Dinner mit Baal

  • Nachtclub Innenstadt - 19:00 Uhr



    Aus dem Inneren des Nachtclubs drang ruhige, der Location angepasste Musik, als Kevin seinen Wagen auf dem Parkplatz neben dem Club abstellte. Erik Peters Club war eine der besseren Adressen im Kölner Nachtleben, entsprechend waren die Fahrzeugmarken auf dem Parkplatz sortiert. Reiche Männer, die nach Feierabend Entspannung bei einem Gläschen Bier, Sekt oder Schnaps wollten, dabei hübsche Frauen begaffen und vielleicht zu späterer Stunde mit aufs Zimmer nehmen. Kevin hatte niemals Sympathie für den Job seines Vaters, auch wenn er in jungen Jahren kein Kind von Traurigkeit war... natürlich waren er und seine Clique in solchen Clubs unterwegs, wenn auch eine Preiskategorie tiefer. Der junge Punk hatte sich aber zumindest bei der käuflichen Liebe immer ausgenommen. Durch sein hippes und damals offenes Wesen und der Tatsache, dass er mit 16 schon älter aussah, als er war, schaffte er es manchmal mancher jungen "Angestellten" den Kopf zu verdrehen, ohne dass es auf ein Geschäft hinauslief. Geld bezahlt dafür, hatte er nie.
    Die Verachtung für den Job seines Vaters, bevor er diesen Nachtclub aufgemacht hat, war ungleich größer. Erik Peters war davor ein Zuhälter, hatte nach alter Tradition seine Mitarbeiterinnen knapp gehalten und mehr mit Peitsche als Zuckerbrot im Griff. Was er an seiner Gewaltbereitschaft mal nicht an seinen Mädchen ausließ, steckte dafür Kevin als Junge ein, bevor er von zu Hause ausgerissen ist.



    Seit Janines Tod hatten Kevins Vater und er selbst nicht mehr viele Worte gewechselt, nachdem Erik Peters seinem Sohn vorgeworfen hatte, schuld am Tod seiner Schwester zu sein. Sie suchten sich nicht, Kevin mied den Kontakt und es kam nur zu zufälligen Begegnungen, die nicht selten in lauten, beinahe gewalttätigen Auseinandersetzungen endeten. Der junge Polizist würde sich nie wieder von seinem Vater schlagen lassen, er würde sich wehren, das schwor er sich. Doch Erik schien das selbst auch zu wissen, und wenn der Streit an der Kippe stand, war meistens Kalle da um zu schlichten, wobei das Schlichten eher darin gipfelte, dass sie die beiden Streithähne sinngemäß mit den Köpfen gegeneinanderschlug.
    Es war also das erste Mal seit über 14 Jahren, dass Kevin seinen Vater aus eigenem Antrieb aufsuchte. Wobei dieser Antrieb nun rein beruflicher Natur war... und natürlich dem Verlangen, Anis den Wind aus den Segeln zu nehmen falls er was mit der Sache zu tun hatte. Ausserdem würde er seinen Vater darauf ansprechen, warum ausgerechnet sein Name auf den Bestelllisten im Ragnarök auftauchte... der Name, der auf dem Blatt Papier stand das Kevin mitnehmen wollte und beim Sturz ins Hafenbecken verloren hatte.



    Als er zur Bar kam, begrüßte ihn eine junge Schönheit dahinter mit einem bezaubernden Lächeln, das wohl jeden Mann auf der Suche sofort in seinen Bann zog. "Hi! Möchtest du was trinken?", fragte sie mit Augenaufschlag und schneeweißen Zähnen. "Nein danke. Ich wollte eigentlich...", begann er um nach dem Geschäftsführer, seinem Vater, zu fragen als eine weitere Frauenstimme, die sich von der Seite näherte, ihn unterbrach. "Kevin. Das gibts ja nicht, das ist ja ewig her." Er drehte den Kopf und sah eine knapp bekleidete Frau auf sich zukommen. Brandy nannte sie sich, hieß in Wirklichkeit Birgit, doch der bürgerliche Name versprühte nicht so sehr den erotischen Esprit weshalb sie sich vor 20 Jahren diesen Künstlernamen für diese Arbeit gab. Sie war ehemals eine "Angestellte" von Erik, teilweise seine Liebschaft. Mittlerweile war sie bestimmt Mitte 40, was man ihr aber nicht ansah. Sie kümmerte sich hier als gute Seele um die Tänzerinnen und die Bar. Die Frau umarmte den jungen Polizisten, gab ihm ein Küsschen auf die Wange und sah ihn an. "Gut siehst du aus. Bist ja ein richtiger Kerl geworden.", grinste sie und griff dem Polizisten an den Unterbauch, um ihre Aussage quasi zu kontrollieren, was Kevin kurz zum Grinsen brachte. Dann fuhr Brandy ihm noch durch die Haare: "Und zum Glück sind diese bunten Haare weg. Du willst doch nicht etwa zu deinem alten Herrn?" Sie wusste von dem äusserst schwierigen Verhältnis zwischen Vater und Sohn, wenn auch in erster Linie aus dem Mund Eriks. Doch Brandy kannte Erik und konnte sich ausmalen, dass dieser die Wahrheit schönte, deshalb hatte sie keine Vorbehalte gegen Kevin. Der zog die Augenbrauen hoch und meinte ernüchternd: "Leider doch..."



    Brandy brachte Kevin zu Erik ins Büro, und hinter der Tür sah jeder Club gleich aus. Schummriges Licht, altes Haus, weil es in der Innenstadt von Köln stand und ein Büro der vor allem ausgestattet war mit Bildern, einem Tischchen mit Whiskey und einer dunklen Ledergarnitur. Erik Peters Arbeitsplatz erfüllte so jedes Klischee, ausser dass der Hausherr keine Zigarre im Mund hatte, sondern eine filterlose Zigarette, die er jetzt im Aschenbecher ausdrückte, als Brandy mit Kevin in der Tür erschien. "Schau mal, wen ich draussen verhaftet habe.", sagte die Frau scherzhaft bezogen auf Kevins Beruf. Dessen Laune ging, als er seinen Vater hinterm Schreibtisch sah, zusehends wieder in den Keller, was er durch seine Miene auch ausdrückte.
    Erik schien überrascht vom Auftauchen seines Sohnes, hatte er doch nicht damit gerechnet. "Kevin... schön dass du da bist. Setz dich." Doch bereits diesen Gefallen tat Kevin ihm nicht, als Brandy den Raum verlassen hatte. "Was willst du?", fragte er ohne Begrüßung und hatte sich vorher entschloßen, erst einmal nach zu hören warum sein alter Herr überhaupt um einen Besuch bat. Vielleicht kam man dann schon auf das Thema, weshalb Kevin sich auf den Weg zum Nachtclub gemacht hatte.



    Als Kevins Vater regestrierte dass sein Sohn lieber hinter dem Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand, stehen blieb als sich zu setzen, seufzte er. "Ich stecke in Schwierigkeiten." Die beiden Männer sahen sich an, beide mit den unverwechselbaren blauen Augen gesegnet. Ansonsten hatten sie äusserlich, bis auf die Größe, nicht mehr viel gemein. Erik Peters trug sein, immer noch dunkelbraunes Haar etwas länger im Nacken, seine Haut war gebräunt aber faltig und "verbraucht" von seinem ausgeprägten Zigarettenkonsum. "Was geht mich das an?", fragte sein Sohn kaltherzig. "Du kennst doch Anis Edhem Bourgiba, oder?" Aha, dachte Kevin... wir kommen der Sache sofort näher. Er schwieg, so dass Erik fortfahren musste. "Das... das war nicht gut, dass du ihm die... naja, die Zusammenarbeit gekündigt hast."
    Nun wechselte der abwartende, abweisende Blick in Kevins Augen zu einem verwirrten, verständnislosen Blick. "Was soll das heißen?" Sein Vater seufzte, er musste ihm die Wahrheit sagen. "Das heißt, dass Anis Schutzgeld erpresst von verschiedenen Clubs in der Stadt. Und mich hat er quasi... verschont, weil du mein Sohn bist. Weil du Polizist bist und weil du ihm scheinbar früher auch den ein oder anderen Gefallen getan hast. Nur hab ich dich nie darauf angesprochen, weil ich dachte dass du... naja, dass du Anis sagst, dass du das nicht willst. Wegen unserm schwierigen Verhältnis." Und verdammt, damit hast du völlig recht, dachte Kevin in diesem Moment, als er nicht wusste ob er nun mit rasender Wut, Fassungslosigkeit oder anderen emotionalen Ausbrüchen reagieren sollte. Er starrte seinen Vater für einen Moment wortlos, bevor er die Sprache wiederfand. "Das ist jetzt nicht dein Ernst..."



    "Kevin, versteh doch. Ich hatte keine Wahl. Zu dieser Zeit lief es im Laden nicht besonders gut und wenn ich dann an diesen Clan noch Schutzgeld hätte bezahlen müssen, wäre der Club vor die Hunde gegangen.", rechtfertigte sich Erik und zündete sich eine weitere Zigarette an. Kevin machte einen Schritt nach vorne Richtung Schreibtisch und zischte: "Das ist mir scheissegal! Um mich für so etwas auszunutzen bin ich gut genug, was?" Sein Herz pochte laut in seiner Brust und sein Gehirn versuchte, sachlich nachzudenken. Wollte Anis nun wirklich Schutzgeld erpressen... oder war es mehr ein Versuch, Kevin unter Druck zu setzen, nach dem Motto: "Wir quetschen deinen Vater aus wie eine Zitrone, wenn du uns nicht hilfst, Benny aus dem Knast zu bekommen." Anis Idee hatte nur einen Schönheitsfehler... sie funktionierte nicht, weil es dem jungen Polizisten am Allerwertesten vorbeiging, ob sein Vater zahlen musste oder nicht.
    Erik Peters leckte sich über die Lippen. Nicht dass er ein schlechtes Gewissen hatte... sowas kannte er nicht, auch wenn er ganz selten das Verhältnis zu seinem Sohn bedauerte. Nein, er sah sich in der Zwickmühle. Für einen Moment hatte er Hoffnung, weil Kevin aufgetaucht ist, um zu helfen. Doch diese Hoffnung schwand mit dessen Reaktion. Dass der junge Polizist aufgrund anderer Hinweise da war, wusste der Nachtclubbesitzer nicht... und ohne diese Hinweise hätte Kevin die Anrufe seines Vaters weiterhin abgeblockt. "Ich weiß nicht, was Anis von dir verlangt. Aber... aber ich... ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du mir helfen könntest." Beinahe ungläubig schüttelte Kevin den Kopf, und sagte einen Satz mit einer Eiseskälte in der Stimme: "Und wenn dein Leben davon abhängen würde... vergiss es."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Charmin - 19:20 Uhr



    Anis stand an diesem Abend selbst hinterm Tresen seines Clubs, zusammen mit Cassandra. Sein Club war gut besucht um diese Uhrzeit, er war ja kein reiner Nachtclub sondern eine Mischung aus Lounge-Bar und Nachtclub. Zu späterer Uhrzeit würde die Kleidung der Bedienungen immer knapper werden, und es würde auch Showeinlagen geben, um diese Zeit war eher das jüngere Publikum da um abzuhängen und Shisha zu rauchen. Viele davon waren Landsmänner von Anis, Deutsche verirrten sich nur selten hier rein... und wenn, dann innerhalb einer solchen Jugendgruppe. Im ganzen Raum lag ein angenehmer Geruch der Shisha-Pfeifen, die an jedem Rundtisch in der Mitte standen und in Betrieb waren.
    Als Kamil durch die Eingangstür kam und schnurstracks zur Bar stiefelte, sah Anis aus. Der Gesichtsausdruck eines Freundes war ähnlich dem heute morgen, als er erzählte dass der Waffendeal schief gelaufen war. "Anis... es... es ist was schlechtes passiert." Anis seufzte... er hasste es, wenn schlechte Vorausahnungen eintrafen. "Was ist denn jetzt schon wieder los, Alter? Du hast mir schon den Morgen versaut, tu's jetzt nicht auch noch mit dem Abend." "Könnte aber leicht passieren... es gab eine Razzia oder einen Einsatz im Ragnarök."



    Der Tunesier sah seinen Freund für einen Moment ausdruckslos an. "Eine Razzia?", fragte er verwirrt und erstaunt. Wie zum Teufel kamen die Bullen so plötzlich auf das Ragnaröck, einen Umschlag Platz für kriminelle Bestellungen, die Anis umsetzte. Etwas altmodisch, aber sicherer als das Darknet. In diese Drogenhölle traute sich doch sonst niemand rein. "Wieso? Was ist passiert?" Kamil sah aus wie ein geprügelter Hund und seufzte. "Ich weiß nicht warum. Alex hat mich angerufen, er konnte gerade so flüchten. Ein paar Jungs haben sie verhaftet, es hat eine Explosion gegeben und vielleicht haben die Bullen auch ein paar Unterlagen mitgehen lassen." Anis stellte das Glas, das er gerade in der Hand hatte, fester auf den Tresen, als er müsste. "Fuck, Alter. Diese Bastarde...", knurrte er. Sein Freund biss sich auf die Lippen, als hätte er noch eine unangenehme Info, die er jetzt vorsichtig an Anis heranbrachte. "Der... der Beschreibung nach war einer der Bullen... also... das scheint dein Freund gewesen zu sein." Wie in Zeitlupe sah Anis wieder zurück zu Kamil. "Kevin?" Sein Freund nickte niedergeschlagen und sah aus, als würde er jeden Moment eine Ohrfeige von seinem Jugendfreund fürchten.



    Das passte überhaupt nicht in Anis Plan. Nicht nur, dass sie ihren Umschlagplatz gerade verloren hatten, und die Polizei nun so etwas wie Hinweise in den Händen hielten, wenn sie auch vielleicht nicht viel damit anfangen konnten... nein, auch seinen ehemaligen "Geschäftspartner", wie Anis sagte, schien er unterschätzt zu haben. Statt einzulenken, und Anis behilflich zu sein, Benny aus dem Knast zu bekommen nachdem der Verbrecher Kevins Vater mit Schutzgelddrohungen unter Druck gesetzt hatte, drehte der einfach den Spieß um und versetzte Anis einen Nadelstich. "Ist der bescheuert? Ist dem sein Vater so sehr egal?", sagte er provokant und entschloß innerlich bereits, ein paar seiner härteren Jungs in Erik Peters Laden zu schicken.
    Kamil zuckte nur hilflos mit den Schultern. "Tut mir leid..." "Schon okay, kannst du ja nichts für. Ich glaube, ich muss mir bei Kevin ein paar andere Sachen ausdenken, um ihn wieder zur Zusammenarbeit zu überreden." "Wir müssen uns beeilen, Alter. Der Deal soll schon in ein paar Tagen sein, und vorher brauchen wir Benny.", sagte der kleinere Tunesier mit leichter Panik in der Stimme, was Anis im nicht verübeln konnte und ihn trotzdem beruhigte: "Keine Panik. Das kriegen wir schon hin." Ein paar Stunden später sollte seine Laune weitersinken, als Erik Peters ihm eine SMS schickte mit dem Inhalt, dass er mit Anis' Schutz gegen Geld einverstanden war.




    Eriks Club - gleiche Zeit



    Für einen Moment herrschte eisiges Schweigen zwischen Erik Peters und seinem Sohn Kevin. Der ältere Mann konnte nicht recht glauben, was Kevin gerade gesagt hatte, doch er war überzeugt davon dass sein Sohn es noch einmal genauso wiederholen würde, wenn er fragte. Zuviel Entschlossenheit schwang in dessen Stimme mit und die Stimmung war zum Schneiden dicht. "Ist das dein letztes Wort?", fragte Erik Peters und auf seiner Stirn klitzerten Schweißperlen. Kevin schüttelte mit verkniffenen Augen den Kopf. "Nein, das war nicht mein letztes Wort. Ich habe deinen Namen auf einer Liste im Ragnarök gefunden. Du hättest zwei 16-jährige Mädchen "bestellt"", sagte er, wobei er das letzte Wort mit angeekeltem Gesicht beinahe ausspuckte.
    Diesmal bildete er sich ein, der Gesichtsausdruck seines Vaters war auf einmal viel weniger gestellt als vorher, als die Empörung in seine Mimik trat. "Das ist nicht wahr. Das musst du mir glauben. Was für eine Liste soll das gewesen sein." "Wir haben bei einer Razzia im Ragnarök Aufzeichnungen von Bestellungen, vermutlich im Zusammenhang mit Anis Geschäften, gefunden. Darauf stand dein Name und die Bestellung.", sagte er mit seiner monoton, aber ernst wirkenden Stimme.



    Erik Peters sah aus, als leide er Höllenqualen. "Ich hab damit nichts zu tun. Keine Ahnung, wie mein Name darauf kommt. Ich hab mit der Zuhälterei nichts mehr am Hut." Es hörte sich an, als wolle er sich rechtfertigen. "Es interessiert mich nicht, womit du dein Geld verdienst. Aber wenn ich rauskriege, dass du in deinem Schuppen hier Minderjährige anbietest, dann nehme ich dich höchstpersönlich fest, das schwöre ich dir.", zischte der Polizist drohend und wollte sich bereits zum Gehen abwenden.
    Kevins Vater stand ruckartig von seinem Stuhl auf, und wurde lauter. "Kevin, was soll ich tun? Mich für meine Fehler, die ich getan habe, entschuldigen? Dafür ist es doch längst zu spät und rückgängig macht es auch nichts. Wir leben beide unser Leben, und warum können wir uns nicht auf einer vernünftigen Ebene begegnen?" Die Worte machten Kevin beinahe rasend, wovon er sich aber zunächst, als er sich wieder zu Erik herumdrehte, nichts anmerken ließ. Erst seine zitternde Stimme verriet seine aufgestaute Wut. "Wir leben beide unser Leben?", fragte er erst leise, bevor er laut wurde. "Was weißt du von meinem scheiss Leben? Du weißt überhaupt nichts!! Du weißt weder was mir wichtig ist, noch was ich seit Janines Tod alles durchmache!! Einen Scheiss weißt du!", schrie er und würde die Musik im Saal nicht auf einer angemessenen Lautstärke laufen, würde Brandy jetzt vermutlich schauen, ob alles in Ordnung war. "Von mir aus, fahr zur Hölle! Aber lass mich, verdammt nochmal, in Ruhe!", schrie Kevin, bevor er zur Tür ging und diese hinter sich zuschlug. Langsam, beinahe wie in Zeitlupe, setzte sich Erik wieder an den Tisch und fasste sich an den Kopf, bevor er leise sagte, als sei Kevin noch da: "Aber du bist doch mein Sohn..."



    Ohne Verabschiedung an Brandy verließ Kevin den Club. Das war sie gewöhnt, denn der junge Polizist verließ den Club nach einem Gespräch mit seinem Vater immer in der gleichen Stimmung. Die Luft war noch warm, es war noch hell, aber Kevin nahm seine Umwelt wie durch einen Wattenschleier wahr. Es war selten, dass er so ausrastete und so laut wurde, wo er doch meistens alles in sich hineinfraß. Sein Vater hatte keine Ahnung, was er ihm angetan hatte. Der junge Polizist ging zwei Straßen weiter in eine Kneipe. Dort begann er zu trinken, bevor er um halb zwölf versuchte, den Heimweg zu finden...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Rheinufer - 7:00 Uhr



    Ihre Lungen brannten, Schweiß rann aus Jennys Haaren und ihr Puls pochte am oberen Limit. Die Sonne blitzte gerade zwischen den wenigen Hochhäusern Kölns auf und tauchten den Promenadenweg am Rheinufer in ein glänzendes hellorangenes Licht. Die junge Polizistin hielt sich am Geländer fest, es war noch kalt von der Nacht denn die Sonne hatte es noch nicht berührt. Es fühlte sich angenehm auf ihren verschwitzten Handflächen an, sie griff auch mit der zweiten Hand danach. Dann lehnte sie sich nach vorne und dehnte die Oberschenkelmuskulatur, wie sie es jeden zweiten Morgen nach einem Dauerlauf tat. In ihrem Ohr hämmerte der Beat eines der neuen Tophits, die auch tagsüber das Radio rauf und runter liefen. Langsam, während sie in die Sonnenstrahlen sah, beruhigte sich ihr Puls.
    Es war ihre Hausstrecke, die lief sie jeden Morgen. Nach ungefähr dreiviertel der Strecke kam sie an diesem Punkt, vorher hatte sie von den Intensität des Laufes her ihren Höhepunkt erreicht. Dann dehnte sie sich, schnaufte kurz durch und trabte dann langsam die letzten Kilometer zurück bis zu ihrer Wohnung. Danach duschte sie, frühstückte und machte sich fertig für den Dienst. Als sie noch mit Kevin zusammengewohnt hatte, waren sie oft gemeinsam zum Joggen gewesen, wobei sie oft den Eindruck hatte, ihr Freund würde absichtlich langsamer laufen als er konnte, und heftiger atmen als er musste, um sie nicht zu demotivieren.



    Als sie nun einen Moment über den Rhein blickte, in dessen Wasser sich langsam ebenfalls die Sonne spiegelte, dachte sie nach. Wie so oft überlegte sie, ob die Entscheidungen die sie in den letzten Wochen gefällt hatte, richtig waren. Ob es richtig war, Hamburg nach nur einigen Wochen den Rücken zuzukehren, nachdem was dort vorgefallen war. Ob es richtig war, nachdem sie vor Kevins Verlust geflohen war, nun auch vor Timos Verlust zu fliehen, ironischerweise zu Kevin zurück. Und ob es richtig war, wieder mit Kevin zu arbeiten, nach dem was in Hamburg vorgefallen war. Wenn sie nachts in einen Halbschlaf fiel, konnte sie manchmal immer noch das Bild sehen, wie er die Pistole auf sie richtete. Wie er Patrick eiskalt tötete. Seine Skrupellosigkeit schien sie manchmal am Morgen danach zu spüren, wenn er am Schreibtisch saß, und sie mit den hellblauen Augen anlächelte.
    Aber die Arbeit verdrängte viele Gedanken. Sie spürte, wie sie wieder ein Grundvertrauen zu ihm aufbaute, die manches negatives Gefühl sperrte. Und sie sah auch, wie Semir und Ben es schafften, ganz normal mit ihm zu arbeiten. Zumindest vordergründig taten sie das. Hin und wieder merkte die feinfühlige Jenny aber, dass die zwei Freunde sich, bewusst oder unbewusst, auch ein wenig von Kevin distanzierten, als würde eine unsichtbare Schranke zwischen ihnen stehen, als wäre er zwar dabei, würde aber nicht dazu gehören. Wie ein neuer Kollege, der erst ins Team finden musste. Aber das konnte sie sich auch nur einbilden, vielleicht.



    Das heftige Atmen, das näher kam, kannte sie sehr gut... schließlich hatte sie es beim gemeinsamen Joggen immer neben sich gehört, und manchmal auch beim gemeinsamen Teilen des Bettes. Jetzt schaute Jenny aber erstaunt auf, als ein verschwitzter Kevin in kurzer Hose nassem T-Shirt neben ihr auftauchte und ebenfalls verlangsamte. "Nanu... hast du dich verlaufen?", fragte sie lächelnd und legte eine Hand über die Augen um von der Sonne nicht geblendet zu werden. Kevin schüttelte den Kopf und sprach zwischen tiefen Atemzügen: "Ne... bin heute die große Runde gelaufen." Er hatte sich nach dem Aufwachen eingebildet, dass er unbedingt ein wenig mehr Flüssigkeit vor Dienstbeginn verlieren sollte, als sonst, nach gestrigem Abend. Der Kopf tat ihm zwar weh und er wurde nach 3 Kilometer bereits mit Seitenstechen gequält, hatte aber beim Sport eine eiserne Disziplin.
    Jenny lachte. "Wenn das deine große Runde ist, können wir die ja mal wieder zusammen laufen." Gerade hatte sie sich an den Gedanken erinnert, dass Kevin noch ein wenig ausgegrenzt wirkte, und das wollte sie spontan mit diesem Angebot ändern. Ihn wieder dazu holen, und vielleicht öfters etwas mit ihm unternehmen. Denn immer noch war der geheimnisvolle Mann für sie anziehend, der sich jetzt durch die platten, feuchten Haare fuhr. "Können wir machen.", sagte er lächelnd und in diesem Moment wirkten seine Augen überhaupt nicht skrupellos.



    Der junge Polizist lehnte sich genauso wie Jenny an das Geländer und schaute ebenfalls auf den Rhein. Er genoß immer noch ihre Anwesenheit, sowohl auf der Arbeit, als auch jetzt. Er würde lügen, wenn er behaupten würde, die Trennung, die von Jenny ausging, sei ihm egal. "Ich hab gestern noch mitbekommen von Ben, dass dieser... dieser Anis deinen Vater erwähnt hat?", sagte Jenny dann nach einigen Sekunden des Schweigens, als Kevin wieder zu Atem gekommen war. Er blickte herüber zu ihr. "Ja... scheinbar hatten die irgendwelche Geschäfte zusammen." Nach einer kurzen Pause sagte er: "Das ist mir aber egal. Du weißt ja, wie mein Verhältnis zu meinem Vater ist." Nach einem Streit mit seinem Vater hatte Kevin vor einigen Monaten einen Motorradunfall. Jenny hatte ihn verarztet, ihm Schutz geboten und hatte dabei eine der letzten emotionalen Grenzen bei Kevin überschritten.
    Damals hatte Kevin auch gesagt, warum er mit seinem Vater nichts mehr zu tun haben wollte, dass sein Vater ihn und seine Schwester im Stich ließ, quasi abschob. Jetzt sah sie ihn etwas mitleidvoll an. "Das tut dir nicht gut, dieses Verhältnis zu deinem Vater.", sagte sie vorsichtig, wie immer wenn sie mit Kevin über etwas aus seinem Privatleben besprach. Dann war es so, als durchquere sie ein Minenfeld, wo die Sprengkörper dichter zusammenlagen, als einem lieb war. "Das ist richtig.", bestätigte er mit mittlerweile beruhigtem Atem. "Aber daran wird sich nichts ändern... zumindest so lange er hier in der Gegend ist oder versucht, sich in mein Leben einzumischen."



