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Hierarchie der Engel

    • Fertig gestellt
    • Campino
  • Campino
  • 20. April 2016 um 11:50
  • Campino
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    • 30. Mai 2016 um 00:21
    • #21

    Autobahn - 12:15 Uhr


    Jenny war genervt, müde und noch dazu nicht bei der Sache. Ob nun das eine aus dem anderen entstand, oder alles aus dem Ursprung ihrer Gedanken um Kevin stammte, konnte sie nicht sagen. Die Chefin hatte sie eher widerwillig in den Dienstplan schreiben lassen, sie musste raus aus ihrer Wohnung, sie wollte arbeiten. Und vor allem wollte sie normal behandelt werden, doch das viel gerade sehr schwer. Denn Anna Engelhardt hatte Bonrath und Hotte erklärt, dass sie besonders gut auf Jenny acht geben sollten, dass sie ihr nicht zuviel zumuten sollten. Und diese Ansage nahmen die beiden gutmütigen Streifenpolizisten mehr als ernst.
    Es begann damit, als kurz vor Mittag die Nachricht eines Verkehrsunfalls, nur wenige Minuten vom Revier aufgenommen werden musste. Jenny atmete auf... endlich etwas zu tun, endlich Ablenkung. Sie griff ihre Jacke und Mütze, und schaute herausfordernd Dieter an, mit dem sie öfters zusammen fuhr. Der bequemte sich auch langsam in die Senkrechte, doch zu ihrer Überraschung nahm auch Herzberger seine warmen Sachen in die Hand. "Ähm... was...?", fragte Jenny unsicher, doch der dicke Polizist winkte sofort ab. "Das ist schon okay, Jenny. Ich fahre mit Dieter." "Aber Hotte, ich will was tun. Rumsitzen kann ich auch zu Hause." Es war ein so ruhiger Tag, sie hatte die Berichte, die abgearbeitet werden musste innerhalb einer Stunde bereits erledigt gehabt.


    Doch Hotte blieb hart. Sie sei schwanger, sie solle sich etwas schonen, sie könne dann auch den Bericht des Unfalls schreiben, wenn die beiden wieder zurück sind. "Hotte, ich bin im dritten Monat schwanger. Da ist man nicht bettlägerig... ausserdem kannst du nicht auf mich aufpassen, wenn ihr beide weg seid." Schnippisch verschränkte sie die Arme vor der Brust, und Herzberger schnappte einen Blick der Chefin auf, die scheinbar durch die Glaswand die Diskussion beobachtete... und ihr Blick verriet höchste Alarmstufe kurz vor einem Super-GAU. "Na gut.", sagte Herzberger entschlossen und setzte sich die Mütze auf den Kopf. "Dann fahren wir eben zu dritt." Mit diesen Worten nahm er entschlossenen Schrittes Kurs zur Tür, während Jenny nicht wusste, was sie sagen sollte. "Na komm schon, Jenny. Du weißt doch, er meint es nur gut.", sagte Bonrath in seiner manchmal drögen, oft aber auch beruhigenden Art und Weise.
    Zu dritt setzten sie sich in den großen Porsche, der hinten für Jenny Platz genug bot, und fuhren auf die Autobahn. Es hatte sich bereits ein Stau gebildet, die Rettungsgasse wurde mehr oder weniger gut gebildet und die Streifenbeamten waren als erstes am Unfall ort. Ein weißer BMW stand auf dem Seitenstreifen, die Motorhaube und Front eingedrückt. Ein kleiner Opel sah schlimmer aus, stand verkehrt herum halb auf dem Seitenstreifen und der rechten Spur, war vorne ebenfalls demoliert, sowie der Kofferraumdeckel eingedrückt. Ausserdem war die rechte Leitplanke nach aussen verbogen und mehrere Wagen hatten an der Unfallstelle angehalten und leisteten bei einer Frau erste Hilfe.


    "Am besten bleibst du im Wagen, Jenny... ok?", sagte Hotte, nachdem er bereits auf den ersten Blick einen RTW und die Feuerwehr verständigte, da Kühlmittel aus dem Opel lief. "Nein Hotte, ich bleibe nicht im Auto. Nochmal, ich bin weder krank noch beeinträchtigt... Mann!", empörte sich Jenny vom Rücksitz und stieg, trotz eines kurzen schmerzhaften Stechens im Bauch, aus dem Auto aus. "Bonrath, sicher du mal die Unfallstelle ab, wir reden mit den Beteiligten." Bonrath war in Hottes Augen heute der, der am besten zu Fuß war, weswegen er das Warndreieck aufstellte.
    "Können wir helfen?", fragte Hotte zunächst bei der verletzten Frau nach, die an der Leitplanke saß und von einem Mann einen Kopfverband gefertigt bekam. "Mir ist ein wenig schwindelig...", sagte die Frau. "Der RTW kommt gleich. Sind sie die Fahrerin von dem Opel?" Ein kurzes erschöpftes Nicken, und dem Unfallwagen nach zu urteilen konnte Hotte der Frau Kopfschmerzen nicht verdenken. Ein weiterer Mann lief aufgeregt hin und her, hatte das Handy am Ohr, wobei er oft die Worte "Blinde Kuh" und "Frauen am Steuer" rief. Jenny kam zu ihm und bat ihm durch Handzeichen das Handygespräch für einen Moment zu unterbrechen. "Können sie mir sagen, was passiert ist?" "Na... na ganz einfach. Ich fahre auf der Überholspur... linke Spur. Alles frei und rechts, auf einmal zieht die raus. Sie gar nicht dass..." Der Typ redete wie ein Wasserfall, Jenny nickte hin und wieder, und seine Worte verhallten irgendwo. Vermutlich war er schnell unterwegs und die Autofahrerin hatte sein Tempo unterschätzt, und zog auf die Überholspur... ein Unfall, wie er jeden Tag vorkam.


    Ihr Bauch schmerzte etwas, ihre Gedanken entrückten... und plötzlich sah sie es. Sie blickte gerade an dem Unfallbeteiligten vorbei auf die Überholspur, auf die Bonrath zu Beginn des Unfalls die Autofahrer noch notdürftig umleitete, bis ein zweiter Wagen kommen würde, und diese Umleitung übernehmen sollte. Seine abstehenden Haare, sein Blick... war unverkennbar. Er rollte in einem dunkelblauen Jeep über die Überholspur und für einen Moment hatte Jenny das Gefühl, er hätte sie angesehen. Der Mann hörte einen Moment aufzureden, als er das entsetzte, gar starrte Gesicht der Polizistin bemerkte, die dem Wagen hinterher sah und jegliche Gesichtsfarbe verlor. "Hallo... hören sie mir zu?", fragte er irgendwann, und Jenny erwachte aus ihrer Starre. "Was? Ja... einen Moment..."
    Sie lief zum Dienstwagen, startete ihn und ordnete sich mit Blaulicht gewaltsam in den laufenden Verkehr ein. Höchstens vier oder fünf Wagen waren zwischen ihr und dem Jeep, hinter der Unfallstelle verteilte sich der Verkehr sofort wieder. "JENNNYYYYY!" rief Hotte laut, als er bemerkte, was passiert. Bonrath war zu weit weg, er hörte nur den Motor und sah nur noch die Rücklicher ihres Dienstwagens. "Das gibts doch nicht...", schnaufte der dicke Polizist und zog sein Diensthandy aus der Tasche, um Ben und Semir anzurufen.


    Jenny war wie in Trance, als sie begann, Auto für Auto zu überholen. Sie wusste überhaupt nicht, warum sie das tat, was sie tat... sie wollte Gewissheit, sie wollte genau sehen, was sie glaubte, gesehen zu haben. Nicht warten bis heute abend, nicht weiter im Unklaren sein. Der Polizei-Porsche hatte Überschuss, als sie an dem Jeep auf der Überholspur vorbeifuhr, so schnell, dass sie nicht rechtzeitig herübersehen konnte. Mit einem Tastendruck schaltete sie das "Bitte folgen" - Schild in der Heckscheibe an und steuerte den nächstgelegenen Rastplatz an. Sie spürte ein Zittern in den Händen, ein Ziehen im Bauch, und ihre Atmung funktionierte nicht gleichmäßig. Das Herz schlug so fest gegen den Rippenbogen, als wolle es ausbrechen, und der Bild im Rückspiegel, als beide Autos zum Stehen kamen, verschwamm.
    Hatte er doch überlebt? Warum hatte er nicht angerufen? Wie lange war er überhaupt schon hier? Mit diesen Fragen würde Jenny den jungen Mann überschwemmen... vermutlich nachdem sie sich überglücklich in die Arme geschlossen hatten, sich festgehalten hatten und schwören würden, nie wieder loszulassen. Das spielte sich vor Jennys innerem Auge ab, als sie mit feuchten Händen die Wagentür öffnete, und mit langsamen, unsicheren Schritten die kurze Distanz zu dem Geländwagen überwinden wollte.


    Als die junge Polizistin durch die Windschutzscheibe in das Gesicht des Mannes sah, wollte sie zusammenbrechen... ob aus Scham, ob Enttäuschung... sie wusste es nicht. Der Mann am Steuer des Jeeps war gute 10 Jahre älter, hatte zwar die Haare zugegebenermaßen ungekämmt und abstehend, aber sonst keinerlei Ähnlichkeit mit Kevin. Nicht mal die Augenfarbe oder der melanchonische Gesichtsausdruck hätte gepasst. Aber sie hatte ihn doch gesehen... er hatte sie angesehen mit seinem durchdringenden Blick. Jennys Reaktion muss dem Kerl am Steuer sehr suspekt sein, denn sie kam langsam mit versteinertem Blick, bis sie an der Seitenscheibe stand. "Hab ich was falsch gemacht?", fragte er die Fraeg, die wohl jeder Autofahrer stellte, wenn er angehalten wurde. Aus dauerte einen Moment, bis Jenny sich gefangen hatte, etwas von "Allgemeiner Verkehrskontrolle" stotterte und nach kurzem Blick auf den Führerschein und die Papiere eine gute Weiterfahrt wünschte. Später hätte sie nicht mal mehr die Wagenfarbe des Autos nennen können, so wurde ihr Kopf von Gefühlen überflutet...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen

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    • 31. Mai 2016 um 09:25
    • #22

    Rastplatz - 12:45 Uhr


    Ben und Semir hatten gerade das letzte Stück Pizza in der Hand, als das Handy des erfahrenen Polizisten klingelte und Hottes Nummer zu sehen war. "Hotte, alles klar?" "Semir! Jenny ist mit unserem Dienstwagen abgehauen?" Er liess das letzte Stück Pizza in den Karton fallen und stand erschrocken von seinem Tisch auf. "Wie, Jenny ist mit dem Dienstwagen abgehauen? Was soll das heißen?" "Mensch, ich weiß es doch auch nicht. Sie ist plötzlich hier an der Unfallstelle ins Auto gestiegen und ist weggefahren. Ohne etwas zu sagen, einfach den Zeugen stehen gelassen." Hottes Stimme klang gehetzt, ein wenig beschämt dass er nicht gut auf die junge Frau aufgepasst hatte, aber auch besorgt um den Zustand seiner Kollegin. "Wir können hier nicht weg." "Wir sind schon unterwegs.", meinte Semir und steckte das Handy weg.
    Ben und Hartmut sahen ihn verständnislos an. "Was ist mit Jenny?", fragte Ben, obwohl er Semirs Wiederholung als Frage gegenüber Hotte klar verstanden hatte. "Keine Ahnung. Aus irgendwelchem Grund ist sie plötzlich von der Unfallstelle abgehauen. Komm, wir müssen sie suchen." Die beiden Polizisten gingen gemäßigt aus dem Büro, um nicht die Aufmerksamkeit der Chefin auf sich zu ziehen... was immer bei Jenny passiert war, wollten sie erst einmal für sich behalten. Hartmut folgte ihnen nach draussen. "Soll ich mitkommen?" "Nix da, Einstein. Du kümmerst dich um das Handy, wir kümmern uns um Jenny.", sagte Ben und stieg in den silbernen BMW ein.


    Den Stau mussten sie nun ebenfalls durch die Rettungsgasse passieren, an der Unfallstelle hielten sie kurz neben Hotte. "Sie ist in diese Richtung, ich weiß aber nicht wie weit. Die Abfahrt dahinten ist sie nicht raus.", sagte er durch die Kälte, am Horizont vor einer Kurve war noch die nächste Abfahrt zu sehen. "Alles klar, wir fahren die Autobahn mal ab. Wenn wir sie nicht finden, soll Hartmut den Wagen orten. Wir melden uns.", sagte Ben am Beifahrerfenster und Semir trat wieder aufs Gas. Hinter dem Unfall ging der Verkehr zügig weiter und der erfahrene Polizist trat aufs Gaspedal. Wenn Jenny noch unterwegs war, hatten sie nur eine Chance, wenn sie schneller waren. Auf der Dienststelle hatte sich niemand über einen rasenden Dienstwagen beschwert, deshalb gingen sie davon aus, dass die junge Polizistin im gemäßigten Tempo unterwegs war, wenn überhaupt.
    Zwei Abfahren später folgte ein Rastplatz, der von der Fahrbahn mit Bäumen abgegrenzt war. "Mach mal langsam.", mahnte Ben seinen Partner an, das Tempo etwas zu drosseln. Von der Einfahrt konnte er nichts sehen, doch zwischen den Bäumen schimmerte etwas Blau-Silbernes durch. "Ich glaube, da steht ein Streifenwagen..." Für Semir das Signal. An der Einfahrt war er bereits vorbei, also wendete er vorsichtig bei der Ausfahrt des Rastplatzes, um andere Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden, und fuhr entgegen der Fahrtrichtung auf den großen Parkplatz.


    Scheinbar einsam und verlassen stand der große Porsche Cayenne auf einem der Parkplätze. Ben bekam plötzlich ein ganz mulmiges, ein ganz ungutes Gefühl. Er konnte es nicht näher definieren, es war einfach zu ungeheuerlich diesen Gedanken in klaren Bildern zu fassen, aber sein Magen zog sich unweigerlich zusammen, als er aus dem BMW ausstieg und sah, dass der Porsche leer war. Er dachte an Kevin, er dachte daran, als er die Waffe in der Dusche fand, er dachte an seine Pillen... die er vielleicht noch zu Hause hatte, die Jenny vielleicht mitgenommen hatte... jetzt hatte er doch Bilder von den Gedanken im Kopf. Und ein Blick auf seinen Partner, seinen besten Freund, verriet dass dessen Gedanken ebenfalls voll Sorge waren. Und die Tatsache, dass Jenny ihre Dienstwaffe dabei hatte, machte die Sache nicht beruhigender.
    "Jenny?", riefen sie zweimal in alle vier Himmelsrichtungen über den riesigen Parkplatz. Der Porsche stand zur Fahrbahnleitplanke, in die andere Richtung folgten weitere Reihen bis der kahle Wald begann. Das gleichmäßige Autorauschen von der Autobahn war das einzige Geräusch, das die beiden vernahmen... neben ihrem pochenden Herzschlag, und ihrem rasselnden Atem. Immer wieder drehten sich die Polizisten herum, suchten mit den Augen jeden Winkel ab.


    "Da!", sagte Semir plötzlich und zeigte mit dem Finger auf eine der Bänke. Sie saß nicht auf der Bank, sondern davor, weshalb sie sich nicht sofort davon abhob und leicht übersehen werden konnte. Die Beine dicht an den Leib gezogen und die Arme um die Knie geschlungen, so saß sie zusammengekauert auf dem kalten feuchten Boden. Sofort kamen die beiden Polizisten näher und erkannten, dass Jenny sie gar nicht regestrierte. Sie starrte einfach tränenüberströmt geradeaus, ihr ganzer Körper zitterte und in Bens Gesicht wich die aufkommende Erleichterung sofort wieder dem Kummer. "Jenny... was machst du denn hier?", fragte er fassungslos und ging vor ihr in die Hocke. Er wollte ihre eiskalte Hand greifen, doch sie zog sie zuckend zurück.
    Semir setzte sich schräg hinter Jenny und beugte sich etwas nach vorne, wobei er die Finger seiner Hände ineinander kreuzte. Er sah Bens hilflosen Blick... "Ich hab ihn gesehen...", sagte die junge Frau mit vor Kälte und Weinen zitternder Stimme, ohne einen der beiden Männer anzusehen. Im Bauch des jungen Polizisten regten sich plötzlich Hoffnung, aber auch sofort wieder Skepsis. "Was hast du gesehen, Jenny?", fragte Semir mit rationaler und beruhigender Stimme, während sein Partner der jungen Frau direkt in die wässrigen Augen sah, in denen sich ein Bild zu formen schien. "Kevin... ich hab Kevin gesehen."


    Das Rauschen der Autos war plötzlich ganz weit weg und die beiden Polizisten schauten sich kurz an. Jennys Reaktion passte so gar nicht zu ihrer Entdeckung, und sie lieferte auch sofort die Aufklärung. "Aber er war es nicht... er war es plötzlich nicht mehr.", sagte sie und ihr Gesicht verzerrte sich, ein weiterer Weinkrampf ergriff sie und die beiden Männer merkten, dass sie lange noch nicht wieder so stabil war, wie sie vorgab um wieder arbeiten zu können. "Es war jemand anderes... aber ich hab ihn genau erkannt." Erst jetzt ließ sie sich helfen, mentalen Beistand geben, in dem sie sich von Ben in den Arm nehmen ließ und die Arme fest um den Oberkörper des Polizisten schlang. Ihr war kalt, die Schmerzen im Bauch wurden vom Kummer nicht nur verursacht, sondern auch verdrängt und sie fühlte sich elend... doch die beiden Männer fühlten sich in diesem Moment nicht besser.
    Was sollten sie sagen... sollten sie ihre Hoffnung aufrechterhalten... eine Hoffnung, die sie beide kaum noch besaßen, schon gar nicht nachdem sie das Handy gesehen hatten? Sollten sie bereits Beileid aussprechen über einen Tod, der noch nicht feststand? Sie kamen sich schrecklich hilflos vor, sie konnten Jenny wieder trösten noch helfen, noch ihren innigsten Wunsch erfüllen. "Ich will, dass er einfach wieder da ist... ich will, dass Kevin noch lebt...", schluchzte sie herzzereißend.

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    • 1. Juni 2016 um 11:12
    • #23

    Treffpunkt - 13:30 Uhr


    Diese verdammte Sonne, dachte Gabriel, als er den wild verwucherten Weg der einsamen Villa zur Haustür beschritt. Er hatte sich eine Sonnenbrille aufgesetzt, und die Schritte vom Auto zur Haustür beschleunigt um nicht zu lange dem heißen Licht des warmen Planeten ausgesetzt zu sein. Die war nur angelehnt, innen war es nochmal ein gutes Stück kühler als draussen und sein Atem hinterließ Kondensrauch. Die Atmosphäre hier war wie immer, bedrückend und menschenfeindlich... das mochte er. Vandalen hatten in den Jahren, in denen das ehemals luxuriöse Haus leerstand, ganze Arbeit geliefert. Möbel zerschlagen, Tapeten zerissen, Türen zertrümmert und überall lag der Staub des Vergessens, der den Glanz alter Tage bedeckte.
    Es war totenstill und Gabriel ging in das große Wohnzimmer, wo er oft seine Versammlungen abhielt. Hier traf er sich mit seinen Engeln, wenn es etwas zu besprechen gab, von Auge zu Auge. Er hasste die moderne Technik, Handys, Internet und Telefone waren ihm ein Graus. Nicht ganz uneigennützig. Das System der Menschen und ihre selbst ernannten Aufpasser, die Polizei, waren natürliche Feinde ihrer Mission. Sie passten auf die Menschen auf, während Gabriel und seine Menschen als Grundübel der Erde ansahen. Deshalb fühlte er sich verfolgt, und Gespräche über technische Hilfsmittel sah er als potentielles Risiko.


