Motorrads musste abbremsen, kam ins Schlinern und konnte gerade noch so die Rennmaschine anhalten. Der junge Polizist reagierte soforr, rannte zu dem Motorradfahrer und zog seinen Dienstausweis. "Polizeieinsatz, ich brauch sofort ihr Motorrad!", schrie er und zerrte den Mann von seinem Feuerstuhl. Semirs BMW, der einige Meter dahinter ankam, bemerkte er nicht als er ohne Helm die Maschine beschleunigte.



    "Sag mal, das war doch Kevin oder?", sagte Semir mit weiten Augen, als er den jungen Mann sich auf das Motorrad schwingen sah, und die Verfolgung des Wagens vor ihm aufnahm. "Ist der wahnsinnig? Und wo ist Jenny?" "Die muss noch drin sein.", vermutete Ben. "Halt an! Ich schau nach Jenny, und du nimmst die Verfolgung auf." Der erfahrene Polizist bremste vor dem Eingang zur Gasse, wo der Kellereingang lag, hart ab damit Ben aussteigen konnte. Dann nahm er die Verfolgung von Kevin auf. Dabei klopfte sein Herz bis zum Hals. Ja, sie hatten auch schon oft auf andere Fahrzeuge umsteigen müssen, um die Verfolgung aufzunehmen. Aber Semir würde, wenn nicht eine absolute Ausnahmesituation war, sich auf solch ein Selbstmordgerät setzen. Er konnte am Speed der Maschine feststellen, dass es sich um ein richtiges Renngerät handelte, jene Maschinen die problemlos innerhalb von Sekunden 250 km/h erreichen konnten, und deren Fahrer die Autobahnpolizisten ständig von der Leitplanke kratzen mussten. Diese Maschinen waren Semir ein Graus. Ja, er hatte sich auch schon auf Moto-Cross-Maschinen gesetzt, aber das war ein Unterschied. Jetzt musste er ansehen, wie sein junger Partner auf diesem Feuerstuhl Vollgas gab um eine Verfolgungsjagd aufzunehmen... im strömenden Regen und ohne Helm. Zweiteres war auch für Kevin ein Problem. Durch den Regen konnte er kaum was sehen, weil er die Augen zusammenkneifen musste, um Fahrtwind und Wasser abzuhalten.



    Durch Straßenzüge, die teilweise unter Wasser standen, ging die Verfolgungsjagd. Der Kerl, der einen dunkelblauen SUV fuhr, versuchte seinen Verfolger abzuschütteln, in dem er möglichst oft abbog. Auf einer geraden Strecke, streckte er den Arm aus dem Fenster, und feuerte auf das Motorrad. Kevin zog geistesgegenwärtig und zirkusreif zuerst das Vorderrad nach oben, um sich selbst mit der Maschine zu schützen. Dann fuhr er ganz dicht auf den SUV auf, damit er nicht gesehen werden konnte, musste aber sofort wieder ausweichen, als eine weitere Kugel durch die Heckscheibe des SUV geflogen kam. Als Semir mit seiner Dienstwaffe antwortete, natürlich ohne Kevin in Gefahr zu bringen, getroffen zu werden, stellte der Verbrecher das Feuer ein.
    Er bog ab in Richtung des Rheinhafens, wo sich viele bunte Container wie Legosteine aufeinander türmten. Auf normaler Straße konnte der Kerl Kevin nicht abhängen, also versuchte er es hier. Immer und immer wieder bog er zwischen den Containern ab, Kevin blieb ihm auf den Fersen, Semir ebenso. "Verdammt...", knurrte er, als er Richtung Hafenbecken zu fuhr und das Motorrad immer noch im Rückspiegel sah. Kevin beschleunigte und konnte immer nur die Rücklichter des Fluchtfahrzeugs erkennen. Als dieses vor dem Hafenbecken abbog, sah Kevin plötzlich nur noch den Kai. Gedanken schossen ihm durch den Kopf... würde er versuchen, die Kurve zu nehmen, würde er vermutlich gegen die Kaimauer krachen, die unmittelbar dort begann. Würde er jetzt in die Eisen gehen, könne er das Motorrad auf der nassen Straße nicht halten und stürzen. Bei dieser Geschwindigkeit waren beide Alternativen eine schlechte Wahl.