    Der letzte Satz ließ Jenny aufhorchen. "Was hat er denn jetzt getan? Ich... ich hab nur das mit diesem Anis gehört." Kevin lief der Schweiß aus den Haaren, was aussenstehend vom Laufen sein konnte. Doch innerlich pochte es in seiner Stirn. Er hatte Semir und Ben nicht die ganze Wahrheit gesagt... jetzt spürte er Jenny neben sich, der Frau der er am liebsten alles anvertrauen würde... zumindest noch vor wenigen Wochen, als sie glücklich zusammen waren. Jetzt verursachte es ihm Schmerzen, sie anzuschwindeln. "Mein Vater wird von Anis erpresst... Schutzgeld.", sagte er und beobachtete erstmal die Reaktion seiner Ex-Freundin. Als diese ausblieb, sondern stumm aufforderte, weiterzuerzählen, kam er der Bitte nach. "Scheinbar hat Anis ihn... sagen wir, all die Jahre verschont davon, weil ich sein Sohn bin, und er mich von früher kennt. Jetzt scheint das nicht mehr zu zählen." "Weil wir Benny verhaftet haben?", schlussfolgerte Jenny und ihr Kollege nickte. "Scheint so, ja." Er legte alles in den Konjunktiv, alles als Vermutung, obwohl er die Gewissheit darüber hatte. So log er nicht... zumindest fühlte es sich nicht so an. "Und was wirst du tun?", fragte die junge Frau. "Nichts. Was soll ich tun?" Der Blick in Jennys Augen wurde ein wenig ungläubig. "Na... wenn du Anis von früher kennst..." "Was soll ich mit ihm reden? Ich hab mit ihm nichts mehr zu tun, ausserdem ermitteln wir gerade gegen ihn. Davon abgesehen...", und er zog die Mundwinkel verächtlich herunter "Warum sollte ich meinem Vater helfen?" Jennys Mund wurde trocken. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern, und wäre ihr Vater oder ihre Mutter in Schwierigkeiten, würde sie alles tun, um ihnen zu helfen. "Und von polizeilichen Wegen her." "Müsste mein Vater Anzeige erstatten, und das wird er nicht. Dazu hat er zuviel Angst vor Anis."



    Für einen Moment waren die beiden Polizisten am Rheinufer stumm, aber Jenny starrte Kevin an. "Ich weiß, dass du das nicht nachvollziehen kannst.", sagte Kevin leise. "Nein, das kann ich wirklich nicht. Ich kenne nur deine Erzählungen, und ich kann mir vorstellen, dass du einen großen Groll auf deinen Vater hast..." sanft fasste Jenny ihren Ex-Freund am Unterarm, dort wo zwei Striche tättowiert waren, und sie spürte seine heiße, feuchte Haut. "Aber er ist doch immer noch dein Vater.", setzte sie leise hinzu.
    Kevins Blick konnte den Augen Jennys nicht mehr standhalten. Er sah zu Boden, sah kurz auf den Rhein, als müsste er sich sammeln, als müsste er die richtigen Worte zusammen suchen. Es schien, als würde er sich an etwas erinnern, etwas was weit in der Vergangenheit lag und tiefe Wunden in ihm hinterlassen hatte. Erst ein paar Sekunden später schien er die Worte gefunden zu haben, als er Jenny wieder anblickte. Ob der Glitzer in seinen Augen vom Schweiß und der Anstrengung war, oder ob er für einen Moment mit den Tränen kämpfte, konnte Jenny nicht sagen. "Mein Vater ist als Vater für mich in diesem Moment gestorben, als er drei Tage nach Janines Tod an meinem Krankenbett stand...", er musste kurz Luft holen. "... an meinem Krankenbett stand und mir sagte... dass Janine noch leben würde, wenn es mich nicht gab. Er hat mir die Schuld an Janines Tod gegeben... so oft und so lange, bis ich es selber geglaubt habe." Kevins Stimme und sein Blick, der auf der jungen Polizistin haftete, würde sie noch einige Tage im Gedächtnis herumtragen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Ben's Wohnung - 07:15 Uhr



    Wie immer im Sommer bekam Ben Schlafprobleme. Wenn es warm und schwül war, lag er ohne Decke in Boxer-Shorts, und wälzte sich verschwitzt quer durchs Bett. Er hasste diese Hitze und er war froh, wenn es wieder kälter wurde und der Herbst Einzug hielt. Diesen Sommer konnte er nicht mal ungestört quer durchs Bett rollen, weil er irgendwann auf Widerstand stieß. Dieser Widerstand hieß Carina und schlief so friedlich und tief wie ein Kätzchen, dass Ben sie beinahe beneidete. Trotzdem liebte er es, sie zu beobachten wie sie eingerollt im Bett lag, die blonden Haare um sie herum. Und obwohl es gefühlt noch wärmer wurde, kuschelte er sich dicht an seine Freundin, wenn er versuchte wieder einzuschlafen.
    Nach dem Erpressungsfall, in dem Carina beteiligt war und nach dem Tod ihrer Mutter, hatten sie und der Polizist zueinander gefunden. Es war für Ben nach langer Zeit und vielen Bettgeschichten endlich mal wieder eine ernsthafte und feste Beziehung, und er genoß jede Sekunde der Geborgenheit, des Nachhausekommens, der Normalität. Carina hatte das Elternhaus schweren Herzens verkauft, auch um viele schlimmere Erinnerungen an die Alzheimer-Krankheit ihrer Mutter los zu werden und zog bei Ben ein, der mehr als genügend Platz hatte.



    Doch in dieser Nacht dachte er vor allem über den gestrigen Einsatz und den Fall an sich nach. Vor allem über Kevin und Anis. Eine Bekanntschaft von früher, aus Kevins dunklen Zeiten hatte bereits in der Vergangenheit mehrfach Unheil über den jungen Polizisten gebracht. Ob im Knast oder bei seinem Gedächtnisverlust nach Kolumbien. Überhaupt fußte der ganze Alptraum in Kolumbien auf die Bekanntschaft zu Annie, seiner Ex-Freundin aus alten Zeiten. Jetzt schon wieder... es zog sich wie ein roter Faden durch Kevins Leben, immer wieder mit seinem alten Leben konfrontiert zu werden. Jetzt stand vor Bens innerer Tafel Kevins Name, der Name von Kevins Vater und Anis. Und der Polizist versuchte die Zusammenhänge zu ergründen, zu erraten als würde er gegen seinen Freund ermitteln. Dunkel hing ausserdem immer noch die Wolke der Vergangenheit über ihn, Kevins Hände an seinem Hals, die unbarmherzig zudrückten...
    Der Wecker riss den Polizisten aus dem Halbschlaf, er drückte ihn stumm und drehte sich noch einmal zu Carina, um ihren schlanken Hals zu küssen. Sie räkelte sich ein wenig, murmelte unverständliches und schlief weiter, während Ben aufstand, unter die Dusche ging und sich für den Dienst fertig machte.



    Semir war natürlich schon vorher da, er war stets der erste. Obwohl Ben diesmal pünktlich war, hatte er das Nachsehen. Zumindest der Kaffee war schon fertig, als der jüngere der beiden Polizisten einen Guten Morgen wünschte. "Morgen.", murmelte auch Semir und seine Stimme klang müde. "Oha, da hatte jemand aber eine Nacht...", meinte Ben und setzte sich mit der dampfenden Tasse Kaffee, die obligatorisch war, egal ob es draussen heiß oder kalt war, an seinen Schreibtisch. "Wenns ne Nacht gewesen wäre. Lilly hatte Zahnschmerzen und wir waren die ganze Nacht auf den Beinen." Ben regte den Kopf ein wenig, um durch die Glasscheibe nach draussen auf Andrea zu schauen. "Deine Frau scheint das besser wegzustecken, als du." Und kichert fügte er an: "Naja... ist ja auch jünger."
    Semir verdrehte nur die Augen, die Sprüche seines Partners hoben seine Laune aber wieder etwas. "Sieh mal einer an...", meinte Ben dann einige Minuten später, als er aus dem Fenster blickte. Aus Jennys Kleinwagen stiegen zwei Personen aus... Jenny und ihr Partner Kevin. Die beiden hatten sich, nachdem sie sich beim Joggen getroffen haben, verabredet heute gemeinsam zur Dienststelle zu fahren. Auch Semir guckte interessiert, aber nicht zu auffällig. "Ist doch gut, wenn sich die beiden wieder gut verstehen.", sagte der erfahrene Kommissar. "Ich hab ja auch nichts dagegen gesagt."



    Die beiden grüßten ins Großraumbüro und setzten sich an ihre Schreibtische. Jenny fuhr sich durch ihre langen Haare. "Du wolltest mir doch noch die Bilder aus deinem England-Urlaub zeigen.", sagte sie in Kevins Richtung, der zu ihr aufblickte. Der junge Polizist zog sein Handy aus der Tasche und legte es bei Jenny auf den Schreibtisch. "Da sind alle drauf. Ich geh mal noch kurz vor die Tür." Natürlich wollte er nicht bei Jenny im Auto rauchen, deshalb verschob er die Nikotinsucht, bis sie im Büro waren.
    Die junge Frau bedankte sich und nahm das Handy zur Hand, um es per USB-Kabel mit dem PC zu verbinden. Der Bilder-Ordner war nicht besonders voll, da Kevin im Allgemeinen keine Fotos mit der Kamera machte. Doch in seinem Urlaub hat er das Wunderwerk der Technik für einige Fotos bemüht. Jenny klickte sich durch herrliche Landschaftsbilder an der Küste von Cornwall, auf Bilder von kleinen Steinhäuschen und weiten Landstraßen. Als sie ein wirklich schönes Bild von Kevin auf dem Motorrad sah, stutzte sie kurz. Kevin war doch eigentlich nicht der Typ, der einen Passanten bat, ein Foto von ihm als Erinnerung zu machen. Für einen Moment biss sie sich auf die Lippen.



    Die nächsten Bilder brachten die Lösung ihrer Frage. Und sie versetzten Jenny einen Schlag in die Magengrube. Das erste Bild war nur ein Zwicken, denn sie konnte das nackte Fußpaar, neben denen von Kevin am Strand, nicht zuordnen. Erst das Selfie der beiden, die knallroten Haare, die in der Sonne glänzten und ihr Lachen, das Jenny so noch nie gesehen hatte... denn als sie die junge Frau in der Entzugsklinik besuchte, sah sie von ihr höchstens am Schluß des Gesprächs ein zaghaftes Lächeln. Jenny war damals mit Annie im Reinen... jetzt schluckte die junge Frau. Die Bilder zeigten nicht nur eine Urlaubsbekanntschaft, oder das Treffen von zwei Bekannten. Kevin lächelte, seine Augen strahlten und er sah auf den Bildern glücklich aus. Glücklich mit der Frau, die ihn an die Nazis verraten hatte, die Semir beinahe verrecken ließ, und die verantwortlich war für die schlimmen Ereignisse in Hamburg... zumindest im übertragenen Sinne. Auf einem Selfie küsste Annie Kevin auf die Wange, bei einem weiteren küssten sich beide, mehr lachend als romantisch, auf den Mund. Die Bilder zeigten zwei Menschen, die sich mochten, die eine tiefe Verbundenheit zeigten, so empfand es Jenny in diesem Moment. Der Schlag in den Magen hatte sich längst zu einem Brechreiz entwickelt, und ihre Lippen zitterten. War das wirklich nur die Empörung darüber, dass ihr Kollege tatsächlich eine Beziehung einzugehen schien mit der Frau, die mit ihrer Drogenflucht nach Kolumbien soviel Unheil ausgelöst hat? Oder war es Eifersucht...? Als Ben zur Tür hereinkam um einen Guten Morgen zu wünschen, klickte Jenny die Bilder schnell weg...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Dienststelle - 8:30 Uhr



    Jenny biss sich innerlich auf die Lippen, als Kevin ins Büro zurückkehrte. Mit ihren grünen Augen schaute sie ihren Partner an, schien ihn mit ihren Blicken zu durchbohren. "Hübsche Fotos.", sagte sie, doch ihre Stimmlage hatte sich um 180 Grad gedreht... sie klang kühl, beinahe schnippisch. Und der junge Polizist wusste natürlich warum. Er war ja nicht dumm, und wusste genau welche Bilder unter denen waren, die sich Jenny angesehen hatte. Wortlos nahm er das Handy entgegen. "Ich wusste gar nicht, dass du Begleitung hattest." Innerlich wollte Jenny sich ohrfeigen, dass sie ihn so plump darauf ansprach. Eigentlich hätte sie sich den Satz "Ich bin eifersüchtig" auf die Stirn tättowieren können. "Hatte ich auch nicht. Annie lebt dort, und ich habe sie besucht.", stellte Kevin klar, ohne dass sich seine Klangfarbe zu vorher oder heute Morgen generell geändert hätte.
    Das Herz der jungen Frau pochte laut, und im Kopf hatte sie das Bild, auf dem sich die rothaarige Frau und der Polizist mit den abstehenden Haaren auf den Mund küssten und dabei lachten. Zusätzlich kam ihr das gemeinsame Jugendfoto in den Kopf. In ihrer Stimme hatte sich Vorwurf breitgemacht, ohne dass sie ihn nannte. Würde sie ihn jetzt nennen, klänge sie tatsächlich eifersüchtig. Jetzt saß Kevin aber auf seinem Platz und sah seine Ex-Freundin an, als erwarte er einen solchen Vorwurf, einen schnippischen Satz wie "Ich hoffe, ihr hattet viel Spaß." oder ähnliches.



    Kevin wollte Jenny nicht verletzen, als er ihr die Fotos gegeben hatte. Aber er spielte ihr auch kein Theater vor. Sie waren nicht mehr zusammen, so sehr er das auch bedauerte. Und was in England mit Annie passierte, würde immer in England bei Annie bleiben. Sie hatten sich gegenseitig getröstet, gegenseitig gut getan. Es waren, nach all den schrecklichen Ereignissen aus Kolumbien und dem Gedächtnisverlust, die zwei schönsten Wochen seit langem für den jungen Polizisten und er hatte sie genoßen. Und er war Jenny keine Rechenschaft mehr schuldig, genauso wenig wie er keine Rechenschaft eingefordert hatte, als Ben und Jenny zusammen im Bett waren. Er sah den England-Urlaub aber nicht als Gelegenheit, diese Sache zu begleichen... dafür war er nicht der Typ. Er hatte zwar an Jenny gedacht, wusste aber auch dass sie ihn nicht trösten würde... im Gegenteil. Er brauchte den Trost wegen Jenny. Und Annie war für ihn da... alles andere passierte wie im Traum. Und bevor er aus England abgereist war, stellten sie einander klar, was diese zwei Wochen für sie bedeuteten. Weder waren sie zusammen, noch waren sie getrennt. Sie lebten auch nicht in einer offenen Beziehung, mit der ein jeweiliger Partner klar kommen müsste. Sie hatten sich einander wiedergefunden und in zwei Wochen festgehalten... und hatte einer der beiden das Bedürfnis nach Halt und Trost, wäre der andere für sie da. Zumindest so lange derjenige keine feste Beziehung hatte, das stellten sie voreinander klar. Kevin hatte sich noch gewundert, wie sehr er und Annie in dieser Sache auf einer Wellenlänge funkte, und wie gut es tat zu wissen, dass jemand im Notfall für ihn da war. Das Gefühl, das er zu Annie hatte, war aber weder vergleichbar mit seiner Jugendliebe zu ihr, noch mit dem Gefühl zu Jenny.



    Einen Vorwurf konnte die junge Polizistin nicht mehr formulieren, sie hätte auch nicht gewusst wie, ohne dass sie sich blöd vorgekommen wäre. Das Telefon an Kevins Tisch unterbrach die Unterhaltung. "Peters, Autobahnpolizei?" "Kommen sie bitte sofort in mein Büro.", hörte er die Stimme der Chefin, die allerhöchste Warnstufe versprach, und anfügte: "Allein." Wahrscheinlich gab es den nächsten Anschiss, weil er das Verlustschreiben des Motorrads noch nicht aufgesetzt hatte, und innerlich verdrehte er die Augen. "Bin gleich wieder da.", sagte er beinahe tonlos, als er an Jennys Tisch vorbeiging.
    Als er freien Blick zum Büro der Chefin hatte, wurden seine Augen etwas größer. Thomas Bienert, Chef-Ermittler des Drogen-Dezernats stand mit zwei Kollegen bei der Chefin im Büro. Als Kevin eintrat, schüttelte er Hände und lächelte Bienert an. Die beiden waren nach dem Fall im Gefängnis im Guten ausgegangen, hatte Thomas mit seinem Einfluss doch dafür gesorgt, dass der junge Polizist weiter Polizist bleiben konnte. Semir war ebenfalls auf Bienert aufmerksam geworden, streckte den Kopf ins Büro und schüttelte ebenfalls herzlich Thomas' Hand. "Was gibts denn?", fragte er gutgelaunt, doch Anna Engelhard nahm Bienert die Antwort ab. "Nur eine Kleinigkeit." Ein eindeutiger Blick der Chefin, der nur verstanden werden konnte, wenn man bereits 18 Jahre mit Anna Engelhard zusammenarbeitete, und Semir verließ das Büro wieder. Sein Gute-Laune-Lächeln erstarb und er ging zu Hotte an den Schreibtisch, wo auch Ben gerade hinkam. "Was will Thomas denn hier?" "Keine Ahnung... aber wenn der Kollegen vom Drogen-Dezernat mitbringt, und die wollen alle zusammen mit Kevin reden, habe ich ein latent ungutes Gefühl.", offenbarte er.



    "Setzen sie sich, Peters.", sagte die Chefin, und ihre Tonlage verhieß nichts Gutes. Auch Bienerts Begrüßungslächeln war schnell einem analytischen Blick gewichen. "Wir haben erstmal nur ein paar Fragen. Warst du gestern abend im La Notte?" Der junge Polizist zog die Stirn in Falten. "Warum? Worum gehts?" "Du wurdest dort gesehen... und fotografiert.", antwortete Bienert und hielt Kevin sein Smartphone hin. Es zeigte verschiedene Bilder, Kevin an der Bar, wo er von Brandy umarmt wurde, ein weiteres als er mit Brandy zur Hinterzimmertür ging, ein drittes wo er sich, kurz vor dem Eintreten scheinbar noch einmal umsieht. Das Vierte zeigte ihn, als er den Club verlassen wollte, inklusive seines verärgerten Gesichtsausdrucks. Er nickte. "Ja, war ich. Warum?"
    Die Chefin kratzte sich am Handrücken und hörte stumm zu. Mittlerweile hatte Kevin das Gefühl, er würde verhört werden. "Was wolltest du dort?" "Ich habe mich mit meinem Vater getroffen. Ihm gehört der Laden." Bienerts Blick gefiel ihm nicht... er war nicht nickend zustimmend, sondern von Skepsis geprägt. Aber er kannte Kevin als einen Typ, der eigentlich ehrlich war und für Verfehlungen gerade stand. "Wir haben mit deinem Vater heute morgen schon gesprochen, nachdem wir von einem unserer Zivilbeamten in dem Laden die Bilder bekommen haben." "Zivilbeamte? Beschattet ihr mich?", fragte der junge Beamte, und der erfahrene Drogenfahnder schüttelte den Kopf. "Wir beschatten nicht dich, sondern observieren seit Wochen diesen und andere Clubs wegen möglicher Drogengeschäfte... und wenn jemand der Gäste nach nur wenigen Minuten an der Bar ins Hinterzimmer gebracht wird, werden wir hellhörig.", versuchte Bienert etwas zu beschwichtigen.



    Kevins Herz schlug ein bisschen schneller. Obwohl er eigentlich nichts zu befürchten hatte, zwickte es ihm im Magen. Ein untrügerliches Gefühl für Schwierigkeiten. "Wann genau warst du da?" "Das kann euch doch euer Beamter sagen." "Ich will es aber von dir wissen." Bienerts Stimme wurde nicht fordernd und lauter, er sprach mit Kevin ganz normal, weil er wusste, dass er bei dem jungen Mann keinen forscheren Ton anschlagen brauchte... dadurch würde er Kevin nicht aus der Ruhe bringen, wie manch unerfahrenen Kollegen. "Gegen 19 Uhr, vielleicht eine halbe Stunde oder so." Ein kurzer Blick auf Thomas' Notizzettel verriet, dass die Uhrzeiten mit den Angaben seines Beamten übereinstimmten. "Und du hast mit deinem Vater geredet?" Ein kurzes, stummes Nicken von Kevin. "Über was habt ihr gesprochen?" Was zum Teufel sollte das, fragte sich Kevin nun, und seine coole äussere Hülle bekam leichte Risse. "Privates... warum?"
    Bienert seufzte... er hatte gehofft, Kevin wäre kooperativ und es gäbe eine einfache Erklärung für das alles. "Kevin, dein Vater hat uns eben ausgesagt, dass er von 18 bis 21:30 Uhr nicht in seinem Club war. Und er dich ergo um 19 Uhr auch nicht getroffen hat." Der junge Polizist hatte das Gefühl, man hätte ihm gerade eine Holzlatte vor den Kopf geschlagen. "Wie bitte?", fragte er nur ungläubig und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Die Augen der Chefin taten das Gleiche, als sie Kevin ansah. "Also... was hast du in dem Club gemacht?", fragte Bienert nochmal in der Hoffnung, der junge Kollege würde nochmal die Kurve bekommen. "Das... das ist eine Lüge. Ich hab mich mit meinem Vater getroffen! Er hat mich mehrmals am Tag versucht anzurufen und hat mir auf die Mailbox geredet." "Das sagte er uns auch. Allerdings hättest du darauf nicht reagiert. Kann ich mal dein Handy haben?"



    Der junge Polizist fühlte sich furchtbar in die Ecke gedrängt, als er Bienert sein Handy gab, welches dieser an einen jungen Kollegen, den er mitgebracht hatte, weiterreichte. Der bat Kevin um Entsperrung, und sah sich dann die Anrufliste durch. "Ja, Chef. Erik Peters hat mehrmals angerufen, aber einige Anrufe wurden abgewiesen, andere nicht angenommen. Auch die Whatsapp-Nachricht wurde zwar gelesen, aber nicht beantwortet.", sagte er nach einigen Minuten. "Warum hast du nicht geantwortet, obwohl du zu ihm wolltest. Warum habt ihr keinen Termin ausgemacht?", fragte Bienert, und obwohl Kevin äusserlich weit entfernt vom nervös-sein war, pochte es doch laut in seinem Kopf. "Weil ich weiß, dass mein Vater abends immer im Club ist. Und die Entscheidung, dorthin zu fahren, spontan kam." "Dann sag mir doch einfach, was ihr so dringendes zu bereden hattet, wie er in der Nachricht schreibt." Für einen Sekundenbruchteil sah Kevin zu Anna Engelhard rüber, die ihn voller Erwartung ansah. Würde er die Wahrheit sagen, wären sie den Fall los... und Kevin einen weiteren roten Strich im Klassenbuch seiner Chefin. "Er hat mich um Hilfe gebeten in einer Sache, bei dem ich ihm nicht helfen kann und will. Ich habe nicht das beste Verhältnis zu meinem Vater.", presste er hervor. "Und mehr willst du dazu nicht sagen?" "Nein." Bienert spitze beinahe resigniert die Lippen. "Kevin, wir würden dich bitten, uns zu erlauben deinen Arbeitsplatz und deinen Spind zu durchsuchen. Genauso wie deine Wohnung. Freiwillig. Wenn nicht, brauchen wir nur eine Stunde für einen Durchsuchungsbeschluss, und dann werden wir noch genauer suchen. Ich bitte dich darum." Der junge Polizist meinte zu merken, dass es Thomas selbst nicht ganz einfach fiel, was er da tat. Und was er suchte, war mehr als eindeutig... Kevin wurde verdächtigt, im Laden seines Vaters Drogen gekauft zu haben. "Ihr lasst jeden durchsuchen, der in einem Club ins Hinterzimmer geht?", fragte er ungläubig. "Nicht jeden.", antwortete Bienert und sah den jungen Mann eindringlich an. "Aber vor allem die, die schon auffällig geworden sind. Und das weißt du." Kevin hielt seinem Blick stand, bis die Chefin sagte: "Herr Peters wird der Bitte freiwillig nachkommen." Für einen Moment herrschte eisiges Schweigen, bis er nickte. Er hatte nichts zu verbergen, viel mehr fragte er sich, warum sein Vater log. War es Rache? "Komm mit.", sagte er beim Aufstehen und Bienert folgte ihm.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • Dienststelle - 9:00 Uhr



    Mittlerweile hatte sich eine Traube des Interesses im Großraumbüro versammelt, um zu verfolgen, was die Drogenfahnder mit einem ihrer Kollegen vorhatten. In vorderster Front stand Semir, der vorher noch aus dem Büro der Chefin "verwiesen" worden war. Er trat nun auch erneut an Bienert heran. "Könnt ihr uns mal aufklären, was hier los ist?", fragte er mit einem Blick, der Unverständnis ausdrückte, als die beiden Kollegen von Bienert schnurstracks in Kevins Büro gingen. Die Chefin verscheuchte alle übrigen Beamten, ausser Ben, mit einem "Habt ihr nichts zu tun?" wieder an die Arbeit, während der Drogenfahnder Semir ein Stück bei Seite nahm. Auch Ben konnte mithören. "Einer unserer Zivilbeamten haben Kevin in einem Club gesehen, wie er eines der Hinterzimmer betreten hat..." Mit kurzen Sätzen schilderte Bienert die Unterhaltung im Büro der Chefin, während Jenny im Büro lauter wurde: "Hey, was soll das? Was machen sie da?" Kevin war den beiden Beamten gefolgt und berührte Jenny nur kurz an der Schulter. "Ist schon okay.", sagte er nur ohne weitere Erklärung.
    "Aber Thomas... ihr könnt doch nicht einfach wegen eines wagen Verdachtes das Büro oder seine Wohnung durchsuchen.", protestierte Ben nun leise. "Kevin ist durch seine Geschichte vorbelastet. Egal ob das Verfahren damals eingestellt wurde oder nicht, sowas bleibt immer hängen.", erklärte Bienert und hob fast entschuldigend die Schultern: "Auch ich habe einen Vorgesetzten."



