Hierarchie der Engel

  • Alte Villa - 0:00 Uhr



    Totenstille herrschte in den Gemäuer der alten Villa am Stadtrand von Köln, die umgeben war von prächtigen Parkanlagen. Hier wohnten Menschen noch im Abstand von mehreren hundert Metern, und für die Gartenpflege benötigte man Personal. Die Häuser waren Altbauvillen aus dem 17ten und 18ten Jahrhundert, wunderschön verziert mit allerlei baulichen Besonderheiten dieser Zeit. Türmen, Erkern, große hohe Decken und riesige Zimmer. Wer hier wohnte, hatte sich entweder nach einem sehr guten Berufsleben zur Ruhe gesetzt, oder war eine bekannte Größe in zwielichtigen Geschäften.
    Nur bei einer Villa wusste die breite Nachbarschaft überhaupt nichts über den Besitzer. Er wurde so gut wie nie auf seinem Grundstück, das zusehends zuwuchs mit Sträuchern, Hecken und hohem Gras, gesehen, niemand kannte seinen Namen, sein Auto, sein Aussehen. Post und Zeitungen wurden täglich entfernt, aber scheinbar nachts... und nur nachts schien so etwas wie Leben in der Villa zu herrschen.



    Der größte Raum der alten Villa war in flackerndes Licht getaucht. Gabriel, mit weißer Hose und weißem Hemd gekleidet wie ein Arzt, schaute auf die Gemeinschaft an Anhänger, die sich vor ihm versammelte... Menschen, die sich von seiner Kunst des Redens fangen ließen. "Gemeinschaft der Engel" nannten sie sich, und sie waren nicht die einzige Gruppe in Deutschland, in Europa, auf der Welt. Ein Netzwerk an fanatischen Engelsanbeter, die an ihre eigene Auslegung der Bibel glaubten, und dem Menschen eine völlig andere Rolle zukommen ließen, als die ursprüngliche Fassung eigentlich gedacht. Wie in einer Kirche hatten die Leute in dem großen Raum auf Stühlen Platz genommen, die Stille war zum Greifen als Gabriel nach vorne trat.
    "Liebe Brüder und Schwester... ich möchte euch in der heiligen Messe herzlich begrüßen.", sagte er wie ein Pfarrer beim Sonntags-Gottesdienst, doch die Gemeinde vor ihm blieb still. Alle schauten auf den Boden vor sich und hatten die gefalteten Hände in den Schoß gelegt. Was in diesem Raum passierte, hatte mit einem Gottesdienst wenig zu tun. Es gab keine Musik, keine festen Rituale... nur Gabriel als eine Art Sprecher, der den Gläubigen vom Hass erzählte, und dabei bewegungslos an einem Tisch stehen blieb.



    "Wir sind Gottes treueste Diener. Dann hat er den Menschen erschaffen...", sagte der Mann mit beschwörender Stimme, und es schien als würden die Leute auf den Stühlen gebannt, beinahe wie in Trance zuhören. "Das war ein Fehler, meine Brüder und Schwestern." Nun kam Bewegung in den Mann. Langsam schritt er von einem Ende ans andere Ende des Raums, ging um das Quadrat aus Stühlen herum, und sprach dabei immer lauter, immer entfesselnder, langsam und eindringlich. "Er hat ein Raubtier erschaffen, das die Erde zerstört und ausbeutet. Das Gottes Gebote mit Füßen tritt. Das weder Nächstenliebe noch Zurückhaltung kennt." Zwischen seinen lauten Sätzen erfüllte jedes mal eine unheimliche Stille den Raum.
    "Gott ist schwach geworden. Die Menschen sind seines liebsten Kind, obwohl alleine wir... die Engel Gottes... seit Erschaffung der Erde ihm treu gedient haben. Doch das... ist jetzt vorbei." Gabriel war wieder am Pult angekommen und stützte die Hände auf der Tischplatte ab und sah mit funkelnden Augen auf die Menschen, die stumm und gebannt zuhörten. "Wir werden uns erheben. Die Engel Gottes werden die Aufgabe ihres Herren jetzt endlich übernehmen, und über die Menschen auf der Erde richten."



    "Ja, Gabriel...", murmelten die Stimmen wie im Chor dem Prediger zu. "Seid vorsichtig, meine Brüder und Schwester. Wir sind eine Gemeinschaft. Wir stehen zueinander und leben die Gebote Gottes... nur ein Gebot hat unser Herr geschrieben und den Menschen mitgegeben, an das wir uns in unserer Aufgabe nicht halten können." Der Mann dämpfte seine Stimme wieder und schaute beschwörend in die Menge, die jetzt alle gleichzeitig den Kopf gehoben hatten und ihren geistlichen Führer gebannt anblickten. "Das fünfte Gebot wird heute in unserer Gemeinschaft gegenüber den Menschen ausser Kraft gesetzt. Wir werden die Zerstörer unserer Erde, die von Gott als Paradies geschaffen wurde, bestrafen wozu der Herr nicht fähig ist."
    "Ja, Gabriel...", kam nun lauter als Antwort. "Wir lassen sie den bitteren Zorn spüren! Gott ist schwach und deshalb müssen und werden wir handeln, um die Erde wieder zu einem Paradies werden zu lassen. Es wird Zeit brauchen... viel Zeit." "Ja Gabriel..." Wieder war es still, unheimliche Stille und das Flackern der Kerzen legte bizarre Schattenspiele auf die Gesichter der Menschen, besonders auf das Gesicht Gabriels, der sich immer wieder bewegte und damit die Schattenstruktur auf seinem Gesicht sich immer wieder änderte. "Wir werden dem Menschen das Böse aus den Körpern nehmen... aus ihren Seelen herausschneiden, liebe Brüder und Schwester..." Die Stimme, mit der Gabriel den letzten Satz sprach, zeigte gnadenlose Entschlossenheit und würde normalen Menschen eine Gänsehaut über den Körper jagen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 15:30 Uhr