    Semir, der durch die Scheibe viel bessere Sicht hatte, hielt den Atem an als er sah, dass Kevin nicht bremste. Im Gegenteil... sein junger Partner beschleunigte, riss das Vorderrad erneut nach oben damit das Motorrad nicht an der Kante des Kais hängenblieb und er sich unkontrolliert überschlug... und fuhr geradeaus, während der Gangster nach rechts abbog. Kevin verfehlte die Kaimauer links und fuhr über den Rand des Kais ins Hafenbecken. Während des Fluges ließ er die Maschine los und versuchte abzuspringen, aus Angst dass er sich wehtat, wenn er mit der harten Maschine im Wasser landete. Dann wurde es auch schon kalt und mit einem mächtigen Klatscher landete der Polizist im Kölner Hafenbecken. Sein erfahrener Partner machte in seinem BMW eine Vollbremsung und sprang aus dem Auto. An der Kante zum Hafenbecken blieb er mit entsetztem Gesicht stehen und rief laut nach seinem jungen Kollegen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Ragnarök - gleiche Zeit



    Ben sprang richtiggehend aus dem Auto, kaum dass Semir angehalten hatte. Sofort klebten sein Shirt an seinem muskulösen Oberkörper, und einige nasse Strähnen hingen ihm im Gesicht, denn er wurde vom Regen durchnässt, bis er an der Kellertür ankam. Vorher hatte er nur kurz Kevin auf dem Motorrad hinterhergeschaut. Eine Mischung aus Bauchschmerzen vor Sorge und Kopfschütteln aufgrund des Leichtsinns seines jungen Partners machte sich in ihm breit. Dann aber konzentrierte er sich auf Jenny. Als der Polizist mit schnellen Schritten die angelehnte Kellertür erreichte, konnte er einen leichten Brandgeruch ausmachen und zog seine Waffe, schob den Brandgeruch dann aber auf den Ofen im Keller, an dem er ebenfalls vorbeilief. Auch er warf einen leicht verwirrten, angeekelten Blick auf den umgestürzten Stuhl und die Blutflecken, was seine Sorge um Jenny noch verstärkte.
    Vorsichtig schob er sich durch die Tür auf den Flur und verfiel in leichten, aber vorsichtigen Trabschritt, die Waffe im Anschlag. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf, als er zuerst den verwahrlosten, verwirrt flüsternden Junkie, der noch die grellgrün gefüllte Spritze im Arm stecken hatte, vorfand. "Scheisse...", murmelte er entsetzt und schluckte. Aber er wollte keine Zeit verlieren, die Sorge um Jenny trieb ihn an. Sechster Stock, hatte Kevin über Funk gesagt. Aber der junge Polizist würde doch Jenny niemals zurücklassen, wenn sie in ernster Gefahr war.



    Er fand den zweiten bewusstlosen Junkie vor der Toilettentür, fühlte vorsichtig mit zwei Händen den Puls, der sehr schwach und unregelmäßig schlug. Was für ein Loch war das, zum Teufel, dachte der Polizist bevor er zum Aufzug und zu den Treppen kam. Als er den engen, verwahrlosten Aufzug mit der, für diese Umgebung bizarren Musik sah, zog sich sein Hals zu und ihm wurde schwindelig. "Für kein Geld der Welt...", murmelte er und lief die ersten Stufen der Treppe hinauf. Es war kein abgetrenntes Treppenhaus, sondern eine gerade Treppe an der Längsseite zum Flur hinauf. Das hieß, er musste eine Treppe herauf und umgekehrt den Flur ein Stück ablaufen zur nächsten Treppe.
    Im 3. Stock sah er auf dem Flur ein Mädchen laufen. Sie schien gehetzt, panisch und schaute sich nach Ben um. "Hey!", rief der Polizist, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, doch sie erschrak förmlich vor dem fremden Mann mit der Waffe in der Hand. "Ich tu dir nichts!" Bens Schlinge um den Hals zog sich erneut zu... das Mädchen war 14, höchstens 15 und war nur in BH und billigen Boxer-Shorts bekleidet... und reagierte panisch. Sie rannte in das erste Zimmer, das sich ihr bot ohne zu wissen, dass es dort einen Ausweg gab. Was sie so erschrak, konnte Ben nicht sehen, denn ausser ihm war niemand da und seine Waffe hatte er deeskalierend heruntergenommen. Für einen Moment blieb der Polizist unentschlossen stehen... sollte er nach dem Mädchen sehen, oder erst Jenny finden. Er entschied sich für seine Kollegin.