    "Das verstehen wir. Trotzdem... sofort durchsuchen?", sagte nun auch Semir und fügte hinzu: "Du solltest Kevin doch kennen mittlerweile." Der junge Polizist war für seine beiden Kollegen ausser Hörweite, er beobachtete mit Jenny stumm, wie die beiden Männer Schubladen öffneten, Ordner durchblätterten und die typischen Drogenverstecke, die Kevin selbst alle kannte, prüften. "Deswegen bin ich auch selbst hier. Ich vertraue Kevin soweit, und werde darauf achten, dass wir vor allem in seiner Wohnung nicht zu tief in seine Privatsphäre stoßen. Darauf habt ihr mein Wort. Aber die Staatsanwaltschaft ist sehr erpicht darauf, dass gerade bei uns nichts schief läuft. Und ganz ehrlich... Kevin hat mittlerweile einen Ruf. Bei der Staatsanwaltschaft und beim Polizeipräsident. Und der ist nicht gut."
    Beinahe hilflos blickten Semir und Ben dem erfahrenen Drogenfahnder hinterher, als dieser ebenfalls das Büro betrat, dann folgten sie ihm und schloßen die Tür. Immer wieder warfen Bonrath und Hotte Blicke durch das Großraumbüro in Richtung der Durchsuchung. "Was suchen die nur?", fragte der baumlange Streifenpolizist und bekam von seinem dicken Partner postwendend eine Antwort: "Egal was sie suchen... für Kevin hoffe ich, dass sie nichts finden." Er kannte die Vorgeschichte des Polizisten und wusste, dass Bienert bei der Drogenfahndung war.



    Semir beobachtete seinen jungen Partner, als wolle er ihn scannen. Als versuche er, mit seinem Blick in die Gedankenwelt des Polizisten einzutauchen. Er stand völlig ruhig, mit verschränkten Armen an die Fensterbank gelehnt da, und beobachtete mit wachen Augen die Durchsuchungsmaßnahme. Kein Protest, kein nervöses Zucken, wenn die Fahnder einen neuen Schrank oder Ordner öffneten. Kevin war nicht blöd... selbst wenn er noch Drogen nehmen würde, was Semir nicht glaubte, würde er sie nicht hier verstecken. Aber er war in einem Club, in dem es scheinbar Drogenverkäufe gab. Und Bienert hatte Semir auch gesagt, dass man sich mit Kevins Vater unterhalten hatte, der die Version von Kevin nicht bestätigte. Das bereitete dem erfahrenen Auobahnpolizist Kopfschmerzen.
    "Wo sind die Spinds?", fragte einer der Drogenfahnder, als sie scheinbar das komplette Büro einmal auf links gezogen hatten. "Es reicht doch jetzt so langsam, Kollegen.", sagte Ben mit lauter Stimme. Egal was zwischen ihm und Kevin vorgefallen war... er war immer noch ein Kollege. Sein Kollege... und Kollegen von der Dienststelle würde er immer verteidigen. Vor allem, wenn es ein enger Kollege wie Kevin war. "Ihr werdet hier nichts finden!" "Wo die Spinds sind, habe ich gefragt.", wiederholte der Polizist mit etwas mehr Schärfe in der Stimme. Bienert griff sofort ein: "Ben... wir machen nur unsere Arbeit. Zeig uns bitte die Spinde." Ein kurzer Blick auf Semir, der stumm nickte, und Ben beruhigte sich. "Na schön...", sagte er und ging aus dem Büro in Richtung Flur, wo es einen extra Raum gab, wo die Spinde in einer Reihe aufgestellt waren.



    Als Kevin den Raum als einer der Letzten verlassen wollte, wurde er von Semir am Arm festgehalten. "Was hast du gestern in dem Club gemacht?", fragte er ihn leise, als die Kollegen vorne weg gingen. "Semir, ich schwöre dir. Ich habe mit meinem Vater geredet. Er wollte, dass wir uns treffen, und ich bin hingegangen.", wiederholte er das, was er auch Bienert gesagt hatte. "Und warum lügt dein Vater dann? Warum behauptet er, dass du nicht da warst?" "Ich habe keine Ahnung." Kevins leise Stimme klang resigniernd. Er hasste es, wenn er gedanklich in einer Sackgasse saß. Für einen Augenblick sahen sich die beiden Polizisten an. Semir überlegte fieberhaft... sagte Kevin die Wahrheit? Nach dem wirklich guten, offenen Gespräch gestern, wollte er es glauben. Aber die Aussagen seines Partners saßen tief: "Du hast gesagt, dass es dich nicht interessiert, was dein Vater macht. Das waren gestern deine Worte! Warum bist du dann trotzdem hingefahren?" Im Nachhinein hätte Kevin sich für dieses Zeigen seiner Gefühle ohrfeigen können. Wieder mal wurde ihm seine Offenheit zum Bumerang. "Weil ich wissen wollte, was er mit Anis zu tun hat! Nachdem du mir den Gruß überbracht hast." Daran erinnerte sich Semir noch, das hatte er Kevin gestern abend vor Feierabend erzählt. Es schien logisch, dass Kevin danach bei seinem Vater ermittelte... im Sinne des Falls. "Und? Was hat er darauf gesagt?" Kevin biss sich auf die Lippen. "Kevin, rede mit mir! Was hat dein Vater mit Anis zu tun? Und warum sollte dein Vater lügen, dass du nicht da warst?"



    "Kevin? Wir brauchen deinen Schlüssel!", rief Bienert vom Flur aus in Richtung Semir und Kevin, als Kevin wie erstarrt seinen älteren Partner ansah. Anis, sein Vater, Schutzgelderpressung, der Gruß. Plötzlich schien das Gespräch vor seinem Auge zu sein. Und plötzlich lag ein Bild vor ihm, wo vorher nur eine Menge Puzzlestücke lagen. "Anis... er hat das Ganze eingefädelt.", sagte Kevin leise und Semir legte die Stirn in Falten. "Wie meinst du das?" "Anis erpresst Schutzgeld von meinem Vater. Sicher hat er ihn zu der Falschaussage gezwungen." "Aber warum? Was will dieser Typ von dir? Und wie soll er das gemacht haben, gesehen hat dich schließlich der Drogenfahnder, davon kann er nichts gewusst haben." "Dann steht der Fahnder auf seiner Gehaltsliste."
    "Kevin!!", ertönte Bienerts Stimme ein zweites Mal, und der junge Polizist kam dem Drängen nach. Er ließ Semir stehen, der seinem jungen Kollegen hinterher blickte. Es war so verdammt schwer, ihn zu durchschauen. Wann sagte er die Wahrheit, wann log er... und wann schwindelte er nur ein bisschen. Jenny war mit Ben ebenfalls in dem kleinen Raum, wo man nun Kevins Spind aufsperrte, und durchsuchte. Auch hier schien man nichts zu finden und Kevins Kollegen atmeten auf.



    "Woher wisst ihr überhaupt, dass Kevins Vater die Wahrheit gesagt hat? Wo soll er um die Zeit gewesen sein?", fragte Semir dann, der nach dem Gespräch mit Kevin ein wenig Durchblick hatte. Für die Frage erntete er einen kurzen Blick von Ben, der Unverständnis ausdrückte. "Laut seiner Aussage hat er sich bei einem Geschäftstermin in einem anderen Club befunden. Deren Geschäftsführer hat uns das bestätigt." "Lass mich raten: Im Charmin?", sagt Kevin, der Semir dankbar für diese Frage war. Hätte er sie gestellt, hätte Bienert vielleicht keine Antwort drauf gegeben. Jetzt sah er den jungen Polizisten mit hochgezogenen Augenbrauen an: "Wieso ausgerechnet dort?", fragte er misstrauisch und mit seinen hellblauen, kalten Augen schaute Kevin Bienert direkt ins Gesicht. Der Drogenfahnder hatte plötzlich eine Erwartung für eine interessante Antwort... und wurde enttäuscht. "Ich hab nur mal geraten." Er weihte Bienert nicht ein. Würde er die Wahrheit erzählen, würde das Kreise ziehen. Niemand durfte erfahren, dass Anis die alten Kontakte zu Kevin wieder aufleben lassen wollte, um Benny aus dem Gefängnis zu bekommen. Dieses Spielchen war ein weiteres "Unter-Druck-setzen", was mit der Schutzgelderpressung von Kevins Vater seinen Anfang nahm. Anis wollte das Spiel machen, wollte den jungen Polizisten so zur Zusammenarbeit zwingen. Das müsste er nur beweisen... und er würde den Spieß umdrehen. Der nächste Zug würde sein Zug werden.


    "Wir fahren jetzt zu deiner Wohnung, okay? Willst du von hier jemanden mitnehmen, der sich das Ganze anguckt. Es ist immer gut für dich, Zeugen zu haben... falls irgendwas ist.", bot Bienert an, als sie den Spind wieder verschlossen hatten. Kevin sah sich kurz um, als Ben vortrat: "Ich komm mit." Er wollte Kevin jetzt nicht alleine lassen und sah sich ein wenig in einer Verpflichtung. Er hoffte, so ein wenig Vertrauen wieder gut zu machen, was zuletzt durch die unglücklichen Umstände verloren ging. "Nein, Ben. Du hast doch noch genug mit Semir zu tun.", sagte Kevin fast schon zweideutig, was Ben verwirrte. "Würdest du mitkommen, bitte?", fragte der junge Polizist in Richtung Jenny, die sich kurz unsicher umblickte, aber dann sofort zustimmte. Der kurze Stich ins Herz, den sie heute morgen beim Anblick der Urlaubsbilder bekam, tat noch weh. Aber sie erinnerte sich an ihre Gedanken heute morgen... und an Kevins Geschichte. Sie wusste mehr als Semir, Kevins Verhältnis zu Anis. Aber sie blieb stumm... sie wollte nicht etwas sagen, was Kevin vielleicht nicht wollte. Sie müsste sich zuerst mit ihm absprechen.
    Die drei Drogenfahnder gingen voraus, Kevin und Jenny folgten ihnen. Kurz bevor sie die Dienststelle verließen, drehte sich Kevin zu Semir um: "Ihr müsst meinen Vater in die Mangel nehmen! Ihr müsst beweisen, dass er gestern abend im Club war!" Auf der Dienststelle wusste er, dass keine Drogen versteckt waren. Ob Anis ihm nicht etwas in seiner Wohnung hinterlassen hatte... darauf wollte er nicht wetten. Hätte Kevin aber einen Beweis dafür, dass sein Vater gelogen hatte, könnte er das Komplott gegen sich auffliegen lassen... Semir nickte und Ben begriff jetzt, warum Kevin lieber Jenny statt ihn dabeihaben wollte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Innenstadt - 10:00 Uhr



    "Was soll das, wieso sind wir nicht mit Kevin in seine Wohnung gefahren?", polterte Ben in Richtung seines Partners. Er protestierte auf den ersten Kilometern, als sie von der Dienststelle aus bereits die erste Abfahrt Richtung Innenstadt nahmen und Semir noch nicht mit der Sprache rausgerückt hatte, wo sie überhaupt hinwollten. "Behalt doch mal die Nerven.", mahnte der erfahrene Kommissar und tätschelte Ben fast liebevoll auf den Oberschenkel, um ihn zu beruhigen. "Wir helfen Kevin auch so. Er hat mir glaubhaft versichert, dass er gestern bei seinem Vater war, nachdem ich ihm von der Sache mit dem Gruß erzählt habe. Also befragen wir seinen Vater jetzt selbst."
    Die Aussicht, Kevin so zu helfen, beruhigte Ben in der Tat. Er ließ sich von Semir berichten, was Kevin eben erzählt hat. Die Schutzgelderpressung durch Anis und dadurch die Falschaussage von Erik Peters. "Aber das "Warum?" steht immer noch im Raum.", überlegte Semir laut, als er mit Erzählen fertig war, und Ben stimmte in seine Gedanken ein: "Für eine Rache wegen der Verhaftung Bennys ist der Aufwand ziemlich groß und das Ergebnis recht harmlos. Typen wie Anis greifen doch da zu Handfesterem... bzw seine Leute.", meinte der Polizist und schlug als Veranschaulichung der handfesteren Methode eine Faust in die offene Hand.



    "Deshalb. Ich glaube nicht, dass es mit diesem Benny zu tun hat. Oder dass dieser vielleicht nur der Auslöser war." sagte Semir und lenkte den silbernen BMW in Richtung Innenstadt. "Ich glaube eher, dass es da um etwas anderes geht. Vielleicht eine alte Rechnung aus Jugendzeiten zwischen Kevin und Anis, irgendwie so etwas." Als er den Wagen an einer Ampel anhielt, setzte er noch nachdenklich dazu: "Auf dieses Warum hat Kevin mir keine Antwort gegeben." Es war wieder so typisch für diesen undurchsichtigen Kerl. Er gab nie den Blick auf das große Ganze frei, ließ sich immer nur durch kleine Gucklöcher in seine Seele und seine Vergangenheit blicken.
    "Ich glaube, das wird auch nicht so leicht sein, von Kevin da eine Antwort zu bekommen.", vermutete Ben. "Dann hoffen wir mal, dass er in der Beziehung nicht von seinem Vater abstammt. Vielleicht ist der ein wenig redseliger." Der junge Polizist sah misstrauisch herüber. "Der muss ja erstmal eine Falschaussage zugeben... wenn er das überhaupt tut." Semir stoppte den Wagen vor dem Nachtclub, der um diese Uhrzeit natürlich geschlossen war.



    Deswegen gingen Semir und Ben in den engen Hausflur neben dem Eingang des Clubs und klingelten in der darüberliegenden Wohnung, wo Erik Peters wohnte... mit wechselnden Bekanntschaften. Ben hatte ein mulmiges Gefühl, als sich die Stimme am Lautsprecher meldete... schließlich kannte er Kevins Vater nur von kurzen Erzählungen. Und die waren allesamt nicht positiv. "Ja? Wer ist da?" Die Stimme klang verschlafen. "Autobahnpolizei. Machen sie bitte die Tür auf, wir haben ein paar Fragen?" Es dauerte einen Moment, bis der Summer erklang und Semir die Tür aufdrückte. Erik Peters hatte die Stimme nicht erkannt, es war nicht sein Sohn. Aber offenbar seine Kollegen.
    Er erwartete den Besuch im ersten Stock an der offenen Wohnungstür. Semir fielen sofort die hellblauen Augen auf... ein Merkmal, das Erik Peters seinem Sohn definitiv weitergegeben hat. Jetzt wirkten die Augen müde, die längeren Haare ein wenig zerzaust und der Mann stand in Shorts und T-Shirt in der Tür. Scheinbar hatte er noch geschlafen. "Was gibts?", fragte er missmutig mit kratziger Raucherstimme und die beiden Polizisten stellten fest, dass er äusserlich ausser der Augen nichts mit ihrem Kevin gemeinsam hatte.



    "Dürfen wir vielleicht kurz hereinkommen?", fragte Semir höflich nachdem sie beide die Dienstausweise gezeigt hatten und Erik gab etwas unverständlich murrend den Durchgang frei. Es war eine, etwas altmodisch auf Junggesellen eingerichtete Wohnung mit vielen Motorrad-Fotos und amerikanisch angehaucht. So stand im Wohnzimmer zum Beispiel eine alte amerikanische Zapfsäule zur Dekoration. Ohne den beiden Männern Sitzgelegenheit oder etwas zu Trinken anzubieten ließ Erik sich müde aufs Sofa fallen. Er hatte sich nach der noch früheren Störung durch die Drogenfahnder wieder hingelegt. "Sie haben der Drogenfahndung heute morgen zur Auskunft gegeben, dass sie gestern zwischen 18 und 21:30 Uhr im Charmin waren?", fragte Semir während Ben sich unauffällig in der Wohnung umsah, aber aufmerksam zuhörte. Ihm fiel sofort auf, dass es nirgends auch nur ein einziges Bild gab, das Erik Peters und seinen Sohn oder seine Tochter zeigten. Nicht mal aus frühesten Kindheitstagen, als die Welt noch in Ordnung schien. "Richtig, aber das habe ich heute morgen ihren Kollegen schon gesagt." "Unser Kollege behauptet dagegen, er hätte sie gegen 19 Uhr hier im Club getroffen." Semir hatte sich auf die Lehne des Sessels gesetzt und schaue den Mann an. "Das stimmt aber nicht. Um diese Uhrzeit war ich nicht da. Keine Ahnung, was Kevin im Hinterzimmer gemacht hat."



    Erik konnte Semir nicht in die Augen sehen. Immer wieder schwandt der Blick, was Semir im Glauben an Kevins Wahrheit bekräftigte. "Sie wissen, dass eine Falschaussage strafbar ist?" "Was? Wieso Falschaussage? Ich war im Charmin, dafür gibt es Zeugen." "Zeugen, denen es nutzt wenn Kevin Ärger bekommt. Nämlich den Inhaber des Charmins, der ihr Alibi bestätigt hat.", schaltete sich nun Ben ein und stellte sich neben Semir. "Das ist ein sehr dünnes Alibi." "Herr Peters, warum haben sie ihren Sohn um ein Treffen gebeten?", fragte Semir nun, denn im Gegensatz zu Bienert hatte er diese Information. Bienert bekam sie erst nach der Befragung. Erik leckte sich kurz über die Lippen. "Es ging um etwas Familiäres." "Und was genau?" Wieder eine Unterbrechung des Augenkontaktes. Er konnte seine Emotionen nicht verbergen wie Kevin, der äusserlich scheinbar seelenruhig blieb, wenn er innerlich aufgewühlt war. "Ich hatte von seinen Problemen vor einiger Zeit mitbekommen, die er auf der Arbeit hatte. Über Kalle. Und ich wollte ihm anbieten, dass er bei mir einsteigt um auch den Laden zu übernehmen, wenn ich mich zur Ruhe setze. Aber er hat das Gesprächsangebot nicht beantwortet." Ben verengte die Augen... wie konnte jemand nur so frech lügen. Aber Semir blieb noch ruhig, er blieb im Polizistenmodus und sah Erik als normalen Verhörpartner, nicht als Vater seines Partners.



    "Herr Peters, werden sie erpresst?" "Wie bitte?" "Ob sie erpresst werden? Zu dieser Aussage gezwungen?", wiederholte Semir und Erik Peters schüttelte erst zögerlich, dann energisch den Kopf. "Nein... nein! Was soll der Unsinn, warum sollte ich?" "Wir haben die Information dass Anis Schutzgeld von ihnen erpresst. Bekommen sie für diese Aussage einen Nachlass?" "Hat Kevin das behauptet?", fragte Erik und sein Ton wurde mit einem Mal schärfer. Er hätte nicht gedacht, dass sein Sohn mit seinen Kollegen über Privates spricht, wo Kevin gegenüber Kollegen doch oft verschlossen und unnahbar war. "Wir stellen hier die Fragen. Wo wir die Information her haben, ist irrelevant.", stellte Ben klar. Eriks Lippen bebten und wieder brach der Augenkontakt ab. "Ich glaube, es ist ihnen nicht ganz klar, was eine Falschaussage bedeutet. Nicht nur für sie, sondern auch für ihren Sohn!", erklärte Semir mit eindrücklicher Stimme. "Wenn dieser Anis ein Komplott gegen Kevin führt, und ihn nicht nur unter Verdacht des Drogenhandels stellt sondern vielleicht auch etwas in seiner Wohnung versteckt hat... dann kann ihn das seinen Job kosten. Und ich weiß nicht, ob sie wissen, was der Job für ihren Sohn bedeutet. Wollen sie das?" Im Normalfall hätte Erik Peters genickt, denn er war tatsächlich aus privaten Gründen schon immer dagegen gewesen dass Kevin Polizist war. Er wusste aber auch, wie sehr Kevin ihn hasste. Irgendwann wurde die Ablehnung zu dessen Job zur Gleichgültigkeit.



    Doch die Antwort blieb aus, nur ein ablehnendes Kopfschütteln von Erik kam als Reaktion. Als Reaktion, dass er bei seiner Aussage blieb. "Gut... okay.", sagte Ben zu Semir und klopfte ihm auf die Schultern. "Lass uns gehn. Hartmut wird durch die Einlogdaten seines Handys rausbekommen, wo er sich zur entsprechenden Uhrzeit aufgehalten hat. Den Beschluss hat er ja schon eine Stunde, vielleicht hat er schon ein Ergebnis." Dabei zog er das Handy aus der Tasche und beobachtete Eriks Reaktion. Diese kam prompt: "Ich hatte mein Handy im Büro gelassen." Ben beugte sich ein wenig zu Erik herunter, und seine Stimme klang drohend: "Dann hoffe ich mal für sie, dass sie nicht telefoniert haben oder auch nur eine Sekunde im Internet gesurft haben in der Zeit. Oder dürfen ihre Mitarbeiter etwa auch ihr Handy benutzen?" Eriks Herz schlug fest an den Rippenbogen. "Wenn sie uns jetzt die Wahrheit sagen, werden wir bei der Drogenfahndung klarstellen, dass sie zur Falschaussage gezwungen wurden.", sagte Semir und setzte hinzu: "Helfen sie ihrem Sohn!" Mit einer Hand fuhr sich der Clubbesitzer die Haare. Dann sagte er kryptisch: "Hätte Kevin mir geholfen, müsste ich mich von Anis nicht erpressen lassen..."

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  • Kevins Wohnung - gleiche Zeit



    Hausdurchsuchungen hatte Kevin oft mitgemacht. Als Polizist der Mordkommission hatte er ständig damit zu tun und es war ihm immer unangenehm, vor allem wenn er selbst vermutete, dass die Person dessen Hab und Gut gerade durchwühlt wurde, unschuldig war. Als junger Punk gab es in der alten Halle nie viel zu durchsuchen... mit den Punks machte die Polizei sowieso kürzeren Prozess... mit Schlagstock und Pfefferspray. Was sie dann an Pillen nicht freiwillig herausrückten, durften sie ihretwegen behalten. Doch jetzt fühlte er sich furchtbar, was er nach aussen nicht preisgab. Bewegungslos lehnte er an der Küchenanrichte und sah zu, wie die beiden Mitarbeiter von Bienert hinter Tassen und unter Teller im Schrank sahen, wie sie die Regale filzten in denen Kalles Krimis standen und hilflos betrachtete er, wie einer der beiden Kevins Kiste aus dem Zimmer trug, das Kevin als Schlafzimmer nutzte.
    "Kannst du die Kiste bitte durchsuchen?", sagte Kevin mit seiner oftmals monotonen Stimme in Richtung Thomas, der wie Jenny erstaunt aufblickte. Es unterstrich ein wenig, dass der junge Polizist zu Bienert ein besonderes Verhältnis hatte, weil sie schon manches erlebt hatten gemeinsam. Wären Semir oder Ben da gewesen, oder Jenny hätte die Erlaubnis gehabt, die Durchsuchung durchzuführen, hätte er sie gebeten. So nahm Thomas einen Blick in Kevins besondere Vergangenheit, vor allem das Foto mit seinen bunten Haaren und seiner jungen Schwester betrachtete er kurz.



    Jenny beobachtete ihren Ex-Freund. Sie sah, wie er mit flinken Augen jeden Griff der Beamten verfolgte, immer abwechselnd zwischen den beiden hin und her. Er tat ihr leid, und sie war sich fast sicher, dass die Beamten hier nichts finden würden. Sie vertraute Kevin... doch eine kleine Restskepsis konnte sie nicht unterdrücken. Immer, wenn einer der Beamten eine neue Schranktür öffnete, wo sich etwas verbergen könnte, hielt sie die Luft an. Sie bemerkte auch, wie Kevin das erniedrigende Schauspiel mit eiskalt erstarrter Miene verfolgte. Die junge Frau kannte den besonderen Polizisten mittlerweile und wusste, dass diese gleichgültige Fassade sein arroganter Schutzwall vor jeglichen Einflüssen in seine Seele war. Er spielte diese Rolle perfekt. Doch sie spürte, dass er sich dabei hundeelend fühlte. Der einzige lockere Moment für sie war, als Kalle mit ihrer ungehaltenen Art den Beamten Backpfeifen im Dutzend versprach, wenn eines ihrer Kleider im Schrank, den sie ebenfalls durchsuchten, beschädtigt werden würde.
    Er selbst bemerkte aber durchaus, dass Bienert nicht gelogen hatte. Hin und wieder merkte er an seine beiden jungen Mitarbeiter an, dass sie diesen Schrank nun genug durchsucht hatten, oder auch mal noch das nächste Zimmer ansehen sollten. Das ein oder andere typische Drogenversteck, die Kevin alle kannte, blieben undurchsucht. Bienert war der Überzeugung, dass der junge Kommissar soviel Schneid und Courage hatte, dass er zum jetzigen oder späteren Zeitpunkt, wenn sie alleine waren, er zugeben würde dass sie etwas übersehen hatten... oder von vorneherein sagen würde, dass er was hat. Das tat er aber nicht.