    Seine Engel hatten solche Prinzipien nicht. Sie kamen aus allerlei Berufsgruppen, was allerdings natürlich Vorteile mitbrachte. Sie hörten, sie wussten, sie brachten in Erfahrung. Ein Wärter der JVA Ossendorf wusste über die vorzeitige Entlassung von dieses Kinderschänders und Frau Zimmer, die junge gemobbte Bankangestellte erzählte von Trauge. Nicht dass Gabriel sowieso alle Menschen hasste... aber es dürfte auch im Sinne des allmächtigen Versagers sein, wenn zuerst die Kreaturen seiner Schöpfung bestraft wurden, die nicht nur die Erde nach und nach zerstörten und Gott längst als alten Mann mit Bart vergessen hatten, sondern auch noch gegen die 10 heiligen Gebote verstoßen. "Du sollst nicht stehlen...", hatte er Trauge noch ins Ohr geflüstert, bevor er den seelenlosen Leichnam verlassen hatte.
    Afriel verspätete sich... auch das mochte Gabriel nicht. Er hatte die Sonnenbrille aus dem blassen Gesicht genommen, als er endlich Geräusche hörte, Schritte auf dem alten Holzboden und das Knarren der Eingangstür. Afriel, ein schmaler blasser Junge kam ins Zimmer hinein und die beiden umarmten sich kurz. "Wie gehts dir?", fragte der ältere Gabriel beinahe fürsorglich und sein Schützling nickte. "Es geht. Ein bisschen aufgeregt." "Das ist normal, wenn man vor einer großen Prüfung steht."


    Afriel hatte sich vor einigen Tagen Gabriel anvertraut. Er wohnte zu Hause bei seinen Eltern im Problemviertel und es gab ständig Streit. Ausschlaggebend dabei war sein älterer Bruder Dennis, der sich permanent mit dem alkoholkranken Vater und seiner Mutter anlegte. Die Auseinandersetzungen uferten manchmal in Gewalt aus und Afriel litt darunter. Seit er in Gabriels Gruppe war, lebte er streng nach der Bibel, er hatte sein Äusseres geändert. Wo er früher die kurzen Haare unter einer Basecap versteckt hatte, ausgebeulte Jeans und zu lange Shirts trug, hatte er die Haare jetzt etwas länger, immer ordentlich und wasserstoffblond gefärbt wie Gabriel, an dem er sich orientierte, wie der Rest der Gruppe. Er konnte Teile des alten Testamentes auswendig und handelte sich dadurch auch viel Spott von seinem Bruder ein, worüber er aber stand, denn sein Glauben war stark, und seine Abhängigkeit von dem Anführer der Engel gefährlich.
    Dieser hatte ihn dann auch mahnend an das vierte Gebot erinnert. "Du sollst Vater und Mutter lieben" und das tat sein Bruder Dennis äusserlich nicht. Afriel, der früher Tobias hieß, glaubte das auch nicht, jedoch glaubte er das innerhalb seiner, durch Gabriel beschränkten Sichtweise.


    "Na dann erzähl mal... was hast du dir ausgedacht?", fragte Gabriel und sein Schützling sah etwas scheu auf. "Heute abend hat Dennis Fussballtraining. Er ist immer der Letzte, der aus den Kabinen kommt. Auf dem Parkplatz ist es recht dunkel, und bis morgen früh wird dort keiner vorbeikommen." Seine Stimme klang alles andere als sicher, als er von dem Mordplan gegen seinen Bruder erzählte, wobei Dennis in Alfriels Augen natürlich nicht sein Bruder war. Er war ein Engel, Gottes Untertan und Dennis war nur ein Mensch, einer der die Erde mitzerstörte und für den Verfall von Moral mitverantwortlich war. Der die Gebote nicht achtete, fluchte und nicht an die heilige Schrift glaubte. Nein, er konnte kein Bruder von Afriel sein.
    "Gut. Ich verlasse mich auf dich. Es wird deine erste Prüfung sein, und es werden noch viele weitere folgen. Und du weißt auch, worauf du achten musst..." Der Junge nickte zögernd, wobei er sagte: "Ich muss seine Seele entnehmen und nach Scheol verbannen. Damit sie dort verschlossen bleibt, wartet auf weitere Seelen, bis in alle Ewigkeit." "Amen", schloß Gabriel und zeichnete seinem Gegenüber mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. Es bestärkte Afriel in seinem Tun, in seinem Glauben und in seinem Vertrauen an seinen geistigen Hirten.

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    • 3. Juni 2016 um 12:14
    • #24

    Rastplatz - 14:00 Uhr


    Sie hatten Jenny Zeit gelassen, sie hatten ihr die Gelegenheit gegeben, die Gefühle die in ihrem Kopf waren, heraus zu lassen. Die junge Polizistin hatte dieses Angebot angenommen, weinte, schluchzte und beruhigte sich nur langsam. Zu groß diese Enttäuschung, nachdem die Hoffnung in ihr gestiegen war... zu groß der Schock, wie sehr sie sich in diese Sache reinsteigerte und zu groß die Traurigkeit, die sie danach über Kevins Tod wieder befiel. Ben und Semir fanden nur schwerlich Worte des Trostes. Der junge Polizist wusste überhaupt nicht, wie er reagieren sollte, schwindete seine Hoffnung darauf dass Kevin noch lebte mit jedem Tiefschlag. Semir dagegen fand immer mal kurze Sätze, er wusste wie es sich anfühlte enge Freunde an den Sensemann zu verlieren.
    Als die junge Frau sich langsam beruhigte, standen aber noch andere schwere Worte an. "Jenny, du musst dich jetzt entscheiden. Du musst dich entweder zusammenreißen und auf die Zähne beißen, oder dich wieder krank melden, wenn du es nicht schaffst. Aber wenn wir dich jetzt nach Hause fahren, wird die Chefin dich wieder beurlauben, okay?" Semir wollte Jenny damit keinesfalls überreden, im Dienst zu bleiben, das machte er auch deutlich. Sie solle nur arbeiten, wenn sie sich dazu in der Lage fühlte. Er machte ihr nur klar, welche Konsequenzen es hätte, nachdem Ben Jenny angeboten hatte, sie nach Hause zu fahren.


    "Ich wollte mich durch die Arbeit einfach ablenken.", sagte Jenny, nachdem sie sich zusammen an den Porsche gesetzt hatten. "Zuhause drehe ich durch." Die beiden Männer konnten Jenny verstehen, sie war alleine und auch wenn Andrea, Ben und Semir sie hin und wieder besuchen gingen... es war kein Ersatz für die Gemeinschaft im Team während der Arbeit. "Ob du arbeiten kannst oder nicht, kannst nur du beantworten.", sagte Semir und sah die junge Frau fest an. Ihm war mulmig bei dem Gedanken, ihr die Entscheidung zu überlassen, aber er wusste aus Erfahrung dass Bevormundung in dieser Situation überhaupt nichts bringen würde. Jenny nickte. "Ja, ich schaffe das. Ich verspreche es. Das war ein... ein Ausrutscher, okay?"
    Semir und Ben wollten es ihr glauben... sie machten das Wunschdenken einfach zu Realität und hatten Bauchweh bei dieser Entscheidung. Als sie alle drei in die Autos zurückkehrten, rief Semir bei Hotte an um zu hören, ob Jenny zum Unfall zurückkehren sollte, doch der dicke Polizist meldete, dass die Unfallstelle geräumt, und die Kollegen ihn und Bonrath mitgenommen hatten. "Was ist eigentlich los gewesen?", fragte er dann noch, aber sein langjähriger Kollege wollte das nicht am Telefon erzählen. "Warte, bis wir zurück sind."


    Im Konvoi trudelten das Zivilfahrzeug und der Polizei-Porsche wieder auf der Dienststelle ein. Die Chefin war zum Glück bei einem Pressetermin bezüglich der beiden bestialischen Morde und bekam von der ganzen Sache nichts mit. Während die zwei Kommissare sich grüßend wieder im Büro verkrümelten, ging Jenny in die Kaffeeküche. Eine Tasse Tee hatte sie jetzt bitter nötig. Hotte erschien im Türrahmen und schloß selbige hinter sich, als die junge Frau sich zu ihm umdrehte. "Na... was war denn los gewesen?", fragte er mit einem warmen Lächeln. Jenny reagierte instinktiv... und falsch. "Mir... mir wurde auf einmal übel und... und ich wollte mich nicht bei den Leuten übergeben. Deshalb bin ich schnell zum Rastplatz gefahren. Tut mir leid..."
    Sie log, und sie tat es schlecht. Hotte Herzbergers Lächeln im grau-weißen Bart erlosch. Wenn er wollte, konnte der gutmütige Polizist auch äusserst unangenehm werden. Natürlich wusste er nicht, was wirklich geschehen war, aber nur ein bisschen Übelkeit, und deswegen hatte es nun über anderthalb Stunden gedauert, sie zurückzuholen... Jenny konnte nicht wirklich annehmen, dass er ihr das glauben würde.


    "Jenny... du lügst. Und das dazu noch ziemlich schlecht, du machst nämlich ein Gesicht wie alle 3129 Geschwindigkeitssünder, die mir in meiner Polizeilaufbahn ins Gesicht gelogen haben, dass sie zum ersten Mal zu schnell gefahren sind.", sagte Hotte mit kühlem Blick. Er hatte die Hände in die Seiten gestemmt, was seinen Bauch noch mächtiger erscheinen ließ. "Wir sind eine Familie, ein Team. Nur weil die Chefin Entscheidungen fällen muss und den Kopf dafür hinhält, ist es für sie okay, wenn wir ihr nicht alles sagen. Aber wir untereinander, müssen uns doch die Wahrheit sagen." Seine Worte hämmerten Jenny ins Gehirn und mit schlechtem Gewissen blickte sie auf den Boden. Sie verhielt sich genauso, was sie an Kevin damals bemängelt hatte... dass er nicht die Wahrheit sagte, dass er vieles vor den Kollegen verheimlichte.
    "Ich... ich hab in einem Auto gedacht, dass ich Kevin gesehen hatte. Da habe ich... da habe ich die Kontrolle über mich verloren.", sagte die junge Frau dann etwas kleinlaut. Ihre Worte, ihre Tonlage klangen in Hottes Ohren schon weitaus mehr nach Wahrheit, als die Ausrede mit der Übelkeit. Doch davon, dass Hotte wegen der Lüge nun sauer war, war nichts zu spüren. Sie hatte die Kurve gekriegt und die Wahrheit gesagt, böse wäre er gewesen, wenn sie auf ihrer Lüge beharrt hätte. "Na komm mal her.", sagte er väterlich und nahm die junge Frau in den Arm, was diese dankend annahm. Sie war für jeden Trost dankbar.


    "Hotte, was soll ich nur tun... ich bin so traurig und verzweifelt. Diese... diese Ungewissheit halte ich nicht aus.", sagte sie leise zu ihrem Kollegen, der sie nickend verstand. "Wenn doch nur jemand sagen würde... "Ja, er lebt" oder "ja, er ist tot."... so schlimm es auch wäre, aber dann hätte ich Gewissheit. Ich könnte endlich trauern. So schwanke ich jeden Tag zwischen Hoffnung und Trauer." "Ich weiß, das ist schwer. Aber irgendwann wirst du los lassen müssen, auch wenn es ungewiss ist. Du musst dein Leben weiterleben, so normal wie möglich. Aber das braucht Zeit.", sagte der dicke Mann und hatte immer ein offenes Ohr für seine Kollegin. "Ich weiß. Aber... aber noch geht das nicht. Ich brauche irgendeine Gewissheit... und nicht nur Hinweise."
    Hotte machte sich noch eine Tasse Kaffee und gab Jenny zu verstehen, dass sie jederzeit zu ihm kommen könne, wenn Semir und Ben einmal nicht greifbar waren. Sie dankte ihm für seine Fürsorge, doch mit ernster Stimme sagte er, als er bereits im Türrahmen zum Flur stand: "Aber Jenny... tu mir einen Gefallen. Bitte lüg mich nie wieder an."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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    • 6. Juni 2016 um 11:40
    • #25

    Sportplatz - 21:00 Uhr


    Dennis Weber musste sich heute beeilen, als er unter der Dusche stand. Er redete mit seinen Freunden nach dem Fussballtraining, die ihn überreden wollten, doch noch wenigstens ein Bierchen zu trinken. "Nein, heute wirklich nicht. Meine Freundin hat Geburtstag, und wir wollen noch ein bisschen feiern, die war sowieso schon sauer, dass ich ausgerechnet heute noch ins Training gegangen bin.", blieb er standhaft und trockente sich ab. "Ach hör auf, feiern. Du willst nur noch einen Stich landen heute abend.", lachte einer seiner Mitspieler und boxte Dennis gegen den Arm, der nur grinste. Er war mit Kim jetzt erst 3 Monate zusammen, und sie war jetzt schon ein wichtiger Halt in seinem turbulenten Leben.
    Dennis war 21, spielte seit zwei Jahren in diesem Verein und war bei allen Mitspielern beliebt, auch wenn er kein einfacher Typ war. Aber jeder von den Freunden in der Mannschaft wusste um seinen sozialen Hintergrund. Die Familie war zerrüttet, der Vater Alkoholiker und der Bruder "nicht ganz normal", wie Dennis selbst immer mal zugab. Er stritt sich oft mit den Eltern, wurde ausfällig und übertrug seine Hitzigkeit auch oft auf den Platz. Meckerein, Pöbeleien waren an der Tagesordnung, und der Trainer hatte alle Mühe und Not, seinen Spieler in Zaum zu halten.


    Doch ansonsten war Dennis ein netter Typ. Man konnte sich auf ihn verlassen, wenn es nötig war und er hatte, nach abgebrochener Schule mit 15, vor anderthalb Jahren seine mittlere Reife nachgeholt und war mittlerweile in einer Ausbildung. Der junge Mann hatte sich fest vorgenommen, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken... anders als sein Vater und seine Mutter, von denen er sich immer weiter distanzierte. Nur zu seinem 17jährigen Bruder, der eine erstaunliche Wandlung durchgemacht hatte, hatte er noch engeren Kontakt. Doch dieser zerlief in den letzten Wochen, ausgehend von dem jungen Tobias, immer mehr. Dennis dagegen konzentrierte sich auf sein Hobby, seine Arbeit und seine neue Freundin.
    Er richtet die moderne Seitenscheitel-Frisur im Spiegel, knöpfte das Hemd zu und band sich die neuen Sportschuhe, die er sich von dem ersten Ausbildungsgehalt gekauft hatte. Der Trainer sah nochmal kurz in die Kabine seiner Spieler. "Dennis... heute kein Bier mehr? Sonst sperrst du doch hier immer zu." "Heute nicht, Coach. Ich hab noch was vor." Der Trainer nickte und zählte dann die Getränke seiner übrigen Spieler auf, um einen Kasten zu mischen und in die Kabine zu bringen. Dennis war ein typischer Partysäufer... zu den richtigen Gelegenheiten war er großen Mengen an Alkohol nicht abgeneigt. Er vermied es aber tunlichst, ausserhalb solcher Gelegenheiten Alkohol anzurühren, weil es ihn immer sehr unangenehm an seinen Vater erinnerte, der manchmal die Kornflasche schon am Frühstückstisch öffnete.


    Mit Handschlag verabschiedete er sich von seinen Freunden, schulterte die Tasche auf der Winterjacke und trat nach draussen ins Freie. Sein Bruder Tobias, der sich nur noch nach dem Engel Afriel nannte, hatte die ganze Zeit nervös im im Schutze der Dunkelheit gewartet. Eigentlich dachte er, dass er noch etwas Zeit hatte aber Dennis kam früher aus dem Clubheim heraus getreten ins schwache Licht einer Gebäudelampe. Der Junge setzte sich in Bewegung, das große Messer fest in einer Hand hinter dem Rücken haltend und mit Zittern im ganzen Leib. Dennis erkannte die dunkle Gestalt, die da auf ihn zukam erst, als sie nur noch wenige Meter voneinander getrennt waren. "Tobias? Was machst du denn hier?", fragte er erstaunt. Sein Bruder hatte eine dunkle Schirmkappe an, die seine kurzen wasserstoffblonde Haare nicht erkennen ließ.
    Zuerst antwortete Tobias nicht, er sah seinen Bruder nur ausdruckslos an. "Was machst du hier, sag schon!", wiederholte der Ältere der beiden seine Frage und war von dem starren, fast wahnsinnigen Blick von Tobias irritiert. "Gott ist zu schwach deine Sünden zu bestrafen.", sagte Tobias den Text, den er von Gabriel diktiert bekam. "Deswegen hat er uns Engel auserkoren, die Erde vor den Menschen zu retten." Seine Stimme zitterte, als er vor seinem Bruder stand und die, für Dennis, sehr verwirrenden Worte sprach.


    Der junge Mann wurde wütend und rief laut: "Was ist mit dir los? Hast du was geraucht, oder was?", wobei er Tobias mit beiden Händen ein Stück zurückschubste. "Du sollst Vater und Mutter ehren! So steht es in der Bibel.", giftete Tobias zurück, ohne musste sich dazu zwingen, den Griff fest um das Messer zu halten, damit es nicht klackernd auf den Boden fiel. "Ich werde dir deine Seele aus dem Körper schneiden." "Du hast sie doch nicht mehr alle!" Wieder schubste Dennis seinen eigentlich schwächeren und körperlich etwas kleineren Bruder zur Seite, er konnte sich dessen Verhalten nur erklären, dass er irgendwelche Drogen genommen hatte, deren Wirkung er nicht kannte. Doch Tobias war nüchtern und klar in seinem Kopf... nur Gabriel hatte die richtigen Knöpfe gedrückt.
    Er hatte Tobias erklärt, dass er fest zustechen müsste, um die Hautschichten zu durchtrennen und an die Seele heranzukommen. Der Widerstand, auf den das scharfe Messer stieß, war spürbar, genauso wie das warme Blut, das Tobias auf die dunklen Handschuhe lief. Er sah noch den geschockten Ausdruck in Dennis Gesicht, sein Stöhnen und Luftschnappen, als sein Bruder zittrig sagte: "Sie sind nicht rein, die Hierachie der Engel kennt kein Platz für sie. Der freie Wille knüpft..."


    Weiter kam Tobias nicht, als er versuchte das Messer ein Stück nach oben zu ziehen... ihm fehlte die Kraft, ausserdem waren die Schmerzlaute seines Bruders, der sich an Tobias' Jacke klammerte, so unnatürlich, dass ihm schlecht wurde. "Hör auf!", sagte er noch zu seinem stöhnenden Gegenüber und versuchte noch einmal, das Messer hochzuziehen, als er plötzlich ein lautes "HEY!" von dem Eingang des Clubheims vernahm. Tobias riess geschockt die Augen auf, ließ instinktiv das Messer los und stieß seinen Bruder von sich weg, der sofort zu Boden sackte. Der Trainer von Dennis stand in der Tür, wollte eigentlich gerade eine rauchen und kam nun mit schnellen Schritten auf die beiden Brüder zugelaufen, wobei der Jüngere sich auf dem Absatz umkehrte und zu rennen begann.
    Im ersten Instinkt wollte der Trainer hinterherlaufen, doch mit einem Blick auf Dennis bemerkte er den Messergriff, der aus dessen Bauch herausragte, das Blut an seinen Händen und den zitternden, geschockten Ausdruck in den Augen seines Spielers. "Scheisse...", rief er aus, zog seine Trainingsjacke aus und drückte um den Messergriff herum, welches er sich nicht traute, herauszuziehen. Dann zog er sein Handy, rief die Notrufnummer und verlangte so schnell wie möglich einen Notarzt.

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    • 7. Juni 2016 um 10:14
    • #26

    Dienststelle - 8:00 Uhr


    Hotte, Bonrath sowie Ben und Semir hatten Wort gehalten... kein Wort von Jennys mentalem Ausfall gestern nachmittag war bis zur Bürotür der Chefin gelangt. Sie begrüßte die junge Polizistin an diesem milden feuchten Morgen so, wie immer. Die Unterstützung, die Jenny am gestrigen Nachmittag erfahren hatte, tat ihr mental unglaublich gut. Sie hatte eine ruhige Nacht verbracht, ohne Alpträume oder sonstigen Schlafstörungen und sah an diesem Morgen einfach fitter aus, als gestern. Die Haare hatte sie, wie immer, zu einem Zopf zusammengebunden und mit einer dampfenden Tasse Tee auf dem Tisch und in Uniform durchforstete sie den heutigen Lagebericht aus den Mail-Nachrichten. Kevin hatte ihr mal erzählt, wie sehr er sich von seinem Kummer, egal welcher Natur, mit Arbeit ablenken konnte... und das versuchte sie jetzt auch.
    Nacheinander kamen erst Semir (pünktlich) und Ben (unpünktlich) durch das Großraumbüro und wünschten Jenny einen guten Morgen. Andrea kam etwas später, weil sie die Kinder noch in die Schule fuhr... ihr hatte Semir gestern abend von Jenny erzählt, weil die beiden Frauen sehr eng befreundet waren. "Alles in Ordnung?", fragte Andrea nur und drückte Jennys Hand, die lächelte und kurz nickte. "Ja, es geht mir heute besser." Es war ein so gutes Gefühl, den ganzen Tag auf der Arbeit Freunde um sich zu wissen, zu denen man gehen konnte, wenn es ihr nicht gut ging. Manchmal war aber der Schleier aus Kummer so groß, dass man die Freunde nicht sah, obwohl sie da waren.