    Bereits etwas ausser Atem kam er die Treppe zum vierten Stock nach oben und prallte erneut zurück, als sich eine Frau mit einer Waffe in den Weg stellte. "Oh Gott, hast du mich erschreckt...", keuchte Jenny und ließ die Waffe sinken. "Gleichfalls... wie siehst du denn aus? Ist alles okay?", sagte Ben und sah sich Jenny genauer an. Ihre Kleider und ihr Gesicht waren mit Staub bedeckt, ausser einer Wunde an der Stirn sickerte langsam ein wenig Blut durch den Staub, ihre Hose war an den Knien aufgescheuert und ihre Haare waren durcheinander. "Ja, es ist okay. Die haben die Zwischendecke weggesprengt, als sie uns angegriffen haben. Und dabei hab ich das Stockwerk gewechselt." Sie pustete durch. "Wo ist Kevin?" "Der hat einen flüchtenden Mann mit einem Motorrad verfolgt, als wir ankamen. Wie kann er dich einfach hier zurücklassen..." Jenny unterbrach ihn sofort: "Ich hab ihm gesagt, er soll ihn verfolgen.", was den jungen Polizisten versöhnlich nicken ließ.
    "Was ist das hier für ein Ort... hier bekommt man ja das Grauen.", fragte Ben, weil er vermutete, dass die beiden irgendwoher Informationen hatten, was sie hierher fahren ließ. "Ein ehemaliges Stundenhotel, und jetzt scheinbar der Auffangort für Junkies, die abhängig von Valkyr sind. Ausserdem haben wir oben Unterlagen für Waffen- und Drogengeschäfte gefunden. Die Käufer der Waffen haben uns diesen Tip gegeben.", erklärte die Polizistin und steckte die Waffe zurück in den Holster. "Ist das Stundenhotel wirklich ehemalig?", fragte Ben und erntete einen verwirrten Blick von Jenny. "Komm mit."



    Ben lief mit Jenny zusammen die Treppen herunter, ein Stockwerk tiefer in das Zimmer, in das das Mädchen geflüchtet war... es war leer. "Fuck ey.", entfuhr es dem Kommissar und seine Kollegin verstand nicht ganz. "Hier war eben ein Mädchen. Es lief auf dem Flur und schien sehr panisch und ängstlich zu sein. Jetzt weiß ich auch warum, wenn es da eben eine Explosion gegeben hat." "Ein Mädchen?" "Ja... höchstens 14 oder so. Und in Kleidung, die mich vermuten lässt, dass das Stundenhotel noch nicht ehemalig ist." Jenny fuhr sich durch die Haare und konnte sich nur im Ansatz vorstellen, was in diesem Loch mit jungen Mädchen passierte. Eine Vergewaltigung hatte sie selbst schon hinter sich, und sie wurde sofort daran erinnert. "Wo soll sie denn hin sein?", fragte sie sich und trat zusammen mit Ben auf den Flur, wo ihre Frage sofort beantwortet wurde.
    Mit apathischem Blick und zitternden Händen kam das Mädchen auf sie zu. In der Hand hatte sie ein blitzendes Messer, das sie vermutlich einem Junkie abgenommen hatte. "Ich hab ihn gesehn... ich hab ihn gesehn.", flüsterte sie mit hoher Stimme, und die Gänsehaut kehrte bei Ben und Jenny zurück, die beide sofort die Waffe zogen. "Leg das Messer weg... sofort!", sagte Ben bestimmt und stellte sich ein wenig vor Jenny. Beide hatten die Waffe nach unten gerichtet. "Ich spüre es... es fließt in mir... das Blut des Teufels."