    Doch auch ein genialer Polizist wie Thomas Bienert konnte sich täuschen. Und ein Bauchschmerz der Enttäuschung ergriff von ihm Besitz als sein Mitarbeiter aus dem Zwischenraum der Couch plötzlich ein Pillendöschen hervorzauberte. "Schauen sie mal, Chef.", sagte er und hielt es ein wenig nach oben, um es Bienert zu übergeben. "Was ist das?", fragte er in Kevins Richtung, dessen Herz nun bis zum Hals schlug, was er sich aber ebenfalls nicht anmerken ließ. Jennys Augen wurden groß, und auch in ihr machte sich eine gigantische Enttäuschung breit. Die Pillen sahen exakt so aus, wie das Döschen, das sie damals bei Kevin in der Dusche gefunden hat, als er vor ihr zusammenbrach und zugab, noch Drogen zu nehmen. Sie drehte den Kopf zu Kevin, dessen Blick ein wenig Souveränität verloren hatte, doch sie hielt dem Blick nicht lange stand. Eine Klammer legte sich um ihre Brust, als hätte sie nun die Gewissheit, dass er immer noch abhängig war. Das Döschen war nur zu einem Drittel gefüllt.
    "Ich hab keine Ahnung.", sagte Kevin ohne den Blick von dem Döschen abzuwenden oder sich von seinem Platz wegzubewegen. Nur in seinem Kopf arbeitete es auf Hochtouren. Er war sich sicher, dass er nichts mehr hatte. Seit dem Gedächtnisverlust hatte er jeglichem Konsum widerstanden und er war sicher, alles was er hatte, entsorgt zu haben. Selbst Gras, was sicher zu weniger Problemen geführt hätte, hatte er das letzte vor drei Tagen geraucht. Hatte er das Döschen vergessen? Im Zwischenraum der Couch? Oder legte Anis ihn nun endgültig rein? Aber wozu... es brachte dem Typen nichts, wenn Kevin kein Bulle mehr war.



    Bienert schien mit der Antwort nicht zufrieden. In seiner Emotionslosigkeit war Kevin schwer zu durchschauen, er zeigte keinerlei Anzeichen, ob er ernsthaft erschüttert war, dass man etwas fand oder enttäuscht, dass man sein Versteck aufdeckte. Oder empört, dass man ihm etwas unterschob. Ein weiterer Blick auf das Pillendöschen ließ ihn stutzen. "Hendrik, geben sie mir mal ein Messer aus der Schublade." Der Drogenkommissar sah etwas irritiert aus, folgte aber dem Befehl seines Vorgesetzten und öffnete die Schublade, die er eben noch durchsucht hatte. "Hier, Chef... aber was haben sie vor?"
    Der erfahrene Drogenfahnder kannte die Pillen. Sie überschwemmten den Markt, auch nach der Aushebung des großen Drogenrings, an dem Kevin beteiligt war. Aber alle Exemplare, die er bisher zu Gesicht bekam, glänzten im Schein einer Lampe, den ihre überzogene Oberfläche war glatt. Diese glänzten nicht, als er sie ans Licht hielt... sie waren matt und ihre Oberfläche leicht angeraut. Er öffnete das Röhrchen und kippte die restlichen Pillen, vielleicht 8 oder 9 auf die Anrichte. Eine hielt er fest und versuchte sie mit dem Messer zu durchtrennen, was schwierig war. Einen glatten Schnitt bekam er nicht hin, aber das war auch nicht nötig. Als er auf die Pille drückte, zersprang sie und ihr braunes Inneres kam zum Vorschein. Das gleiche tat er mit der zweiten und dritten Pille ebenso. Dann nahm er ein Teilchen einer Pille in die Hand, besah es und steckte es in den Mund, was seine beiden Mitarbeiter kurz zusammenzucken ließ. "Bewahrst du deine Smarties immer in der Sofaritze auf?", fragte er dann in Kevins Richtung, der nun erstmals eine Gefühlsregung zeigte... Verständnislosigkeit.



    Die beiden Mitarbeiter der Drogenabteilung testeten die süßen Pillen ebenfalls, und Jenny fiel ein Stein vom Herzen. "Was wird hier gespielt, Kevin? Zuerst die angebliche Falschaussage deines Vaters, und dann finden wir zufälligerweise rosa Smarties in deiner Couch?", sagte Bienert mit eindringlicher Stimme. Dass der junge Kommissar unschuldig war, davon war er jetzt endgültig überzeugt, und so folgte er der leisen Bitte, dass sie kurz allein reden konnten. Unter einem Vorwand, das Material ins Auto zu bringen, ließ er die beiden Mitarbeiter die Wohnung verlassen. Jenny wollte sich ihnen anschließen und wurde von Kevin zurückgehalten. "Wo willst du hin?" "Du hast doch gesagt, du willst alleine mit ihm reden.", sagte sie und in ihrer Stimme schwang ein wenig Trotz mit. "Damit warst du aber doch nicht gemeint.", sagte er lächelnd. Jenny hätte ihn in diesem Moment am liebsten umarmt und geküsst. Er vertraute ihr... sie durfte alles wissen. Und das hielt sie nicht für selbstverständlich nach der Szene von vorhin.
    "Also?", forderte Bienert zu Informationen auf. "Mir will jemand eine auswischen. Und zwar der Besitzer des Charmins. Er hat meinen Vater unter Druck gesetzt und zur Falschaussage gezwungen. Und er hat mir dieses Präsent hier hinterlassen." "Hast du dafür Beweise?" Kevin schüttelte den Kopf: "Nein. Es ist eine reine Vermutung. Aber wie du selbst sagst, bewahre ich meine Smarties nicht im Sofa auf. Und meine Kollegen versuchen einen Beweis für die Lüge meines Vaters zu finden."



    Bienert dachte nach. Er schätzte den Polizisten und seine Art und Weise zu arbeiten. Und wenn dieser solch einen Verdacht äusserte, würde er ihn ernstnehmen. "Was hat der Typ gegen dich?" Diese Info wollte Kevin nicht rausrücken... denn das wusste noch niemand. "Keine Ahnung. Vielleicht eine offene Rechnung." "Aber wieso geht er das Risiko eines Einbruchs ein, und versteckt dann nur Smarties? Was hat er davon?" Der junge Polizist zuckte mit den Schultern: "Vielleicht will er nur zeigen, wo zu er fähig ist." Wieder ein kurzes Schweigen der beiden Männer. "Aber er hätte sich darauf verlassen müssen, dass unser Zivilfahnder dich ins Visier nimmt." "Vielleicht wusste er das vorher schon." Bienert kniff die Augen zusammen: "Willst du damit sagen, dass mein Kollege sich hat bestechen lassen?" Es klang angriffslustig, aber auch zweifelnd. "Keine Ahnung. DU sagst doch selbst, dass es ein großer Zufall war, auf den der Besitzer des Charmins sich verlassen hat."
    Jenny hatte die ganze Zeit stumm nachgedacht, und schaltete sich jetzt ein: "Sind eure Zivilfahnder immer in den gleichen Kneipen?" "Ja. Als Stammgäste kommen sie besser auch mal ins Gespräch mit dem Personal. Da ergibt sich oft mal eine Information.", antwortete Bienert schon wieder etwas versöhnlicher. Dann stockte er kurz und ihm entfuhr ein kurzer Fluch: "Verdammt..." "Was ist?" "Schlappner. Normalerweise ist er im Charmin... aber gestern ist er für einen erkrankten Kollegen kurzzeitig in der Bar deines Vaters eingesprungen." Plötzlich schien ihm eine Bestechung durch Anis nicht mehr unmöglich.



    "Lass mich raten... und im Charmin wird natürlich nicht gedealt?", schlussfolgerte Kevin, dem langsam einiges klar wurde. Ein Zivilfahnder bei Anis auf der Gehaltsliste übersah so manchen Kunden in dessen Hinterzimmer. Für ein paar Scheine extra tauscht er für einen Abend die Schicht, nachdem Anis Kevins Vater unter Druck setzt und darauf wettet, dass dessen Sohn dann doch zum Gespräch erscheint... und natürlich ins Hinterzimmer geht. "Sehr wenig...", gab Bienert zu. Es würde einen immensen Schaden für seine Abteilung geben, wenn er einen korrupten Kollegen beschäftigte und ihm war die ganze Sache furchtbar peinlich. "Es... es tut mir leid. Wir haben dich zu Unrecht verdächtigt.", sagte er und hielt kurz inne, als die beiden Kollegen die nächsten Kisten nach unten trugen.
    "Pass auf... du kannst nichts dafür. Aber du kannst es wieder gutmachen.", sagte Kevin leise. "Lass uns beide heute abend ins Charmin gehen, statt deines Zivilfahnders. Und ich verspreche dir dass du mehr Kunden auf dem Zettel hast, als in einem Monat bei meinem Vater." Bienert sah den jungen Polizisten an: "Und was bringt dir das in deinem Fall?" Kevins Antwort war nichts, ausser ein spitzbübiges Grinsen wie das eines Jungen, der gerade einen genialen Streich ausgeheckt hatte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Erik Peters Wohnung - 10:30 Uhr



    Der Satz war bereits ein halbes Geständnis. Bens Bluff mit dem Handy hatte Erik Peters dazu verleiten lassen, einen Satz zu sagen, als wolle er Kevin die Schuld für den Schlamassel geben. Innerlich tat sein egoistischer Teil dies vermutlich sogar. Hätte sein Sohn Anis die Partnerschaft nicht gekündigt, oder was er sonst mit dem Verbrecher am Laufen hatte, wäre der nicht plötzlich auf die Idee gekommen, Schutzgeld zu erpressen. Gestern Nacht hatte Anis ihn dann angerufen. Er klang erschüttert, beinahe fürsorglich als er erfahren hatte, dass Kevin den Hilferuf des Vaters ignorierte. Erik hatte den Halb-Tunesier am Telefon verflucht. Stattdessen bot der selbst einen Freifahrtschein an, wenn Erik diese Aussage zu Protokoll gibt.
    "Was hast du vor? Was soll das?", fragte Erik noch am Telefon, obwohl ihn längst der Mut verlassen hatte. Anis Forderungen waren horrend, und obwohl sein Laden gut ging würde es massiv in den Gewinn einschlagen. Sein Sohn wollte nichts von ihm wissen, ihm nicht mal in dieser Extremsituation helfen... warum sollte er Kevin über sein Geschäft stellen. "Das ist eine private Sache. Bist du dabei, oder zahlst du morgen die erste Rate?", hatte Anis ihn vor die Wahl gestellt. Er gab ihm ein Alibi, dass er gestern, als Kevin von dem korrupten Drogenfahnder fotografiert wurde, bei Anis im Charmin war. Und Erik sagte zu.



    "Sie werden also erpresst, habe ich recht? Wieviel verlangt Anis? Ist es soviel, dass es das wert ist, seinen Sohn zu verraten?", fragte Ben provokant und stemmte die Hände in die Hüfte. Eine typische Geste des jungen Polizisten, wenn er über etwas empört war. "Sie haben keine Ahnung.", zischte Erik und schüttelte den Kopf. "Worüber sollen wir keine Ahnung haben? Glauben sie, sie sind das erste Opfer von Schutzgelderpressung, das wir kennenlernen?", meinte Semir der diese Art von Fall wirklich nicht zum ersten Mal auf dem Schreibtisch hatte. "Anis ist nicht einfach ein dahergelaufener Hühnerdieb. Der Typ hat sich durch Gewalt und Skrupellosigkeit seinen Platz in der Kölner Unterwelt erkämpft. Vom kleinen Sprayer zum Gangsterboss. Wer ihm in die Quere kommt...", und er endete den Satz mit einer Geste, in dem er den Finger an der Kehle entlang trieb.
    Ben blickte kurz zu seinem Partner und merkte, dass auch ihn diese martialische Beschreibung nicht schockte. Mit solchen Gangstern hatten sie alle Nase lang zu tun. "Wenn Anis verlangt, dann fragt man nicht... dann zahlt man." "Und warum sollen sie erst jetzt zahlen?", fragte Ben und in seinem Magen breitete sich plötzlich ein ungutes Gefühl aus. Er erinnerte sich an Kevins Vergangenheit. Und an Semirs Satz, dass es Anis vielleicht um eine alte Rechnung ging. Mit einer Hand fuhr er sich durch die Haare.



    "Ich weiß es nicht genau. Ich wusste, dass Kevin und Anis sich von früher kannten. Und damals... als Anis zum ersten Mal auf mich zukam, habe ich ihm gesagt, wer mein Sohn ist. Anis wusste damals schon, dass Kevin Polizist ist und... naja..." Erik druckste herum. Engelchen und Teufelchen saßen auf seinen Schultern, und während der Engel ihn an seine Vatergefühlte erinnerte, lachte ihm der Teufel ins Gesicht. "Dein Sohn hätte dich am langen Arm verhungern lassen. Was juckt es dich, wenn du ihn jetzt in die Pfanne haust.", sagte er Eriks Unterbewusstsein, während er dem Engelchen die Gurgel abdrückte. "Anis hat damals gesagt, dass das dann geregelt wäre. Er hat nie Schutzgeld von mir verlangt." Semir zog die Stirn in Falten, während Ben sich mit den Fingern durch die Augen rieb, und typischerweise ein paar Schritte durch den Raum ging.
    "Was bedeutet das? Hatte Anis Angst vor Kevin, weil er Polizist war?", fragte Semir verständnislos, der zwar auch einen Verdacht in seinem kriminalistischen Hirn hatte, diesen aber einfach nicht zu Ende denken wollte... nicht, nachdem er gerade wieder dabei war, so etwas wie Vertrauen zu Kevin zu fassen. Seine Frage klang deshalb naiv, so dass Erik kurz auflachte. "Angst kennt Anis nicht. Ich habe damals auch nicht nachgefragt, weil ich froh war dass Anis mich in Ruhe ließ, und Kevin nie darauf angesprochen. Weil ich weiß, dass er mich... dass er mich nicht schützen würde, wie auch immer." Nachdem, was Semir und Ben von ihrem jungen Partner erfahren hatten, was dessen Vater anging, konnten sie diese Haltung zumindest ansatzweise nachvollziehen. Auch wenn die beiden Polizisten wohl im Extremfall ihrem Vater immer helfen würden.



    "Was dann?" Erik sah zu Semir. Plötzlich schien sein Blick ganz sicher. Der erfahrene Beamte konnte nicht genau sagen, ob das Zögern nur gespielt, oder echt war. "Anis hat erwähnt, dass Kevin die... die Geschäftsbeziehung zu ihm beendet hätte. Und er nun deswegen Schutzgeld verlange." Bens Unwohlsein hatte sich zu einem gefühlten Magengeschwür entwickelt. "Das darf doch nicht wahr sein.", murmelte er leise. Sein Verdacht, dass es noch eine Verbindung auf krimineller Basis zwischen Kevin und Anis gab, nur ein bloßer, dummer kurzer Gedanke schien wahr zu sein. "Geschäftsbeziehung?" "Näher hat Anis sich nicht ausgedrückt. Aber es scheint etwas zwischen Kevin und Anis vorgefallen zu sein, weswegen dieser nun mich erpressen will... wie gesagt. Wegen der beendeten Geschäftsbeziehung."
    Semir sah Erik Peters an. Ein Geschäftsmann, der sein Geschäft über allem ansah. Sogar über seinem Sohn. Zuerst tätigte er eine Falschaussage, die seinen Sohn belastete und auch diese Aussage ließ Kevin in einem schlechten Licht dar stehen. Semir war Vater von drei Töchtern... niemals würde er eine davon dermaßen hintergehen. Auf der anderen Seite wusste er um Kevins Einstellung zu seinem Vater. Und egal wie skrupellos ein Mann wie Erik war, es war sicher belastend, wenn dessen eigener Sohn Dinge sagte wie: "Es interessiert mich nicht, welche Probleme mein Vater hat. Selbst wenn eine Gruppe Schläger von Anis seinen Laden verwüsten würden..." Und Semir war sicher dass Kevin kein Problem hatte, diesen Satz genauso seinem Vater ins Gesicht zu sagen. Doch was zuerst da war, die Abneigung Kevins oder die Skrupellosigkeit des Vaters, war für Semir klar... Kevins Hass hatte eine Ursache. "Für die Falschaussage werden sie eine Anzeige bekommen. Und sollte Kevin irgendwelche Probleme bekommen, kriegen wir sie auch noch wegen Vortäuschung einer Straftat dran, verlassen sie sich drauf.", sagte er streng und bedeutete Ben mit einem Kopfnicken, dass es Zeit war zu gehen. Immerhin hatten sie selbst die Gewissheit, dass ihr junger Partner ihnen die Wahrheit sagte. Würden sie in Kevins Wohnung Drogen finden, würde ihm das aber nichts nutzen. Anis hätte sein Ziel erreicht.



    Im Wagen war für einen Moment die Stimmung gedrückt, bevor Semir versuchte, sachlich zu bleiben: "Aus irgendeinem Grund nimmt Kevin Kontakt mit Anis auf, um ihm mitzuteilen, dass diese...", er stockte kurz, "... Geschäftsbeziehungen beendet sind. Daraufhin erpresst Anis Kevins Vater, weil der, für Kevin unwissentlich, unter dessen Schutz stand.", rekapitulierte er. Ben sah für einen Moment länger aus dem Seitenfenster, so dass sein bester Freund kurz den Eindruck hatte, er höre nicht zu. "Hörst du mir zu?" "Ja..." Semir blickte besorgt und konnte die Gedanken von Ben erraten. Kevin stand mal wieder in einem schlechten Licht, die Schatten der Vergangenheit waren gerade wieder dabei, ihn einzuholen und zum undurchsichtigen, zwielichtigen Polizisten zu maskieren. "Welche Geschäftsbeziehung soll Kevin zu Anis gehabt haben...", überlegte er laut und sah Semir dabei nicht an. "Ich glaube, wir denken beide das Gleiche. Kevin ist, seitdem er Polizist ist, nur in einer Richtung weiter mit der Unterwelt in Verbindung geblieben. Sein Drogenkonsum." Ben nickte: "Und wenn er für die Drogen einfach bezahlt hat, dann bräuchte man keine Geschäftsbeziehung. Ich glaube kaum, dass Anis auf Kevins Geld angewiesen ist." Sein Partner sah das genauso. "Also hat er mit anderen Gegenleistungen gezahlt. Tipps, Zeitpunkte für Razzien, vielleicht auch Wiederbeschaffung von Drogen aus der Asservatenkammer." Bei Semirs Aufzählung schüttelte Ben nur fassungslos mit dem Kopf. "Ich will das einfach nicht glauben.", sagte er leise. Es war mittlerweile aber so viel geschehen... er traute es seinem jungen Freund zu. Sucht trieb jemanden manchmal auch zu solchen Dingen.



    "Aber warum beendet Kevin jetzt plötzlich diese Beziehung?", fragte der erfahrene Kommissar. "Weil er vernünftig ist? Weil er endlich angekommen ist in seinem Leben, weil er mal nachgedacht hat nach der ganzen Scheisse die seit Kolumbien passiert ist?", war die Vermutung des Mannes auf dem Beifahrersitz. Semir wollte das gerne glauben. Aber sein Gedanke war ein anderer: "Warum macht er dieses Fass ausgerechnet jetzt auf, nachdem wir einen von Anis' Leuten in unserer Zelle sitzen haben? Das ist doch ein Riesenzufall." Jetzt erst sah Ben herüber zu seinem Kollegen. "Du hast Recht. Daran habe ich gar nicht gedacht. Dann hat es doch etwas mit Benny zu tun." "Und Anis ist damit gar nicht einverstanden. Er braucht Kevin für irgendwas und erpresst ihn ruckzuck mit der Schutzgeldforderung gegenüber Kevins Vater.", setzte Semir die Puzzleteile zusammen... so schnell, dass er zweifelte, ob alles stimmte. "Er hat aber nicht damit gerechnet dass das Verhältnis so schlecht ist, dass Kevin seinen Vater verhungern lässt. Die Erpressung ist wirkungslos. Also hetzt er ihm auch noch seinen geschmierten Drogenfahnder auf den Hals.", sponn Ben den Faden weiter. "Zumindest können wir uns sicher sein, dass er nichts in der Wohnung versteckt hat. Suspendiert nützt Kevin Anis nichts." "Es passt alles zusammen.", meinte der junge Polizist verblüfft. "Ja... aber uns fehlt noch die Bestätigung der Hauptperson." Und die zu bekommen war der schwierigste Teil der Sache. Semir wählte Kevins Nummer. "Kevin, hier ist Semir? Wie lief die Untersuchung?" "Es ist alles okay. Ich bin wieder auf dem Weg zur Dienststelle.", kam die Antwort über die Freisprecheinrichtung. "Wie liefs bei euch?" "Erklären wir dir im Büro. Wir mussen etwas wichtiges mit dir besprechen..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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    <3

  • Dienststelle - 11:00 Uhr



    Als Kevin und Jenny auf die Dienststelle zurückkehrten, war Hotte der Erste der den jungen Polizisten in Empfang nahm. Natürlich hatte sich zumindest bis Hotte, Dieter und Andrea rundgesprochen, was da gerade passiert war. Kevins Vorgeschichte mit den Drogen, drei Drogenfahnder die dann erst Kevins Büro auf den Kopf stellten und ihn dann mitnahmen. Da konnte ja nur wieder etwas im Busch sein. "Und?", fragte der dicke Polizist fürsorglich und besorgt, ohne viele Worte zu verlieren, die ein Kollege, der nicht so tief in der Cobra-Familie steckte, etwas mitbekommen konnte. "Ist alles in Ordnung.", nickte Kevin nur beruhigend, was sich aber nach Abwiegeln anhörte und Hotte etwas vor den Kopf stoßen konnte. Doch der kannte Kevin nun schon etwas besser, und wusste, dass es nicht so gemeint war. Als Bestätigung sagte aber auch Jenny: "Es ist wirklich alles okay, Hotte. Ehrlich." Das ließ ihn Aufatmen. Egal, wer dem jungen Polizisten da etwas Böses wollte, er schien keinen Erfolg gehabt zu haben.
    Auch die Chefin hatte von Bienert schon gehört, dass die Durchsuchung zum Glück erfolglos war. Die Sache mit den Smarties verschwieg er, hatte Kevin aber angehalten, mit seiner Chefin reinen Tisch zu machen und nichts zu verschweigen. Kevin nickte ohne ein Wort dazu zu sagen. Jetzt war das Büro der Chefin leer und eine Aussprache verschob sich nach hinten.



    Jenny hatte Kevin die ganze Fahrt über beobachtet. In ihr steckten noch die Bilder von heute morgen und in ihrer Seele brannte es, ihn darauf anzusprechen. Sie konnte sich nicht entscheiden, was sie tun sollte. Einerseits war sie empört, aber auch eifersüchtig. Andererseits ging es sie nichts an... sie hatte die Beziehung zu dem jungen Polizisten, aus ihrer Sicht nachvollziehbaren Gründen, beendet. Er konnte tun was er will. Aber war er wirklich ein Typ, der sich sofort auf die Ex stürzt? Hatte er daran etwa schon während des damaligen Falles gedacht, als er sie wiedergefunden hatte, bevor sie ihn verriet? Auf der einen Seite war sie angriffslustig, auf der anderen Seite tat er ihr nach dieser sehr unangenehmen Geschichte auch leid. Und es war wohl ein schlechter Zeitpunkt, das Thema jetzt anzuschneiden.
    Sie ließ sich in ihren Stuhl fallen und atmete tief durch. "Kein angenehmes Gefühl, wenn die so in ein Privatleben reingucken, hmm? Da denkt man gar nicht so dran, wenn man es selbst tut." Kevin nickte. "Noch unangenehmer, wenn sie plötzlich etwas finden, womit du nicht rechnest.", meinte er leise und setzte sich ebenfalls an seinen Platz. Er spürte, dass die Stimmung zwischen den beiden plötzlich eine ganz andere war, als heute morgen am Rheinufer oder die letzten Tage. Kühler, distanzierter. Und natürlich wusste er, warum.



    "Jenny, es tut mir leid." Sie blickte überrascht auf. Nicht nur, weil sie nicht wusste was er meinte, sondern dass er sich entschuldigte. "Was meinst du?" "Dass ich dir die Bilder einfach so gezeigt habe. Das war unfair von mir. Ich hätte dir das vorher sagen sollen." Kevin nahm der jungen Polizistin die Entscheidung ab, ob sie das Thema jetzt anschneiden sollte, oder nicht. Jetzt schlug ihr Herz gegen die Rippen, denn jetzt war die Chance, Fragen zu stellen, die sie eben im Kopf formuliert hatte. "Ja... das war... nicht so angenehm." Und schnell fügte sie das hinzu, was auch Kevin damals gesagt hatte, als sie mit Ben im Bett landete, bevor sie fest mit Kevin zusammen war. "Aber das ist deine Sache. Ich finde... finde es nur verwunderlich dass du so schnell wieder... naja... wieder etwas mit ihr eingehst. So hätte ich dich nicht eingeschätzt." Der Vorwurf war herrlich versteckt und das fiel natürlich auch Kevin auf.
    "Ich bin mit ihr nichts eingegangen, wenn du das glaubst. Wir sind nicht zusammen." Das wiederrum war eine Überraschung für Jenny, denn die Fotos sahen doch recht eindeutig aus. "Oh, entschuldige. Das sah auf den Fotos... so vertraut aus." "Ja, das war es auch. Es war so ähnlich wie mit dir und Ben. Wir haben uns gegenseitig gebraucht und uns gegenseitig getröstet. Annie war alleine in England und hat immer noch gedacht, ich sei tot. Und ich kam alleine aus Deutschland nach einem stressigen Einsatz, und nach dem du..." Er musste kurz durchatmen, denn beim letzten Wort richteten sich Jennys grüne Augen direkt auf ihn, als würde sie eine Waffe auf ihn richten. "Nachdem du einen Schlussstrich unter uns gezogen hast."