    "Hat es eigentlich einen bestimmten Grund, warum du in den letzten Tagen ständig auf die Arbeit kommst, als wärst du gerade erst aufgestanden?", fragte Semir interessiert, als er zusah wie Ben versuchte seine etwas wild abstehenden Haare im Spiegel zu bändigen. "Ich BIN gerade erst aufgestanden...", gab Ben sarkastisch zur Antwort und gab es nach mehreren Versuchen auf. Er trug die Haare mittlerweile wieder so lang, wie zu der Zeit als er bei der Autobahnpolizei angefangen hatte und müsse wohl unbedingt mal wieder zum Friseur, wobei Carina die langen Haare gut gefielen und sie es "unter Strafe stellte", wenn er sie sich abschneiden lassen würde. Sie war auch der Grund, warum Ben erneut zu spät kam, sie hatte erneut bei ihm übernachtet, sie lagen morgens zusammen im Bett und wollten beide nicht aufstehen. Doch Ben musste zum Dienst, und Carina hatte ein Vorstellungsgespräch... sie wollte endlich wieder arbeiten gehen, was sie so lange, als sie ihre Mutter pflegen musste, nicht getan hatte.
    "Hat sich Hartmut eigentlich schon gemeldet, heute Morgen?", fragte Ben dann nach kurzer Zeit und hatte das Gefühl, mit der Frage würde er das Klima im Büro um einige Grad senken. Semir schüttelte nur den Kopf und nahm einen Schluck heißen Kaffee, wobei er kurz aus dem Fenster sah in das trübe Nebelwetter.


    Jenny kam ins Büro mit einem Blatt Papier in der Hand und legte es Semir auf den Tisch. "Schaut mal. Hotte hat das gelesen und dachte, es könnte uns interessieren." Der erfahrene Polizist nahm den ausgedruckten Lagebericht und las laut vor: "Messerangriff auf 20jährigen, schwere Bauchverletzung...hmmm." Dann stockte seine Stimme, er las den Teil zweimal "Versuch des Aufschlitzens..." "Das war der Teil, den Hotte interessant fand... scheinbar hat da unser Schlitzer wieder zugeschlagen.", meinte die junge Beamtin. Auch Bens Neugier war geweckt. "Wie kann man das feststellen?" "Hier steht, das Opfer hätte es selbst gesagt. Er stand unter Schock und sagte nur: "Er wollte mich aufschlitzen." Hat aber keine Angaben zum Täter gemacht, aber wie da schon steht... stand scheinbar unter Schock."
    Er legte das Blatt auf den Schreibtisch und wählte die Rufnummer der Dienststelle, die den Angriff aufgenommen hatte. "Gerkhan, Kripo Autobahn, guten Morgen. Es geht um die Messerattacke gestern auf dem Sportplatz...", begann er und bat dann um alle Unterlagen, weil sie prüfen wollten, ob dieser Angriff vielleicht mit der Mordserie in Verbindung stand. "Wenn wir jetzt jede Messerstecherei untersuchen müssen, weil sie vielleicht zur Mordserie gehört, können wir uns gratulieren.", meinte Ben, nachdem Semir sich bedankte und auflegte. "Es ist ja hier gerade wegen dem Zusatz, dass der Täter offenbar versucht hat, den Jungen aufzuschlitzen... wir werden es ja sehen."


    Die junge Kollegin der beiden Polizisten wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als Semirs Telefon erneut klingelte, und Hartmuts Name erschien. Jenny wusste noch gar nichts davon, dass die deutsche Botschaft Kevins zerstörtes Handy geschickt hatte, und verließ das Büro wieder, weil sie sich bei Hartmuts Anruf nichts dabei dachten. "Ja, Hartmut?" "Morgen Semir. Habt ihr Zeit?" "Hast du was rausgefunden?", fragte Semir sofort und in ihm stieg eine Mischung aus Befürchtung und Hoffnung auf, die beiderlei Ausgang der Frage bediente. Hoffnung, endlich Gewissheit zu haben... und gleichzeitig Angst vor der Gewissheit. Hoffnung, dass es nicht Kevins Handy war, aber gleichzeitig Angst, dann immer noch keine Gewissheit zu haben. Ein Teufelskreis der Emotionen, in den Ben sofort mit einstieg, als er hörte, dass Hartmut am Telefon war.
    "Also... ja, ich hab was rausgefunden. Aber das würde ich euch gerne zeigen.", sagte der rothaarige KTU-Leiter und klang ein wenig zerknirscht, was ein gutes und kein gutes Zeichen war. "Hartmut bitte... wir kommen sofort, aber sag uns... ist es Kevins Handy, oder nicht?" Die kurzzeitige Stille, die aus dem Hörer drang, machte Semir wahnsinnig. Es kam ihm vor, als würde Hartmut stundenlang schweigen, und er würde stundelang mit dem Hörer am Ohr an seinem Schreibtisch sitzen, bis endlich eine Antwort kam. "Ja... es ist Kevins Handy."


    Die Antwort sackte... sie sackte vom Ohr bis in Semirs Bauch und verursachte dort ein Stechen. Das Ausatmen konnte Hartmut am Telefon deutlich hören, das Nicken in Richtung Ben beinahe spüren. "Kommt einfach mal vorbei, und ich erklär euch alles." Das klang danach, als hätte Hartmut mehr gefunden, als einen einfachen Beweis, dass die Überreste Kevins Handy sind. Semir bedankte sich und legte den Hörer auf. "Lass uns in die KTU fahren." und sein Partner erhob sich ebenfalls sofort. Doch bevor der kleine Kommissar voran das Büro verlassen konnte, wurde er von seinem besten Freund am Ärmel festgehalten. "Wir müssen es Jenny sagen."
    Die beiden Männer blickten sich für einen Moment an. "Jetzt noch nicht." "Semir, das kannst du nicht machen. Sie macht sich noch mehr Sorgen als wir, sie muss erfahren, was wir wissen.", beharrte Ben, doch sein Freund schüttelte den Kopf. "Nicht jetzt... sie ist heute morgen zum ersten Mal wieder gefestigt, fokussiert auf die Arbeit. Das können wir nicht sofort wieder kaputtmachen. Lass uns erst hören, was Hartmut weiß." Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, verließ Semir das Büro. Nun war Bens mulmiges Gefühl im Magen vor allem im Bezug auf Jenny vorhanden, er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, etwas zu verheimlichen. Trotzdem ging er, stumm wie ein Fisch, an dem Schreibtisch der jungen Polizistin vorbei und folgte Semir ins Dienstauto. Dass Hotte vor gerade einmal 16 Stunden an Jennys Ehrlichkeit appelliert hatte, wusste er natürlich nicht...

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    Einmal editiert, zuletzt von Campino (7. Juni 2016 um 11:00)

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    • 8. Juni 2016 um 09:13
    • #27

    Gabriels Haus - 8:30 Uhr


    Er hasste Handys... ohja, sie waren eine Erfindung des Teufels, die machten einen zum Sklaven dieses kleinen Gerätes, zum Sklaven aller, die fähig waren, darauf anzurufen. Egal, wie oft Gabriel versuchte, das Klingeln zu ignorieren, sich das Kissen über den Kopf hielt... es war ein innerer Zwang, abzuheben. Schließlich bot er seiner Gemeinschaft an, jederzeit für jeden verfügbar zu sein und als er beim dritten Anruf innerhalb einer Viertelstunde Afriels Name auf dem Display sah, hob er ab. "Afriel... was ist los?", fragte er müde, denn er wollte gerade einschlafen, nachdem er die ganze Nacht meditiert und in der Bibel gelesen hatte. "G... Gabriel... ich... ich habe versagt.", stotterte die junge und angsterfüllte Stimme am anderen Ende der Leitung.
    Auf einmal war der Mann mit den blonden langen Haaren putzmunter und setzte sich im Bett auf. "Was heißt das? Was ist passiert?" "Ich... ich habe alles so gemacht bis... bis jemand kam. Er war scheinbar nicht der Letzte in der Kabine, und ich... ich bin weggelaufen." Gabriel spürte Unbehagen in sich, Enttäuschung dass Afriel die erste Prüfung nicht geschafft hatte und natürlich die Befürchtung, dass die Menschen nun ihren irdischen Gesetzesapparat in Gang brachten. Das war Gabriel natürlich bewusst, hielt ihn und seine Gemeinschaft aber nicht von ihrer Aufgabe ab.


    "Okay, ganz ruhig mein Junge. Ruhig atmen, konzentrieren. Hast du diesen Menschen bestraft... so wie es Mose im Buch Levitikus aufgetragen bekommen hat, die göttlichen Gesetze zu befolgen?", fragte er und setzte sich aus dem Bett auf, wobei er sich mit einer Hand zwei Strähnen aus dem Gesicht wischte. Wieder konnte er die Unsicherheit, das Zittern in Afriels Stimme hören. "Ich... ich weiß es nicht. Ich habe zugestochen... ich habe ihm gesagt, dass in der Hierarchie der Engel kein Platz für ihn ist. Er ... er hat gestöhnt und ist vor mir zusammen gesackt, aber dann...", schluchzte der Junge am Telefon und brachte fast keinen Ton mehr heraus. "Ich weiß nicht, ob ich die Strafe komplett durchgeführt habe. Ich konnte die Seele auch nicht nach Scheol verbannen, dazu blieb mir keine Zeit."
    In Gabriels Kopf arbeitete es. Wenn dieser Sünder noch lebte, war er eine Gefahr... ausserdem musste die Strafe Gottes unter allen Umständen durchgesetzt werden. Er würde wohl seine Quellen bemühen um herauszufinden, wie weit Afriel mit der Durchführung seiner Aufgabe gekommen ist. Um den Jungen tat es ihm beinahe etwas leid, und er würde Gott befragen müssen, ob er einen seiner Engel für das Versagen bestrafen müsse. "Hat er dich erkannt?", fragte er noch und der Junge brachte nur ein klägliches: "Ja..." heraus, bevor erneut ein Schluchzen zu hören war.


    "Wo bist du jetzt?" "Ich... ich habe mich in der Villa versteckt, wo wir uns getroffen haben. Ich habe Angst vor den Menschen, dass sie mich fangen...", konnte Gabriel hören und leckte sich kurz über die Lippen. Das wäre, in der Tat, fatal... einer seiner Engel in den Händen dieser unseeligen Brut, allein und abgeschnitten von seiner Gemeinschaft. Ein Engel alleine war schwach und klein, nur in der Gemeinschaft waren sie stark und unbesiegbar, davon war Gabriel überzeugt. "Fürchte dich nicht, Afriel. Bleib wo du bist, ich komme zu dir.", sagte Gabriel und versuchte damit, den Jungen zu beruhigen. "Ja... ich bleibe hier, ich bewege mich nicht vom Fleck. Es tut mir so leid, Gabriel. So leid, dass ich versagt habe." "Du wirst Trost finden in Gott. Bete zu Gott und bitte ihn für dein Versagen um Vergebung, und Gott wird dir vergeben."
    Nachdem der Engelsführer das Gespräch beendet hatte, wählte er eine weitere Nummer. Es wurde wortlos abgehoben, und ohne eine Begrüßung abzuwarten sagte Gabriel: "Wir haben ein Problem." "Welches Problem?", war eine krächzende, kratzende Stimme zu hören. "Einer meiner Engel hat bei seiner Aufgabe, eine Sünderseele nach Scheol zu verbannen, versagt. Er wurde gesehen und erkannt.", kam er ohne Umschweife sofort zum Thema. Ein Schweigen war die Antwort, bevor die krächzende Stimme sagte: "Das ist schlecht."


    Es war nicht die hilfreiche Antwort, die Gabriel erwartet und erhofft hatte. Doch die geheimnisvolle Stimme hatte noch mehr zu sagen: "Gott wird ihm vergeben... so, wie er auch ständig den Menschen vergibt und gütig ist... und das ist das Ergebnis.", meinte sie grimmig und der Magen des blonden Mannes zog sich zusammen. "Es war seine erste Prüfung. Ich gebe dir Recht, dass wir nicht die Fehler Gottes wiederholen dürfen, aber ich werde ihm eine zweite Chance geben.", sagte er und seine Stimme klang fest und überzeugt. Vor der Stimme am Telefon Schwäche zu zeigen, wäre ein Fehler gewesen. "Dein erster Angriff auf die Menschen ist nicht unerkannt geblieben. Ich habe die Zeitungen gelesen, und es wird groß über "bestialische Morde" berichtet.", sagte die Stimme in einer Mischung aus Anerkennung und Spott. "Aber Bestrafen kann jeder gläubige Engel. Wie ihr klarkommt, wenn die Menschen versuchen zurück zu schlagen, und versuchen Engel einzusperren, ist die nächste Prüfung für dich und deine Gemeinschaft." Gabriel nickte am Telefon und stimmte zu: "Ich weiß. Aber auch das wird kein Problem für uns sein. Wir werden unsere Aufgabe erfüllen.", sagte der blonde Mann mit tiefster Überzeugung. "Afriel wird erst einmal untertauchen, und wir werden den Menschen zeigen, dass mit Gottes Armee nicht zu spaßen ist. Der Sünder, an dem Afriel gescheitert ist, wird ebenfalls zur Rechenschaft gezogen." Die krächzende Stimme schien zufrieden, als sie auf die Ursprungsaussage zurückkam: "Dann sehe ich nicht, wo das Problem liegt, Gabriel."


    Als der Engelsführer auch dieses Gespräch beendet hatte, stand er vom Bett auf und zog sich an. Der Schlaf müsse mal wieder warten, und er würde zur Villa fahren, um Afriel erst einmal zu beruhigen. Ausserdem müsse er sich in absehbarer Zeit um den Sünder kümmern... doch das würde nicht leicht. Mit einer Kurznachricht schrieb er an zwei seiner Engel eine Nachricht, die sich darum kümmern sollten, den Krankenhausaufenthalt zu lokalisieren... aber er konnte es nicht riskieren, diese Aufgabe zu delegieren. Darum musste sich Gabriel selbst kümmern. Er bekreuzigte sich, kniete sich vor ein Kruzifix und betete zu Gott. Er bat um Vergebung für den unerfahrenen Afriel...

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    • 9. Juni 2016 um 08:36
    • #28

    KTU - 9:15 Uhr


    Noch nie hatten sie die KTU-Werkstatt ihres Kollegen Hartmut Freund mit solch gemischten Gefühlen betreten, wie heute. Beklemmung im Bauch, ein Ring um die Brust gespannt, so fühlte es sich an, als Semir und Ben in die große Werkstatt und gleichzeitig Labor und IT-Bereich der polizeilichen Untersuchung kamen. Hier war Hartmuts Reich, hier untersuchte er Autos nach DNA, machte Bodenproben, durchforstete Computer und knackte Festplatten. In der heutigen Zeit wurde das rothaarige Genie immer öfter eine entscheidende Hilfe für die beiden Autobahnpolizisten. Jetzt saß er gebannt hinter einem großen Monitor und entdeckte seine Kollegen erst, als sie schon fast hinter ihm standen. "Hallo ihr Zwei. Setzt euch.", sagte er.
    Seine Stimme klang, wie schon am Telefon, ein wenig bedrückt. Die Erkenntnisse, die er gewonnen hatte, machten einfach viel der eh geringen Hoffnung auf ein Überleben von Kevin zunichte und auch wenn man der Gewissheit langsam näher kam... schön war diese Gewissheit dennoch nicht. Es war wie ein notwendiges Übel, wie ein Abgrund den man schon lange sieht, über dem man schon lange hängt und man erleichtert ist, endlich loslassen zu dürfen und der Sturz eine Befreiung ist.


    "Hey Hartmut. Was hast du rausgefunden?", fragte Ben schnell und setzte sich auf einen Drehstuhl neben den rothaarigen Kollegen an den Monitor, wo Zahlen liefen und ein wirres Konstrukt aus Buchstaben hintereinander stand. "Also... von dem Handy waren einige Stücke der Aussenhülle noch vorhanden, ein Teil der Festplatte, Displayteile, ein kleines Stück der Empfangseinheit und ein Stück der SIM-Karte. Ich schätze, es fehlt ungefähr 60% des Handys." Die Teile lagen auf dem Schreibtisch beinahe nach Größe fein säuberlich sortiert, nur die Festplattenteile lagen extra. "Es war extrem schwierig aus der Festplatte noch Daten herauszubekommen... ich weiß nicht, ob ihr wisst wie eine Festplatte aufgebaut ist, aber normalerweise funktionieren die Dinger nicht mehr, wenn auch nur Kratzer auf der Platte sind."
    "Einstein, wir wollen nicht wissen, wie es funktioniert, sondern ob du noch was gefunden hast...", meinte Semir, der sich hinter Ben und Hartmut positioniert hatte. "Jedenfalls werden die Daten normalerweise mit einem Lesekopf abgefragt. Ich habe einen mobilen Lesekopf, den ich über bestimmte Punkte der Platte kriegen kann. Sind die Daten einer Bilddatei zum Beispiel über die ganze Platte verteilt, was vorkommen kann, hast du verloren wenn du nur ein Viertel der Platte hast. Liegen sie dichter, kriegst du noch was raus...", während er sprach, tippte er in Rekordgeschwindigkeit auf seiner Tastatur, und das Bild auf dem Monitor verändert sich. "Mit einem speziellen Programm kann man die verblienen Fragmente zusammensetzten... So zum Beispiel..."


    Langsam baute sich ein Bild auf... es war verpixelt, aber dennoch erkennbar. Es war, als hätte man das Bild in viele Rechtecke zerschnitten und einige durcheinander gewürfelt, wenige Rechtecke im Bild fehlten und blieben weiß. Doch eins konnte Semir und Ben deutlich erkennen, und es zog die Klammer um die Brust noch enger. Kevins Gesicht, durchsetzt von Pixelfehler, seine abstehenden Haare und sein rechtes blaues Auge, weil der linke Teil des Bildes fehlte. Dicht neben ihm der obere Teil von Jennys Gesicht, ihre Augen klar zu erkennen und zuzuordnen. "Das war eins der Bilder, die ich wieder herstellen konnte.", sagte Hartmut, während Ben und Semir schweigend auf den Monitor blickten, als würde der Apparat sie zwingen, den Kopf in seine Richtung zu halten.
    Beide spürten, wie der Boden unter ihnen zu wanken begann. Semir wird später sagen, dass es nicht die Erkenntnis war, dass es sich um Kevins Handy handelte... sondern das Bild an sich. Kevin wieder zu sehen, lachend und glücklich in der Jetztzeit, nicht das Jugendfoto mit seiner Schwester oder mit Annie... und auch Jennys strahlende Augen zu sehen voller Glückseligkeit, ein Ausdruck in ihren Augen, den die beiden Autobahnpolizisten schon so lange nicht mehr gesehen haben und schmerzlich vermissten. Jenny hatte sich vom damaligen aufgeweckten Mädchen, als sie zur Dienststelle kam, nach den ersten Problemen in der Beziehung zwischen ihr und Kevin und seinem Verschwinden gewandelt... schweigsam, nachdenklich und oft traurig wirkend. Dieses Bild löste vor allem auch in Ben, der Jenny nahe stand, eine Sehnsucht danach aus, dass doch bitte alles wieder so werden sollte, wie vor dem unglückseeligen Kolumbien-Trip.