    Es kam näher und näher, und Ben ließ es auf eine Armlänge herankommen. Gegner zu entwaffnen war mit das erste was man im Selbstverteidigungstraining bei der Polizeiausbildung lehrt. Ein Mädchen auf Drogen, das zwar zu allem entschlossen war, aber keinesfalls reaktionsschnell war oder mit einem Angriff rechnete, war leichte Beute. Mit dem Fuß trat Ben zu, traf die kleine Hand und das Messer fiel klackernd zu Boden. Sofort ergriff der Polizist das dünne Mädchen und warf es, so sanft wie möglich aber entschlossen wie nötig zu Boden. Jetzt schrie es laut, es schrie als würde man es foltern, ein heller gellender spitzer Schrei. "Sei ruhig! Hörst du!! Halt die Klappe, verdammt!!", versuchte Bens laute Stimme gegen den Schrei anzukommen und bemerkte, als er ihr die Hände auf dem Rücken fixierte, viele kleine Einstichstellen. Das Mädchen hatte scheinbar auch von dem Teufelszeug genommen.
    Jenny stand fassungslos und betroffen daneben... sie war wirklich noch jung und sah nicht gesund aus. Sehr blass, beinahe fahl, eingefallene Augenhöhlen und strähniges Haar. War sie allein hier? Waren noch mehr Kinder oder andere Frauen im Haus? Andere Junkies? Zumindest von den Gangstern schien niemand mehr übrig zu sein, sonst wären sie auf den Krach aufmerksam geworden. "Wir brauchen Verstärkung. Oben sind ein paar der Typen, die uns angegriffen haben, angeschossen und verletzt.", sagte sie, als das Mädchen sich einigermaßen beruhigt hatte, und nur noch zusammenhangloses Zeug flüsterte. "Okay...", sagte Ben und zog sein Handy, um Krankenwagen und Verstärkung zu rufen...

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  • Hafenbecken - 15:45 Uhr



    "KEVIN!!!" Semirs Stimme war laut und durchdringend, als er am Rande des Hafenbeckens in Richtung Wasser den Namen seines jungen Kollegen schrie. Das Motorrad schwamm im Wasser und weißer Dampf stieg von der Maschine auf, von Kevin war vorerst keine Spur. Semir bekam Panik, für einige Sekunden suchten seine Augen blitzschnell die Wasseroberfläche ab, ob sein Partner irgendwo zu sehen war. "Scheisse...", fluchte er dann und machte sich schon innerlich bereit zum perfekten Kopfsprung ins Hafenbecken, als Kevin sich mit kräftigen Schwimmbewegungen zur Oberfläche bewegte. Mit offenem Mund und schnellem Atem sog er gierig Luft in die Lungen. Semir atmete erleichtert auf, als er sah dass der junge Polizist keine Probleme hatte, zur Leiter an der Wand des Hafenbeckens zu schwimmen und dort hinauf zu klettern.
    Die Augen brannten, die Lunge ebenso und die Kleider erschienen Kevin zentnerschwer, als er die dünne Leiter heraufkletterte. Am Ende erwartete Semirs helfende Hand, die er ergriff und sich ein Stückchen hochziehen ließ, bis er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Dadurch, dass er bereits vorher durch den Regen durchnässt war, hatten sich weder seine Frisur noch seine Kleider geändert... sie waren nur schwerer und trieften. Ausserdem war er schmutzig im Gesicht.



    Kaum hatte er sich wackelnd auf die eigenen Beine gestellte, denn ein wenig schlauchte das Schwimmen schon, wurde er von Semir geschubst. Der erfahrene Polizist war ausser sich: "Sag mal, hast du sie noch alle? Bist du vollkommen lebensmüde?", warf er seinem Kollegen an den Kopf und sah ehrlich wütend aus. Er ging selbst oft enorme Risiken ein, wenn es um Verfolgungsjagden ging, aber sich ungeschützt auf eine solche Rennmaschine zu setzen, kam ihm gefährlicher vor als jede Auto-Verfolgungsjagd. "Weißt du, was da alles hätte passieren können?" Kevin sah den kleinen Mann mit offenem Mund, immer noch triefend und schwer atmend an. Für einen Moment konnte er gar nicht verstehen, warum Semir, ausgerechnet Semir der über fahrende LKWs sprang oder sich an Helikoptern hangelte, Kevin solche Vorwürfe machte. "Der Kerl wäre sonst weg gewesen...", war seine erste Rechtfertigung, doch im Gegensatz zu Semirs dominanter Stimme klang er fast kleinlaut... kleinlauter als er eigentlich wollte. "Wir waren doch direkt dahinter! Und wenn du schon unbedingt hinterher musst, warte das nächste Mal auf ein Auto. Ich kann gut und gerne darauf verzichten, Jenny schon wieder dabei zu zu sehen, wie sie um dich trauert!"