    Dies empfand Jenny nun als Vorwurf. Zumindest einen Hauch davon. "Ja, das habe ich. Aber das heißt ja nicht, dass..." sie stockte. Dass ich einfach aufhöre, dich zu lieben, wollte sie den Satz fortsetzen. Ja, in diesem Moment spürte sie, dass da noch ganz viel Gefühl für den schweigsamen geheimnisvollen Polizisten war. Dass die Lust sich auf einen so undurchsichtig wirkenden Mann einzulassen, immer noch brannte, auch wenn sie sich an diesem Feuer beinahe verbrannt hatte. Aber die Bilder aus dem Keller gingen ihr nicht durch den Kopf. Wie er auf sie gezielt hatte. Wie er ohne Zögern einen Mann eiskalt hinrichtete. "Dass was?", fragte Kevin, doch Jenny wollte den Satz nicht fortsetzen. "Ich konnte einfach nicht weitermachen, als wäre nichts passiert. Du hattest mich fast umgebracht." Ihre Stimme wurde leiser, sie redeten normal, aber mit Emotionen. "Und du hast einen Mann einfach erschossen. Ich hätte jedesmal, wenn wir zusammen wären, diese Bilder im Kopf." Sie bemerkte, wie sich ein Panzer um ihre Brust legte, und ihr die Tränen in die Augen trieb. "Kannst du das nicht verstehen?"
    Kevin senkte den Blick auf die Tischplatte, als seien dort Worte und Buchstaben geschrieben. "Doch, das verstehe ich.", sagte er mit leiser Stimme, denn er hatte das Trauma selbst noch nicht wirklich verarbeitet, was dort geschehen war. Und ja, er wusste auch dass eine Fortsetzung der Beziehung schwierig geworden wäre.



    "Ich hatte mein Gedächtnis verloren. Aber nicht die Liebe zu dir." Die beiden sahen sich für einen Moment an und Kevins hellblaue Augen drangen bis in Jennys Seele, die scheinbar den Atem anhielt. "Ich wusste die ganze Zeit, dass da etwas ist, was nicht mehr an seinem Platz ist. Ich habe im Drogenrausch von dir geträumt... meine Augen haben dich gesehen, aber mein Herz in diesem Moment nicht erkannt. Ich hab unser Baby weinen gehört, als hätte ich gewusst dass etwas Schlimmes passiert ist." Bei diesem Satz konnte Jenny die Tränen nicht zurückhalten, wischte sie aber schnell weg. "Und ich weiß auch, was ich dir zu verdanken habe. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich mich vielleicht längst...", und er dachte dabei an die Situation in seiner Wohnung, als Jenny die Waffe und die Drogen in der Dusche gefunden hatte. Sie fiel ihm ins Wort. "Hör auf, bitte...", flüsterte sie.
    Für einen Moment schwiegen die beiden sich an und es gab Jenny Gelegenheit, ihre Emotionen wieder etwas in den Griff zu bekommen. Die Worte von Kevin hatten sie berührt... aber aus irgendeinem Grund konnte sie mit seiner Ehrlichkeit nicht umgehen. Seine Ehrlichkeit... er, der verschwiegene Kevin der versuchte möglichst jeden aus seinem Seelenleben zu verbannen... Jenny ließ er ein. Er sprach offen über seine Gefühle. Er verschwieg ihr nichts zu Annie. Sie war die einzige Person, mit der er jeden Gedanken teilte... auch jetzt, wo sie kein Paar mehr waren. Aber das sah Jenny in diesem Moment nicht.



    "Und warum hast du nicht nochmal mit mir darüber geredet, statt Trost bei Annie zu suchen?", sagte sie nun angriffslustig, was Kevin völlig überraschte, nachdem er sein Seelenleben geöffnet hatte. Doch Jenny konnte in diesem Moment nicht damit umgehen, ihre Gefühle fuhren Achterbahn und sie wählte die falschen Worte in der falschen Tonlage. "Ich stand vor deiner Tür... und wollte reden. Du hast mich abgewiesen und gesagt, dass es vorbei sei. Du hast mir nicht mal genauer gesagt, was mit unserm Kind passiert war... nur dass es nicht mehr da war.", rechtfertigte sich der junge Polizist, ohne lauter zu werden. "Das war einen Tag nach der Sache im Keller. Aber ich meine danach... die Wochen danach, bevor du nach England gefahren bist. Wenn du wirklich noch Gefühle für mich hattest..."
    Kevin schluckte und blickte zu Jenny. Sie hatte ihm gerade einen Dolch in die Brust gerammt, und hielt den Griff noch in der Hand. Bereit, ihn nochmal umzudrehen. "Du stellst das, was ich gerade eben gesagt habe, in Frage?", fragte er beinahe tonlos und man konnte seine Betroffenheit deutlich heraushören. Jenny stand vom Schreibtisch auf, weil sie das Gefühl hatte, sie würde im Büro ersticken. Und sie drehte den Dolch in Kevins Brust noch einmal um, in dem sie beim Vorbeigehen sagte: "Der Weg zu Annie war scheinbar leichter, als der Weg zu mir." Danach war Kevin nicht einmal im Stande, ihr nachzusehen oder zurück zu rufen. Er saß völlig geschockt mich pochendem Kopf am Schreibtisch, und sah die weiße Wand an.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienststelle - 11:30 Uhr



    Eigentlich ging es keinem der Beteiligten in dem kleinen Büro wirklich gut, nachdem Semir und Ben zurück zur Dienststelle kamen und Kevin sofort zu sich baten. Er und Jenny waren noch aufgewühlt von dem persönlichen emotionalen Gespräch, das sie gerade geführt hatten. Semir und Ben dagegen lag das vorliegende Gespräch bereits im Magen und drückte auf die Stimmung. Sie wollten ihren Partner damit konfrontieren, was dessen Vater gerade gesagt hatte. Aber zuerst wollte der erfahrene Polizist ein paar Details zur Durchsuchung. "Sie haben nichts gefunden. Ausser ein Döschen mit pinken Smarties." Ben war sich erst unsicher, ob das nun nur ein lustig gemeinter Spruch von Kevin war, oder er mit den Smarties tatsächlich Smarties meinte... oder doch Drogen. "Wie jetzt?", fragte er und beendete das Kaffee-Ausschütten für einen Moment.
    Jenny blickte Kevin von der Seite an, und ein wenig wunderte sie sich über dessen Ehrlichkeit. "Derjenige, der mir diese Durchsuchung eingebrockt hat, scheint mir etwas untergeschoben zu haben. Aber nur Schokolinsen, die jedoch verdächtig aussahen wie die Drogen die ich damals genommen hatte.", erzählte er mit ernster Miene. "Machtgehabe... Ich kann, wenn ich will, auch anders, sozusagen. Denke ich mal." "Anis?", fragte Semir, denn er wurde von Kevin ja schon ein wenig eingeweiht. "Sie ganz so aus.", bestätigte Kevin knapp.



    "Du hast mir heute morgen auf die Frage keine Antwort gegeben.", sagte Semir nach einem kurzen Moment des Schweigens, und Bens Magengrummeln wurde stärker... und es war diesmal kein Hungergefühl. "Was will Anis von dir?" Dabei sah er Kevin aus seinen braunen Augen fest an, als wolle er ihn damit an seinen Drehstuhl fesseln. Doch der ließ sich auf dieses Augenspielchen nicht ein, schüttelte den Kopf und sagte: "Ich habe keine Ahnung. Vielleicht will er verhindern, dass ich meinem Vater helfe, weil er Schutzgeld von ihm erpresst. Aber das hatte ich nie vor." Ben sah zu Semir, der dessen Blick auffang. Stummes Verständnis zwischen den beiden Freunden, die ohne Worte soviel sagen konnten, während Kevin offenbar in einer ganzen anderen Sprache kommunizierte. Ein Blick genügte und beide wussten, was der andere dachte... "War ja klar, dass er nichts von sich aus sagen würden."
    "Was hattest du mit Anis in deiner Vergangenheit zu tun?", fragte Ben dann irgendwann. "Was hat das damit zu tun?" "Es interessiert mich einfach. Vielleicht hilft es uns.", zuckte der Mann mit der Wuschelmähne mit den Schultern und gab sich interessiert-neugierig. "Anis gehörte damals einer anderen Jugendgruppe an. Wir machten Punk, sie rappten. Wir trugen Iro, sie Goldkettchen. Und sie dealten mit Drogen, so wie einige von uns auch." "Konkurrenz?", fragte Jenny. Sie schaffte es, ihre Gefühle zu unterdrücken und völlig neutral zu klingen. Kevin schüttelte den Kopf: "Nicht direkt. Aber wir sind ein paar Mal aneinandergeraten. Anis war schon immer ein Alphatier. Hatte in der Gruppe schnell die Führung übernommen durch sein Charisma und sein Durchsetzungsvermögen. Aber vor allem seine Skrupellosigkeit. Kurze Zündschnur und dann ziemlich gewalttätig."



    "Und wie ging das weiter? Gabs mal besondere Aufeinandertreffen?", fragte Ben und trank einen Schluck Kaffee. Kevin suchte in seinen Schubladen im Kopf. Schlägereien, die blutig endeten kamen vor, alles noch vor Janines Tod. Kevin hatte damals fast einen Bandenkrieg angezettelt, als Anis Cousin Janine angefasst hatte, und ihr Bruder den Jungen ins Krankenhaus geprügelt hatte. Jerry musste damals alle verbalen Geschütze gegen Anis auffahren, damit die Sache nicht eskalierte. "Nicht dass ich wüsste.", sagte er schließlich. "Und danach? Was hattest du nach deiner Gangzeit mit Anis zu tun?", fragte Semir und diesmal sahen sich die beiden Männer intensiver in die Augen. Als wüsste Kevin genau, warum Semir diese Frage stellte... und dass er die Antwort schon kannte. "Nichts mehr. Nach Janines Tod habe ich ihn nicht mehr gesehen."
    Eigentlich hätte der erfahrene Kommissar nun auch denken können, dass Kevins Vater gelogen hatte. Doch diese angebliche Lüge würde Erik Peters nichts bringen. Und seine Geschichte passte ins Bild. "Kevin...", sagte Semir etwas leiser und sah einen Moment zu Boden, bevor er seinen Blick wieder auf die hellblauen Augen seines Gegenüber richtete. Ben hielt den Atem an und Jenny spürte ebenfalls ein unbehagliches Gefühl. "Was müssen wir eigentlich tun, damit du uns endlich vertraust?"



    Man hätte in diesem Moment eine Stecknadel fallen lassen können, es wäre jeder zusammengezuckt. So still kam es Jenny in diesem Moment vor, man konnte nicht mal das allgemeine Gesummse aus dem Großraumbüro richtig hören. Kevins Blick ging kurz zu Ben, der seinen Freund ebenfalls fixiert hatte und sein Blick verriet eine Erwartungshaltung. Sag endlich die Wahrheit, vertrau uns! war der Ausdruck in Bens Augen. Sein Partner fand als erstes die Stimme wieder. "Du hast uns erzählt, dass du gedealt hast, eingebrochen hast und Drogen genommen hast... davon hat niemand etwas erfahren... zumindest nicht absichtlich.", sagte er mit aller Ruhe in der Stimme. "Wir haben dir geglaubt, dass du den Polizeianwärter nicht totgeschlagen hast. Wir haben vor der Chefin dichtgehalten, dass du eine tatverdächtige Geiselnehmerin schützen wolltest. Und was im Keller mit diesem Patrick wirklich geschehen ist, möchte ich ehrlich gesagt gar nicht wissen." Semir und Ben hatten die Exekution des Verbrechers durch Kevin nicht mitbekommen. Aber sie glaubten Jenny und Kevin, dass es sich um Notwehr gehandelt hatte. Jenny wusste es besser... "Was sollen wir noch tun? Wir sind deine Kollegen. Wir sind deine Freunde. Aber dafür musst du etwas tun! Du musst uns vertrauen und du musst ehrlich zu uns sein. Ich kenne fast alle Geheimnisse von Ben und er kennt alle von mir, nur so können wir uns helfen.", redete der erfahrene Mann auf Kevin ein, der nun schwieg... und Semir auch nicht mehr in die Augen blicken konnte. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt... obwohl er wusste, dass Semir, wie so oft, recht hatte. "Wir haben alle Fehler gemacht, Kevin.", sagte Ben nun. Auf ihm lastete immer noch, dass er unabsichtlich dafür verantwortlich war, dass Kevin wegen seiner Vergangenheit kurzzeitig suspendiert wurde. Semir hatte zuletzt vermutet, dass Kevin dessen Tochter entführt habe.



    "Dein Vater hat gesagt, dass du Anis von früher kanntest.", sagte Ben nun, um Kevin vielleicht das "Geständnis" etwas zu erleichtern... wenn er wusste, was Ben und Semir wussten. "Und dass Anis deinen Vater verschont hatte mit Schutzgelderpressungen, weil er wusste dass du Polizist bist." Jenny regestrierte bei ihrem Ex-Freund ein kaum merkliches Nicken. "Aber jetzt nicht mehr. Weil du die Geschäftsbeziehung zu Anis beendet hättest, sagte dein Vater." Der junge Polizist sah zu Boden. Sein Vater hatte das verraten, was er versuchte vor seinen Freunden geheimzuhalten. "Welche Beziehungen sind das gewesen? Was hattest du mit Anis zu tun, und was will er jetzt von dir, zum Teufel?", fragte Ben ebenso wie Semir, nur mit etwas lauterer, bestimmterer Stimme.
    "Kevin...", hörte der junge Polizist plötzlich die ruhige, weibliche Stimme schräg neben sich. "Bitte sag uns, was zwischen dir uns Anis ist." Nun trafen die blauen Augen Jenny. Sie konnte in sie hineinsehen, wie in den Spiegel von Kevins Seele. Dass sie nun gefragt hatte, zwang ihn zu einer Antwort. Er hatte Jenny nie belogen, und er würde ihr jeden Winkel seines Lebens ausbreiten, wenn sie danach fragte, eintreten zu dürfen. Wäre sie nicht im Raum gewesen, hätte er vielleicht, auch nach dem guten Gespräch mit Semir, wieder geflunkert. Wieder Dinge verschwiegen. Aber sie war da, und sie hing jetzt an seinen Lippen.



    "Ok...", sagte er tonlos. "Es stimmt, was mein Vater sagt. Ich hatte nach Janines Tod Kontakt zu Anis, weil ich mir bei ihm einen Teil der Drogen besorgt hatte, die ich damals genommen hatte. Auch noch, als ich bereits bei der Polizei war." Kevin verzichtete darauf zu sagen, dass die drei Anwesenden das bitte für sich behalten sollen... er konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen nun zur Chefin marschieren würde. Trotzdem fiel es ihm so schwer, ihnen das einfach anzuvertrauen. "Einen Teil der Drogen habe ich bezahlt... einen Teil habe ich mir durch Informationen, die ich über meine Arbeit erfahren habe, erkauft." Drei Augenpaare schauten zu Kevin. Das heißt, es waren nur zwei. Ben ging seiner Angewohnheit nach, herumzutigern, wenn er Dinge hörte, die ihn tief trafen, aus dem Fenster zu sehen oder zu Boden zu blicken. Ausser er sagte etwas: "Was für Informationen?" "Bevorstehende Razzien, Straßenkontrollen oder wenn ein geplanter Deal eventuell bei uns bekannt war. Die Mordkommission arbeitete damals eng mit dem Drogendezernat zusammen, von daher kannte mich auch Bienert." Nach einer kurzen Pause setzte er aber hinzu: "Ich habe nie etwas verraten, was Kollegen in Gefahr gebracht hätte. Verdeckte Ermittler auffliegen lassen oder so, das müsst ihr mir glauben." Semir sah kurz zu Ben, während Jenny die ganze Zeit über Kevin fixiert hatte. Sie wusste nicht mehr, was sie in dem Mann sah, der vor ihr saß. Ein geheimnisvoller Polizist, der zwar eine kriminelle Ader hatte und wenig Skrupel, dafür aber das Herz am rechten Fleck besaß und für Gerechtigkeit einstand? Oder nur eine Laus im Pelz, ein Egoist der alles zu seinem Vorteil tat... selbst das zu verraten, woran er glaubte. Sie hätte am liebsten geheult.



    "Und jetzt? Was ist jetzt passiert?", fragte Semir. Kevin leckte sich kurz über die Lippen, sein Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an. "Anis hat sich bei mir gemeldet nachdem wir Benny festgenommen haben. Er wollte... er wollte mich.... überreden... dass Benny nicht alzu lange in der U-Haft bleibt." "Deswegen Bennys Spruch, von wegen... "Das wird ihm nicht gefallen." Damit war Anis gemeint?", ging Ben plötzlich ein Licht auf nach der Vernehmung und Kevins Ausweichen. Schon dort hatte Kevin ihn belogen, oder war zumindest nicht ehrlich. Kevin nickte: "Ich habe ihm gesagt, dass er sich einen anderen suchen soll. Ich brauche seine Drogen nicht mehr, und selbst wenn...", und endlich schaffte es der junge Polizist seinen Kollegen kurz in die Augen zu blicken. Aber auf Jennys leicht glitzernden Augen blieb sein Blick haften als er sagte: "Die Sache ist vorbei. Ich will mit dem Typ nichts mehr zu tun haben, und ich gebe von meiner Arbeit nichts mehr preis. Ehrlich." "Warum will Anis Benny so schnell aus der Haft haben?", fragte Ben und diesmal antwortete sein Freund wahrheitsgemäß: "Ich habe keine Ahnung."
    Semir brannte nur noch eine Frage auf der Lippe. Er war nun 20 Jahre bei der Autobahnpolizei, und Polizist aus Leidenschaft. Er würde nicht gutheißen, verstehen oder nachvollziehen, was Kevin in seinem Leben schon alles verbrochen hatte, aber er war immer der Meinung, dass jeder eine zweite, manchmal auch dritte Chance verdient hatte. Aber eines wollte er wissen... und es würde ihn sehr tief in seiner Ehre treffen, wenn Kevin diese Frage positiv beantworten würde: "Sag mir nur eines Kevin... und sei ehrlich: Hast du in den letzten anderthalb Jahren nur einmal an Anis... oder jemand anderen gegen eine Gegenleistung, Informationen weitergegeben?" Seit anderthalb Jahren arbeitete er nämlich mit Ben und Semir bei der Cobra zusammen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 11:45 Uhr



    Kevin war ein Mensch, der sich oftmals nicht einfach aus der Reserve locken ließ. Wenn er sein Gegenüber provozieren oder nervös machen wollte, ließ er sich mit Antworten Zeit. Wenn er selbst unter Druck stand, überlegte er manchmal länger als nötig. Diesmal nicht. Diesmal kam die Antwort auf die Frage seines erfahrenen Partners wie aus der Pistole geschossen, ohne Bedenkzeit. Denn er wusste, auf was die Frage abzielte. "Nein!", sagte er sofort und sah nacheinander Semir, Jenny und Ben an. Und er bildete sich ein in zweifelnde Gesichter zu blicken. In Gesichter, die in den hellblauen Augen zu suchen schienen, ob sie die Wahrheit darin finden würden.
    "Bitte, das müsst ihr mir glauben.", sagte Kevin und seine Stimme klang beinahe flehentlich. In diesem Moment glaubte Jenny ihrem Ex-Freund. Er war nämlich nicht der Typ, der darum bettelte, dass man ihm glaubte. Eigentlich war ihm das sonst ziemlich egal, aber hier fühlte die junge Frau, dass es ihm ernst war. Dass er Wert darauf legte, dass man ihm glaubte und dass Semir und Ben nicht den Verdacht hatten, von ihrem Kollegen hintergangen worden zu sein.



    Ben schluckte und sah zu Semir, der langsam nickte. Beide hatten soviele Verhöre geführt, Semir doppelt zu viele wie sein bester Freund. Er fand seine Quote, wann er einem Gesprächspartner glaubte und wann nicht, eigentlich ganz okay. Nicht so gut wie die seines erfahrenen Partners, aber ok. Aber er bewunderte Semir für dessen Intuition bei Verhören, wann er überzeugt war von Lüge und Wahrheit, und wann nicht, weswegen er sich oftmals an seinem erfahrenen Partner orientierte. Hier war sich Ben selbst nicht sicher. Kevin war undurchdringbar, aber in diesem Moment legte er eine ganze Menge Emotion bloß, als er darum bat, dass man ihm glaubte. Als Semir dann nickte, war für Ben klar dass sein Freund von der Wahrheit ausging, und beinahe schämte er sich selbst für seine Zweifel.
    "Okay, wir glauben dir.", sagte Semir stellvertretend für Ben und Jenny, die beide zustimmend nickten. "Aber du musst uns, auch in Zukunft, stärker vertrauen. Vor allem wenn es um dienstliche Sachen geht, okay? Wir müssen alle mit offenen Karten spielen." Er hörte sich an wie eine Drehleier, eine Schallplatte mit Sprung. Wie oft hatte er diese Worte schon an Kevin gerichtet, wie oft hatte er das Gefühl, der junge Mann hätte endlich begriffen dass man ihm nichts Schlechtes wollte und er endlich Vertrauen fasste... und wie oft wurde Semir wieder vor den Kopf gestoßen, als sich eine neue Situation auftat, Kevin in eine neue Extremsituation geriet und all das Gesagte wieder vergaß. Ja, er war ein besonderer Charakter, und hatte sicher in seiner Vergangenheit weitaus mehr Dinge erlebt, die nicht schön waren, als Ben und Semir. Aber verdammt... irgendwann musste doch mal der Groschen fallen, dass er sich auch in höchster Not an seine Freunde wandte.



    Kevins Nicken war unmerklich, er schien weit in seine Gedankenwelt abgerückt. Semir konnte es nicht deuten, wie ehrlich es gemeint war. Aber es passte wiederum zu diesem stillen Kerl. Ein "Ja, ich schwöre." oder eine herzliche Umarmung hätte dagegen nicht zu Kevin gepasst. Und so lenkte der erfahrene Kommissar die Aufmerksamkeit wieder eher auf den Fall, als auf Kevins Vergangenheit. "Wir müssen die Engelhardt einweihen.", sagte er, und mit einem Mal war der junge Polizist am Schreibtisch wieder in der Wirklichkeit. "Nein, Semir. Bitte... das ist keine Sache, die ich in meiner Jugendzeit verbrochen habe. Das letzte Mal ist vielleicht zwei Jahre her." "Kevin, du weißt doch dass die Chefin in erster Linie auf unserer Seite steht.", sagte Ben mit ruhiger Stimme. Kevin drehte sich zu ihm um: "Ich weiß aber auch, dass die Chefin sich an die Regeln halten wird. Eine zweite interne Untersuchung in so kurzer Zeit, dazu ein Vergehen was noch lange nicht verjährt ist..." Er schüttelte den Kopf. Es wäre das Ende von Kevins Polizeikarriere. Die Chefin hatte damals seine kriminelle Vergangenheit gemeldet, nachdem er sie gestanden hatte. Er hatte sich damals nicht dagegen gewehrt, hatte innerlich mit der Polizei abgeschlossen. Mittlerweile wusste er, wie sehr er seine Arbeit brauchte. Semir war dagegen überzeugt, dass die Chefin dieses Mal keine Meldung machen würde.



    "Warum müssen wir es der Engelhardt überhaupt sagen?", fragte Jenny. "Weil Fragen aufkommen werden, wie Anis darauf kommt, dass Kevin ihm helfen würde Benny zu befreien.", meinte der erfahrene Kommissar nachdenklich. "Dann sagen wir einfach, weil Anis ihn von früher kennt. Und fertig.", sagte die Polizistin. "Ja, Semir. Das Faß müssen wir nicht aufmachen. Kevin hat Recht. Die Chefin ist zwar loyal und schützt uns, aber bei so einer Sache geht es auch um ihren Kopf. Es wäre besser, sie nicht einzuweihen.", sagte auch Ben. Semir hatte immer ein schlechtes Gefühl, die Chefin zu belügen. Sie machte sich oftmals krumm für ihre Mitarbeiter, setzte Himmel und Hölle in Bewegung und nahm zuletzt sogar ein Disziplinarverfahren auf sich um ihre Mitarbeiter zu schützen. In Semirs Augen verdiente sie es einfach, die Wahrheit zu erfahren. Er spürte den Blick von Kevin auf sich.
    "Bitte, Semir. Ohne der Chefin zu nahe zu treten... aber sie wird sich an die Gesetze halten.", sagte nun auch Kevin nochmal, und Semir gab schweren Herzens nach. "Na schön. Hoffentlich erfährt sie es nicht auf anderem Weg, wenn Anis mal im Verhörraum sitzt."