    Hartmut bemerkte die Betroffenheit seiner Freunde und klickte das Bild wieder weg. "Also es ist klar, dass das Handy von Kevin ist.", schloß er erst mal und zog einzelne Stücke des Handys zu sich heran. Semir versuchte als Erstes, sich auf die weiteren Infos von Hartmut zu konzentrieren, denn er hatte ja angekündigt, noch mehr rausgefunden zu haben. "Mir ist hier noch was interessantes aufgefallen. Das Handy ist in viele Teile zerbrochen. Hier...", er zeigte mit den Fingern über gerade und eckige Schnitt- und Bruchkankten. "Aber hier... das ist untypisch für ein Zerbrechen." Mit dem Finger strich er über eine abgerundete Kante. "Diese Art habe ich am Gehäuse und einem Teil des Empfangsmoduls gefunden, die in ihrer Anordnung in einem Handy exakt übereinander liegen. Es ist ein Teil einer Rundung, und in diese Rundung, passt genau das..." Hartmut nahm aus seinem Schrank eine, wohl schon bereitgelegte 9mm-Kugel und hielt sie in die rundliche Kante, die vielleicht ein Drittel eines richtigen Loches lang war. "Passt genau...", meinte er.
    "Das bedeutet, dass Handy wurde von einer Kugel getroffen?", fragte Ben mit Erschütterung in der Stimme, und das KTU-Genie nickte. "Wie ihr seht sind hier auch leichte Brennspuren. Eventuell ist die Kugel ein, oder durchgedrungen, bevor das Handy dann zerbrochen ist, und ein Teil des Loches ist eben hier." "Wenn Kevin das Handy bei sich hatte...", dachte Semir laut nach, wobei Ben ihn sofort anblickte... er wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Hatte er das Handy bei sich, war fast sicher, dass die Kugel nicht nur das Handy getroffen hat.


    "Ich kann deine Gedanken nachvollziehen...", sagte Hartmut und zeigte ein Bild. "Ich habe die einzelnen Teile untersucht. Blut kriegt man nur schwer mit Wasser ab, sobald es nur minimal angetrocknet ist. Ich konnte minimale Rückstände auf der Aussenseite des Gehäuses feststellen." Auf dem Bild waren Teile des Gehäuses schwach violett, dort wo Hartmut die Rückstände gefunden hatte. "Kann man daraus DNA entnehmen?" "Nein, dafür ist es zu wenig. Die Blutgruppe kann auch nicht festgestellt werden. Aber wenn man das Handy bei Kevin gefunden hat, und er es die ganze Zeit bei sich hatte...", sagte er, wurde aber von Ben unterbrochen: "Aber du kannst nicht gesichert sagen, dass es Kevins Blut ist?" Der Polizist klammerte sich nun endgültig an einen Strohhalm, der längst am Untergehen war. Das spürte auch Semir und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter.
    "Ben... wessen Blut sollte es denn sonst sein?" Semir hatte die Hoffnung verloren. Es sprach einfach alles gegen Kevin, jede Erkenntnis machte einen Tod logischer. Doch Ben dachte nicht rational... das Bild hatte unglaubliche Emotionen in ihm ausgelöst, hatte ihn aufgerüttelt, und führte dazu, dass er nun bei Semirs Worten ruckartig vom Stuhl aufsprang: "Was weiß denn ich? Wer weiß, wer sein Handy vielleicht vorher hatte, oder ob es zu einem Kampf kam, oder..." "Jetzt beruhige dich doch mal!", mahnte Semir ihn, doch sein bester Freund wollte sich gerade nicht beruhigen lassen und winkte ab: "Ach. Ihr beerdigt Kevin doch schon, obwohl es nicht einen glasklaren Beweis dafür gibt, dass er tot ist.", rief er erregt und atmete hörbar aus, während er sich von den beiden Männern wegdrehte.


    Er schwieg, während Semir und Hartmut stumm blieben und dem jungen Mann nachblickten. Er hatte eine enge Bindung zu Kevin, ihm tat Jenny unendlich leid und in den letzten zwei Tagen hatte er seine Emotionen in dieser Sache weitestgehend unterdrückt. Doch ewig ging das nicht, Ben war ein impulsiver Typ, und manchmal wurde das Ventil einfach geöffnet. Semir wusste das, und deswegen nahm er ihm die Worte nicht übel. "Niemand tut das. Aber wir müssen in der Sache auch rational denken, und nicht unsere Wünsche als Realität sehen.", versuchte der erfahrene Polizist so ruhig und sachlich wie möglich zu sein. Bens Brustkorb hob und senkte sich schnell, als er einen Moment stehen blieb und in irgendeine, nicht definierte Richtung sah. Er drehte sich im Kreis und jede Ausfahrt, die er nehmen wollte, schien in einer Sackgasse zu enden.
    Hartmut kopierte das Bild auf einen Stick und gab ihn Semir. Sie mussten es Jenny erzählen, was schwierig werden würde. "Danke Hartmut...", sagte der Ältere dann schließlich und traurig verließen beide die KTU. Für einige Minuten saßen die zwei Polizisten schweigend im Auto. "Ben, ich weiß dass das unglaublich schwer ist. Und ich weiß auch, dass es alles keine Sicherheit ist, als wenn wir selbst vor Kevins Leiche stehen würden. Aber es gibt nichts... absolut nichts, was noch dafür spricht, dass Kevin noch lebt. Wir können es nicht immer verdrängen und uns an Hoffnungen klammern. Das macht uns kaputt... wir müssen anfangen, es zu verarbeiten." Es klang wie eine Bitte, und das zaghafte Kopfschütteln von Ben, während er aus dem Seitenfenster sah, entgegen Semirs Richtung, erschien so, als würde er seinem Partner einfach nicht glauben wollen...

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    • 10. Juni 2016 um 10:50
    • #29

    Krankenhaus - 10:30 Uhr


    Semir hatte aus eigenen Stücken entschieden, nicht zurück zur Dienststelle zu fahren und Jenny sofort von den neuen Erkenntnissen zu erzählen. Er schob es nicht auf, weil er sich sträubte ihr etwas davon zu erzählen, sondern weil er Jennys Arbeitstag nicht schon wieder gefährden wollte. Sie sollte ihre Schicht machen, und am Feierabend informiert werden, dann hatte man Zeit, sie zu unterstützen, sie konnte verarbeiten. Ein Zusammenbruch auf der Dienststelle wäre fatal, und das brachte er auch schonend Ben bei. "Ich finde das nicht gut...", sagte er nur immer wieder, denn er hätte Jenny am liebsten sofort Bescheid gesagt, weil er der Meinung war, dass sie ein Anrecht darauf hätte. Ausserdem befürchtete der junge Kommissar, dass sie es den beiden Freunden übel nehmen würde...
    Aber der ältere Polizist hatte entschieden, und als Ben merkte dass es Richtung Innenstadt ging statt auf die Autobahn, blieb er stumm und protestierte nicht. Er dachte an Kevin, an ihren Streit bevor er nach Kolumbien geflogen war, an die letzten Textnachrichten, und an das Bild, das sie gerade gesehen hatten. Es tat so unglaublich weh, einen Freund zu verlieren, aber noch mehr tat es weh die Frau zu sehen, die diesen Freund liebte, die ein Kind von ihm im Leib trug, und die er, Ben, einfach nicht trösten konnte.


    In den weißen Kleidern fiel Gabriel auf den Krankenhausfluren überhaupt nicht auf. Flexibel zu sein, wenn sich Gelegenheiten ergeben, gehört zu seinen Stärken. Er war gerade bei Afriel in der Villa angekommen, als er einen Anruf erhielt, dass sich der Sünder, an dem sein junger Engel versagt hatte, just in dem Krankenhaus behandelt wurde, in dem eine andere Frau seiner Gemeinschaft arbeitete. Nun musste er handeln, musste er schnell sein und konnte so vielleicht noch drohendes Unheil an seinem Schützling abwenden. Das Messer mit der geschärften Klinge trug er in der Innentasche seiner Jacke, sein blonder Pferdeschwanz bewegte sich bei jedem Schritt ein wenig hin und her, und er wich den Blicken der Krankenschwestern aus. Einige hielten den Mann tatsächlich für einen Arzt, den sie allerdings nicht kannten, während Gabriel selbst gar nicht beabsichtigt hatte, als Arzt durchzugehen... er war lediglich ein Besucher des schwer verletzten Dennis.
    Die Frau am Empfang nannte ihm das Stockwerk und das Zimmer, auf dem der Schwerverletzte lag, und der Fahrstuhl brachte den Engel auf die jeweilige Etage. Mit aufmerksamen Blick nahm er alles wahr, was um ihn herum passierte, er sah die Nummern an den Wänden, um das richtige Zimmer zu finden.


    Gerade als er auf den richtigen Flur einbog, blieb er stehen. Er konnte sich anhand der Nummern schnell ausrechnen, welche Tür das Zimmer des Sünders war... es war genau die Tür, in die gerade zwei Männer mit einer Krankenschwester hinein gingen. Gabriel blieb stehen und sein Gesicht erstarrte. Ein kleiner Mann mit kurz geschorenen Haaren und ein größerer in Lederjacke und längeren abstehenden Haaren... sie waren sicherlich keine Freunde des Mannes, so wie sie von der Frau in Weiß in das Zimmer geführt wurden. Gabriel war zu spät... die Polizei war bereits da. Ein normaler Mensch hätte in diesem Moment vermutlich geflucht, aber er unterließ dies tunlichst. Auf dem Absatz kehrte er um und verließ das Krankenhaus auf dem gleichen Weg, wie er gekommen war.
    Für Afriel war es nun umso wichtiger, in dem Versteck der Villa zu bleiben. Unter Menschen, da war Gabriel von überzeugt, galt das Wort "Bruder" nicht viel. Ausserdem bildete sich der Sünder sowieso nur ein, dass Afriel sein Bruder war, denn in Wahrheit war Afriel natürlich ein Engel und konnte überhaupt nicht der Bruder eines Menschen sein. Nun musste er für den Schutz seines Schützling sorgen, solange es möglich war... und dafür hatte er sich auch das Gesicht der beiden Männer gut eingeprägt, die seiner Seite nach die falschen Gesetze schützten.


    Weil Gabriel unter den weißgekleideten Krankenschwestern und Ärzten nicht auffiel, blieb seine kurze Anwesenheit auf dem gleichen Flur auch Semir und Ben unbemerkt. Sie zeigten an der Pforte ihre Ausweisn und fragten, ob Dennis bereits vernehmungsfähig war. Die Frau hinter der Glasscheibe bejahte und eine junge Schwester brachte die beiden Polizisten auf ihr Zimmer. Zu Bens Erleichterung wählte sie das Treppenhaus, da im Fahrstuhl gerade eine Patientin von zwei Pflegern nach oben gebracht wurde. "Der junge Mann hat Glück gehabt. Es wurden keine lebenswichtigen Organe verletzt und er hat auch die nächtliche OP gut überstanden.", sagte die Frau, als sie die Tür aufdrückte und die beiden Polizisten den Vortritt ließ.
    Die beiden Männer zeigten ihre Ausweise, Ben ließ sich auf dem Stuhl neben dem Bett nieder während Semir am Fußende des Bettes stehen blieb. Das letzte Mal, dass er so auf ein Krankenbett geblickt hatte, war als seine kleine Tochter Ayla im Koma lag. "Dennis, wie gehts dir?", fragte der junge Polizist zuerst, um ins Gespräch zu kommen. "Geht so...", war die knappe Antwort. Man spürte sofort, dass der junge Mann, der da im Bett lag, noch ein wenig geschockt war... offenbar nicht über die Tat selbst, sondern über den Täter.


    "Erzähl uns mal, was passiert ist." "Ich bin nach dem Training aus dem Clubheim gegangen, und da kam er auf mich zu. Er hat... er hat irgendwas von Gott und Sünde gesagt...", erzählte Dennis, während er die Polizisten nacheinander ansah. In seinem Kopf arbeitete es, er hatte die Szene verschwommen vor Augen und musste sich konzentrieren, um alles korrekt wiederzugeben. "Er sagte, dass Gott versagt hat... und er Engel auserkoren hat, um die Welt zu retten." Semir und Ben blickten sich gegenseitig an und wussten nicht, ob nun der Attentäter verwirrt war, oder der junge hier im Krankenbett immer noch unter Schock stand. "Sie glauben mir nicht?" "Erzähl einfach mal weiter. Was ist dann passiert?", beruhigte Semir ihn.
    "Er hat... er hat von der Bibel gesprochen. Dass man Vater und Mutter ehren soll... wissen sie, ich habe öfters Streit mit meinen Eltern." Semir machte sich Notizen, offenbar wusste der Attentäter von den Familienverhältnissen. "Er sagte, dass er mir die Seele aus dem Körper schneiden will... und dann hat er zugestochen." Seine Narbe schmerzte in dem Moment, als er an das schmatzende Geräusch beim Zustechen des Messers dachte. Plötzlich kam Semir ein Gedanke, und es war ihm klar, dass der Junge hier noch aus einem Schockzustand Unsinn redete... die Kreuzlage der bisherigen Leichen, die Art Ritualmord... Seele aus dem Körper schneiden... es ergab einen Sinn.


    "Dennis, du bist scheinbar nicht der Erste, der auf diese Art und Weise umgebracht werden sollte. Ich weiß nicht, ob du von den beiden Morden gestern Nacht und vorgestern Nacht gelesen hast... Deswegen ist es ganz wichtig... hast du die Person erkannt?" Dennis schluckte, er sah abwechselnd zu Ben und Semir, der die Frage gestellt hatte. Zögerlich, wie in Zeitlupe kam ein Nicken. "Würdest du ihn wiedererkennen? Oder könntest du, wenn es dir besser geht, ein Phantombild zeichnen?" Dennis' Herz schlug wild gegen seine Rippen. Er wusste, dass er seinen Bruder Tobias ans Messer liefern würde, aber er wollte wissen, was mit ihm los war, und das konnte er nur, wenn der sich helfen lassen würde... notfalls unter Zwang. Beide Polizisten merkten, dass nach der sicheren Beschreibung der Vorkommnisse nun eine große Unsicherheit in dem jungen Mann herrschte, bevor er leise sagte: "Es war mein Bruder..."

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    • 13. Juni 2016 um 15:22
    • #30

    Köln - 13:00 Uhr


    Der Apparat brauchte nicht lange, bis er in Bewegung gesetzt wurde. Die schwerste Hürde war es eher, im Krankenhaus durchzusetzen dass Dennis seine Aussage auch unterschreibt um es als Beweismittel geltend zu machen, weil man Fluchtgefahr befürchtete. Schließlich wusste der Killer, dass Dennis möglicherweise überlebt hatte, und ihn als Bruder identifizieren konnte. Alles danach rollte, auch aufgrund des öffentlichen Druckes der Berichterstattung in Zeitungen, sehr schnell. Haftbefehl, Fahndung und ein Durchsuchungsbeschluß für die elterliche Wohnung wurde schnell erlassen. Während Beamte vor allem das Zimmer des 18jährigen auf den Kopf stellten, versuchten Ben und Semir die aufgelöste Mutter und den geschockten Vater zu beruhigen.
    Im Zimmer des Jungens fand sich, ausser einer Bibel, nichts auffälliges, auch die Eltern konnten sich sein Verhalten, sowie die Dinge die er während des Mordversuches gesagt hatte, nicht erklären. Semir, als Vater zweier Kinder, hatte den Eindruck dass die Eltern überhaupt nicht über ihre Kinder Bescheid wussten. Auch mit den Namen Trauge und Greuser, die beiden Mordopfer, konnten sie nichts anfangen. Was hatte ihr Sohn schon mit einem gerade erst freigelassenen Kinderschänder und einem Bank-Manager zu tun? Sie hatten keine Erklärung dafür, keine Erklärung warum ihr kleiner Junge plötzlich den älteren Bruder töten sollte...


    Auch Hartmut wurde mit ins Boot genommen, er sollte die letzten Handydaten von Tobias lokalisieren. Gerade als die Beamten einpackten, klingelte Semirs Telefon. "Semir? Das letzte Signal kam aus einer Villengegend am Stadtrand." Gerade ging der Kommissar mit seinem besten Freund die Treppen des Mehrfamilienhauses herunter und stöhnte: "Da gibts doch mehr Park und Wald, als Villen... da brauchen wir ne Hundestaffel." "Möglich, aber ich hab da ein Tipp für euch. Da steht eine alte Villa, die seit Jahren unbewohnt ist und wo man sich gut verstecken kann. Ein herrlicher Ort für Geisterjäger oder Lost-Places-Fotografen." "Lost-Places?", fragte er nochmal nach, und Ben grinste: "Der alte Mann kann mit solch neumodischen Begriffen nichts anfangen.", rief er, für Hartmut gut verständlich, in den Hörer.
    "Lost Places nennt man Orte, die verlassen sind. Verlassene Vergnügungsparks, Fabrikanlagen, Wohngebiete. Endzeitstimmung und so.", erklärte Hartmut, für seine Art, schon sehr verständlich. "Weiß ich doch... und du machst sowas?" Jetzt schien Hartmut sich etwas zu genieren und druckste herum. "Naja... es gibt da technische Dinge, die bei einer Geisterjagd ganz interessant sind... EVPs zum Beispiel." "Na, das kannst du mir ja nächstes Mal erzählen, Ghostbuster.", grinste Semir und erhielt dann die Adresse von Hartmut.


    Die Fahrt ging von der Innenstadt durch ein Gewerbegebiet heraus an den Stadtrand. Semir und Ben waren erst einmal alleine, das SEK in Bereitschaft. Erst wenn sie sicher waren, ob der Junge sich wirklich in der Villa aufhielt, wollten sie den Großeinsatz anleiern und der Chefin versprachen sie über Funk hoch und heilig, bei unklarer Lage die Experten hinzu zu ziehen. Darüber sprachen sie jetzt, als sie vor dem großen Eisentor anhielten. "Was stellt die Chefin sich vor? Sollen wir mit dem Megaphon mal freundlich fragen, ob jemand zu Hause ist?", fragte Ben und sah sich etwas um. "Lass uns doch einfach mal ganz unverbindlich nachschauen." Semir ging voran bis zum großen Eisentor, dahinter lag die Auffahrt zur Garage und zum Eingang, wo rechts und links das Unkraut und Büsche wucherten.
    Ben besah das Schloß des Eisentors, während Semir ihn auffordernd ansah: "Räuberleiter?" "Lass mal, ich geh durch die Tür.", sagte der großgewachsene Polizist und drückte die Klinke nach unten, was das große Tor aufschwingen ließ. Semir hatte angenommen, das Tor wäre sicherlich abgesperrt und streckte seinem feixenden Freund die Zunge raus. Dann folgte er ihm die Einfahrt hinauf. "Hier müsste auch mal wieder ein Gärtner ran." "Kann mir gut vorstellen, dass das Haus hier anziehend ist für Geister-Fans.", sagte Semir und betrachtete die abgewetzte Front des Hauses, das große düstere und bedrückende Erscheinungsbild. Hängende alte Fensterläden aus Holz, von denen die Farbe abblätterte und tlw zerissene Vorhänge waren zu sehen.


    An der Tür machten die zwei halt, die schwere Eichentür war nur angelehnt. Semir testete lautlos, ob es Absicht war oder technischbedingt, und stellte sofort fest dass die Tür gar nicht richtig schloß. "Na, wie klar ist die Lage jetzt?", fragte Ben und sah seinen Partner an, der oftmals solche Entscheidungen selbst treffen wollte. "Noch nicht klar genug...", meinte der und zog seine Waffe aus dem Holster, was Ben ihm sofort gleichtat. Der kleinere Polizist ging vor, die Waffe im Anschlag und die Augen gewöhnten sich schnell an die schummrige Dunkelheit, denn vom trüben grauen Wetter drang kaum Licht durch die Vorhänge. Der Holzboden knackte und knarzte unter den Füßen der beiden Polizisten, sie standen in einem Flur, an dessen Ende eine verzierte Glastür lag.
    Die Wände waren mit Graffiti beschmiert, die Fototapete aus den 20er Jahren teilweise verwittert und herausgerissen. Etwas Geröll, das mutwillig aus der Wand geschlagen wurde, lag am Boden so dass ständig Stolpergefahr für die beiden Polizisten herrschte, ein paar alte Lampen hingen der Wand statt an der Decke, wie es im vorherigen Jahrhundert modern war. Das Betätigen des Kippschalters brachte allerdings keinen Effekt. Die Luft war stickig und staubig, in den zwei Räumen, die rechts und links vom Flur abzweigten war niemand drin.