    Die beiden Männer standen sich am Hafenbecken für einen Moment gegenüber. Mittlerweile hatten sie die gleiche Frequenz beim Atmen... Kevins Puls legte sich langsam, während Semir schneller atmete, weil er sich so aufregte. Der eine triefte vor Wasser, der andere war noch trocken, weil er während des schweren Gewitters, das sich langsam verzog, die ganze Zeit im Wagen saß. Der junge Polizist spürte eine Art Sorge in Semir, die diesen Gefühlsausbruch verursachte... und so kämpfte er nicht dagegen an. Er blieb stumm, sah seinen Partner an und nickte beinahe resignierend und schuldbewusst, eine weitere Geste war, dass er beide Arme ein wenig hob und fallen ließ, verbunden mit einem Schulterzucken. "Darf ich trotzdem mit dir zurückfahren?", fragte er dann.
    Die Frage hätte Semir sarkastisch auffassen können, doch so war sie nicht gemeint. Sie war versöhnlich gemeint und das merkte der Menschenkenner auch. Innerlich hatte er schon befürchtet, dass Kevin auf die Standpauke negativ reagieren würde... tat er aber nicht. Und das überraschte ihn doch ein wenig. Genauso wie die schuldbewusste Frage wie die eines Kindes, das Angst hatte dass der Papa alleine heimfahren würde, weil er es vorher ausgeschimpft hatte. Normalerweise würde dieser das Kind dann in den Arm nehmen und sagen: "Selbstverständlich." Semir sparte sich das, sein wütender Gesichtsausdruck verflog und wich einem versöhnlichen. "Na komm..."



    Im Auto schaltete Semir die Klimaanlage ab, damit sein Kollege sich, pitschnass wie er war, keine Erkältung einhandelte. Noch auf dem Weg raus aus dem Hafengelände meldete er der Zentrale das Kennzeichen zur Fahndung und an Ben, dass alles in Ordnung sei. "Ich wollte dich nicht so anfahren.", sagte er, als er das Funkgespräch beendet hatte. "Aber gerade nach den letzten Monaten... wie oft wir Glück hatten... wie oft du Glück hattest." Kevin sah zu dem älteren Mann herüber. "Ich hab leider die Erfahrung gemacht, dass einen irgendwann das Glück verlässt, wenn man es oft genug herausgefordert hat. Und deswegen habe ich zwei, mit André und dir fast vier Partner verloren. Und wie gesagt... ich habe gesehen wie sehr Menschen leiden, wenn sie jemanden verlieren der ihnen wichtig ist.", spielte er nochmal auf Jenny an. Natürlich hatte er es mit Kevins vermeintlichen Tod auch vor kurzem selbst erlebt, und er bildete sich ein in den letzten Monaten sensibler geworden zu sein, wenn einer seiner Freunde seinen Hals riskiert. "Hast du dir jetzt Sorgen um mich gemacht, oder um Jenny?", fragte Kevin mit einem Lächeln, und es klang etwas sarkastisch, aber nicht provozierend, was Semir auch nicht so auffasste. "Ich mache mir um jeden von euch Sorgen. Wenn Ben sich auf das Motorrad gesessen hätte, hätte ich ihm auch in den Hintern getreten, sei dir sicher."



    Es war lange her, dass Kevin und Semir ein solch normales, wieder etwas vertrautes Gespräch führten. Nach alldem, was passiert war seit Semir den jungen Mann auf der Dienststelle niedergeschlagen hatte, als er erfuhr dass Kevin nach Kolumbien fuhr um Annie zu suchen. Dann Kevins Verschwinden, sein Wiederauftauchen und der Alptraum seines Gedächtnisverlustes... und Semirs schrecklichem Verdacht, dass der Mann, der sein Freund war, Ayda entführt hätte. Für einen Moment schwiegen sie, bis Semir erneut die Stille unterbrach. "Das ist alles in letzter Zeit sehr unglücklich gelaufen zwischen uns, hmm?", versuchte er den Moment zu nutzen, vielleicht so etwas wie ein Aufarbeitungsgespräch zu starten. "Kann man wohl sagen.", antwortete Kevin mit seiner monoton klingenden Stimme, die manchmal gleichgültiger klang, als sie klingen sollte. Das Wasser zischte unter den Reifen des BMWs und Semir schien einen Umweg zu fahren, um länger mit Kevin reden zu können. Sie wussten ja, dass bei Ben und Jenny auch alles ok war. "Je länger es her ist, und je länger ich Abstand davon gewinne, desto eher verstehe ich, warum du Annie helfen musstest.", sagte er nachdenklich. Er wusste um die Dämonen im Kopf des jungen Polizisten und wie sie ihn quälten. "Und mein Gedächtnis hab ich selbst schon mal verloren.", meinte er noch lächelnd dazu. Kevin fühlte sich für einen Moment verstanden... so wie er es oft tat in Semirs Anwesenheit, wenn er ruhig mit ihm sprach, leider viel zu selten. Sie funkten oft völlig verschieden, was vielleicht auch am Alter lag. Aber wenn dann, plötzlich, spürte er bei Semir soviel Verständnis. Oft kam dann aber etwas dazwischen, was das Vertrauen von Kevins Seite wieder brach.