    "Wie gehen wir jetzt weiter vor?", fragte Jenny, als es im Büro während dieser sehr emotionalen Unterredung zu einer kurzen Pause gekommen war. "Benny ist der Schlüssel. Wenn wir wirklich Anis drankriegen wollen, dann geht das nur über Benny. Warum braucht Anis ihn unbedingt, und was wird der sich noch ausdenken, um dich dazu zu überreden, ihm zu helfen.", sagte der Mann mit der Wuschelfrisur und fuhr sich mit einer Hand durch ebendiese. "Aus Benny werden wir nichts rauskriegen. Und Anis ist auch zu abgebrüht.", sagte Semir und blickte zu Kevin: "Oder was meinst du?"
    "Vielleicht kriegen wir Anis auch anders dran.", sagte der nun mit seiner monoton wirkenden Stimme. "Der Drogenfahnder, der mich im Nachtclub meines Vaters gesehn hat... das war kein Zufall dass der ausnahmsweise dort war. Er hat absichtlich mit einem Kollegen getauscht und ist sonst in Anis Club, wo wie durch ein Wunder nicht ein einziger Fisch ins Netz geht.", sagte er das, was er über Bienert herausgefunden hat. "Hat der nicht nen erkrankten Kollegen ersetzt?", fragte Jenny, die das Gespräch mit Bienert ja mitbekommen hatte. "Einem Kollegen Rizinusöl in den Kaffee zu kippen ist jetzt keine Schwierigkeit.", meinte Kevin und Ben setzte ruckartig die Kaffeetasse ab, die er eben von Semir bekommen hatte. Semir grinste. Wenn auf eines Verlass war, dann auf Bens Sinn für Humor.



    "Jedenfalls wird Bienert heute höchstpersönlich ins Charmin gehen, um sich die Sache mal anzusehen. Heute wäre dort eigentlich kein Zivilfahnder, so dass sein geschmierter Mitarbeiter Anis nicht warnen kann." Ben bekam ein Magenstechen, als Kevin vom "geschmierten Mitarbeiter" sprach, nachdem sie vor 5 Minuten hörten, dass Kevin selbst auch mal ein "geschmierter Mitarbeiter" war. Und Semir klangen die Worte eines Polizisten, der selbst korrupt war, noch nach: "Korrupte Kollegen sind das Widerwärtigste was es gibt." "Wenn Bienert auch nur drei oder vier Kunden von Anis abgreift, und diese zum Reden bringt, kriegen wir ihn wegen Drogenhandels dran. Und dann werden wir auch sicher etwas zu den Waffen finden." Ben und Semir nickten zustimmend...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • JVA - 14:00 Uhr



    Jerry hatte Kevin auf der Dienststelle angerufen. Seine Stimme klang schon besser als noch vor einigen Wochen, als er müde von einer Blinddarm-OP wirkte, als sie sich trafen. Der junge Polizist besuchte seinen Freund aus alten Tagen regelmäßig, war er doch mit der Einzige der den Kontakt aufrecht erhielt. Vor allem aber, weil die Clique, die noch zusammen war, sich weigerte ins Gefängnis zu gehen und sich von Bullen durchsuchen zu lassen. Jerry verstand das, und nahm es niemandem übel. Er wusste, sie würden auf ihn warten.
    "Ich bin auf Arbeit, kannst du mir nicht am Telefon sagen, was los ist?", schnarrte Kevin etwas genervt in seinen Apparat. "Pass mal auf, ich vergeude hier grade mein letztes Kleingeld fürs Telefonat. Also schwing deine Haxen hierher, ich hab was zu erzählen.", kam Jerrys Stimme durch den Apparat, und unwillkürlich musste der junge Polizist ob Jerrys typischer Wortwahl grinsen. Er konnte das Verhältnis zu ihm nur schwer beschreiben. Obwohl sie sich nach Janines Tod bis zu Kevins Gefängnisaufenthalt fast 10 Jahre nicht sahen, war sofort ein tiefes Vertrauensverhältnis da. Nicht mehr das, des "Mentors" oder "Ersatz-Papas" und der kleine Junge wie früher, sondern Freunde auf Augenhöhe.



    Kevin gab kurz Semir und Ben Bescheid, dann nahm er sich die Autoschlüssel des 2er BMWs, den er vor einigen Tagen erst zugeteilt bekam, und fuhr zur JVA. Die schweren Eisentüren öffneten sich mit dem gleichen quietschend knarrenden Geräusch wie damals, als er hier eingefahren ist. Und immer wieder tauchten in seinem Inneren die Erinnerungsbilder auf. Jerry wartete schon im Besucherraum, hatte mehr Farbe im Gesicht und leuchtende, wache Augen. Und er sah sofort die schlechte Laune seines Freundes.
    "Ach du große Güte. Wer mit so einem Gesicht kommt, kann gleich wieder gehen.", meinte er, nun gespielt ebenfalls missmutig und verschränkte die Arme vor der Brust. Ohne auf die Frozzelei einzugehen, setzte sich Kevin auf den Stuhl gegenüber und blickte seinen Freund aus den hellblauen Augen an. "Was gibts?" "Erstmal will ich wissen, was mit dir los ist? Du bist doch nicht umsonst so schlecht gelaunt." Und mit einem Blick auf Kevins Unterarm bemerkte er: "Immerhin ist noch kein dritter Strich da... bleibst mir hier also noch ne Weile erspart." Das genervte Ausatmen seines Gegenübers kannte Jerry schon, genauso wusste er dass Kevin kein Freund von großen Erzählungen ist. Er zog sich eine Kippe aus der Schachtel und steckte sie an: "Na, was hat er denn? Oder darf der Papa das nicht wissen?"



    Der junge Polizist wusste, dass Jerry nicht locker lassen würde. Und er hatte zu ihm ein besonderes Vertrauensverhältnis, das sich irgendwie nicht erklären ließ. Anders als zu Semir und Ben, anders als zu Jenny. "Ich hab heute meinen Kollegen beichten müssen, dass ich bis vor zwei Jahren hin und wieder Informationen für Drogen weitergegeben hab." Für den JVA-Insasse war diese Information neu, es verwunderte ihn aber auch nicht. Kevin war kein Polizist aus Idealismus oder Treue zum deutschen Staat. In gewisser Weise war er egoistisch, wenn es ihm damals um Drogen ging, andererseits war er Polizist um Menschen in Not zu helfen. "Und? Wie haben sie reagiert?" Kevin sah kurz zur Tischplatte, auf die er seine verschränkten Arme gestützt hatte. "So wie immer. Warum ich nicht früher was sage, warum ich ihnen nicht vertraue... ja, und sie behalten es für sich. Begeistert waren sie nicht. Und ob sie mir glauben, dass ich es niemals getan habe, seit ich bei ihrer Dienststelle bin, weiß ich nicht." Jerry zog die Augenbrauen hoch: "Wundert dich das, dass sie dir das nicht sofort glauben? Ach, Kevin... du bist ein Vollidiot manchmal." Den Vorwurf in seiner Stimme versuchte der ehemalige Punk gar nicht erst zu verstecken und sein Blick wirkte missbilligend.



    Jerry schüttelte den Kopf. "Ich versteh dich nicht. Andere Leute gehen morgens mit Bauchschmerzen zur Arbeit. Weil die Arbeit scheisse ist, weil sie gemobbt werden oder nur mit Vollidioten zusammenarbeiten. Und du hast Kollegen, die, wenn ich deinen bisherigen Erzählungen so glaube, für dich durchs Feuer gehen würden. Und trotzdem verheimlichst du hier was, und da was und wunderst dich dann, wenn sie sich über mangelndes Vertrauen beschweren. Du musst ihnen doch erst selbst mal vertrauen, bevor sie dir wieder vertrauen können... nach allem, was passiert ist.", hielt er Kevin eine Standpauke, die dieser stumm mit dem Blick auf den Tisch über sich ergehen ließ. Weil er spürte, dass sein Freund mit allem, was er sagte, Recht hatte. Er konnte im Kopf aber nicht einfach umschalten. Er war nicht der Typ, der sofort mit allem rausrückte. "Du musst doch Personen in deinem Leben haben, die nicht gerade im Knast sitzen, bei denen du nicht erst nachdenken musst: Kann ich ihm das jetzt erzählen oder nicht.", endete Jerry und klammerte sich damit selbst aus. Nun blickte Kevin sein Gegenüber wieder an, ohne die Miene zu verziehen. "Habe ich doch. Aber das hab ich mir selbst zerstört." Und den Blick wieder zum Tisch gesenkt sagte er leise: "Ich vermisse Jenny in meinem Leben so sehr. Und je mehr ich mit ihr zusammenarbeite, desto mehr tut es weh. Weils mir jeden Tag vor Augen geführt wird, was ich verloren hab."



    Der Knasti sah seinen damaligen Schützling an, und hatte diese Geständnis nicht unbedingt erwartet. Er konnte ihm aber auch keine Ratschläge geben, denn er wusste was zwischen den beiden vorgefallen war. Vertrauen aufbauen, abwarten... es wären nur Phrasen gewesen. Jerry zog die Uhr von seinem Handgelenk und schob sie über den Tisch zu Kevin herüber. "Wenn du jetzt die Zeit zurückdrehen könntest, bis wohin würdest du sie drehen?" Kevin sah auf die altmodische Armbanduhr, was natürlich nur eine symbolische Geste war. Obwohl er Semir gerne den Horror mit den Nazis oder seiner Tochter im Koma erspart hätte, sagte er: "Vermutlich bis kurz vor dem Zeitpunkt, als ich nach Kolumbien geflogen bin." Jerry nickte: "Und dann wärst du nicht geflogen?" Kevins Dämon hätte ihn auch beim zweiten und dritten Versuch gezwungen, Annie zu retten. "Doch... aber ich hätte es Semir erklärt. Ihm vertraut, dass er damit umgeht. Er ist damals nur ausgeflippt, weil ich es verheimlicht habe. Ich hätte es Ben und auch Jenny vorher gesagt." Er atmete kurz hörbar aus. Leider konnte er die Zeit nicht zurückdrehen. Jerry nahm sich die Uhr wieder: "Dann mach, verdammt nochmal, nicht den gleichen Fehler nochmal. Egal, was Ben und Semir... und auch Jenny in dir sehen. Irgendwann werden sie dir nicht mehr verzeihen. Und entschuldige, wenn ich das so hart sage: Die drei sind die einzige Familie, die du noch hast." Jerrys Worte saßen eindrücklich, und Kevin war ihm dankbar dafür.



    Der Mann lehnte sich zurück und zog an dem Rest seiner Zigarette. "So... und nun, warum ich dich eigentlich hergebeten habe. Du weißt doch, dass ich dir erzählt habe, dass ich hier im Knast die Jungs bisschen trainiere. Und das mir das Spaß macht. Viele haben schon bedauert, dass das nicht mehr drin ist, wenn sie demnächst entlassen werden.", erzählte er und Kevin hörte aufmerksam zu. "Wenn ich hier rauskomme, muss ich ja auch was essen. Ich hab mir überlegt, ne Boxschule oder sowas ähnliches aufzumachen. Der Staat lässt doch für solche Maßnahmen mit Jungs von der Straße immer mal was springen, und wenn man ne gute Location hat, kann man da auch was mit Vermietung und so anstellen." Mit den Händen gestikulierte er dabei wie ein Verkäufer. "Klingt gut. Das wäre echt was für dich.", meinte Kevin mit ehrlicher Stimme. "Aber das hättest du mir doch am Telefon sagen können." Jerry winkte den, in seinen Augen unwichtigen Einwurf ab. "Du sollst für mich auf Locationsuche gehen. Kleiner Klub oder so, den wir zusammen renovieren können. Ich hab noch bisschen was Flüssiges von früher, du beteiligst dich ein wenig und dann bringen wir das zum Laufen." "Ich arbeite aber noch so bisschen nebenbei.", warf Kevin leicht sarkastisch ein. "Geht ja nicht um ne Vollzeitstelle, Mann. Also, guckst dich um und machst das klar, damit wir die Bude haben, wenn ich rauskomme. Ich verlasse mich da auf dein Auge für solche Clubs."



    Kevin setzte eine verwirrte Miene auf: "Moment Mal. Warum soll ich da jetzt schon was suchen. Ich dachte, du sitzt bis nächsten Sommer noch." Jetzt grinste Jerry, und genau aus diesem Grund wollte er, dass sein Freund persönlich bei ihn kam... weil er dessen Gesicht sehen wollte. Aus der Hoschentasche holte er ein gefaltetes Schreiben. Während Kevins Augen das Beamtendeutsch durchlasen, wurde Jerry klarer: "Wegen der Hilfe in der ganzen Drogengeschichte damals und guter Führung, werde ich in zwei Wochen entlassen.", meinte grinsend und sah auf den halboffenen Mund seines Gegenüber. Dabei lachte er: "Da guckste doof, was?" "Ja...", gab der junge Polizist zu, wobei er sich aber ehrlich freute. "Allerdings..."

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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  • Bennys Wohnung - 14:30 Uhr



    Ben hielt den Mercedes am Straßenrand des Wohnviertels ausserhalb von Köln. "Wohnt gar nicht schlecht hier, hmm?", meinte seine Nebenmann kurz als er auf das gepflegte Haus, das scheinbar irgendwann Ende der 80er gebaut wurde. Das Wohngebiet war herrlich verschachtelt, anders als moderne Wohngebiete wo die Straßenzüge am Reissbrett entworfen wurde und jedes Haus den exakt abgemessenen Garten hatte. Bennys Haus wurde umringt von Rasen und einem hüfthohen Gartenzaun. "Da hat man immer das Klischee der Verbrecher im Kopf, irgendwo Innenstadt, Mehrfamilienhaus... und da wohnt so jemand vielleicht Tür an Tür mit dir.", meinte Semir nachdenklich als sie durch das Gartentor schritten.
    Laut ihren Informationen lebte Benny allein, trotzdem wollten die beiden Autobahnpolizisten kein Risiko eingehen, im Haus auf jemanden zu treffen, wenn sie jetzt den Dietrich bemühen würden. "Hätten wir nicht Kevin Bescheid sagen sollen, dass wir uns in Bennys Haus etwas umsehen?", sagte Ben noch auf dem Weg zur Tür. "Er ging ja nicht ans Handy. Wir können doch nicht jeden Schritt erst mit ihm absprechen, damit er sich nicht übergangen fühlt. Er ist ja kein kleines Kind mehr.", meinte Semir und setzte noch hinzu: "Ausserdem weiß Jenny Bescheid, und sie wird ihm dann schon sagen, wo wir sind."



    Der junge Polizist schluckte etwas, hatten sie doch eben noch ein gutes Gespräch zusammen geführt. Aber irgendwie hatte er trotzdem Angst, dass sein Partner sich sofort in irgendeiner Form ausgegrenzt fühlen würde, wenn er nicht Bescheid wusste dass Ben und Semir vorhin spontan die Idee hatten, sich ein wenig in Bennys Haus umzusehen und nach Informationen zu suchen. Bei einem normal tickenden Menschen hätte er dieses Unbehagen gar nicht gehabt. Aber Kevin war eben nicht normal. Doch er spürte, dass sein erfahrener Partner ganz recht hatte... es würde Kevin eher zur Normalität verhelfen wenn man ihn auch normal behandelt. Also schüttelte Ben seine Gedanken ab.
    Abgelenkt wurde er sowieso, als beide Polizisten sahen, dass die Haustür nur angelehnt war. Eindeutig war an der dunklen Holztür zu erkennen, dass man sie gewaltsam aufgehebelt hatte. Die beiden Männer sahen sich kurz an und zogen beide ihre Waffen. "Da brauchen wir uns ja zum Glück keine Gedanken über den nicht vorhandenen Durchsuchungsbeschluss zu machen.", flüsterte Ben ironisch und umfasste seine Waffe etwas fester, als Semir vorsichtig die Tür aufdrückte.



    Ein Flur sowie eine Treppe ins Obergeschoss empfing sie. Die Herbstsonne fiel durch eine offene Tür in den Flur und in ihrem Sonnenlicht konnte man feinen Staub schweben sehen. Auf leisen Sohlen mit gezückten Waffen schlichen die beiden besten Freunde durch den Flur ins Wohnzimmer, das vom Licht aus einer Terassenfensterfront erleuchtet wurde. Hier waren einige Schubladen geöffnet, rausgerissen und durchwühlt. Scheinbar hatte hier jemand etwas gesucht. "Ich glaube, Benny hatte was zu verbergen.", sagte Ben leise und sah in die Schubladen, in denen allerdings nur Krimskrams lag. Semir ging langsam, die Waffe immer noch in der Hand, aber nicht mehr ganz angespannt nach vorne gerichtet, in die Küche. Auch hier waren einige Schubladen herausgezogen, Geschirr lag am Boden.
    Die dunkelgekleidete Gestalt, die im Obergeschoss gerade zwei USB-Sticks in die Hose steckte, hatte die ungebetenen Besucher bemerkt. "Fuck...", flüsterte sie und zog sich die Kapuze über den Kopf. Er lugte das Treppengeländer herunter, konnte aber niemanden sehen. Die Stimme eines der beiden Männer kam aus der Küche und sagte gerade "Wer weiß, was die hier gesucht haben." Der Mann atmete auf. Scheinbar hatten die zwei Vögel gar keine Ahnung, nach was sie überhaupt suchen sollten.



    Der Eindringling entschied sich gegen die leise und für die schnelle Flucht. Die ersten Treppenstufen nahm er vorsichtig, als die rettende Tür in der Nähe war, trampelte er, weil er schneller wurde. Ben und Semir hörten die Geräusche und sahen sich sofort um. "Da haut jemand ab!", rief Semir noch und drehte sich sofort wieder zum Flur, wo er gerade noch sah, wie die Tür ins Schloß fiel. Beide Polizisten verfielen sofort in einen Sprint, wobei sie sich im Flur, wo Semir aus der Küche und Ben aus dem Wohnzimmer kam, fast über den Haufen rannten. Ben erreichte die Tür zuerst, riss sie auf und sah gerade noch, wie der Mann mit Kapuze in einen dunklen Jeep einstieg und den Motor anließ.
    "Stehen bleiben!!", schrie Ben laut und wusste dabei schon: Es wäre der erste Verbrecher, der dieser Aufforderung nachkommen würde. Als der Kerl aufs Gas trat und mit quietschenden Reifen davon fuhr, versuchte Ben auf die Reifen zu zielen und drückte zweimal ab, die Kugeln verfehlten aber ihr Ziel und schlugen in die Heckklappe ein. "Bist du bescheuert, hier durchs Wohngebiet zu ballern?", rief Semir neben ihm und zog ihn am Arm. "Los, komm!"



    Die beiden Polizisten rannten zum Mercedes und Ben nahm sofort die Verfolgung auf. "Zentrale für Cobra 11, verfolgen einen dunkelblauen Jeep, Fahrer ist in das Wohnhaus des Verdächtigen Benedickt Jecker eingebrochen. Er flüchtet auf der B59 von Ehrenfeld Richtung Puhlheim, haben die Verfolgung aufgenommen und erbitten Verstärkung. Ende!", gab Semir über Funk durch und hängte noch das Kennzeichen dran. Der Jeep hatte den direkten Weg aus dem Wohngebiet auf die B59 genommen und beschleunigte seinen Wagen. "Bleib dran.", mahnte Semir seinen jungen Partner fast schon als Ritual. "Natürlich bleib ich dran.", war dann Bens typische Antwort.
    Auf der Landstraße, die rechts und links von Feldern gesäumt war, riskierte der Fahrer einige waghalsige Überholmanöver. Ben musste einmal hart abbremsen und hinter einem Unbeteiligten wieder einscheren, weil ihm ein LKW entgegen kam. "Whoa...", rief Semir erschrocken, denn er hatte den LKW ebenfalls nicht kommen sehen. "Denk dran, wir wollen heute abend noch mit den Frauen essen gehen, das wäre gut, wenn wir in einem Stück bleiben." "Jaja...", knurrte Ben genervt und überholte im zweiten Versuch. "Cobra 11 1 für Cobra 11 2. Ich dürfte ein paar hundert Meter vor euch sein, Semir.", hörten die beiden dann Kevins Stimme über Funk. "Ah Kevin, sehr gut. Wir nehmen ihn in die Zange."



    Es dauerte nur Minuten, dann konnten sie den neuen Dienstwagen von Kevin erblicken. Als der Jeep versuchte auch den BMW zu überholen, zog Kevin, mit den Augen im Rückspiegel, sofort auf die Gegenfahrbahn, um dieses Manöver abzublocken. Rauch stieg von der Vollbremsung des Jeeps auf und sofort war Ben mit dem Mercedes dicht am Kofferraum. "Jetzt haben wir dich." Die Geschwindigkeit betrug immer noch über 130 km/h als Kevin begann, vorsichtig langsamer zu werden, dabei hatte er die Augen fest im Rückspiegel. Er sah, wie der Jeep ebenfalls verlangsamte, jedoch weitaus mehr als Kevin selbst. "Was zum...", konnte er noch sagen, als der Jeep plötzlich beschleunigte... er hatte nur Anlauf genommen.
    Kevin war so perplex, dass er nicht aufs Gas trat. Der Kerl rammte den BMW links versetzt an der Stoßstange, so dass der Wagen vor ihm abrupt nach rechts abbog. "Oh verdammt...", konnte Semir noch sagen, als er die Katastrophe nahen sah. Kevin kam von der Straße ab und traf auf eine niedrige Böschung, die den BMW, der durch den Stoß wieder ordentlich beschleunigte, aushebelte und abheben ließ. Mit voller Wucht krachte er mit der Beifahrerseite in den Acker, Blech ächzte, Benzinleitung unter der Motorhaube rissen und der Wagen überschlug sich noch einmal um die eigene Achse und blieb auf dem Dach liegen. Während Ben noch mit der Vollbremsung beschäftigt war, griff Semir sofort zum Funkgerät. "Zentrale für Cobra 11, brauchen dringend Feuerwehr und RTW, Höhe Pulheim. Cobra 11 2 ist schwer verunglückt!" Danach folgte er seinem Kollegen in das Feld zum BMW, aus dem Flammen schlugen und beide erkennen konnten, wie Kevin bewusstlos im Fahrerraum lag, während Jenny auf der anderen Seite vom Funk mit zitternder Stimme die Rettungsstelle alarmierte...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Wie sie.


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    <3

  • Landstraße - 14:45 Uhr



    Das Herz der beiden Polizisten schlug ihnen bis zum Hals. So oft hatten sie nach Unfällen Verletzte aus den Autos gezogen, im letzten Moment bevor sich Öle andere Betriebsstoffe entzündeten und ihnen die Karre um die Ohren flog. Eigentlich war es Routine, und doch schüttete ihr Körper jedes Mal Adrenalin aus. Sie hatten das Leben der Person in der Hand, sie waren ihre letzte Rettung. Wenn dann in dem verunfallten Fahrzeug auch noch ein Freund von ihnen lag, war die Aufregung, die Sorge nochmal größer.
    Ben kam als erstes zu dem verschrotteten BMW an und konnte durch das halb zerstörte Fenster sehen, wie Kevin leblos im Auto lag. Die Gurte hielten ihn nur geringfügig, aus der Nase und mehreren Schnittwunden im Gesicht blutete der junge Kommissar. Der Motor hatte Feuer gefangen, Benzinleitungen aufgerissen und hatte sich an heißen Antriebsteilen entzündet. "Scheisse, scheisse...", fluchte Ben als er versuchte die gestauchte Tür zu öffnen, die allerdings nur Millimeter nachgab. Semir kam dazu und hatte sich beim Laufen durch den Acker die Jacke ausgezogen. Damit schützte er seine Hand, in dem er sie sich um den Arm und Hand wickelte und entfernte hektisch die Reste der Seitenscheibe. "Crash-Rettung, schnell!", rief er, als die Fensterscheibe komplett entfernt war.



    Crash-Rettung wandte man an, wenn man einen Verletzten aus einem Gefahrenbereich bringen musste... erstmal ohne Rücksicht auf eine schonende Bergung. Dies war gefährlich für den Verunfallten, da man dabei keinerlei Rücksicht auf etwagige Wirbelsäulenverletzungen nehmen konnte. Aber wichtig war erst einmal, den Bewusstlosen vor der Gefahr zu retten. Beide Männer packten Kevin am Kragen und Schulter der Jacke, und zogen ihn so schnell es ging aus dem Wagen. Vorher hatte Ben in das Auto gegriffen und den Gurt gelöst. Trotz aller Hektik und allem Adrenalin machte sich kurz ein Funken Erleichterung breit, als sie ein leises Stöhnen von Kevin hören konnten, als sie ihn gerade komplett aus dem Auto gezogen hatten.
    Semir und Ben wechselten die Position, ließen ihren Kollegen an der Jacke los und legten ihm jeweils die Arme um ihre Schultern. Dabei richtete der erfahrene Polizist einen Blick auf den Wagen, wo die Flammen plötzlich höher und kraftvoller züngelten. "Schneller, Ben! SCHNELLER!" So schnell sie konnten, drehten sie sich mit Kevin in der Mitte vom Auto weg und zogen ihren Freund, mehr als er selbst versuchte zu laufen, als er gerade wieder so etwas wie Bewusstsein erlangte. Das laute Krachen, als das Fahrzeug explodierte, donnerte durch ihren Gehörgang und die leichte Druckwelle ließ sie vorneüber in den Dreck stürzen. Die Drei spürten eine Hitzewelle am Rücken und kleine Blechteile regneten auf die herab.