    Sie hätten es nicht zugegeben, aber die Atmosphäre in dem Haus waren bedrückend und beiden Polizisten klopfte das Herz bis zum Hals. Ben gab später zu, dass er froh war, dass wenigstens Tag draussen war und keine Mitternacht. "Wenn wir hier noch in den Keller müssen, steige ich aus.", flüsterte er leise, als sie nun gemeinsam auf die Glastür zugingen. Diese war nun verschlossen, so dass Semir die Metallklinke in Zeitlupentempo nach unten drückte um keine Geräusche zu verursachen. Genauso langsam drückte er die Tür in den Raum, in den sie eintreten wollten. Auch hier drang nur schummrig Licht durch eine Terassentür herein, hier standen alte zerissene Sofas, und allerlei Möbiliar aus dem vorherigen Jahrhundert, teilweise umgestoßen und zerstört. An einer Wand stand gesprayt: "Das Fleisch gefallener Engel", was Semir und Ben eine Gänsehaut bereitete...
    Ein Knacken, das diesmal nicht vom Boden herkam, ließ sie herumwirbeln, ihr Blick ging auf eine Ansammlung von Stühlen, die alle in Richtung eines Tisches, einer Art Pult gerichtet waren... wie ein Schulsaal, in dem vorne jemand einen Beitrag zum Besten gibt, und vor einem Publikum spricht. Die Situation in diesem Haus war so surreal, dass die beiden Polizisten für einen Moment das Atmen vergaßen...

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    • 15. Juni 2016 um 08:18
    • #31

    Villengegend - 13:45 Uhr


    Afriel, ausserhalb seiner Fantasie Tobias genannt, kauerte hinter dem Pult. Das Knacken, das im Flur leise begann und sich langsam immer näher in Richtung Wohnzimmer bewegte, leiß ihn in Deckung gehen. Gabriel war gerade eben noch bei ihm, hatte ihm Mut zugesprochen. Jetzt wünschte sich der Junge, sein Vorbild wäre nicht so schnell wieder gegangen und könnte sich mit ihm den Wächtern der irdischen Gesetze entgegen stellen. Alleine fehlte Afriel der Mut, gerade nach dem prägenden Erlebnis mit Dennis. Er spürte seinen ganzen Körper zittern, und so sehr er sich auch anstrengte, er konnte diesen körperlichen Reflex nicht abstellen. Ausserdem hatte er den Eindruck, sein Herzklopfen sei so laut, dass derjenige, der gerade in die Villa kam, es schon an der Haustür hören konnte.
    Noch schlimmer wurde Afriels Angst, als er das leise Flüstern hören konnte, aber nicht verstand. Es klang so weit weg und doch so nah, dass er sich einbildete heißen Atem am Ohr zu verspüren und sich zuckend umdrehte, was ein weiteres Knarzen des Bodens verursachte. Er wusste dass die Terassentür nur angelehnt war, und er wusste dass er vom Garten aus ums Haus zurück auf die Straße laufen konnte. Allerdings hatte der Junge Angst, zu sehr zu zittern und sofort, wenn er versuchte wegzulaufen, hinzufallen.


    Als er dann jedoch bemerkte wie zwei Männer das Wohnzimmer leise betraten, wurde übernahm nicht der Mut, sondern die Panik die Macht in seinem Körper, was letztendlich in beidem gipfelte... der Flucht. Es wurde laut, er spürte dass er über zwei Stühle stolperte als er hinterm Schreibtisch hervorschnellte und durch die dünnen Vorhänge hinaus ins freie brach, es schaffte aber nicht hin zu fallen. "Stehenbleiben, Polizei!", rief einer der Männer, doch Afriel traute sich nicht, sich umzudrehen. Laufen, rennen, das war das Einzige was ihm sein Körper befahl. Der Garten war dicht, der Rasen hoch und feucht und seine Hose bis zu den Knien schnell durchnässt. Man konnte leicht hier die Orientierung verlieren, doch Afriel kannte den Garten noch, als er weniger überwuchert war, wusste wann er dem Teich ausweichen musste und wann er abbiegen musste, um wieder Richtung Straße zu rennen.
    Die beiden Polizisten wussten das nicht, und das lautsche Platschen verriet ihm, dass einer der Männer dem Teich offenbar nicht ausgewichen war. "Scheisse, verdammte! Hol dir den Jungen!", rief er prustend, als Afriel nun die Straße ansteuerte. Als er diese erreichte und mehr auf den Bordstein fiel als lief, traute er sich zum ersten Mal umzublicken. Nun war nur noch ein Mann hinter ihm, ein großer junger Kerl mit langen Haaren, der nochmal schreiend befalr, stehen zu bleiben.


    Afriel entdeckte in sich unbekannte Kräfte, die Angst ließ ihn nicht müde werden und seine Beine begannen wieder zu rennen. Auf dem Gehweg lief es sich leichter und gefühlt schneller, er hatte einen ordentlichen Vorsprung und rannte als ginge es um sein Leben. Seine Lungen begannen zu brennen, sein Atem wurde schneller, aber die Furcht trug ihn von dem Verfolger davon. Hasen schlugen Haken in Panik, um Verfolger zu verwirren, Afriel dachte daran in diesem Moment weniger, als er zwischen zwei Villen in einen kleinen Wald abbog. Er wusste, dass er von hier aus aufs freie Feld kam, bis zu den aufgeschütteten Gleisen der deutschen Bahn. Er hatte keine Angst zu sterben, er konnte nicht sterben, er war ein Engel. Aber er hatte Angst, eingesperrt zu werden, Angst, dass der Mann hinter ihm ihm wehtat.
    "Verdammt nochmal, bleib stehen!!", keuchte der Mann hinter ihm auch bereits sichtlich angeschlagen von der Lauferei, aber er hörte sich laut und dicht an. Ein kurzes Krachen ließ Afriel wieder umsehen, und er konnte gerade noch sehen wie sein Verfolger sich aufrappelte, nachdem er ihm Wald gestolpert war. "Fuck...", entfuhr es dem Typ, bevor er wieder die Verfolgung aufnahm. Der Junge sah bereits den Hügel, wie eine Art Damm auf dem die Schienen verliefen. Er sah auch den Zug sich nähern und wusste, dass es seine Chance war. Ihm konnte nichts passieren, während sein sterblicher Verfolger warten musste...


    Gabriel, der zu Fuß auf dem Weg zurück zu seinem Haus war, hatte seinen Schützling nur kurz ums Eck in den Wald laufen sehen, dann den Verfolger den er als Polizist aus dem Krankenhaus identifizierte. Er spürte, wie auch sein Herz begann zu schlagen, er machte auf dem Absatz kehrt und lief im Respektabstand hinter den beiden durch den Wald. Kurz musste er anhalten und im Gebäusch kauern, weil er Angst hatte, der Polizist könnte sich umdrehen, nachdem er der Länge nach auf den Waldboden geschlagen ist. Durch die Sorge war unbegründet, Ben hatte ausschließlich den Blick auf den flüchtenden blonden Jungen vor ihm gerichtet, der jetzt Kurs auf die Bahngleise nahm. Erst kam Ben, dann kam Gabriel aus dem Wald, der Engel darauf achtend, vom Polizisten nicht entdeckt zu werden.
    "Bleib stehen! BLEIB STEHEN!!", rief der Mann noch laut, als Afriel den Hang hinauf kletterte, um über die Gleise zu laufen. Das dröhnende Hupen des Zuges übertönte das Tosen, das er verursachte. Afriel war erst als kleiner Punkt an den Schienen für den Zugführer sichtbar, die Geschwindigkeit des Zuges ließ ihn aber in kürzester Zeit zu einem ausgewachsenen Jungen heranwachsen, der tatsächlich aufs Gleisbett lief. Gabriel schluckte und blieb stehen, er sah die blonden Haare noch für einen Moment auf dem höchsten Punkt des Dammes, gerade mitten im Gleisbett als der Zug mit einem dumpfen Schlag vorbeifuhr.


    Ben hatte gerade den Hang erreicht, als der Zug vorbeikrachte, und auch er konnte das dumpfe, ekelhafte Aufschlagen von Afriels Körper auf den zwar abgebremsten aber immer noch unglaublich schnellen Schnellzug hören. Er hielt inne, schloß die Augen und drehte den Kopf weg, denn er wusste, dass die Verfolgung hier zu Ende war. Der Zug fuhr und fuhr, das Geräusch des Fahrtwindes und das Quietschen stehender Eisenrollen auf Schienen dröhnte in seinem Ohr und der Wind riss an seinen Haaren. Er wünschte sich, der Zug würde nie enden, und er müsse nie aufblicken und nach oben klettern um zu sehen, was der Zug von dem gerade flüchtenden Jungen hinterlassen hatte, der den Überstieg der Schienen vor dem Zug nicht geschafft hatte...

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    • 16. Juni 2016 um 09:27
    • #32

    Bahngleise - 14:20 Uhr


    Blaulicht zuckte über das weite Feld, um den stehenden Zug hatte sich eine Menschentraube aus weißen Gestalten gebildet, die Spuren am Zug entnahmen, sowohl an der abgerundeten Front als auch an den Rädern. Hotte und Dieter, die ebenfalls kamen, mussten mit Engelszungen die geschockten Passagiere beruhigen, während der Zugführer von einem Notfallseelsorger im Krankenwagen versorgt wurde. Einige Meter hinter dem Zug waren ebenfalls die Tatortermittler beschäftigt, Spuren zu sichern. Afriel, der eigentlich Tobias hieß, hatte den Zusammenprall mit dem Zug natürlich nicht überlebt. Schlimmer noch... sein Körper wurde durch die Wucht furchtbar zugerichtet, so dass man ihn nur anhand seines Ausweises, den er bei sich hatte, identifizieren konnte.
    Meisner, Leiter der Rechtsmedizin, kam mit etwas betretenem Gesichtsausdruck zu Ben und übergab ihm den blutigen Ausweis in einem Papiertütchen. "Ja, was soll ich sagen. Tod durch Allerlei, der Zug hatte ne enorme Geschwindigkeit. Ob das nun Absicht oder Unachtsamkeit des Jungen war kannst du vermutlich eher sagen." Der Polizist nahm das Tütchen und nickte ein wenig geistesabwesend. "Alles klar bei dir? Brauchst du den Seelsorger?" "Nein danke, Meisner. Du weißt doch, was wir auf der Autobahn jeden Tag sehen.", wurde der grauhaarige Mann beruhigt. "Ja... da läufst du den Unfallopfern aber nicht vorher hinterher." Der Rechtsmediziner klopfte Ben auf die Schulter und ein Spezialunternehmen begann den Zug schnell zu säubern, damit niemand am Bahnhof umkippte. Ebenfalls wurde ein Ersatz-Zugführer zum Ort des Geschehens gebracht, der Zug war noch fahrtüchtig, und man konnte die Fahrt nach einer Stunde Wartezeit fortsetzen.


    Semir saß, eingehüllt in eine Decke zitternd im Auto, die Heizung auf Hochtouren. Er war im Dickicht des Gartens vom Weg abgekommen und ins Leere getreten, das Gleichgewicht verloren und im eiskalten Gartenteich gelandet. Danach hatte er seinen Partner und den Flüchtenden aus den Augen verloren, kurz auf der Straße in den Wald abbiegen sehen und dann triefend in den BMW gestiegen, mit dem Ergebnis dass er im feuchten Waldweg stecken blieb. Ein Traktorfahrer, der zufällig während der Tatortaufnahme durch den kleinen Wald zu den Feldern fuhr, zog den BMW freundlicherweise aus dem Morast. Jetzt sah der erfahrene Kommissar, dass Ben endlich zurückkam, und man in die warme Dienststelle fahren konnte.
    Das erste, was Ben spürte, als er sich in den Sitz gleiten ließ, war ein unangenehme Feuchte an Po und Rücken. Natürlich war der komplette Sitz nass, dort wo Semir eben gesessen hatte. Mittlerweile hatte er die Klamotten bis auf die Unterhose ausgezogen und sich in die Decke des Krankenwagens gewickelt, weswegen er den (feuchten) Fahrersitz seinem Partner überließ. "Du bist undicht.", meinte er kurz angebunden und warf Semir den durchsichtigen Plastikbeutel in den Schoß.


    "Hmm, war also wirklich der Junge.", sagte Semir ein wenig betroffen, und Ben nickte stumm. Es ging ihm natürlich an die Nieren, was gerade passiert war. Der Junge war gerade mal 18, ja er hatte aus Sicht der beiden Polizisten zwei Menschen scheinbar umgebracht und hatte versucht, den eigenen Bruder zu töten. Und es war nicht der erste Verbrecher, der bei seiner Flucht ums Leben kam, aber trotzdem war es immer eine schwere Situation für einen Polizisten. "Alles klar?", fragte nun auch Semir und sah zu seinem Partner, der langsam nickte. "Ich versteh das nicht. Der hätte es niemals schaffen können, das war glasklar. Was hat er sich dabei nur gedacht?" "Vielleicht wollte er es nicht schaffen.", vermutete Bens Partner, doch der schüttelte den Kopf. "Nein... dann wäre er auf den Gleisen stehen geblieben, und hätte nicht versucht, noch weiter zu laufen. Der wollte drüber..."
    "Na komm, fahr los. Ich hab kalt und will was Warmes anziehen, ausserdem haben wir noch zwei ganz schwere Aufgaben vor uns.", sagte Semir und meinte damit einerseits sicherlich der Besuch bei Dennis im Krankenhaus, während Streifenbeamte und Seelsorger zu den Eltern fuhren. Und natürlich am Feierabend Jenny zu unterrichten, was Hartmut am Handy von Kevin rausgefunden hatte. Dieser Gang würde den Polizisten sicherlich um einiges schwerer fallen, als Ersterer.


    Gabriels Haus - 15:00 Uhr


    Das flackernde Licht der Kerzen, die Gabriel aufgestellt hatte, war das einzige was den abgedunkelten Raum erleuchtete. Eine Kerze links, eine Kerze rechts auf dem Schreibtisch und davor der Mann mit den langen blonden Haaren, kniend und die Hände gefaltet. Er betete mit geschlossenen Augen, flüsternd in einer fremdem Sprache. Für ihn war Afriel nicht tot... Engel konnten nicht sterben. Er wurde nur zu Gott zurückgenommen zu den anderen Brüdern und Schwestern, die noch nicht bereit waren für den Krieg gegen die Menschen. "Herr, ich danke dir für deine Gnade Afriel gegenüber. Dass du ihn zurücknimmst in dein Reich, auf dass er gestärkt und mit Gottes Willen zurückkehrt um den Kampf fortzusetzen."
    Afriel hatte seine erste Aufgabe nicht geschafft, er hatte es nicht geschafft den Sünder, der Vater und Mutter nicht ehrte, zu bestrafen. Die Engel sahen es als ihre Aufgabe das zu tun, was Gott seit Erschaffung der Welt und der Verbannung Adams und Evas aus dem Paradies, versäumte. Die Menschen zu bestrafen, dass sie Gottes Geboten nicht folgten, Mutter Natur ausbeuteten und misshandelten und die göttlichen Geschöpfe, die Tiere schädigten. Dass es Ungläubige gab, die die Existenz Gottes generell anzweifelten oder andere, falsche Heiländer anbeteten.


    Von ihnen musste die Erde befreit werden, der Mensch hat die Erde ausgebeutet und der Vernichtung preisgegeben. Dies war die Überzeugung der Engel, die sich in der Hierarchie übergangen und unterdrückt sahen. Sie waren göttliche Geschöpfe und standen in ihrem Selbstverständnis über dem Menschen, direkt unter Gott. Doch sie fühlten sich von Gott vernachlässigt, der den Menschen mehr liebte und ihm deswegen großzügig alles verzieh. Nur einen seiner Engel bestrafte Gott nun wegen seines Versagens, und beorderte ihn aus dem Krieg zurück. Während alle anderen Engel sich Gott zumindest im Bezug auf die Menschen widersetzten, waren sie dennoch demütig wie ihre Natur und Afriel hatte scheinbar nicht die Kraft, sich dem göttlichen Befehl zu widersetzen.
    Gabriel bekreuzigte sich und stand auf. Er pustete beide Kerzen und betete noch dreimal das Ave Maria im Stehen, während er die Augen fest zupresste. Vor ihm formte sich das Bild eines Menschen, der es wagte einen Engel zu jagen, jenes von Gott erschaffende Geschöpf, das ohne Sünde und Schuld war. Der Mensch, den Gabriel als Sünder sah, und der sich vor seinem inneren Auge manifestierte, hatte dunkles längeres Haar. Je konkreter das Bild wurde, desto lauter und zorniger betete der Engel das Ave Maria und desto fester verkrampften sich seine Finger ineinander...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    • 19. Juni 2016 um 22:32
    • #33

    Krankenhaus - 16:45


    Sie hatten sich so sehr beeilt wie es ging. Semir hatte sich auf der Dienststelle in Sekundenschnelle umgezogen, nachdem Andrea bereits zu Hause war, um ihrem Mann frische Sachen zu holen. Sie wurde von Semir von unterwegs bereits angerufen, als der erfahrene Polizist noch im Dienstwagen gebibbert hatte und die Unfallaufnahme an den Bahngleisen beobachtet hatte. Danach waren die beiden so schnell es ging zurück gefahren, um dann sofort in Richtung Krankenhaus aufzubrechen. Diesmal fühlten sich die zwei Männer noch unwohler, noch aufgewühlter. Nun war es keine einfache Befragung, es war auch kein einfaches Überbringen einer Todesnachricht. Sie mussten dem jungen Dennis sagen, dass sein Bruder tot war, und er würde niemals erfahren, warum er von seinem eigenen Fleisch und Blut attackiert wurde.
    Ein Notfallseelsorger war mit den beiden Polizisten ins Krankenzimmer gegangen, doch er war letztendlich überflüssig. Es schien, als hätte Dennis ein ungutes Gefühl gehabt, er schrie nicht, er weinte nicht, er sah nur mit leerem Blick aus der großen Fensterfront in die grauen Wolken aus dem Krankenzimmer heraus, nachdem Semir die Todesnachricht überbrachte. Der Polizist unterließ es, Details des Todes zu nennen, doch dass es auf der Flucht passierte, sagte er. Kein Wort des Vorwurfs, was er und Ben schon oft hören mussten, wenn ein Verdächtiger bei der Flucht einen Unfall hatte.


    "Hat er... irgendetwas gesagt?", fragte der junge Fussballer dann nach langer Zeit des Schweigens, doch Ben musste stumm den Kopf schütteln. "Wir hatten keine Gelegenheit ihn zu befragen." Wieder Stille, jedoch war von Dennis keine Kälte oder Ablehnung zu spüren, sondern eine tiefe Ratlosigkeit. Es machte alles einfach keinen Sinn. "Tobias hat sich irgendwann verändert. Er war früher lebhafter, irgendwann hat er sich sehr zurückgezogen und auch von mir distanziert. Er hat sich die Haare gefärbt, er hatte plötzlich so altmodische Klamotten an, und manchmal kam er erst spät nach Hause." Plötzlich sprudelte es aus Dennis heraus, als wolle er eine Biographie seines Bruders erzählen. Es tauchten Erinnerungsstücke vor seinem Auge auf, die er nicht einfach herunterschlucken konnte.
    "Ich meine, in dem Alter ist das ja nicht unnormal, dass man sich ändert, aber es passte nicht zusammen. Die Kleidung, diese Stille und dann trotzdem von zu Hause wegbleiben. Einmal hatte er gesagt, dass er nun auf dem richtigen Weg war. Dass er ein Ziel hatte. Ich hatte nur gedacht: Was redet der da...?" Dennis sah die beiden Kommissare nicht an, als er sprach und stockte nun kurz. Seine Unterlippe bebte. "Hätte ich ihn doch nur mal gefragt. Warum hab ich ihn nicht gefragt... was er tut, und was sein Ziel war?"


    Ben und Semir standen stumm im Zimmer und hatten einen Kloß im Hals. Sie hatten beide schon wichtige Menschen in ihrem Leben verloren, sie waren beide schon von Menschen enttäuscht worden, die vordergründig Freunde waren, um hinterrücks die Waffe auf jemanden zu richten. Semir hatte diese sehr unangenehme Erfahrung vor langer Zeit mit der Lebensgefährtin eines toten LKA-Freundes gemacht. Doch der eigene Bruder war nochmal eine ganze andere Sache, eine andere Dimension, die die beiden Beamten nicht greifen konnten. Sie sprachen ihr Beileid aus, und als sie wieder im Dienstwagen saßen, waren beide fix und fertig. Es hatte angefangen zu regnen und die Frontscheibe war blind, die Sicht nach draussen verschleiert und verschwommen.
    Nach Minuten des Schweigens fand Ben zuerst seine Stimme wieder. "Haben wir irgendwas falsch gemacht? Hätten wir heute etwas besser machen können?" Sie sahen einander nicht an, sie sahen sturr gerade aus und Semir antwortete erst nicht. "Das SEK... das SEK hätte ihn sicher nicht fliehen lassen. Wir hätten das SEK rufen sollen." "Ben, was bringt es jetzt. Sowas kann uns immer passieren, und das weißt du.", sagte Semir, doch er konnte seinen Partner verstehen. Er war hinter dem Jungen her, er hatte gesehen was passiert war. Er tätschelte Bens Oberschenkel sanft. "Komm, wir haben noch einen Gang vor uns."