    "Hmm... und ich konnte auch deine Sorge um Ayda verstehen, als du dachtest, ich hätte sie entführt.", sagte er unvermittelt, als wäre es das nebensächlichste der Welt. Semir bremste und hielt auf dem Seitenstreifen der Hauptstraße in Köln. "Was sagst du da?", fragte er völlig perplex mit aufgerissenen Augen. Er wusste nicht, dass Kevin diesen Verdacht mitbekommen hatte und sein Herz schlug etwas schneller. "Woher..." "Hotte kommt mit dem Funk nicht so zurecht. Als er dich für den Verdacht nach der Geiselnahme zurechtgewiesen hat, hatte er an all unsere Fahrzeuge gefunkt." Semir biss sich auf die Lippen und blickte durch die Frontscheibe auf die nasse Fahrbahn. Hatte Kevin wirklich gerade eine, noch nicht ausgesprochene Entschuldigung, angenommen... hatte er gerade Verständnis geäussert. "Dafür will ich kein Verständnis.", sagte Semir leise und fuhr wieder los. "Das war ein so unfassbar blöder Gedanke, der nur dieser Ausnahmesituation... und der davor... geschuldet war." Er sprach damit erneut auf Kevins Verwandlung zum Verbrecher an, die Patrick mit Intrigen perfekt sponn. Und dem jungen Mann auf dem Beifahrersitzt wurde klar, wie unangenehm es Semir war, sowas gedacht zu haben. Deswegen ritt er nicht mehr darauf rum, spürte aber dass nach diesem Gespräch ein paar Dinge zwischen ihnen ausgeräumt waren. Gedankenverloren griff er sich in die nasse Hosentasche und erschrak. Er griff ebenso in die anderen Taschen und fluchte lautlos... das Stück Papier, was er aus Zimmer 666 mitgenommen hatte, hatte er scheinbar bei dem Sturz ins Hafenbecken verloren...

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  • Dienststelle - 17:00 Uhr



    Zu viert und heil in einem Stück waren die Polizisten zur Dienststelle zurückgekehrt. Man hatte vor dem Hotel auf die Verstärkung gewartet, jede Menge Krankenwagen und Einsatzkräfte waren vor Ort um das Chaos in diesem Horrorhaus zu beseitigen. Einige der Junkies leisteten Widerstand, das Mädchen wurde zur Klinik gebracht und es war ein großes Durcheinander. Die vier Polizisten hatten sich schnell verabschiedet, sie konnten hier nichts mehr tun und wollten auf der Dienststelle unbedingt noch die neuesten Erkenntnisse zusammentragen und mit der Chefin teilen. Kevin, der von Jenny bei der Zusammenkunft kurz erleichtert umarmt wurde, weil sie sich ebenfalls Sorgen gemacht hatte als sie von Ben erfahren hat, auf welchem Vehikel er die Verfolgungsfahrt aufgenommen hatte, blieb gerade bei Semir im Auto. Es nutzte nichts, wenn er noch einen Sitz nass machte. Ben übernahm den Fahrersitz in Kevins Dienstwagen und fuhr mit Jenny zusammen zur PAST. "Wie kann er sich nur auf so ein Höllending setzen.", sagte sie kopfschüttelnd, nachdem sie dann auch noch erfahren hat, dass er Bekanntschaft mit dem Hafenbecken gemacht hat. Jenny hatte zwar grundsätzlich auch keine Angst, aber noch ein gesundes Maß an Selbsteinschätzung. Sie war auch schon in gefährliche Situationen gelangt, allerdings unverschuldet und nicht billigend in Kauf genommen. Ob sie, wie Semir und Ben, einfach mal auf ein fahrendes Auto springen würde... sie war sich nicht sicher. "Manchmal denkst du bei sowas einfach nicht nach.", sagte Ben am Steuer und lächelte. "Ich spreche aus Erfahrung."