    Kevin fühlte sich wie in einer Waschmaschine nach dem Vollwaschgang. Als der Hall der Explosion verklungen war, drehte er sich mit schmutzigem Gesicht langsam nach seinem einstigen Dienstwagen um. "Kevin? Bist du ok?", fragte Semir sofort, als er sah dass sein junger Freund wieder bei Bewusstsein war und langsam nickte, dabei erst einmal durchatmete. Auch Ben hatte sich aufgerichtet, und alle drei blickten auf den brennenden BMW. "Na klasse... für deinen ersten Dienstwagen hast du ja nicht lange gebraucht.", meinte Ben etwas flapsig, aber typisch Ben. Wenn klar war, dass niemandem etwas Schlimmes passiert war, vergaß er schnell den Ernst der Lage. Stöhnend rappelten sich alle drei aus dem Dreck des Ackers auf, Kevin hielt sich als Reflex kurz den Nacken. "Hast du den Fahrer erkannt, im Rückspiegel?", fragte Ben, aber Kevin verneinte. "Ging alles zu schnell... er hatte ja direkt Abstand gelassen, und ich konnte auch nicht so lange in den Rückspiegel schauen."
    Sie mussten nur einige Minuten warten, dann kam die Rettungskavallerie. Angeführt von einem Streifenwagen und der Feuerwehr, die im benachbarten Ort alarmiert wurde, folgte ein Notarzt-Kombi und ein Rettungswagen. Kevin sah von dem kleinen SItztritt am Heck des Rettungswagen zu, wie die uniformierten Freiwilligen mit Atemschutz die Flammen seines BMWs erstickten. "Sie sollten sich im Krankenhaus untersuchen lassen, junger Mann.", sagte der grauhaarige Rettungssanitäter, der Kevins Nacken befühlte, doch der winkte nur ab. "Das geht schon." "Ne, nix da. Du fährst jetzt ins Krankenhaus und lässt dir das wenigstens röntgen.", sagte Semir mit strenger Stimme. "Aber...", wollte der junge Draufgänger protestieren, aber der erfahrene Polizist ließ sich auf keine Diskussion ein. "Nein! Keine Widerrede. Im Rollstuhl können wir dich nicht gebrauchen." Semir war mittlerweile nach unzähligen Unfällen in einem Alter, in dem er wenigstens danach den Routinecheck über sich ergehen ließ, und ließ auch bei Ben keine Ausnahme mehr zu. Kevin gab nach, bestand dann aber mit der Halskrause wenigstens im Krankenwagen sitzen zu können.



    Als Ben und Semir sich zurück in ihren Dienstwagen begaben, hatte Ben sein Smartphone in der Hand und tippte. "Du bist auch süchtig nach dem Ding, oder?", mäkelte sein älterer Kollege, der zwar auch ein modernes (Dienst-)Smartphone besaß, mit der neuartigen Technik aber eher weniger anfangen konnte. "Ich hab Sabrina vergessen zum Geburtstag zu gratulieren. Darf ich das gerade eben noch nachholen?", gab Ben zur Antwort und nahm seine Augen nicht vom kleinen Display. "Wer ist denn schon wieder Sabrina?" "Ach, ne Bekannte von mir." Semir grinste und wollte Ben ein wenig necken. "Naja... Sabrina, Carina... schau dass du im entscheidenden Moment nicht durcheinander kommst." Ben sah mit einer gespielten Schnute zu seinem Partner. Zum ersten Mal, seit die beiden zusammenarbeiteten war Ben in einer längeren Beziehung mit Carina. In einer Beziehung, die sich ernst anfühlte, mehr als nur ein Abenteuer. Darüber war Ben, der sich selbst lange als "beziehungsunfähig" bezeichnete, sehr stolz. Die Neckereien seines besten Freundes nahm er dafür gerne in Kauf...




    Charmin - 15:00 Uhr



    Anis wartete ungeduldig in seinem Büro und schaute immer wieder auf seine teure Uhr. Wo blieb der Kerl bloß... konnte ja nicht so schwer sein, in ein unbewohntes Haus einzudringen und ein paar Datenträger mitgehen zu lassen. Keiner seiner Leute war wirklich darauf ausgerichtet, irgendwo einzusteigen. Also hatte Anis sich an seinen Bekannten Zack gewendet, ob einer seiner Leute ein paar Scheine verdienen wollte. Sein Laptop stand auf seinem Schreibtisch bereits bereit, als endlich die Tür aufging. "Na endlich, Mann. Was hat da so lange gedauert?", sagte er mit vorwurfsvoller Stimme zu dem jungen Mann, der sich erst jetzt die Kapuze vom Kopf streifte und seinen gebundenen Pferdeschwanz sichtbar werden ließ. "Eigentlich müsste ich Gefahrenzulage verlangen, Amigo. Die Bullen sind dort aufgekreuzt.", sagte er und warf Anis zwei USB-Sticks auf den Tisch. "Das ist alles was ich gefunden habe."
    Der Chef des Charmins sah den Kolumbianer an. "Das ist nicht dein Ernst, oder? Wie, die Bullen sind dort aufgekreuzt?" "Keine Ahnung wo die herkamen. Aber ich hab sie abgehängt." Dass der Mann, der von normalerweise für Zack arbeitete die beiden Polizisten erkannte, als er sie sah, verschwieg er. Den Dritten in dem Wagen, den er von der Landstraße gerammt hatte, hatte er sowieso nicht erkannt. Anis wählte eine Nummer auf seinem Handy: "Armando? Das Auto, mit dem der Mexikaner unterwegs war...", begann er und wurde von Juan unterbrochen. "Kolumbianer!" "... was auch immer. Den Wagen müsst ihr entsorgen. - Ja. - Alter, ist mir egal ob das dein Auto war, die Karre muss weg wenn du nicht morgen Besuch von den Bullen bekommen willst." Dann legte er genervt auf. Immerhin hatten sie vorher die Nummernschilder ausgetauscht... aber sicher ist sicher.



    Anis stöpselte beide USB-Sticks an den Laptop an. Wenige Minuten klickte er, für Juan nicht sehbar, an seiner Arbeitsstation, tippte mal, stöhnte und klickte wieder, bis er laut aufrief: "Fuck, Alter." Kamil, einer seiner engsten Freunde stand schräg hinter ihm. "Was ist, Mann?" "Benny ist nicht dumm. Der hat die Daten verschlüsselt. Traut uns scheinbar nicht über den Weg, der kleine Wich.ser.", knurrte Anis und kratzte sich an seinem schwarzen Bart. "Wenn ich wüsste, was die Daten wert sind, würde ich sie auch verschlüsseln. Und du auch.", sagte Kamil und Anis konnte ihm nicht widersprechen. "Also brauchen wir ihn doch hier. Es nutzt alles nichts. Wir müssen Kevin irgendwie überreden." Bei dem Namen Kevin horchte Juan kurz auf... einfach aus Neugier. "Welchen Kevin?"
    Der Tunesier stand von seinem Schreibtisch auf und nahm einige Bündel Geld aus einer Box. "Hat dich nicht zu interessieren. Hier.", sagte er und drückte Juan einige Geldscheine in die Hand. Der warf einen kurzen prüfenden Blick darauf: "Hey Amigo. Das sind nur zwei Drittel von dem, was wir ausgemacht haben." "Der Rest ist Anteil an Armandos Wagen, den wir deinetwegen entsorgen müssen. Und nun verpiss dich." Anis wusste nicht, dass er mit Juan einen Mann vor sich hatte, der selbst in dessen Position war, als Anführer eines Drogenkartells, in einer weitaus brutaleren und kompromissloseren Gegend als hier. Er packte Anis, als dieser sich von ihm wegdrehte am Kragen. "Escucha!", knurrte er, was so viel hieß wie "Hör zu!", doch sofort griff Kamil zu seiner Waffe, was Juan im Augenwinkel sah. "Was denn, hmm?", meinte Anis mit einer Drohgebärde. Juan ließ normalerweise nicht so mit sich umgehen, doch er war auch kein Selbstmörder, nur wegen seinem verletzten Stolz. Er ließ Anis Kragen los und meinte nur mit drohender Stimme: "Cuídate mucho, hijo de puta.", was hieß "Pass gut auf dich auf."... und eine Beleidigung, die den stolzen Anis sicher zu einem Wutausbruch gebracht hätte, wenn er sie verstanden hätte. Damit verließ Juan den Raum...



    "Was für ein Opfer, Alter.", lachte Kamil und steckte die Waffe wieder weg, während Anis sich wieder auf seinen Stuhl setzte. "Was machen wir jetzt? Wie bekommen wir den Bullen dazu, uns zu helfen?" Anis sah auf den Monitor seines Laptops, der in großen Buchstaben "Access denied" anzeigte... er kam nicht in die Daten von Benny hinein. Er brauchte ihn hier... und das schon in wenigen Tagen. Dann würde der Deal stattfinden. "Was ist, wenn wir mal seiner kleinen Freundin auf die Pelle rücken? Oder seiner Transenmama?", schlug Kamil vor, doch Anis schüttelte den Kopf. "Das provoziert bei Kevin die falsche Reaktion. Dann reißt er uns eher den Laden ab, als dass er mit mir zusammenarbeitet. Drohungen bringen bei dem Typ nichts", meinte er und schüttelte den Kopf.
    "Nein... Für Kevin muss sich die Sache lohnen. Und da er nicht mehr abhängig zu sein scheint, werden wir ihn auch nicht mit seinen Muntermachern ködern können.", dachte er laut nach. "Es muss etwas sein, auf das er sofort anspringt. Bei dem er sich es nicht leisten kann, die Gelegenheit verstreichen zu lassen.", meinte er nachdenklich.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Bennys Haus - 15:10 Uhr



    Vom Unfallort hatte Semir gleich die Spurensicherung um ihren guten Freund Hartmut angerufen, die mit gesamter Mannschaft zu Bennys Adresse kommen sollte. Wenn dort jemand etwas gesucht hat, dann würde es vielleicht auch noch etwas Interessantes zu finden geben. Als der erfahrene Polizist aus Bens Mercedes bei Bennys Wohnung ausstieg, hatte er sein Handy am Ohr. "Ja - Nein, ich glaube nicht dass du extra ins Krankenhaus fahren musst. Es ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Er wird nur kurz gecheckt, aber er war schon wieder auf den Beinen und wollte nicht ins Krankenhaus. Kennst ihn ja.", versuchte er die ziemlich aufgelöste Jenny am Telefon zu beruhigen. Die hatte am Funk mitbekommen, wie Semir aufgeregt den Rettungswagen angefordert hatte, weil Kevins Wagen verunglückt war.
    Ben sah zu Semir, als dieser auflegte. "Macht sich Sorgen? Scheint wohl noch nicht alles vorbei zu sein bei den beiden." Der kleinere Kommissar zuckte mit den Schultern. "Sorgen machen kann man sich auch, wenn man nicht ineinander verliebt ist, Schatzi." Dabei machte er spaßeshalber einen Kussmund und grinste Ben an, der ebenfalls lachte. Beide zogen Einmalhandschuhe an, um nicht noch mehr Spuren zu verwischen, als sie beim ersten Besuch schon getan hatten.



    "Würde sagen, wir schauen uns oben mal um. Der Täter kam die Treppe runter.", sagte Ben und beide gingen die Treppe nach oben. Es war ein typisches Einfamilienhaus, ein kleiner Flur, drei Zimmer und das Badezimmer. Eins der Zimmer war ungenutzt, ein Schlafzimmer und so etwas wie ein Büro, wo ein Schrank mit Akten standen, ein Schreibtisch und ein Laptop. Der Laptop war aufgeklappt, aber gesperrt wie Ben sofort feststellte. "Das ist etwas für Hartmut.", meinte er, nachdem er erfolglos das ein oder andere Standardpasswort ausprobiert hatte. Semir sah sich indes um, welche Aktenordner aus dem Regal gerissen waren und welche noch drin stehen blieben. Er konnte kein klares Muster erkennen.
    Rechnungen, Versicherungsunterlagen, Fahrzeugbrief... alles was man in einem Haushalt an Unterlagen finden konnte, war da. Es schien, als würde Benny ein stinknormales Leben führen. Semir war sich sicher, dass wohl selbst die Nachbarn nur gutes über einen unauffälligen Bewohner erzählen würden. "Fällt dir was auf?", fragte Ben, der über den Schreibtisch sah, irgendwann. "Hmm?" "Hier liegt nirgends ein Speichermedium. Keine Festplatte, kein USB-Stick." Er fegte einige Blätter Papier zur Seite. "Na und? Die liegen bei mir auch nicht einfach so herum.", meinte Semir. Nach weiterer Suche konnten sie allerdings in den Schränken auch nichts finden. "Für die heutige Zeit fast schon ungewöhnlich, oder?"



    Irgendwann meldete sich Hartmuts Stimme von der Eingangstür aus. "Hey Jungs, wir sind da. Wonach sollen wir suchen?" Semirs Gesicht erschien am Treppenaufgang. "Nach allem möglichen. Irgendwas hat der Typ hier gesucht. Fingerabdrücke vor allem schauen und mal in den Keller gucken. Nach Speichermedien suchen, hier oben beim Laptop ist nichts.", zählte er auf. "Kein Speichermedium in der Nähe des Laptops? Das gibts ja gar nicht.", sagte der technikaffine Hartmut, der um seinen Arbeitsplatz herum mehrere Terrabyte Speicherplatz in Form von USB-Sticks und mobilen Festplatten oder NAS-Systemen verteilt hatte. "Siehste.", kam leise von Ben aus dem Büro raus, und Semir verdrehte die Augen.
    Das ganze Haus wurde langsam durchwuselt von Mitarbeitern der Spurensicherung, die ebenfalls geschützt mit Handschuhen, alles umdrehten was nicht irgendwo angeschraubt. Dabei gingen sie besonders sorgfältig vor, um nicht irgendwo ein kleines Detail zu übersehen. Hartmut war mit zwei weiteren Mitarbeitern in den Keller gegangen, als Semir und Ben gerade die Treppe herunter ins Erdgeschoss nahmen. "Jungs, kommt mal runter. Hier gibts was Interessantes.", hörten sie Hartmuts Stimme. "Was hat er wohl gefunden? Ne Kartoffel, die aussieht wie sein Laptop?", ulkte Ben und stieß Semir in die Seite.



    Als sie durch die Tür schritten, in die Hartmut sie mit einem Fingerzeit hereinbat, blieben sie erstaunt stehen. Ben pfiff anerkennend für diesen Fund durch die Zähne. "Hallo... da hat sich Benny aber was Schönes eingerichtet." Sie standen mitten in einer Art "Hobby" - Labor, so würden es die beiden Kommissare nennen. Hartmut allerdings, der viele der Apparaturen kannte, korrigierte sie gleich. "Das ist schon für Fortgeschrittene hier.", und erklärte einige der Apparaturen gewohnt ausschweifend. "Hartmut... es ist schon spät. Sag uns doch einfach, was Benny hier erforscht oder hergestellt hat.", sagte Semir, der die ellenlangen Vorträge von Hartmut bereits kannte und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr.
    "Ich müsste die Chemikalien, die noch hier sind, natürlich erstmal untersuchen. Aber grundsätzlich kann man die ganzen Sachen hier brauchen, um ziemlich hochwertige Drogen herzustellen.", sagte er und tütete und aller Vorsichtsmaßnahmen mehrere Fläschen bunter Flüssigkeiten ein. "Drogen? Und was genau?" "Ben... NACH der Untersuchung. Morgen kann ich euch was dazu sagen. Heroin, hochwertiges Koks, vielleicht auch Tabletten... ihr werdet es zuerst erfahren."



    Semirs Hirn arbeitete schon wieder auf Hochtouren, als sie die Wohnung verließen und wieder in den Dienstwagen stiegen. "Das ergibt Sinn...", murmelte er leise und Ben sah zu ihm. "Was ergibt Sinn? Lass mich teilhaben an deinen Gedanken." "Wir haben uns doch heute morgen gefragt, warum Anis unbedingt Benny aus der Haft bekommen will. Scheinbar stellt der die Drogen für Anis her." Ben dachte ebenfalls nach und strich sich kurz durch die langen Haare. "Aber eine Unterweltgröße wie Anis sollte doch fähig sein, woanders Drogen her zu bekommen als ausschließlich von Benny." "Selbst herstellen ist aber günstiger als einkaufen." "Meine ich ja. Es wird doch in Kölns Unterwelt noch jemand geben, der ein bisschen Heroin herstellen kann."
    Semir nickte nachdenklich. "Oder sie wollen es selbst machen.", sagte Ben plötzlich, dem jetzt ein Lichtlein aufging. "Du meinst, der Einbruch war von Anis? Um an Unterlagen zu kommen, um die Drogen selbst herzustellen?" Ben nickte. "Im Keller wurden keine Unterlagen gefunden und oben keine USB-Sticks. Wenn wir Pech haben, dann haben sie jetzt alles was sie brauchen." Semir schnallte sich an: "Das werden wir sehen... spätestens, wenn Anis erneut bei Kevin versucht, ihn für sich zu gewinnen." Sein bester Freund nickte und startete den Motor.

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  • Krankenhaus - 16:00 Uhr



    Jenny war "einigermaßen" beruhigt, nachdem sie Semir auf dem Handy erreicht hatte. Eigentlich wollte sie von der Dienststelle aus sofort ins Krankenhaus fahren, doch die Stimme des erfahrenen Polizisten am Telefon, so wie Hottes: "Wenn Semir sagt, dass er okay ist, dann ist er auch okay.", hielt sie letztendlich zurück. Richtig konzentrieren konnte sie sich zwar nicht mehr, als sie weiter an den Berichten arbeitete und immer wieder auf den leeren Platz gegenüber von ihr schaute, aber ihr Herzschlag hatte sich beruhigt und auch das unruhige Zittern in den Händen hatte aufgehört. So oft die Polizisten auf dieser Dienststelle in Unfälle verwickelt waren und Dienstwagen verschrotteten... die Sorgen danach, bis sie wieder in einem Stück hier erschienen waren immer gleich.
    Irgendwann piepte Jennys Smartphone, und sie las eine WhatsApp-Nachricht ihres Ex-Freundes. "Kannst du mich bitte aus dem Krankenhaus abholen? Mein Auto ist" und dahinter ein Emoji, das eine Explosion anzeigen sollte. Ein wenig lächelte sie und die Anspannung wich der endgültigen Erleichterung. Sie nahm ihre Jacke vom Stuhl und sagte zu Hotte und Dieter: "Ich geh unseren Bruchpiloten mal abholen, er hat mir gerade geschrieben." Daraufhin verließ sie die Dienststelle.



    Als das Krankenhaus in Sichtweite kam, bemerkte Jenny schon dass sie sich die Suche nach einem Parkplatz sparen konnte. Am Straßenrand erblickte sie die stachelige Frisur ihres Kollegen, der mit sandiger Jeans (dadurch, dass er im Acker aus dem Auto gezogen wurde) und drei kleinen Pflaster auf Schnitten ums Auge herum auf sie wartete. Der Wagen stand gerade, als er die Tür aufzog und sich tief ins Innere des BMWs fallen ließ. Noch vor der verbalen Begrüßung beugte sich Jenny über den Schaltknüppel zu ihm herüber und legte ihre Arme um den Hals, so wie sie es früher ganz selbstverständlich getan hatte, als sie noch ein Paar waren. "Puh, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Ist alles in Ordnung?" Der junge Polizist nickte an ihrer Schulter und legte ebenfalls seine Arme um den schlanken Körper der jungen Frau. "Alles gut."
    Als sie sich voneinander lösten war Jenny selbst über sich und ihre spontane Reaktion überrascht, beinahe etwas beschämt... schließlich gingen sie vor dem 8-Augen-Gespräch, bei dem Ben und Semir ebenfalls dabei waren, im Streit auseinander. Es huschte nur ein kurzes Lächeln über ihre Lippen, als sie den Motor startete und sich in den Feierabendverkehr einsortierte. Kevin schnallte sich an und sah mit einem kurzen Seitenblick auf die junge Frau. "Die drei sind die einzige Familie, die du noch hast.", hörte er Jerrys mahnende Stimme im Hinterkopf.



    Einige Minute schwiegen sich die beiden an, wie junge verliebte Teenager, die sich nicht trauten den ersten Schritt zu machen. Diesen machte dann letztendlich Kevin, als der Wagen an einer roten Ampel zum Stehen kam. "Es war gut, dass du eben bei dem Gespräch dabei warst.", sagte er mit seiner manchmal monoton klingenden Stimme, die einen fälschlicherweise desinteressierten Eindruck machten konnte. Jenny sah ihren Ex-Freund an, der zur Frontscheibe hinaus sah. "Ich hätte vielleicht versucht, die Sache weiter zu verschweigen, was ich damals getan habe.", meinte er nachdenklich. "Kevin... du hast als Jugendlicher Drogen genommen, gedealt, eingebrochen, hast Menschen verletzt, du hast vor einem Jahr noch Drogen genommen... warum hast du versucht das noch zu verheimlichen?", fragte sie ohne Vorwurf in der Stimme.
    Der junge Polizist seufzte: "Weil ich von euch drei weiß, dass ihr nicht nur Polizisten seid, weil die Uniform so hübsch ist. Weil ich weiß, dass ihr drei, und auch Hotte, Dieter und die Chefin als Polizisten gewisse Werte vertretet. An etwas glaubt.", sagte er leise, ohne die junge Frau anzuschauen. "Ich glaube, dass euch der Eid, den ihr geleistet habt, etwas bedeutet. Ist es nicht so?" Jetzt erst blickte er Jenny in die Augen, und sie nickte leicht. "Und dir bedeutet der Eid nichts?"



    Bevor der junge Polizist den Blick wieder abwandte, sah er kurz zu Boden. "Ich bin Polizist geworden um zu verhindern, dass jemand das gleiche Leid erfährt, wie ich mit Janine. Ich hatte nie die Absicht, "dem Staat zu dienen", wie man so schön sagt.", sagte und strich sich für einen Moment mit dem Finger der rechten Hand über das linke Handgelenk. "Deswegen hielt ich es nicht für falsch, was ich getan habe. Ich habe verhindert dass ein paar Dealer hinter Gitter gehen. Leute, die mit dem Verkauf von Drogen vielleicht Leid anrichten, aber wenn du selbst Drogen nimmst, bist du der Meinung dass jeder, der das tut, selbst verantwortlich ist. Ich habe mir immer eingeredet, dass es okay ist, solange ich dadurch niemanden in Gefahr bringe. Ich habe niemals einen Kollegen in einem Undercovereinsatz verraten oder irgendetwas gemacht, was andere Leute vorsätzlich in Gefahr gebracht hat." Dann sah er nochmal zu Jenny herüber und wiederholte: "Niemals."
    Jenny schluckte, und sie spürte dass sie gerade dabei war, wie damals, einen tiefen Schritt in Kevins Seelenleben zu tun. Wie damals, kurz bevor sie zusammen kamen, als er von Janine erzählte, von seinem Vater, von seiner Kindheit. Als er vor ihr kniete und sie anflehte, ihm zu helfen, nachdem er gerade einen beängstigenden Blackout hatte und mit einer geladenen, entsicherten Waffe in der Dusche zu sich gekommen war, nach einem Höllentrip auf Drogen. Und weil sie wusste, wie sensibel er war, wenn er sich öffnete, und wie schlecht sie noch vor einigen Stunden reagiert hatte, war sie vorsichtig, tastete sich langsam zu ihm durch.



    "Und weil dir der Eid nichts... oder nicht viel bedeutet, hättest du die Sache weiter verheimlicht? Was... was hat das eine mit dem anderen zu tun?", fragte Jenny und wendete einen Mindestanteil an Konzentration für den Verkehr auf, der nötig war. "Weil ich damit alles, an was ihr glaubt, verraten habe. Ob ich als Jugendlicher mal irgendwo eingestiegen bin... ob ich mir zu Hause manchmal einen Joint drehe.", dabei zuckte er mit den Schultern. "Könnte euch im Prinzip egal sein." Damit meinte er natürlich, wenn die Kollegen nicht generell an seiner Gesundheit interessiert wären. "Aber dass ich mit der Sache damals ja eigentlich den kompletten Polizeiapparat verraten habe, empfand ich als Angriff auf euch alle. Deswegen wollte ich es niemals erzählen." Jenny verstand. Kevin befürchtete, dass Semir und Ben, die jahrelang ihr Leben für diesen Job riskierten, diese Sache nicht einfach so hinnahmen, wie persönliche Verfehlungen Kevins, die in der Jugendzeit lagen, oder nur ihn persönlich betrafen. "Ich glaube... wenn du wirklich mal etwas verraten hättest in der Zeit, als du schon mit ihnen zusammengearbeitet hast... dann hätten sie es nicht so gut aufgenommen.", vermutete die junge Frau richtig. Die Antwort Kevins kam diesmal schneller und weniger zögerlich als die Worte davor: "Das habe ich aber nie. Das musst du mir glauben." Soviel Erfahrung Jenny jetzt schon hatte in Verhören, wann jemand log und die Wahrheit sagte, und vor allem wie gut sie den jungen Mann jetzt schon kannte... von diesen Worten war sie überzeugt. "Ich glaube dir, Kevin."



    Es herrschte nochmal kurze Stille als Jenny den Wagen auf die Autobahn lenkte, und es nicht mehr weit bis zur Dienststelle war. Jenny spürte ihr Herz in der Brust und sie blickte auf den Mann neben ihr, den sie so geliebt hatte und immer noch liebte. Dessen Kind sie für einige Wochen im Leib trug. Von dessen Charakter sie sowohl magisch angezogen wurde, als auch immer wieder abgestoßen wurde. Sie konnte sich gegen ihn aber einfach nicht wehren. "Wenn du nicht dabei gewesen wärst, hätte ich nichts gesagt. Aber ich kann dich nicht anlügen.", sagte er irgendwann unvermittelt gegen die Seitenscheibe des Fahrzeuges und sah auf die vorbeiziehende Landschaft. Dieser Satz brachte ihr Herz noch mehr in Fahrt.
    Und dann sagte er etwas, woran sie noch lange denken würde, was sie tief im Innersten berührte, und was sie auch etwas stolz machte: "Du bist der einzige Mensch, dem ich alles anvertrauen würde, wenn er mich fragen würde, Jenny. Ganz egal was. Dass ich dir die Sache mit Annie und Kolumbien bis kurz vor Schluß verschwiegen habe, war der größte Fehler meines Lebens..." Bis auf die Tatsache, dass er Janines Leben nicht verteidigen konnte, aber das rückte in diesem Moment für ihn in den Hintergrund.