    Jennys Wohnung - 17:30 Uhr


    Jenny war stolz auf sich. Sie hatte den Tag heute gut rumbekommen, ihre Arbeit völlig normal erledigt und sich wohl gefühlt. Die Trauer, den Schmerz, sie hatte ihn erfolgreich unterdrückt, was auch eine Form der Verarbeitung war. Endlich hatte sie das Gefühl, dass die Arbeit ihr gut tat... genau das, was Jenny sich erhofft hatte. Sie war gerade ein paar Minuten daheim, als es unten an der Haustür klingelte und sie, nach Überprüfung über die Sprechanlage, für Semir und Ben den Summer drückte. Ein Lächeln, ein befreites typisches Jenny-Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, als die beiden Männer nach oben kamen. "Hallo ihr Zwei... was macht ihr denn hier?", fragte sie und ließ Ben und Semir eintreten.
    Ein kurzes Hallo, sie wollten mal kurz vorbeischauen und ein paar Worte über die scheinbare Lösung der Mordserie wurden gewechselt. Die beiden Männer setzten sich zu Jenny auf die Couch und die junge Frau merkte an der Stimmung der beiden, dass ihnen etwas auf dem Herzen lag. "Jenny... wir müssen dir noch etwas erzählen. Und wir wollten es erst heute abend machen, weil wir dich im Dienst nicht wieder runterziehen wollten.", sagte Semir irgendwann, und machte damit gleich klar, dass er die verspätete Info auf seine Kappe nahm. Jenny spürte ihr Unbehagen im Bauch und nickte aufmerksam.


    "Die Botschaft hat uns das Handy, das sie gefunden haben, geschickt. Hartmut hat es unter die Lupe genommen.", begann Semir vorsichtig. Beinahe konnte sich Jenny den Rest zusammenreimen... wenn es nicht Kevins Handy war, würden die beiden es einfach sagen. "Es ist Kevins Handy. Und es war ziemlich zerstört." Ein Stich ins Herz, ein weiterer Stich in ihrem Bauch... doch nur der zweite tat körperlich weh, so dass ihr Mundwinkel kurz zuckte. Das Handy ziemlich zerstört... von dem Aufprall. "Woher wisst ihr, dass es Kevins Handy ist?" "Hartmut konnte aus einem Teil der Festplatte Teile eines Bildes wiederherstellen.", erklärte Ben und vermied es tunlichst zu sagen, um welches Bild es sich handelte... nämlich um ein Bild von Kevin und Jenny selbst.
    "Da ist noch was...", sagte Semir leise und strich sich mit den Fingern über den Unterarm. "Hartmut hat herausgefunden dass... dass ein 9mm-Kugel ins Handy geschossen wurde, anhand der Kanten. Ausserdem hat er minimalste Blutspuren aufzeigen können, was aber zu wenig war um eine Blutgruppe oder DNA zu bestimmen." Jenny konnte die Informationen nicht in Zusammenhang bringen... eine Kugel, Blut... "Und was bedeutet das?", fragte sie verwirrt. "Das wissen wir selbst nicht, Jenny.", sagte Ben und beide Polizisten fühlten sich furchtbar niedergeschlagen. Sie konnten Jenny nur Informationen geben, aber immer noch keine Klarheit in die Sache bringen.


    "Wir wollen nicht mehr spekulieren. Aber du hast ein Recht zu erfahren, was Hartmut uns gesagt hat." Die junge Frau nickte abwesend, langsam formten sich die Puzzleteile zu einem Bild, und wie in Zeitlupe bewegten sich ihre Augen nach oben und wechselten zwischen Semir und Ben hin und her. "Ihr habt ihn aufgegeben..." Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Es klang so merkwürdig endgültig, so kalt dass Ben eine Gänsehaut bekam. "Jenny...", "Ihr habt ihn wirklich aufgegeben!", wiederholte die junge Frau lauter und ihr Herz klopfte fest an ihre Brust. Sie stand nicht wütend auf, sie schrie die beiden Polizisten nicht an. Sie saß einfach stocksteif auf der Couch und blickte zwischen ihnen hin und her. Semir wäre es in diesem Moment wohl lieber gewesen, wenn sie ausgeflippt wäre, und sie hätten sie beruhigen können. So klangen ihre Worte wie ein eiskalter Vorwurf.
    "Es gibt einfach nicht mehr viel, was dafür spricht, dass er noch lebt. Vielleicht müssen wir einfach anfangen, uns damit abzufinden...", sagte er vorsichtig, angstvoll mit jedem seiner Worte durch eine dünne Glasscheibe zu brechen, auf der er balancierte. Ben hatte völlig die Worte verloren, er fühlte sich einfach hundeelend, Jenny so zu beobachten. "Es ist okay...", meinte sie dann irgendwann. "Danke, dass ihr mir Bescheid gesagt habt." Das scheinbare Akzeptieren versetzte den beiden Beamten einen weiteren Stich, denn diese Reaktion war nicht ehrlich, das wussten sie. Beide fühlten sich mies, als sie Jennys Wohnung wenig später verließen...

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    • 21. Juni 2016 um 09:15
    • #34

    Carinas Wohnung - 19:00 Uhr


    Auch nach einer Dusche, in frischen Klamotten fühlte Ben sich einfach nur müde. Nicht körperlich, trotz der anstrengenden Verfolgungsjagd hinter dem jungen Tobias quer durch das Villenviertel bis zu den Eisenbahnschienen, sondern seelisch. Der Unfall ging ihm nahe, niemand schüttelte das einfach so ab aber irgendwo waren es die beiden Polizisten auch gewöhnt, dass so etwas passieren kann. Aber dass dessen großer Bruder nun völlig im Unklaren gelassen wurde, warum er von Tobias attackiert wurde, ging Ben nicht aus dem Kopf. Als er unter der Dusche stand dachte er darüber nach, wie es ihm gehen würde, würde Semir ihn angreifen... ohne Grund, ohne Vorwarnung, und er würde niemals mehr erfahren, warum. Der Gedanke ließ ihn schaudern, obwohl das Wasser, das auf seinen nackten Körper rieselte, warm war.
    Ausserdem ging ihm Jenny nicht aus dem Kopf. Ihr entsetzter Blick, mit dem sie Ben und Semir nacheinander ansah. "Ihr habt ihn aufgegeben...", hallte ihm noch im Gehörgang nach und verursachte Magenkrämpfe. Hatten sie ihn aufgegeben? Ja... zu Unrecht? Vielleicht. Ben konnte es selbst nicht sagen. Er wusste selbst nicht, ob er noch hoffen sollte, ob er noch hoffen wollte. Ob er sich an einen Strohhalm klammern sollte, der schon längst abgeknicht war, an einem Ast festhalten, der schon längst nur noch an der letzten Faser hing, bevor er abriss.


    Semir schien ihm kühler und realistischer, wobei Ben darüber nicht negativ dachte... im Gegenteil. Er bewunderte seinen besten Freund oftmals dafür, dass dieser selbst so emotionale Dinge, wenn nötig, mit Distanz und Sachlichkeit bewerten konnte, und wenn nötig Abstand dazu hielt. Es gelang ihm nicht immer, aber meistens. Und der junge Polizist spürte ganz deutlich, dass Semir nicht mehr an ein Wunder glaubte, und sich dementsprechend auch nicht mehr daran klammern wollte.
    Der Abend erschien ihm dunkler als die letzten, als Carina zu ihm nach Hause gekommen war. Es wäre ihm auch heute lieber gewesen, aber der jungen Frau war es etwas unangenehm, sich ständig einladen zu lassen und wollte nun, dass Ben einmal zu ihr nach Hause kam. Die Straßen waren leergefegt, als der Polizist aus der Tiefgarage seiner Wohnung fuhr, nur wenige Menschen waren bei der nassen Kälte auf der Straße. Ein Mann mit einem Hund beim Abendspaziergang, eine Frau mit einem Kind an der Hand, die vermutlich vom abendlichen Shopping aus der Innenstadt kommt, und ein auffallend hell gekleideter Mann mit blondem Pferdeschwanz auf einer Bank sitzend, gegenüber von Bens Wohnung. Der Polizist war so in Gedanken versunken, dass er niemanden der Menschen beachtete.


    Bei Carina angekommen schlug dem Polizisten sofort der Duft frischen Essens entgegen, und sein Hungergefühl, dass die ganze Zeit unterdrückt wurde, meldete sich auf einmal doch. Die beiden umarmten sich innig und Carina freute sich darauf, einen weiteren Abend mit Ben verbringen zu dürfen. Doch schon während des Essens merkte die junge Frau, dass er seltsam schweigsam war. Er erzählte nur in Bruchstücken von dem Unfall des Jungen, der seinen eigenen Bruder attackiert hatte, dass sie die Beweggründe nicht kannten, aber den Fall der unheimlichen Mordserie damit wohl aufgeklärt hätten. Die Morde passierten alle auf die gleiche Art und Weise, nur diesmal war es eben schief gegangen, und Tobias wurde überrascht.
    Carina hörte Ben zu, sieh saßen sich schräg gegenüber und unaufhörlich strichen ihre Finger über Bens Hand auf dem Tisch. Natürlich wusste die blonde Frau auch über das Schicksal von Bens Freund Kevin, aber sie vermied es, nachzufragen. Doch das brauchte sie nicht. Ben erzählte von sich aus, und es tat ihm gut. Der Polizist war anders als sein schweigsamer Freund, er frass selten etwas in sich hinein und war immer froh, reden zu können, sein Herz ausschütten zu können, und man musste ihn dazu nicht überreden.


    Natürlich konnte er immer mit Semir reden, doch es war schwer frei von der Seele zu reden, wenn derjenige, der ihm zuhörte, selber betroffen war. Und lange Zeit war Ben alleine, hin und wieder telefonierte er mit seiner Schwester, die nicht hier lebte. Aber jetzt war Carina in seinem Leben und endlich eine Schulter, an der er sich auch mal anlehnen konnte. Die junge Frau war mental stark, war selbst Kummer gewohnt, nachdem sie jahrelang ihre schwer demenzkranke Mutter gepflegt hatte. Sie hatte auch nicht den Eindruck nun einen Mann zum Freund zu haben, der ausschließlich Sorgen und Probleme hatte, davor hatte Ben ein wenig Angst. Aber Carina gab ihm das sichere Gefühl, sich einfach fallen zu lassen, zu reden.
    "Es hat weh getan, als sie gesagt hat, dass wir Kevin aufgegeben haben.", meinte er leise und seine Stimme zitterte. Soviel Emotionen sich in den letzten Tagen aufgebaut hatten fanden am späten Nachmittag bei Jenny ihren negativen Höhepunkt. "Sie will es nicht wahrhaben, was passiert ist. Und so lange man Kevins Leiche nicht einwandfrei gefunden hat, wird sie sich weiter an diesen Strohhalm klammern.", meinte Carina und zeigte auch Verständnis für die junge Polizistin. "Ich weiß... mir geht es ja nicht anders. Für einen Moment bin ich voll Hoffnung, einen Moment später denke ich... vergiss es. Wir müssen es akzeptieren." Er seufzte. "Ich weiß es selber nicht."


    Doch etwas belastete Ben noch mehr... der Abschied. Das letzte Mal, als Kevin und Ben sich sahen, lag Kevin gerade mit blutender Nase am Boden, nachdem Semir ihn niedergeschlagen hatte. "Ich kann das einfach nicht vergessen. Dass wir uns nicht mehr ausgesprochen haben. Es ist, als stünde noch etwas zwischen uns, und ich kann es nicht mehr klären. Und dann noch sein Kind...", sagte Ben und blickte zu Carina auf. "Das Kind hätte ihm Halt gegeben, es hätte ihm geholfen. Er hat sich so darauf gefreut, hat Jenny gesagt." Der Gedanke, später dem Kind nur von seinem Vater erzählen zu können, statt dass er selbst bei ihm saß, versetzte dem Polizisten einen Stich nach dem anderen ins Herz.
    "Ich weiß doch selbst, wie scheisse es ist mit einem Vater aufzuwachsen, der so gut wie nicht da ist. Und Kevin weiß...", er stockte kurz und musste schlucken. "Kevin wusste es auch. Er wäre so ein guter Vater geworden." Plötzlich stiegen alle Emotionen von Ben hoch, als er wieder aufsah zu Carina, die einfach zuhörte, und für Ben da war. Aber nun zeigte er nicht nur Worte, sondern auch eine Reaktion, als sich seine Augen mit Wasser füllten. "Es ist so verdammt ungerecht...", schluchzte er mit verzerrter Stimme, und konnte seine Gefühle nicht mehr verbergen. Die junge Frau stand auf und nahm ihren Freund tröstend in die Arme, eine Geste die mehr Trost spendete als tausend Worte... und der nahm den Trost dankbar an. "Ich bin so froh, dass du da bist.", hörte die junge Frau seine Stimme neben sich und der Polizist hatte zum ersten Mal das Gefühl, er würde tatsächlich um Kevins Tod weinen...

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    • 23. Juni 2016 um 09:50
    • #35

    Café - 08:30 Uhr


    Jemand, der den jungen Mann mit Pferdeschwanz am Tisch, Handy am Ohr und dampfenden Café vor sich beobachtete, hätte vermutet dass er ein Tourist wäre, der das Wetter falsch eingeschätzt hat. Juan war unerschütterlich in seiner Kleiderwahl, trug trotz der Kälte ein ausgeschnittenes Muskelshirt und hatte lediglich ein braunes offenes Hemd darüber gezogen. Die dicke Winterjacke neben ihm war ihm ein Graus und er zog sie nur widerwillig an. Mit dem nasskalten Wetter hatte er sich noch nicht wieder angefreundet, zu lange war er in Kolumbien und zu sehr hatte er sich dort an das warme Klima gewöhnt. Er rührte mit dem Löffel in seine, wie er ebenfalls gewöhnungsbedingt fand, schlechten Kaffee herum und rollte genervt die Augen.
    "Was heißt das, die vertrauen mir nicht. Dann musst du eben... hier... so ein Empfehlungsschreiben aufsetzen. Mann Zack, ich mach doch für die Brüder nicht den Laufburschen.", meckerte er und blickte immer mal mit wachen Augen herum, dass sich niemand um ihn zu sehr für sein Gespräch interessierte. "Ich brauch wieder Arbeit, denn genau wie in Kolumbien gibt es Essen hier nicht umsonst. Im Gegenteil, hier ist das Essen verflucht teuer." Was der Nachtclubbesitzer am anderen Ende der Leitung sagte, schien dem Kartellchef nicht zu gefallen.


    "Nein, weiß ich noch nicht. Das könnte noch dauern.", sagte er auf die Frage, wann er wieder nach Kolumbien zurückkehrte. Santos hatte dort ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt und Juan selbst hielt Kontakt mit seinen Leuten, um immer mal abzuchecken, wie das Klima dort hinten war. "Ja... ja, ich warte dann. Sieh zu, was du machen kannst. Ciao Amigo." Klappernd fiel das Handy auf den Tisch und mit der Tasse in der Hand lehnte sich der Kolumbianer zurück. Bekannte von Zack trauten dem Kartellchef aus Bogota nicht eine Rolle in deren Drogengeschäften einzunehmen, und er sollte sich branchenüblich erst einmal mit Kurierdiensten hochdienen. Allerdings hatte Juan auch gewissen Ansprüche an seine Arbeit, und als Anführer eines Kartells in Kolumbien verkaufte man keine Trips an Straßenecken. Allerdings konnte er das Misstrauen auch verstehen.
    Sein Ärger hielt nicht lange an, denn das Handy klingelte nur wenige Minuten nach Beendigung des Gespräches erneut. "Buenas Dias", meldete er sich und stutzte sofort, als er die junge Frauenstimme am Hörer hörte. Im Hintergrund waren Fahrgeräusche zu vernehmen und es schien, als wäre die sie unterwegs. "Juan... ich bitte dich noch einmal. Hilf mir." Der Mann sah sich um, als würde er plötzlich beobachtet werden und seine Nackenhaare stellten sich auf. In Jennys Stimme lag nicht mehr die vorsichtige Bitte um Hilfe, sondern ein hektischer letzter Versuch. Als stehe sie an der Schwelle, an der Kante der Klippe und drohte damit, alleine drüber zu springen.


    "Ich habe dir erklärt, dass ich dir nicht helfen kann und nicht helfen will.", sagte Juan mit gedämpfter aber zischender Stimme. "Wo bist du?" "Ich fahre zum Flughafen. Ich fliege auf jeden Fall dorthin, ob mit oder ohne dich. Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus." Die Stimme klang entschlossen und stark, doch der Kolumbianer spürte und hörte auch die Nervosität heraus. "Hör auf damit! Es ist zu gefährlich und du wirst dort hinten nichts ausrichten können. Alleine schon gar nicht." Sein Herz begann schneller zu schlagen, als er daran dachte was der schwangeren Frau dort hinten alles passieren könne. Juan wusste ja nicht, ob Santos Kevins Handy vielleicht noch zu Gesicht bekommen hatte, bevor es zerstört wurde, Jennys Gesicht kannte und damit ihre Beziehung zu Kevin.
    "Sie haben uns Kevins Handy geschickt. Es ist darauf geschossen worden! Ich will endlich wissen, ob er noch lebt oder ich endlich trauern kann.", sagte sie beharrlich und setzte noch einmal hinzu: "Ich kann mehr ausrichten, wenn du dabei bist, aber ich kann dich nicht zwingen. Wenn du mir hilfst, komme ich dich abholen, ich fahre jetzt gerade los." Juan fuhr sich mit einer Hand über die Haare, biss sich auf die Lippe, als würde er ernsthaft nachdenken und abwägen. Doch dann schüttelte er den Kopf: "Das ist Wahnsinn. Hör auf damit, Jenny. Komm zurück und bleib zu Hause!" Seine Worte hatten die Überzeugungskraft eines charismatischen Anführers, doch bei Jenny trafen sie nicht. Das Gespräch wurde ihrerseits unterbrochen. "Jenny? JENNY!!" Er kümmerte sich nicht darum, dass die Leute nun doch zu ihm blickten. "Fuck..." Er hätte es so einfach haben können... ignorieren können, er würde Jenny, Semir oder Ben in seinem Leben wohl nicht wiedersehen. Resigniert blickte er auf den schwarzen Display seines Telefons, bevor er Semirs Handynummer wählte.


    Köln - gleiche Zeit


    Die Nachricht am Abend traf sie wie ein Donnerschlag, ein Hieb mit einem Baseballschläger direkt aufs Herz. Sie konnte Ben und Semir nicht mal einen Vorwurf machen, und doch schmerzte sie die Erkenntnis, dass ihre Kollegen die Hoffnung aufgegeben hatten. Die Einschätzung von Juan, das Auffinden der Leichen, das Handy... alles hatte dazu geführt dass ihre Hoffnung kleiner wurden, aber ihr Herz klammerte sich an Kevin... und das zeigte Jennys Unterbewusstsein in dieser Nacht mit aller Härte. Schreckliche Alpträume, stündliches schweißgebadetes Aufwachen wechselten sich mit Krämpfen ab. Erst als sie gegen vier Uhr ihren Beschluss gefasst hatte und im Internet ein Ticket für den nächsten Flug nach Kolumbien kaufte, wurde sie ruhiger, als hätte sich ihr Gewissen beruhigt.
    Doch das Gewissen meldete sich am Morgen wieder, als sie ihren Koffer packte. Sie wollte Semir und Ben nichts sagen, die würden sie versuchen aufzuhalten oder, im schlimmsten Fall, mitkommen. Das aber konnte wiederum Jenny nicht verantworten. Sie hatte Verantwortung alleine für sich und ihr Kind wobei sie dieses im Unterbewusstsein verdrängte. Die junge Frau war in einen psychischen Ausnahmesituation und nicht in der Lage alle Konsequenzen abzuwägen. Schmerzen verdrängte sie, hervorgerufen doch den Stress und ihre Nervosität...