    Auf der Dienststelle wurden die vier Polizisten von ihren Kollegen, die kurz davor waren in den Feierabend aufzubrechen, empfangen. Kevin wurde von Bonrath mit hochgezogenen Augenbrauen bedacht. "Bist du in den Regen gekommen?", fragte er aufgrund des gerade erst abgeklungenen Unwetters. "Ne, voll in die Traufe.", war die knochentrockene Antwort des jungen Polizisten, der trotz drückender Schwüle erstmal unter die Dusche verschwand. Einige Minuten später tauchte er mit frischen Kleidern und abstehenden feuchten Haaren im Büro der Chefin auf. "Jedenfalls bekamen wir bei der Befragung von diesem Benny nichts heraus, weswegen wir uns entschlossen hatten, die andere Seite dieses Waffenhandels zu befragen.", erzählte Jenny gerade. "Dort wurde uns das Ragnarök als Anlaufstelle genannt."
    Die Chefin hörte aufmerksam zu, auch wenn sie nicht besonders darüber erbaut war, dass es mal wieder zu Sachbeschädigungen gekommen war, sowie ein Motorrad eines Unbeteiligten gekostet hatte, wofür sie Kevin ein wenig kritisch beäugte. Aber sie kannte das ja bereits... gefühlt unterschrieb sie mehr Unfallberichte für die Ersetzung beschädigter Autos von Zivilisten, als Urlaubsanträge. "Die Unterlagen, die wir dort gefunden haben, weisen daraufhin dass einige Geschäfte mehr dort abgewickelt werden. Nicht nur Waffen, sondern auch Drogen und Prostituierte... vermutlich nicht ganz im legalen Alter.", sagte sie vorsichtig und dachte an das Mädchen, das man in dem Haus auffand.



    "Konnten die Unterlagen gesichert werden?" "Es hat dort oben nach der Explosion zwar gebrannt, aber es konnte schnell gelöscht werden, da dürfte noch einiges übrig bleiben zum Analysieren.", antwortete die junge Polizistin und regestrierte das anerkennende Nicken der Chefin als Lob. Schließlich war es ihr erster richtiger Einsatz im Kripo-Dienst mit Kevin zusammen, und bisher gab es keine der, von ihr erwarteten und einkalkulierten Probleme. Kevin hielt sich auch auffällig, für ihn aber nicht untypisch, im Hintergrund und überließ Jenny das Feld. Er knabberte daran, dass er das Blatt verloren hatte, auf dem ein ihm bekannter Name stand. Diese Person wollte er damit konfrontieren.
    "Kann man davon ausgehen, dass dieser Ort vielleicht in der ganzen Szene bekannt ist? Also nicht nur Anis Edhem Bourgiba sich diesen zunutze macht?", fragte die Chefin und dachte schon einen Schritt weiter. "Das können wir noch nicht sagen. Aber einige werden in der Szene sicherlich aufgeschreckt werden, wenn ihr Umschlagplatz plötzlich wegfällt. Das Hotel wird nun verschlossen und versiegelt.", sagte Jenny und Semir ergänzte: "Andrea versucht morgen früh sofort, den Besitzer der Immobilie ausfindig zu machen."



    "Gute Arbeit. Aber über den Verlust des Motorrades bekomme ich noch einen Bericht, Herr Peters.", sagte sie in Kevins Richtung, der stumm nickte. Dann waren Semir und Ben an der Reihe, die aber nicht viel erzählen konnten. "Dieser Anis scheint mir sehr abgebrüht. Er war durch die Fragen auch keinesfalls aus der Ruhe gebracht. Benny arbeitet zwar bei ihm, aber von dessen Geschäften hatte Anis natürlich keine Ahnung und verwies darauf, dass alle Ermittlungen gegen ihn oder das Charmin eingestellt waren. Also über den normalen Weg kommen wir an den nicht ran.", erzählte der erfahrene Beamte und wirkte ein wenig resigniert, wobei er das schon vorausgeahnt hatte.
    Ben sah seinen Partner von der Seite an und schwieg. Würde er noch die Frage nach Kevin erwähnen... oder den "Gruß". Mit keinem Wort kam Semir darauf zu sprechen und endete mit der Erzählung bereits. "Es ist für uns gut vorstellbar, dass dieser Anis in Waffengeschäfte als führende Person involviert ist. Er ist, wie sie selber schon gesagt haben, kein unbeschriebenes Blatt. Jetzt müssen wir ihm das nur nachweisen." Man war nicht viel weitergekommen, ausser die Dokumente aus dem Ragnarök und das Hotel selbst könnten neue Anhaltspunkte liefern. Mit dem Ergebnis entließ Anna Engelhardt die Mannschaft in den Feierabend.