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  • Dienststelle - 17:00 Uhr



    Die vier Polizisten trafen fast zeitgleich auf der Dienststelle der Autobahnpolizei ein. Semir und Ben hatten gerade ihre Jacken abgelegt, Ben hatte schon sein Handy gezückt um bei Kevin anzurufen um nachzufragen, ob alles okay sei, da betrat der junge Polizist mit seiner Kollegin das Großraumbüro. Alle im Raum sahen erleichtert aus, sie hatten natürlich von dem Unfall gehört und etwas in Sorge. Bis auf die Kratzer ums Auge schien der junge Mann aber unverletzt zu sein. Jenny lächelte, auch sie war beruhigt... und ausserdem noch sehr ergriffen von dem Gespräch, dass sie und Kevin zusammen im Auto geführt hatten. Auf seinen letzten Satz hatte sie nichts mehr gesagt... nur mit einem leichten, kaum hörbaren Schlucken geantwortet.
    Ihr gelang es nur mühsam, Tränen zu unterdrücken. Kevins Worte trafen sie bis ins Mark, es war lange her dass der sonst verschlossene Mann ihr so einen Zutritt in seine Seele gewährt hatte. Nein, eigentlich war es lange her, seit sie dieses Angebot angenommen hatte. Sie spürte, dass noch etwas zwischen ihnen vorhanden war. Wie ein letztes Aufflackern einer Kerze, die verloren schien und trotzdem noch mit aller Macht weiterbrennen wollte. Doch Wind zerrte an ihr und wollte sie unbedingt vernichten, und dieser Wind war das Erlebnis im Keller, als Kevin mit der Waffe auf Jenny zielte. Sie bekam das Bild einfach nicht aus dem Kopf. Sobald an die schönen Momente mit ihm dachte, hing dieser Eindruck wie ein Schleier über ihrem inneren Auge.



    "Herzlichen Glückwunsch, Herr Peters.", sagte die Chefin ein wenig ironisch, als sie ebenfalls von ihrem eigenen Büro ins Großraumbüro trat. "Zwei Tage haben sie nun ihren Dienstwagen gehabt, bis zum ersten Totalschaden. Das dürfte sicherlich in den Top Ten liegen." Dabei warf sie auch einen Blick auf ihre "teuersten" Beamten, Ben und Semir. "Er hatte mich gerammt.", entschuldigte sich Kevin mit einem Achselzucken... er war es noch nicht gewohnt, Totalschäden erklären zu müssen. Semir und Ben hatten sich das längst abgewöhnt. "Machen sie sich keine Sorgen. Sie haben noch einiges aufzuholen.", meinte sie ironisch und bat alle zusammen ins Büro von Semir und Ben. "Ich hoffe, die ganze Aktion hat sich wenigstens gelohnt."
    Semir hatte seine Chefin erst vor wenigen Minuten, gerade als sie ankamen, bereits informiert, dass es Neuigkeiten gäbe. Als sie dann Kevin und Jenny sah, wollte sie gerade herüber kommen, so machte man eine kleine Lagebesprechung draus. Anna Engelhardt setzte sich auf Semirs Stuhl, Ben in seinem eigenen, Kevin und Jenny hatten sich nebeneinander an die Fensterbank gelehnt. Mehr als zufällig berührten sich ihre Ellbogen für einen Moment. Semir ging im Raum auf und ab, als er erzählte.



    "Wir haben in Bennys Wohnung keinen einzigen Datenträger gefunden. Weder offen herumliegen, noch in irgendwelchen Schubladen. Heutzutage recht unnormal, vermuten wir." Die Chefin bemerkte allerdings den Tonfall und wusste, dass das für den wenig technikaffinen Semir eher die Normalität war... für sie übrigens genauso. Aber sie stimmte durch Nicken zu. Zeiten änderten sich nun mal. "Der Laptop ist zur Zeit bei Hartmut, der versucht etwas rauszufinden. Viel interessanter ist jedoch, dass wir im Keller des Hauses ein kleines Labor gefunden haben." "Ein Labor?", fragte Kevin und sah sehr nachdenklich aus für einen Moment. "Genau. Hartmut vermutet sogar eventuell eine Produktionsstätte für Drogen. Aber was genau, kann er uns vermutlich erst morgen sagen."
    "Also wäre Benny mehr als nur ein kleiner Türsteher im Imperium von Anis.", dachte die Chefin laut nach. Ben nickte: "Wenn Benny für Anis Drogen herstellt, dann dürfte Zweiterer demnächst ein Problem bekommen." Kevin sah auf und sein Herzschlag beschleunigte sich. Nirgends, in keinem Verhör tauchte bisher auf, dass Anis Benny so schnell wie möglich aus der Haft haben wolle... einzig Anis hatte das Kevin gesagt. Ben wird doch nicht etwa darüber etwas sagen... in Anwesenheit der Chefin.



    "Wie meinen sie das, Ben?", fragte die Chefin genauer nach. Jenny bemerkte Kevins kurze Bewegung als dieser seine Position wechselte, statt an der Fensterbank zu lehnen plötzlich sich darauf setzte. "Na, damit meine ich, dass er sich die Drogen woanders beschaffen muss, wenn er im Moment im Geschäft bleiben will. Vielleicht käme man auf diesem Weg an ihn heran." Der junge Polizist atmete auf. "Aber vergessen sie nicht, dass unser Hauptaugenmerk der Waffendeal ist, der auf der Autobahn abgelaufen ist. Was das ganze Konstrukt um diesen Anis betrifft, darum kümmern sich seit Jahren die Kollegen von der organisierten Kriminalität." Semir nickte und balancierte einen Kugelschreiber auf seinem Zeigefinger. "Für den Waffendeal fährt Benny ein, dafür gibts ja mehrere Zeugen.", meinte er.
    Doch die Chefin schüttelte den Kopf. "Zum Waffendeal gibt es immer noch einen Verdächtigen auf der Flucht. Und wenn wir den gefunden haben, und ihm die Beteiligung an diesem Deal nachgewiesen haben." Die Chefin lächelte katzenfreundlich, bevor sie sich zur Tür drehte: "Dann haben wir den Fall abgeschlossen." "Wenn der Mann ein Mitarbeiter von Anis ist, dann haben wir auch über den Weg mit den Drogen eine Chance an ihn heran zu kommen, Chefin.", sagte Jenny nun und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. "Na schön. Überlegen sie sich etwas, wie wir uns das Wegfallen von Benny in Anis Planungen zu Nutze machen können." Daraufhin verließ sie das Büro.



    Kevin wollte Ben nicht darauf ansprechen, dass er kurz das Gefühl hatte, sein Freund würde sich verplappern. Er spürte auch, dass Ben alles im Griff hatte, und nicht irgendwie ins Schwimmen geriet, weil er doch auf dem Weg dazu war. Semir warf den Kugelschreiber auf den Schreibtisch. "Die Chefin braucht erstmal nichts davon zu wissen, dass Anis versucht dich abzuwerben, und dass der alles dafür tut, Benny wieder frei zu bekommen. Das sagen wir ihr erst, wenn wir wissen, was genau Sache ist.", entschied er und nahm diesbezüglich die Verantwortung auf seine Kappe. Er hatte sich umentschieden, nachdem er heute vormittag die Chefin noch einweihen wollte.
    Der junge Mann am Fensterbrett sah Semir jetzt an... eine Sekunde, zwei Sekunden. Vor wenigen Stunden hatten sie eine Unterredung, die Kevin quasi zwang, ihnen zu vertrauen und endlich einmal offen zu sein. Jetzt hatte er die Chance dazu, selbst offen zu sein. Von sich aus. Und er wollte sie nicht ungenutzt lassen. "Ich gehe heute abend zu Anis ins Charmin." Drei Augenpaare schauten ihn an. "Wie jetzt? Mit Bienert?", fragte Semir und der junge Polizist nickte. "Nicht direkt mit ihm. Sonst wäre es zu auffällig. Ich will Bienert auch nicht kontrollieren. Aber ich will Anis klarmachen, dass er keine Chance hat, mich zu benutzen für seine Zwecke." Semir rümpfte kurz die Nase, auch Bens Blick war misstrauisch. "Ist das nicht zu gefährlich. Wer weiß, was der anstellt, wenn du wieder ablehnst.", sagte Jenny. "Er wird mir nichts tun. Er braucht mich ja. Und er wird weiter versuchen, mich umzustimmen. Irgendwann wird er einen Fehler machen.", war sich der junge Polizist sicher.

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Charmin - 23:00 Uhr



    Thomas Bienert kannte weder Angst noch Nervosität. Doch er musste zugeben, dass er ein leichtes Kribbeln im Magen verspürte. Es war lange her, dass er selbst in einen Beobachtungseinsatz ging, selbst heimlich Fotos machte oder unerkannt ein Auge auf Discobesucher warf. Normalerweise koordinierte er, überzeugte Staatsanwälte davon, Haftbefehle auszustellen, nahm selbst Verhaftungen vor oder verhörte Verdächtige. Er checkte nochmal sein Smartphone, dass genügend Speicherplatz vorhanden war, als er in seinem Dienstwagen saß, zwei Straßenecken vom Charmin entfernt, als die Beifahrertür aufging und sich ein junger Mann mit Stachelhaarfrisur neben ihn gleiten ließ. Die beiden Männer begrüßten sich mit Handschlag. "Alles klar soweit?", fragte Kevin und sah Bienert aus seinen hellblauen Augen an. Der nickte und grinste: "Immer doch."
    Kevin zog für einen Moment noch die Beifahrertür zu, damit kein neugieriger Passant mithören konnte. "Also, von diesem Einsatz heute abend weiß niemand Bescheid. Nicht mal meine engsten Mitarbeiter. Die Ergebnisse präsentiere ich morgen den Kollegen, wenn Schlappner zu einem Observationsauftrag unterwegs ist. Normalerweise wäre das Charmin heute gar nicht an der Reihe. Anis sollte sich eigentlich komplett sicher fühlen."



    Der junge Polizist nickte zufrieden. Er konnte sich vor seinem inneren Auge schon ausmalen wie der impulsive Deutsch-Tunesier morgen toben würde, wenn sich reihenweise Kunden bei ihm meldeten, bei einer verdeckten Razzia ins Netz gegangen zu sein und Besuch von der Polizei bekommen zu haben. "Es wäre natürlich besser, wenn wir beide uns da drin nicht kennen würden.", merkte der erfahrene Drogenfahnder noch an. "Das könnte sonst zu auffällig sein." Kevin lächelte ein wenig geringschätzig. "Thomas, ich bin kein Anfänger. Ich werde da drin nur etwas trinken." Auch Bienert musste grinsen und klopfte dem jungen Mann auf die abgewetzte Jeans. "Weiß ich. War nicht so gemeint."
    Für einen Moment schwiegen die beiden Männer noch. "Wie läufts jetzt eigentlich bei dir? Ich hab da einiges gehört die letzten Wochen...", fragte Bienert in seiner väterlich fürsorglichen Art. Kevin presste die Lippen zusammen. "Ein halbes Jahr nach unserer Sache liefs eigentlich super. Wir hatten zwar zwei größere Fälle die vor allem Semir an die Substanz gingen, aber es war eigentlich ganz gut." Sein eigenes Leid, seinen Drogenrückfall wegen des Mädchens in dem brennenden Haus, stellte er unter den Scheffel.



    "Und danach?", fragte Bienert, denn er wusste dass ein halbes Jahr nach ihrem gemeinsamen Fall erst Winter war... und jetzt war Frühsommer. "Tja... da liefs nicht so gut." Kevin sah den Mann kurz an. Er vertraute Bienert zwar in gewisser Hinsicht, hatte aber nicht das Bedürfnis die Geschichte in Gänze darzulegen. "Ich bin nach Kolumbien geflogen, um einer Freundin zu helfen. Das war nicht ganz so leicht, ich hab mir da hinten den Kopf angeschlagen und das Gedächtnis verloren. Das hat dann auch noch ein alter Bekannter von mir gegen mich ausgenutzt, und es kam zu einigen unerfreulichen Komplikationen. Aber das haben zum Glück alles überstanden. Aber das Verhältnis zu Semir und Ben hat darunter etwas gelitten.", hielt er sich ziemlich allgemein.
    Und das merkte auch der Drogenfahnder, weswegen er nicht nach Einzelheiten nach graben wollte. Aber er sagte etwas, was er Kevin schon nach dem gemeinsamen Fall gesagt hatte: "Wenn du eine Luftveränderung brauchst...", begann er und er war von sich überzeugt, durch seine väterliche Autorität und seinen Einfluss Kevin eher in die Spur zu bringen, als es vielleicht Semir schaffte. Doch Kevin schüttelte sofort den Kopf: "Ich weiß, Thomas. Aber nein... ich glaube, dass ich dort, wo ich jetzt bin, am besten aufgehoben bin." Und das meinte er ernst. Er müsse sich nur trauen, das Glück an ihn heranzulassen. Das wurde ihm heute mittag einmal mehr ganz deutlich. "Lass uns loslegen...", sagte er noch, damit er dem, für ihn etwas unangenehmen Gespräch, entfliehen konnte.



    Bienert ging voraus, natürlich wollte man in dem Club, der Table-Dance, Diskothek und freie Zimmer für gewisse Stunden miteinander verband, nicht gemeinsam aufschlagen. Kevin rauchte noch eine Zigarette am Auto des älteren Kommissaren und schritt dann den gleichen Weg zum Charmin. Der Türsteher begrüßte jeden Gast mit einem knurrigen Nicken und der Aufforderung, drinnen keinen Ärger zu machen. Als Kevin in das gedämpfte Licht mit den zuckenden Effekten, lauter Musik und Stimmengewirr eintauchte, war Bienert von anderen Gästen nicht zu unterscheiden. Er saß in einer der Lounge-Ecken, trank ein alkoholfreies Bier und schien sich besonders für die Damen an den Stangen zu interessieren. Hin und wieder starrte er nur für Sekundenbruchteile auf sein Handy, während er genüßlich an einer der Wasserpfeifen zog.
    Kevin bestellte sich an der Bar Whisky-Cola, die er von einer spärlich bekleideten Dame, die ihm zu zwinkerte, ausgehändigt bekam. Er hatte den ersten Schluck noch nicht genommen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. "Was für eine Freude. Kommst du, um mein Angebot anzunehmen, heute abend Benny als Türsteher zu vertreten?", fragte die wohlbekannte Stimme. Als der Polizist sich umdrehte, stand Anis ihm gegenüber, den Bart frisch gestutzt und ein falsches Lächeln aufgesetzt.



    "Tut mir leid, mein Freund. Aber als Beamter darf ich mir kein Taschengeld verdienen.", antwortete Kevin ebenso unernst, wie die Frage vermutlich gemeint war. "Ich hab von deiner Hausdurchsuchung gehört. Was hast du denn da schon wieder angestellt, Alter?", fragte er scheinheilig und setzte eine besorgte Miene auf, die Kevin ein Lächeln abrang... ein kaltes Lächeln. "Dass du so schäbig bist, andere mit reinzuziehen, hätte ich ja nicht gedacht. Aber mit meinem Vater hast du dir genau den Falschen als Druckmittel ausgesucht." Das hatte Anis auch bemerkt. Das Verhältnis zwischen Kevin und dessen Vater Erik schien so zerstört, dass er für ihn nicht in die Bresche springen würde.
    "Druckmittel? Aber ich will dich doch nicht unter Druck setzen, Mann. Ehrlich." Anis hob dabei beide Hände, als abwehrende Geste. "Das Wort "Ehrlich" hört sich scheisse an, aus deinem Mund." Der Clubbesitzer grinste. "Komm schon, Kevin. Du willst doch jetzt nicht ständig eine Hausdurchsuchung bei dir haben. Nicht, dass die mal etwas anderes finden, als Smarties, hmm?", sagte er fast fürsorglich und Kevin nahm einen Schluck des bittersüßen Getränks... auch, um nicht im Affekt zu handeln und Anis einen Schlag zu verpassen.



    "Pass mal auf, mein Freund.", sagte er dann, nachdem er etwas näher an Anis herangerückt war, um nicht laut schreien zu müssen. Die beiden waren ungefähr gleich groß. "Entweder du lässt mich jetzt zu Frieden mit deiner Scheisse... oder ich drehe den Spieß um. Und glaub mir, ich habe Möglichkeiten genug. Wäre doch wirklich blöd für dich, wenn sich auf deinem Laptop nach einer Routine-Kontrolle auf der Autobahn plötzlich irgendwelche Bilder oder Videos finden lassen... Videos, von denen deine Familie sicher gar nicht begeistert wäre, wenn du wegen denen eine Anklage am Hals hättest. Auf Kinderpornografie stehen verdammt harte Gefängnisstrafen." Kevins Stimme klang kalt und bedrohlich, dass Anis Gesicht ebenfalls vereiste. "Verdammt HARTE Gefängnisstrafen.", wiederholte er, wobei er das Wort "Harte" besonders betonte und darauf anspielte, dass man im Gefängnis bei gewissen Vergehen nichts zu lachen hatte. "Oder glaubst, du ich hätte Skrupel dir so eine Scheisse unterzuschieben. Leg dich besser nicht mit mir an."
    Anis sah den Polizisten an, aus beiden Gesichtern sprach Feindseeligkeit und Eiseskälte. "Du solltest mir nicht drohen, Alter.", sagte Anis nun ebenfalls und die Freundlichkeit war vollkommen weg. "Ich kenne da einen nettes Zitat aus deiner Rumpelmusik: "Wenn du dich mir nicht ergibst, dann töte ich das was du liebst." Also überleg dir das besser nochmal." Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, wandte sich der Mann von Kevin ab und verschwand in seinem Büro, während Kevin ihm mit kaltem Blick hinterher sah.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 1:30 Uhr



    Ayda hatte laut geschrien, so dass Semir und Andrea beiderseits aus dem Schlaf fuhren. Was in dem erfahrenen Polizisten immer erst den Alptraum eines nächtlichen Einbruches wahr werden ließ, stellte sich letztlich erneut als "harmloser" Alptraum bei seiner kleinen Tochter dar. Seit dem Amoklauf an ihrer Schule träumte sie nachts hin und wieder von Schüssen und blutverschmierten Schülern, obwohl sie diese an diesem schrecklichen Tag nicht sah. Semir war sofort bei seiner Tochter, nahm sie in den Arm, beruhigte sie und blieb bei ihr am Bett, bis sie langsam wieder eingeschlafen war. Es war in den letzten Wochen schon beinahe ein Ritual, wie das Stillen eines Babys.
    Er machte sich Gedanken, ob man da nicht mal etwas unternehmen sollte... doch ein Kinder-Psychologe? Sie hatte keine Angst, morgens zur Schule zu gehen, sie verhielt sich auch nicht anders als vorher. "Alpträume haben doch alle Kinder mal.", würde sie am nächsten Morgen fröhlich sagen, wenn die Sonne schien und die beängstigende Dunkelheit verflogen war. Und dann verscheuchte sie die Sorgen ihrer Eltern mit ihrem strahlenden mutigen Lächeln.



    "Na? Wieder das Gleiche?", fragte Andrea's leise und müde klingende Stimme vom Bett aus, als Semir wieder zurückkam. Der nickte nur stumm, was Andrea durch den Schein ihrer Nachttischlampe sehen konnte. Seufzend legte sich der erfahrene Polizist, nur in Shorts und Shirt bekleidet, aufs Bett. Für eine Decke war es Nachts viel zu warm. An Schlaf war jetzt erstmal nicht zu denken, zu aufgewühlt waren die beiden Eltern nach so einem Vorfall immer. Ausserdem lauschten sie nach allerlei Geräuschen, ob sie nochmal nach Ayda schauen mussten, ob sie noch einmal träumte, weinte oder schrie. Immerhin Lilly hatte einen so festen Schlaf, dass sie von alldem nichts mitbekam.
    "Was war das eigentlich mit der Durchsuchung bei Kevin heute vormittag?", fragte Andrea dann irgendwann leise, als sie merkte, dass weder sie noch ihr Mann direkt einschlafen konnte. Sie hatte vor Feierabend nicht die Gelegenheit zu fragen, oder am Abend hatte sie es schlicht vergessen. "Irgendjemand wollte ihm da etwas anhängen.", sagte Semir leise und schüttelte innerlich den Kopf. "Mal wieder etwas aus seiner Vergangenheit, denke ich."



    Andrea kuschelte sich seitlich an ihren Ehemann und sagte beinahe mitleidsvoll: "Es ist ja kein Wunder, dass er seine Herkunft und seine Vergangenheit nie vergessen kann, wenn er ständig damit konfrontiert wird." Sie hatte einen Arm auf Semirs Brust gelegt und spürte ihn gleichmäßig atmen. "Ja. Aber wenn man soviele Leichen im Keller hat wie er, wird man nicht alle auf einmal los.", sagte er fast philosophisch und ließ Andrea aufblicken. "Welche habt ihr den heute ausgegraben?" Sie wusste mittlerweile von Kevins krimineller Vergangenheit, den Drogen, den Einbrüchen. "Er hat früher Infos von bevorstehenden Razzien an Dealer und Clubbesitzer verkauft, um damit seinen eigenen Konsum zu finanzieren.", sagte der Polizist ohne Gewissensbisse. Natürlich hatten sie Kevin Stillschweigen versprochen. Aber Stillschweigen galt nicht für die Ehefrau von Semir... soviel war klar.
    Andrea nickte nur, selbstverständlich, als hätte sie es gewusst. Und sie traute es dem geheimnisvollen, stillen Mann ohne Weiteres zu. "Und der Typ, dem er sie verkauft hat, ist heute unser Hauptverdächtiger. Und er will, dass Kevin wieder mit ihm zusammenarbeitet." "Und? Was glaubst du?" Semir benötigte für die Antwort eine Gedenkminute. "In dem Gespräch heute hatte ich das Gefühl, dass irgendwas in ihm längst Klick gemacht hat, zumindest im Bezug auf seinen Job." Und dann sah Semir seine Frau mit seinen dunklen, warmherzigen braunen Augen an. "Ich bin mir sicher, dass er auf das Angebot von diesem Anis nicht eingehen wird... egal, was der ihm bietet."



    Der Polizist, von dem die Rede war, verließ um diese Zeit gerade das Charmin. Bienert war nur wenige Minuten vor ihm gegangen, und sie trafen sich wieder an dessen Fahrzeug. "Und? Was denkst du?", fragte Kevin und sah sofort, dass der erfahrene Drogenfahnder auf der einen Seite erschüttert, auf der anderen Seite zufrieden war. "Einige bekannte Gesichter, einige unbekannte... die sich morgen auf unangenehme Fragen einstellen müssen.", nickte er anerkennend. "Aber das ist der Wahnsinn, was uns hier in den letzten zwei Monaten durch die Lappen geht, nur weil Schlappner sich scheinbar schmieren lässt. Das wird Konsequenzen haben." "Freut mich wenn ich dir helfen konnte.", sagte Kevin und die beiden schüttelten sich die Hände. Für ihn ging es vor allem darum, Anis einen empfindlichen Schlag zu versetzen... ihm verstehen zu geben, dass er auch den Spieß umdrehen kann, wenn er will.
    Die beiden Männer verabschiedeten sich. Während Bienert nach Hause fuhr, fuhr Kevin an Jennys Adresse und parkte den Wagen am Straßenrand. Er schaltete Lichter und Zündung ab, sah auf das dunkle Mehrfamilienhaus und zündete sich eine Zigarette an.



    Anis konnte Kevin keine Angst machen. Er konnte ihn bedrohen, beschimpfen, Gewalt androhen... es würde Kevin nichts ausmachen. Und eigentlich hätte er die, an diesem Abend ausgesprochene Drohung nicht ernstnehmen brauchen. Anis kannte Kevin. Und wie der Gangsterboss schon recht anmerkte, würde der junge Polizist ihm eher den Laden auseinandernehmen, wenn er Jenny etwas antat, als mit ihm zu kooperieren. Trotzdem ließen ihn die Sorgen nicht los. Es musste ja nicht direkt Gewalt sein, mit der man Jenny attackiert. Klingelstreiche, Lärmbelästigung, Sachbeschädigung... irgendwas, um die Nerven der jungen Frau zu strapazieren.
    Als er im Auto saß und das Haus beobachtete, kam er sich vor wie ein Stalker. Wie ein verliebter Durchgeknallter, der versucht einen Blick auf das Objekt der Begierde zu erhaschen. Im weitesten Sinne stimmte das... er war immer noch verliebt in die junge Polizistin, und er würde sein Leben für sie geben, wenn es nötig wäre. Seine Tage hatten einfach schöner begonnen, als er neben ihr aufwachte, nüchtern... und nicht alleine, mit einem Kater und einer Flasche billigem Schnaps. Und so begann auch dieser Tag gegen 7:00 Uhr für ihn, trotz akuter Müdigkeit aufgrund nur einer Stunde Dämmerschlaf weitaus schöner als die Tage davor, denn das erste was er sah, war Jenny in Jeans und Träger-Top, als sie verwundert das Auto von Kevin erblickte, der lächelnd ausstieg und sie "ganz überraschend" abholen wollte, nachdem er eine Nacht über sie gewacht hatte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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