    Als sie gerade von ihrer Wohnung wegfuhr, rief sie nochmals bei Juan an. Er war der Einzige, den sie bei der Reise mitnehmen würde... er kannte sich aus, er kannte die Stelle und er kannte das Risiko. Und so schrecklich es sich in Jennys Kopf anhörte... besser dem Kolumbianer stieß etwas zu, als Semir oder Ben. Er Herz schlug fest gegen die Rippen, als Juan ihr unmissverständlich klar machte, dass sie sich auf ein Himmelfahrtskommando einließ, und er nicht mit von der Partie war. Die Hoffnungen der jungen Polizistin auf eine positive Antwort waren vor dem Gespräch schon sehr gering, aber sie wollte es nicht unversucht lassen.
    Die Autobahn Richtung Frankfurt vor ihr erschien ihr wie ein langer Schlauch, bei dem andere Autos zu Flecken verschwammen, obwohl sie nicht besonders schnell fuhr. Sie fühlte sich in der Verantwortung es nicht unversucht zu lassen, Kevin in Kolumbien zu suchen. Sie stellte sich vor, ihr Sohn oder ihre Tochter würde sie in ein paar Jahren fragen, was mit Papa passiert ist, und Jenny müsse sich vorwerfen lassen, warum sie nicht alles versucht hätte... warum sie zu früh aufgegeben habe. Davon träumte sich, sie träumte von einem blutverschmierten Kevin, der ihr diesen Vorwurf machte... warum hast du mich alleine gelassen. Jenny hielt diese Gedanken nicht mehr aus...

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    • 24. Juni 2016 um 08:53
    • #36

    Semir's Haus - 8:45 Uhr


    Semir war kein Langschläfer. An einem Samstag, so wie heute, zog es ihn spätestens gegen halb 8 aus dem Bett, dann genoß er die Stille im Haus und trank im Sommer den ersten Kaffee auf der Terasse. Jetzt, im Winter, schürte er als Erstes das Feuer im Kamin des modernen Hauses, bevor er begann das Frühstück zu bereiten, bevor erst Andrea und spätestens gegen halb 10 die Kinder wach wurden. Draussen lag noch etwas Dunkelheit über dem Wohngebiet, nur ein blau-rotes Band am Horizont kündigte den Tag kündigte den Tag unmittelbar an, je weiter man Richtung Osten sah, desto heller wurde der Himmel. Es würde wohl heute weniger bewölkt werden als die letzten Tage, dafür aber wohl auch wieder etwas kälter. Trotzdem freute man sich schon auf den nahenden Frühling.
    Es hätte für Semir ein toller Morgen sein können, doch noch immer lag der Verlust seines Partners wie ein Schatten auf dem Haus. Der Prozess des Verdrängens lief bei jedem Menschen verschiedenartig ab, und selbst bei Semir war es mehrmals unterschiedlich verlaufen. Bei Tom fiel es ihm besonders schwer und hing dem Polizisten lange nach. Tage, Wochen, bei Jenny würde es sicherlich länger dauern, vor allem weil es mit ihrem Kind etwas gab, das sie ein Lebenlang mit Kevin verbinden würde... nicht nur die gegenseitige Liebe zueinander.


    Dass sein Handy um diese Uhrzeit am Wochenende klingelte, daran war Semir leider auch schon gewöhnt. Wieder ein Mordfall, ein Kollege in Schwierigkeiten oder Ben. Doch diesmal war die Nummer, die auf dem Display leuchtete mit einem Namen verbunden, der Semir überraschte. "Ja?", meldete er sich verwundert und stellte die Kaffeetasse auf den Frühstückstisch. "Hier ist Juan. Habt ihr Kevins Freundin die Idee ins Ohr gesetzt, ihn in Kolumbien zu suchen?", kam die mit spanischem Akzent durchsetzte Stimme von Juan aus dem Hörer und Semir sah verwundert auf. "Wie kommst du darauf?" "Weil sie scheinbar gerade auf dem Weg zum Flughafen ist. Sie hat mich angerufen und gefragt, ob ich sie begleiten kann." "WAS?", rief der Polizist entsetzt und stand vom Küchentisch auf.
    "Ich habe abgelehnt, weil ich nicht zurückkehren kann. Und weil es sowieso aussichtslos ist. Auch für sie.", erklärte der Kolumbianer. "Wann hat sie dich angerufen?" "Gerade eben. Sie hat gesagt, dass sie jetzt losfährt, aber es hat sich angehört, als wäre sie schon auf der Autobahn. Aber nicht weit, denn sie wäre mich abholen gekommen." "Danke, dass du angerufen hast.", sagte Semir und meinte es ehrlich. Juan schien tatsächlich in Ordnung zu sein, auch wenn er für den Polizisten nach wie vor undurchsichtig war. "Ihr müsst sie aufhalten. Sie wird dort hinten sterben.", sagte er mit ernster Stimme.


    Semir ließ alles stehen und liegen, sagte seiner Frau im Bad nur kurz mit "Ich muss kurz weg.", Bescheid um ihr nicht soviele Sorgen zu bereiten. Doch natürlich merkte Andrea, dass irgendetwas nicht stimme. Der Polizist warf sich die Jacke über die Schulter und wählte noch beim Einsteigen ins Auto Bens Nummer. Der meldete sich verschlafen. "Ben! Steh schnell auf und mach dich fertig, ich bin in ein paar Minuten bei dir.", rief er in die Freisprecheinrichtung. "Es ist Wochenende...", quengelte es zurück. "Jenny ist auf dem Weg zum Flughafen um nach Kolumbien zu fliegen. Wir müssen sie aufhalten." Sofort stand Ben kerzengerade im Bett. "Okay, ich mach mich fertig. Ich bin aber nicht zu Hause.", sagte er schnell und hörte: "Alles klar, ich kenn die Adresse noch. Bis gleich." Ben musste lächeln. Natürlich wusste Semir sofort wo er war, das blinde Verständnis zwischen den beiden zeigte sich in solchen Momenten.
    Es dauerte tatsächlich keine 5 Minuten, und Semir hielt mit quietschenden Reifen vor Carinas Wohnung, 10 Sekunden später saß Ben nach der kurzen Verabschiedung neben ihm im BMW. "Wir haben gestern das Fass zum Überlaufen gebracht.", sagte er noch zu Semir, als sie auf die Autobahn Richtung Frankfurt fuhren. Obwohl Semir so schnell fuhr, wie es ging ohne den Verkehr zu gefährden, konnten sie Jennys Kleinwagen auf dem Weg nicht entdecken... scheinbar war ihr Vorsprung doch größer wie gedacht und sie fuhr auch nicht gerade gemütlich.


    Je näher sie sich dem Airport Frankfurt näherte, desto fester schlug ihr Herz gegen die Rippen, desto größer wurde ihre Nervosität, ihre Unsicherheit. Sie parkte im Parkhaus und zog den kleinen Koffer, den sie gepackt hatte, hinter sich her. Die Schlange am Schalter nach Kolumbien war kurz, und sie konnte bereits nach wenigen Minuten ihr Gepäck aufgeben, um zur Kontrolle zu gelangen. Dort sagte sie mit einem erzwungenen Lächeln, dass sie schwanger sei und wurde manuell kontrolliert, statt durch den Scanner zu gehen. Jenny war schlecht und sie fühlte leichten Schwindel aufsteigen, als sie durch die Fensterfront die Flugzeuge sah, die Menschen gehen und reden hörte. Kinder mit Familien, junge Pärchen die in Urlaub flogen, sich darauf freuten und lachten.
    Semir hatte den BMW im Parkverbot geparkt und sein Partner die Kelle in die Frontscheibe gelegt, um nicht abgeschleppt zu werden. Mit schnellen Schritten liefen die beiden in das Flughafengebäude, Ben richtete den Blick sofort auf die große Anzeigetafel. "Schalter 8 und 9, Ausgang 1.", sagte er und beide setzten sich wieder in Bewegung. Am Schalter war so gut wie nichts los, und Jenny erblickten sie dort ebenfalls nicht. Doch hinter der Sicherheitsschleuse konnten sie die junge Kollegin entdecken, die sich von dort gerade entfernte.


    "JENNY!!", riefen sie sofort laut, was das allgemeine Gemurmel und Gerede am Flughafen trotzdem deutlich übertönte. Nicht nur Jenny wurde auf die beiden Männer aufmerksam und beschleunigte ihren Schritt, auch die Sicherheitsleute an der Schleuse wurden sofort hellhörig. Aktiv wurden sie auch, als die beiden Männer nun auf die Schleuse zugelaufen kamen, um diese schnell zu passieren. "Immer langsam mit den jungen Pferden. Ihr Ticket und ihren Ausweis!", verlangte ein älterer, aber kantig gebauter Flughafensecurity-Mann, und hielt Semir am Arm fest. "Wir sind von der Polizei! Loslassen!", keifte der und Ben zeigte sofort seinen Ausweis, bevor sich zwei Security-Männer auch noch um ihn kümmern konnten. "Wir müssen die junge Frau aufhalten!", sagte er hektisch.
    In Jennys Kopf drehte sich alles. Sie sah nur geradeaus, begann leicht zu laufen und spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Alles in ihr geriet ausser Kontrolle, in ihrem Kopf drehte sich alles und ihr Herzschlag wurde immer schneller. Plötzlich stach es... es stach in ihren Bauch, als hätte ihr jemand ein scharfes Messer hineingerammt. Ein unbändiger Schmerz, der sie stürzen und hinfallen ließ, der sie aufstöhnen und kurz aufschreien ließ. Jenny lag am Boden und krümmte, sofort waren zwei Männer und eine Frau bei ihr, um sich zu erkundigen, was passiert sei. Hinten kam zuerst Semir, dann Ben angerannt, die sich zu Jenny herunterbeugten und dem erfahrenen Polizist stockte der Atem, als er bemerkte, dass die junge Frau die Arme krampfthaft um den Bauch schlug. "Einen Arzt, schnell!!", rief er laut, während Jenny schluchzend und zitternd am kalten schmutzigen Boden lag.

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    • 28. Juni 2016 um 00:43
    • #37

    Krankenhaus - 10:15 Uhr


    Es ging alles so schnell, und alles kam den drei wie in einem Alptraum vor. Jenny sowieso, nachdem sie mit unbarmherzigen Schmerzen auf dem Flughafenboden zusammengebrochen war. Ihr ging nur ein Gedanke durch den Kopf... das Baby. Sie bekam nur durch einen Schmerzenschleier mit, wie eine Flughafenärztin sich über die beugte, sie stöhnte noch, dass sie schwanger sei woraufhin die Frau alle Vermutungen über eine Kolik einstellte und sofort einen Krankenwagen rief. Der Notarzt, der ihr eine Spritze gegen die Schmerzen gab, bevor sie durch eine Spalier neugieriger Menschen auf der Trage nach draussen in den Krankenwagen abtransportiert wurde. Bis ins Krankenhaus flüsterte sie abwesend immer wieder: "Mein Baby..."
    Ben und Semir fühlten sich hilflos und völlig taub. Wie durch eine Welt voll Watte nahmen sie ihre Umgebung wahr, als sie die Ärzte bei Jenny beobachteten, wie sie weggebracht wurde und wie der Krankenwagen vom Parkverbot aus weg fuhr. Und wie einer der Notfallärzte, bevor er die Tür hinter Jenny schloß noch das Wort sagte, dass den beiden Polizisten im Kopf schwirrte bis sie das Krankenhaus erreichten... "Vielleicht eine Fehlgeburt." Es klang so umbarmherzig, so schrecklich in ihren Ohren, dass sie auf der gesamten Fahrt keinen Ton sagten. Nur Semir rief Andrea an, dass sie doch bitte schnell ins Krankenhaus kommen sollte.


    Andrea kam, und erreichte das Krankenhaus, als Jenny bereits im Untersuchungszimmer war und die beiden Polizisten auf dem Flur saßen. Eine kurze Umarmung mit Ben, eine längere mit Semir bevor sie mit Schrecken in den Augen erfuhr, was geschehen ist. "Sie ist einfach vor uns zusammengebrochen.", sagte Semir mit belegter Stimme, während Ben im Hintergrund saß und den Kopf auf die Hände gestützt hatte. Er war verzweifelt, gestern abend schon sein mentaler Zusammenbruch wegen Kevin und Jenny. Dann das Mutmachen durch Carina, dass er, Ben, auch zumindest in einem gewissen Umfang für das Kind da sein könnte, statt seines Freundes, der ums Leben gekommen war. Und jetzt dieser Zwischenfall, der ihn traf wie ein Hammerschlag. Nichts fühlte sich real an, alles war wie in Trance.
    "Sie wird untersucht. Dann können sie es sicher sagen.", meinte der erfahrene Kommissar. Dann setzte sich auch Andrea auf einen der Stühle im Flur, ihre Beine wippend, die Finger aufeinander knetend. Sie hatte zwei Schwangerschaften problemlos geschafft, aber sie kannte die Angst bei jedem Schmerz und jeder Veränderung ihres Körpers aufzuschrecken und nachzuhorchen. War das normal, oder nicht? Die Angst vor Komplikationen war in der Schwangerschaft allgegenwärtig und auch Semir hatte sich damals von dieser, ihm nicht gekannten Nervosität anstecken lassen. Dass es jetzt ihrer guten Freundin passierte, weckte diese alten Ängste wieder.


    Sie warteten, und die Zeit zog sich wie Kaugummi, bis die Tür des Untersuchungszimmers aufging und Jenny im Bett herausgeschoben wurde. Ihre Haare lagen um ihren Kopf auf dem Kissen wie ein Heiligenschein, ihr Gesicht war blass und die Augen starrten gerötet an die Decke. Es schien, als sei Jenny ganz weit weg. Man schob sie durch den Flur, ein kleines Stück in ein Zimmer hinein, das zum Flur eine Fensterscheibe hatte. "Was ist los mit ihr, Doc?", fragte Semir, kurz bevor sie das Zimmer erreicht hatten, und der Arzt wartete kurz, bis der Krankenpfleger das Bett komplett ins Zimmer geschoben hatte, und die Tür geschlossen hatte. Semir, Ben und Andrea hielten den Atem an, die Angst nagte an ihnen, und die Befürchtungen wuchsen.
    Sie bestätigten sich in einem kurzen, brutal sachlichen Satz, den der Arzt sagte: "Frau Dorn hat leider eine Fehlgeburt in der 9. Schwangerschaftswoche erlitten. Es tut mir sehr leid." Keiner der drei konnte später noch genau sagen, wie sie in diesem Moment reagiert hatten. Entsetztes Schauen, betretenes Wegdrehen, Kopfschütteln... es war eine Mischung aus allem. Ben entfuhr nur ein leises: "Nein...", bevor er sich mit den Händen vor dem Mund wegdrehte und ein paar Schritte ging. "Es ist in diesem Zeitraum leider Gottes nichts unnormales, dass es eine Fehlgeburt gibt. Unnormal ist eher, dass sie in so einem frühen Stadium mit solchen Schmerzen einhergeht. Wir haben Frau Dorn ein Schmerzmittel verabreicht, und werden sie über Nacht beobachten. Mehr kann ich ihnen nicht sagen."


    Der Arzt ließ die beiden Männer und die Frau in ihrem Schock stehen. Semir und Ben hatten Erfahrungen damit, Todesnachrichten zu überbringen. Sie fuhren zu Eltern und sagten, dass sich ihr 19jähriger Sohn auf der Autobahn totgefahren hatte. Doch was sollten sie jetzt zu ihrer Freundin, ihrer Kollegin sagen, nach dem sie gerade eine Fehlgeburt erlitten hatte... eine Fehlgeburt des Kindes, dessen Vater sie gerade erst vor drei Wochen verloren hatte. Wie konnte man jemanden, dem das Schicksal zweimal so böse mitgespielt hat, trösten? Semir und Ben wussten es nicht, sie trauten sich nicht in das Zimmer zu gehen, sie wollten sich nicht hinsetzen, stumm bleiben oder mit nichtssagenden Phrasen herumwerfen.
    Nur Andrea traute sich hinein. Sie ging in das Zimmer, setzte sich dicht an Jennys Bett, und nahm ihre eiskalte Hand in die Hände. Ein stummes Zeichen des Trostes, das mehr sagte als tausend Worte, auch wenn die junge Frau zunächst nicht darauf reagierte. Ihr Blick ging ins Leere, noch benebelt von dem Schmerzmitteln, doch sie wusste was geschehen war. Sie hatte den Arzt verstanden, als dieser ihr erklärte, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte, und dass das winzige Herz ihres Kindes nicht mehr schlug.


    Ben und Semir beobachteten die Szene stumm an dem Fenster des Zimmers, das zum Flur zeigte. Semirs Augen waren müde, sein Bart schien grauer als einige Tage zuvor und seine Stirn noch faltiger als sonst. Bens Blick drückte Trauer und Verzweiflung aus... und Mitschuld. "Jetzt stehen wir wieder da. Und fragen uns, ob wir etwas falsch gemacht haben.", sagte er leise und seine Stimme schien entrückt. Semir erriet seine Gedanken... er machte sich Vorwürfe, dass sie Jenny hinterher gefahren sind, ihr hinterher gelaufen waren, um sie vor dem Flug abzuhalten. "Tu das nicht, Ben. Gib dir keine Mitschuld.", sagte er beinahe beschwörend, den er konnte sich ausmalen, wo dies hinführte. "Wir haben versucht, sie vor einer riesigen Dummheit zu bewahren. Hätten wir sie fliegen lassen, hätte sie nicht nur ihr Kind verloren, sondern auch ihr Leben."
    Es fiel Semir schwer, so rational zu denken und zu reden, und solch einem emotionalen Moment. Aber er musste Ben schnell auf andere Gedanken bringen, er musste ihm schnell realistisch zeigen, dass sie keine Schuld an dieser Fehlgeburt hatten.

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    • 29. Juni 2016 um 11:37
    • #38

    Dienststelle - 11:30 Uhr


    Der Weg zurück kam ihnen wie ein Kreuzweg vor, den sie zu Fuß und ohne Schuhe über Glasscherben gehen mussten. Semir und Ben kehrten alleine wieder zur Dienststelle zurück, Andrea war bei Jenny geblieben. Beide hatten es nicht übers Herz gebracht, ins Zimmer zu gehen und belangloses zu Jenny zu sagen. Sie wollten nicht, sie konnten es nicht und sie entschlossen sich beide dagegen. Andrea war für Jenny da, sie hatte still am Bett gesessen und wie im Akkord über Jennys Hand gestrichen, die nicht reagierte bis die beiden Polizisten letztendlich das Krankenhaus verließen.
    Ben wollte niemand sehen, hören oder mit keinem reden. Jetzt einen Moment alleine sein, das war sein Wunsch. Selbst Semir ließ ihn kurzzeitig im Büro alleine um die Chefin zu unterrichten ob der schrecklichen Nachricht über die Fehlgeburt von Jenny. Jeder im Großraumbüro konnte ihr geschocktes Gesicht, ihre geweiteten Augen klar sehen, wie sie die Hände vor den Mund schlug. Sie sagte nur wenige Worte, die meiste Zeit sprach Semir und am Ende kam auch das Kopfschütteln bei Anna Engelhardt, die selbst keine Kinder hatte und nicht im Ansatz sich vorstellen konnte, wie es der jungen Frau wohl gehen müsse. Dass man in der nächsten Zeit nun wieder auf die verzichten müsse, war natürlich völlig klar, momentan aber auch total unwichtig.


    Ben wusste in den Minuten alleine allerdings nichts mit sich anzufangen. Er wanderte ziellos durch den kleinen Raum, vom Fenster zum Schreibtisch, zum Aktenschrank und wieder zurück. Er war so aufgewühlt tief in sich drin, tausende Gedanken fluteten seinen Kopf. Jenny, Kevin, das Baby, Erinnerungen an Juan, wie er sagte dass Kevin tot sei, wie Semir berichtete, dass man in Kolumbien zwei Leichen gefunden hatte und wie Hartmut das verpixelte Bild aufgerufen hatte, das er auf dem zerstörten Handy gefunden hatte. Jennys Blick, als sie ihr davon erzählten und der Moment, als er und Semir Jenny am Boden liegen sahen, gerade vor zwei Stunden. Ihm gefror das Blut nochmal in den Adern, als er in seinem Kopf den Arzt hörte... "Fehlgeburt."
    Auf dem Seitenschrank in ihrem Büro stand ihre "Hoffnungskerze". Semir hatte diese Idee, statt einer Trauerkerze für Kevin eine Hoffnungskerze anzuzünden neben dem Bild von ihm und seiner Schwester. Ben starrte gedankenverloren auf das Bild, als ihn eine Mischung aus Wut und Verzweiflung ergriff. Wut auf Kevin, der Schuld an diesem ganzen Schlamassel hatte, der alles kaputt gemacht hatte, weil er Annie nach Kolumbien hinterher gereist war, Jenny allein gelassen hatte.