    Kevin blickte in seinem eigenen Büro gedankenverloren auf sein Handy. Schon wieder zwei Anrufe in Abwesenheit, und zwei Whatsapp-Nachrichten... eine von Annie, eine von einer unbekannten Nummer, aber einem klaren Absender... die gleiche Nummer, wie die Anrufe. "Wir müssen unbedingt reden. Bitte komm so schnell wie möglich vorbei. Erik." Seine Augen verengten sich zu einem Schlitz... am liebsten hätte er das Handy in die Ecke gefeuert. Semirs Erscheinen im Büro verhinderte dies, er schloß die Tür hinter sich. "Ich wollte das eben nicht vor der Chefin sagen...", sagte Semir und setzte sich zu Kevin auf den Tisch. Er wählte diese Vorgehensweise, anders als Ben heute mittag, gerade nach dem Gespräch im Auto. "... aber dieser Anis hatte, nachdem wir gegangen sind uns einen etwas... naja, kryptischen Gruß hinterlassen." Kevin zog die Augenbrauen hoch und war ganz aufmerksam. "Kryptischer Gruß?" Sofort hatte er im Verdacht, dass Anis Andeutungen gemacht hatte... auf ihr Gespräch, auf ihre Vergangenheit, vielleicht um ihn wegen der Sache mit Benny unter Druck zu setzen. "Wir sollten dich von deinem Vater grüßen. Und es klang irgendwie... in unser beiden Ohren... bedrohlich." Dass Ben Anis nach Kevin gefragt hatte, verschwieg Semir... oder er erwähnte es einfach nicht. Es war nicht nötig, tat nichts zur Sache und schützte Ben ein wenig.



    "Weißt du, was das bedeuten könnten?" Kevin dachte nach und war einigermaßen verwirrt. Hatte die Penetration seines Vaters seit heute morgen etwas mit Anis zu tun? Plötzlich war er geneigt, das Redeangebot seines Vaters doch wahrzunehmen... allerdings nicht aus Hilfsbereitschaft. Scheinbar versuchte Anis ihn über seinen Vater unter Druck zu setzen. Er dachte so intensiv nach, dass er Semir keine Antwort gab. "Kevin? Denkst du nach, oder...", meldete der sich zurück in die Anwesenheit des jungen Polizisten. "Ich... ich weiß nicht. Ich meine, mein Vater hat auch einen Club in der Stadt, da kann es durchaus sein, dass die mal Geschäfte gemacht haben... welcher Art auch immer." Der Polizist hatte keine Ahnung, dass der Club seines Vaters von Schutzgeldforderungen des Tunesiers nur wegen ihm verschont geblieben war... bis jetzt. Genau dieses Thema sprach Semir an. "Schutzgeld vielleicht?" Es erschien auch Kevin logisch... weswegen sein Vater ihn um Hilfe bitten wollte. "Das kann sein. Aber wenn, dann weiß ich nichts davon.", sagte er wahrheitsgemäß und Semir glaubte ihm das. "Und wenn, wäre es mir auch egal.", bekam der erfahrene Polizist zu hören und spürte sofort eine unangehme Kälte in Kevins Stimme. "Wie meinst du das?" "Damit meine ich, dass es mich nicht interessiert, welche Probleme mein Vater hat. Selbst wenn eine Gruppe Schläger von Anis seinen Laden verwüsten würden...", sagte er unbarmherzig worüber der zweifache Vater ein wenig erschrak. "Aber mehr will ich über dieses Thema eigentlich nicht reden... okay?", sperrte Kevin Semir schnell wieder aus diesem Teil seines Seelenlebens aus.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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