    "Du blöder Vollidiot!", schrie er, wobei er mit einem wütenden Schlag das Bild vom Schrank fegte, so dass es klirrend auf den Boden fiel und ein Riss durch die Scheibe des Bilderrahmens ging. Er verlief quer von oben rechts nach unten links, und er durchschnitt genau Kevins Gesicht, während er das hübsche Gesicht seiner Schwester verfehlte. Ben stiegen wieder Tränen in die Augen und er ging vor dem Bild in die Knie und sagte schluchzend: "Du verdammtes Arschloch...", wobei er das Bild fast liebevoll wieder in die Hand nahm, und Tränen auf das gesplitterte Glas fielen. Natürlich war seine Wut der Verzweiflung geschuldet, er war wie Jenny in einem mentalen Ausnahmezustand. Er fand es so ungerecht...
    Semir hatte natürlich den ersten Ruf mitbekommen, denn er war gerade im Großraumbüro um zumindest Hotte und Bonrath noch zu erzählen, was vorgefallen war. Er hielt mitten drin inne und blickte zur Glasscheibe in sein eigenes Büro, woher Bens Stimme kam. "Bin gleich wieder da.", sagte er kurz angebunden zu den beiden geschockten Streifenpolizisten, denen das Schicksal ihrer jungen Kollegin natürlich auch nah ging. Bonrath hatte selbst einen Sohn, mit dem er schon manch brenzlige Situation erlebt hatte.


    "Ben? Ist alles okay?", fragte Semir, als er ins Büro kam und sein Partner sich gerade mit dem Bild in der Hand wieder erhob. Schnell wischte er sich die erneuten Tränen aus den Augen und nickte schwach, während er das Bild akkurat und vorsichtig neben die Kerze auf seinen alten Platz stellte, auch wenn der Riss nun das Bild ein wenig verunstaltete. "Jetzt hat Jenny alles verloren, was ihr von Kevin übrig geblieben ist.", sagte Ben leise, ohne seinen Partner, der hinter ihm stand, anzusehen. "Es ist alles kaputt. Jenny hat jetzt niemanden mehr." "Doch. Jenny hat uns und das weiß sie auch. Wir werden immer für sie da sein und genau wie du und Kevin mich vor einigen Wochen aus dem Tief gezogen habt, werden wir Jenny da raus ziehen.", sagte sein Partner und legte Ben von hinten die Hand auf die Schulter.
    "Das ist nicht das Gleiche. Wir können Jenny nur unterstützen. Aber du weißt doch selbst auch, wie sehr dir die Liebe deiner Frau geholfen hat, das ist einfach was anderes als freundschaftliche Unterstützung.", sagte der jüngere Kommissar und strich sich ein wenig die Haare zurecht. "Das merke ich doch jetzt selbst bei Carina dass sie, versteh mich nicht falsch, anders helfen und trösten kann, als du es tust." Semir fühlte sich durch Bens Worte in keinster Weise abgewertet, er wusste was sein bester Freund sagen wollte. Wenn man jemanden liebte, wurde man anders aufgefangen und aufgebaut, als wenn man "nur" befreundet war, egal wie tief die Freundschaft war. War man, wie Semir, schon jahrelang in einer Beziehung, war dieses Gefühl noch stärker, als wenn die Beziehung frisch war.


    "Ein Schicksal wäre schlimm gewesen... das Baby hätte ihr geholfen, über Kevins Verlust hinweg zu kommen und sie hätte in dem Kind immer eine Verbindung zu ihm gehabt. Genauso hätte Kevin sie gestützt, wenn er noch da wäre und sie hätte das Kind verloren. Aber jetzt hat sie nichts... gar nichts." Nun endlich drehte sich Ben mit einem Gesichtsausdruck zu seinem Partner, der dem das Herz brach. "Das macht mich fertig, Semir." Er hatte eine besondere Beziehung zu Jenny, seit sie zusammen vor einem halben Jahr im Bett gelandet waren, als sie sich gegenseitig getröstet hatten, und er litt unter Jennys Schicksal extrem.
    "Vielleicht solltest du ein wenig Urlaub machen. Mit Carina ein paar Tage weg fahren, weit weg. Alles hier einfach mal vergessen.", schlug Semir vor. Der Mordfall war in ihren Augen scheinbar mit dem Selbstmord Tobias' abgeschlossen, die Morde, sowie der Mordversuch trugen die gleiche Handschrift, das Motiv lag für Semir auch auf der Hand nach den Aussagen von Dennis zu Tobias Worten vor dem Anschlag, er hatte nur noch keine Zeit es mit Ben zu analysieren. Aber Ben schüttelte zu Semirs Vorschlag den Kopf. "Ich kann doch jetzt nicht einfach in Urlaub fahren, wenn Jenny mich braucht." "Ich weiß. Aber Ben, es bringt auch Jenny nichts, wenn du dich fertig machst. Andrea ist bei ihr und ich glaube, das ist momentan auch ganz gut so. Sie wird es verstehen, schließlich leidest du , und auch ich, genauso unter Kevins Verlust." Und nach einem kurzen Moment der Stille setzte Semir noch hinzu: "Überlegs dir mal..."

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    • 30. Juni 2016 um 11:22
    • #39

    Krankenhaus - 18:00 Uhr


    Man konnte den Anschein haben, dass der Tag sich der Stimmung anpasste. Über den Nachmittag zog sich der Himmel voll Wolken, peitschender Wind kündigte ein Unwetter für den Abend an. Der Tag verabschiedete das natürliche Licht bereits früher als sonst, als der dunkle Himmel zu grollen und knurren begann. Andrea war drei Stunden bei Jenny im Krankenhaus geblieben, hatte sie versucht mental zu stützen. Die zweifache Mutter konnte nicht sagen, ob es ihr gelungen war oder nicht. Sie hielt Jennys Hand, sie hörte ihr zu, wenn sie wieder zu weinen begann. "Es ist alles meine Schuld.", wimmerte sie und Andrea antwortete sofort mit nötigem Nachdruck: "Red dir das nicht ein." Auch wenn Jennys Verhalten vielleicht eine Fehlgeburt zumindest begünstigte, Andrea wusste dass in den ersten zwei Monaten ein Abbruch keine Seltenheit war.
    Keine tröstende Antwort, ausser einer weiteren Geste in Form einer Umarmung, fand Andrea darauf, als Jenny sagte: "Das Baby war das Einzige, was mir von Kevin geblieben ist." Es brach Andrea das Herz, ihre Freundin so verzweifelt und traurig zu sehen, erst mit der Zeit beruhigte sie sich. Sie hatte keine Schmerzen, fühlte sich nur müde und es war okay für sie, als Andrea sich dann nach drei Stunden verabschiedete und den Heimweg antrat. Die junge Polizistin war sowieso müde und erschöpft von allem und es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war.


    Im Gegensatz zu ihren vorherigen Alpträumen waren die Bilder, die sie im Traum sah, beruhigend an. Sie spürte in sich eine Leichtigkeit aufsteigen, ein wohliges Gefühl der Zufriedenheit. Jenny stand vor dem Spiegel in ihrem Bad, spürte ihre straffe Hauf um den runden Babybauch an ihren Händen, als sie über ihn strich und betrachtete ihn lächelnd im Spiegel. Ihre Augen waren wach und voller Vorfreude, ihr Lächeln befreit. Hinter ihr sah sie keine unberuhigenden Bilder, keine Kälte umschlich ihr Herz, denn keine dunkle Gestalt tauchte hinter ihr auf, sondern Kevin. Mit seinen hellblauen Augen, seinen abstehenden Haaren kam er hinter ihr an den Spiegel, umfasste sie von hinten mit seinen Armen und legte seine Hände auf die von Jenny auf ihren Bauch, in dem ihr gemeinsames Kind heranwuchs.
    "Freust du dich?", fragte die junge Frau und sah nach schräg hinten zu ihrem Freund, der sie verliebt anlächelte. "Na klar. Ich konnte es mir nie vorstellen, aber ich freue mich riesig darauf, Vater zu werden.", sagte er mit seiner monoton klingenden Stimme, und Jenny überfuhr eine freudige Gänsehaut, die beiden jungen Menschen küssten sich innig und die Frau spürte eine große Sehnsucht in sich aufsteigen. Sie spürte Kevins nackten Oberkörper an ihrem Rücken, seine großen Hände auf ihren.


    Als die ersten Regentropfen gegen die Fensterscheibe des Krankenzimmers prasselten, drehte Jenny sich im Schlaf auf die Seite, zog die Beine leicht an den Oberkörper und einige Tränen liefen ihr aus den Augen. Im Traum lag sie genau so da, nur dass sie wach war, den Arm unter ihrem Körper leicht nach vorne ausgestreckt und den Kopf an wenig angehoben. Sie blickte in das Gesicht eines kleinen Babys, das neben ihr auf dem Rücken lag und vergnügliche Laute von sich gab. Es blickte mit den gleichen hellblauen Augen in die Welt, in denen Jenny vor einem dreiviertel Jahr zum ersten Mal versank. Mit der Hand streichelte sie über den kleinen Kopf des Kindes und gab ihm einen Kuss auf die Wange, sie fühlte sich so gut, befreit und voll Liebe gegenüber dem kleinen Geschöpf neben ihr und zu dem Mann, der jetzt an ihr Bett trat und zu erst das Kind küsste, und dann Jenny küsste.
    "Wann kommst du heute nach Hause?", fragte sie ihren Freund und spürte wie seine Hand sanft über ihre Wange strich. "Pünktlich. Heute mache ich keine Musik mit Ben, heute bin ich ganz für euch beide da.", versprach Kevin, bevor er das Wohnung zum Dienst verließ. Bevor er durch die Tür schritt, drehte sich der junge Mann mit den abstehenden Haaren nach einmal zu seiner Freundin und seinem Kind um und lächelte... lächelte so, wie Jenny es selten bei ihm gesehen hatte. "Ich liebe dich, Jenny. Und ich werde euch niemals alleine lassen", sagte er bevor er ging.


    Das Erwachen aus Alpträumen hatte immer etwas Erleichterndes. Zum Glück war das, was man geträumt hatte, nicht wirklich passiert. Alles ist gut, es war nur ein Traum. Das Aufwachen aus wirklich schönen Träumen dagegen war niederschmetternd. Es war alles nur ein Traum, und es ist nicht wirklich passiert. Jenny wurde durch das Krachen eines Donners geweckt, jedoch nicht ruckartig oder erschreckend, sondern nur durch bloßes Augenaufschlagen. Sie lag auf der Seite im Bett und erwartete, neben sich ihr Kind liegen zu sehen, wie gerade eben und am Bett Kevin stehen zu sehen, der sich zur Arbeit verabschiedete. Doch ihr Blick war sofort klar und sie realisierte sofort wieder, nicht im Bett zu Hause mit ihrem Kind zu liegen, sondern alleine im Krankenhaus.
    Sie hatte ihr Kind verloren, Kevin war tot und die letzte Verbindung zu ihm zerstört. Sie hatte nicht auf die Warnsignale ihres Körpers gehört, auch wenn der Arzt ihr eben Statistiken erklärt hatte, wonach jede fünfte Schwangerschaft in den ersten zwei Monaten so enden kann. Doch das waren für Jenny in diesem Moment nur Zahlen ohne Wert, ohne Bezugspunkt. Für sie hatte sie alleine ihr Kind auf dem Gewissen, sie fühlte sich egoistisch und selbstsüchtig.


    Als Jenny realisierte, dass sie gerade die schönsten Momente ihres Lebens mit Kevin zusammen nur geträumt hatte, und jetzt auf die nasse Fensterfront des Krankenhauses hinaus in ein stürmisches Unwetter blickte, begann sie zu weinen. Sie dachte, sie hätte nach diesem Tag keine Tränen mehr übrig, doch sie täuschte sich. Mit dem Himmel zusammen weinte sie um die Wette, sie krampfte ihre Hand ins Kissen und ins Bettlaken, dort wo gerade eben noch ihr Kind lag, vergnügte Laute von sich gab, und dem Kevin einen Kuss gab, kurz bevor er sich mit einem weiteren Kuss von Jenny verabschiedete, wie er sich am Telefon von ihr verabschiedet hatte, als er noch in Kolumbien war. "Ich liebe dich, Jenny. Und ich werde euch niemals alleine lassen"

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    • 1. Juli 2016 um 10:05
    • #40

    Ben's Wohnung - 18:30 Uhr


    Es fiel Ben schwer, die Gedanken über Jenny, Kevin und das verlorene Kind zu verdrängen, als er gegen frühen Nachmittag zu Carina zurückkehrte. Natürlich erzählte er seiner jungen Freundin von den Geschehnissen, warum er so schnell aufbrechen musste, und warum es ihm jetzt so mies ging, und erhielt umgehend Trost von der blonden Frau. Carina hatte selbst schon Schicksalsschläge erlebt und wusste damit umzugehen, genauso wusste sie aber auch sich durchzusetzen und quasi zu bestimmen, dass die beiden an diesem Nachmittag etwas unternehmen sollten um Ben auf andere Gedanken zu bringen. Sie hatte jahrelang ihre demenzkranke Mutter gepflegt und hatte gelernt, sich durchzusetzen, was bei Demenzkranken manchmal schwerer war, als bei kleinen Kindern.
    Auch wenn der Ablenkung letztlich vor allem viel Herumfahrerei war, tat es Ben sehr gut mit Carina durch die Gegend zu streifen. Sie besuchten eine alte Burg, wo sie spazieren gingen, aßen am späteren Nachmittag in einem kleinen urigen Restaurant und waren gerade, als das Unwetter sich näherte wieder bei Carinas Wohnung. "Mach dir jetzt kein schlechtes Gewissen. Jenny hätte es auch nicht geholfen, wenn du den ganzen Tag zu Hause gesessen hättest und den Kopf in den Sand gesteckt hättest.", sagte sie noch, als sie sich verabschiedeten und Ben nickte zustimmend. "Ja, du hast wohl Recht." Er wollte heute Nacht gern zu Hause schlafen und morgen früh trotzdem Jenny besuchen gehen.


    Das verliebte Pärchen küsste sich auf den Mund, bevor der Polizist den Heimweg antrat. Die kahlen Äste großer Bäume ätzten unter den ersten Sturmböen, die das Gewitter und der schwarze Himmel mit sich brachten. Es waren fast keinerlei Menschen auf der Straße, als es begann, dicke Tropfen zu regnen und Ben in die Tiefgarage abbog. Nur ein seltsam wirkender Mann auf der Bank gegenüber von Bens Wohnung schien das Wetter nicht zu stören, er saß in stoischer Ruhe dort. Ben wunderte sich... waren wasserstoffblonde Haare nicht längst total unmodern? Jetzt sah er, nach Tobias, bereits den Zweiten mit dieser auffälligen Haarfarbe. Doch als er aus dem Wagen gestiegen war, hatte er diesen Gedanken schon wieder verdrängt.
    Mit müden Schritten ging der Polizist die Treppenstufen nach oben in seine Wohnung, ausser ihm wohnte in dem modernen Haus nur Hans, ein 65jähriger reicher Witwer unter ihm. Die dritte Wohnung stand leer. An die große Fensterfront von Bens Penthouse prasselte der Regen nun lauthals, je nach Böe mehr oder weniger laut, und das Grollen über den Wolken wurde lauter, mittlerweile war der Himmel über Köln pechschwarz. Ben zog seine Klamotten aus und stellte sich unter die Dusche, das warme Wasser auf seiner Haut tat ihm gut.


    Gerade als er dabei war, sich die Haare zu föhnen, ging mit einem Schlag das Licht aus und der Föhn verstummte. Plötzlich war die Welt um ihn herum ganz ruhig, nur der tosende Sturm draussen war zu hören. "Scheisse...", murmelte er genervt und tastete nach seinem Shirt, das er bereit gelegt hatte und sich nun überzog, die Jeans hatte er bereits an, den er wollte sich nach dem Duschen noch was Kleines zu essen kaufen gehen. Jetzt tastete er nach seinem Handy, denn der moderne Mann besass keine Taschenlampe mehr, seit es Smartphones gab. Nur in Socken tapste er vom Bad vorsichtig durch das, von zwei Straßenlaternen vor den Fenstern nur schwach beleuchtete Wohnzimmer in Richtung Wohnungstür. Für Sekundenbruchteile wurde der Raum von einem Blitz erleuchtet, worauf sofort ein krachender Donner folgte.
    Als der Polizist gerade die Wohnungstür öffnete, konnte er ein pfeifendes Windgeräusch im Flur unter sich hören, was mit einem klackernden Geräusch, wie das Zufallen der Kellertür, verstummte. Stocksteif blieb Ben stehen und lauschte, einen Fuß noch in der Wohnungstür, doch ausser dem Rauschen des Regens von Draussen und dem Donnergrollen, konnte er nichts hören. Doch... sein Herz schlug lauter als vorher, denn er wusste dass er die Kellertür nach draussen imemr verschlossen hielt, und ausser ihm niemand im Haus war. Er ging nochmal zurück in die Wohnung, um seine Dienstwaffe zu holen, bevor er die Treppen hinab in den Keller stieg und sich mit seinem Handy den Weg beleuchtete.


    Beinahe fühlte er sich übertrieben paranoid, schließlich hatte er "nur" ein Geräusch gehört, was er als Kellertür vermutete. Es konnte genauso gut eine graue Mülltonne gewesen sein, die auf der Straße durch eine Sturmböe umgekippt war. Das Wetter verstärkte sich, mittlerweile war es ein Sturzregen und auch der Sturm nahm zu. Langsam, die Waffe in der rechten, das Handy in der linken Hand ging Ben die Kellertreppe herunter, bis er im Untergeschoss den Flur betrat, der sich unter dem großen Haus in verschiedene Räume erstreckte. Nirgends funktionierte Licht, das ganze Haus schien tot und das Handylicht ließ immer nur einen Kegel und einen Bereich sichtbar erscheinen. Das Licht reichte nicht aus, um die Kellertür am anderen Ende des Flurs zu beleuchten, aber Ben bemerkte einen Windhauch durch die Haare streichen.
    Je weiter sich Ben zur Tür vortastete und aufpassen musste, dass er nicht über einen der zahllosen Kartons mit Gerümpel stolperte, die Hans hier dauernd abstellte, desto fester schlug sein Herz gegen den Brustkorb. Die Dunkelheit ließ den Flur enger erscheinen, und ausser dem Handy gab es nichts, was die Dunkelheit auch nur im Ansatz verdrängte. Als er an der Kellertür letztlich angekommen war, bemerkte er den Spalt, die sie offenstand und sein Herz setzte aus. Als musste jemand hier drin sein, oder gewesen sein, denn von selbst konnte die schwere Feuerschutztür auch bei schlimmsten Orkanböen nicht aufgedrückt werden.


    Ben schloß die Tür sorgfältig und tastete sich zurück in Richtung Versorgungsraum, den sein Handy gab bereits erste Warntöne von sich, dass der Akku schwindete. Komplette Dunkelheite würde dann bedeuten, dass er den Sicherungskasten nur erahnen könnte. Er erreichte die Tür zum Versorgungsraum und trat ein, komplette Dunkelheit füllte den Raum und das Rauschen des Orkans und des Regens waren hier noch besser zu hören, so wie ein permanentes Tropfgeräusch. Ben leuchtete direkt auf den Sicherungskasten und hielt inne. Das Tropfgeräusch bohrte sich in seinen Gehörgang und ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Dieser Raum hatte weder ein Waschbecken, noch überhaupt einen Wasseranschluß, der ein Tropfgeräusch verursachen könnte.
    Wie in Zeitlupe, ohne zu Atmen drehte sich Ben vom Sicherungskasten weg zur daneben liegenden Wand. Als der nur noch schwache Lichtkegel die Ursache des Tropfgeräusches erfasste, schrie Ben laut auf, das Handy fiel klackernd zu Boden und der Raum wurde in totale Dunkelheit getaucht.

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Cuntdestroyer69

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  • Marco
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