    "Zentrale für Cobra 11, verfolgen den gestohlenen Ferrari auf der A57 Fahrtrichtung Neuss, wir brauchen dringend Verstärkung!" Ben schien das Funkgerät beinahe anzuschreien, als käme dann die Verstärkung schneller, als wenn er es in normalen Ton sagen würde. "Verstanden, Dieter und Hotte sind schon auf dem Weg.", antwortete Andrea's Stimme ruhig und besonnen zurück, während Semir auf der Überholspur einem Sonntagsfahrer ausweichen musste. Die Fahnung nach dem gestohlenen Luxuswagen lief schon seit heute morgen und jetzt, rein zufällig, wurden die beiden Polizisten auf ihrer Streifenfahrt von dem roten Geschoss überholt. Sofort hatten sie die Verfolgung aufgenommen, doch der PS-Unterschied zwischen dem Ferrari und Semirs hochgezüchteten Dienstwagen war trotzdem enorm.
    "Komm komm, wir verlieren ihn.", sagte Semirs Beifahrer und bester Freund, während er sich selbst auf den Oberschenkel schlug. "Hab ich vielleicht ein Pferdchen auf der Motorhaube?", kam sofort die Gegenfrage, und die Reifen des BMWs meldeten sich quietschend, als der Polizist einmal abbremsen musste, bevor er wieder ausscherte und überholte. "Ein kluger Mann hat mir mal gesagt, dass man fehlende PS mit Fahrkönnen ausgleichen kann." "Der kluge Mann wirft dich gleich raus."



    Immer wenn der Verkehr dichter wurde, konnte Semir auf den Ferrari aufholen, denn der Autodieb, der sich in der letzten Woche für Dutzende Diebstähle verantwortlich zeigte, war nicht so geübt darin sich durch den langsam beginnenden Feierabendverkehr zu schlängeln. Er musste bremsen, vermied es die Standspur zu benutzen und wurde so von langsam Überholenden immer wieder aufgehalten. Semir dagegen wechselte öfters die Spur, fand immer eine Lücke und benutzte auch mal, wenn es sicher war, die Standspur. Nur wenn mal einige Kilometer freie Fahrt auf der Überholspur war, überschritten die Geschwindigkeitszeiger zügig die 200 und der Ferrari setzte sich mit einem röhrenden Geräusch, was jeden Mann in Ekstase brachte, ab.
    Irgendwann tauchte im Rückspiegel von Semir der große Porsche Cayenne von Dieter und Hotte auf, der große Polizist am Steuer des Gefährts, dass PS-mäßig noch schneller unterwegs war als der BMW von Semir. "Hotte, auf freier Straße müsst ihr ranfahren und überholen, und im Verkehr bremsen wir ihn aus." "Alles klar, Ben... wir sind schon dabei.", gab der dicke Polizist mit einer Bierruhe in seiner Stimme durch den Funk durch und motivierte seinen Partner zum Schnellerfahren. "Los Dieter... so ein italienischer Prollkarren ist doch ein Klacks für uns."



    Semir ließ den bulligen Porsche überholen und die beiden Polizeiautos konnten im Gewühl wieder aufschließen. Bonrath fuhr zwar ähnlich hölzern wie er mit seinen beinahe 2 Meter durch die Gegend lief, doch er hatte ein gutes Auge und Gespür, wie die unbeteiligten Fahrzeuge reagierten. So kam er dem Ferrari schnell näher und konnte einmal die Standspur nutzen, um vorbei zu fahren. Auf freier Strecke hatte der Ferrari so keine Chance mehr, davon zu ziehen. "Jetzt haben wir ihn gleich... PASS AUF!", rief Ben plötzlich als der Ferrari von der Überholspur nach rechts zuckte, und dabei einen Kleinwagen neben ihm zum Bremsen zwang. Die ungeübte Fahrerin verlor ihren Wagen aus der Kontrolle und schlidderte erst nach links, dann nach rechts. Semir, der erst rechts auswich, wurde vom Richtungswechsel überrascht. "Ooooooh" Semir konnte es quasi schon Krachen hören, doch zog mit einer unglaublichen Reaktion komplett nach rechts, wo er aber die Abfahrtsspur erwischte und nicht mehr über den Grünstreifen auf die Autobahn konnte. "Fuck! Was jetzt?" "Na, jetzt fahren wir auf die Autobahn wieder drauf.", meinte der kleine Polizist ein wenig flapsig. Die Auffahrt mündete in eine Kreuzung, würde man geradeaus fahren, konnte man die Auffahrt wieder zurück auf die Autobahn nehmen. Semir fuhr an einer Kolonne wartender Autos vorbei, schaute seinerseits nach links, wo kein Fahrzeug auf der Vorfahrtsstraße war. "Rechts sieht auch frei... wooooaaaah" Den LKW, der von rechts kam, sah Ben zu spät, und sein Partner musste erneut mit einem Reflex zaubern, den BMW noch knapp vor dem hupenden Sattelschlepper über die Kreuzung fliegen zu lassen. "Sah wohl nur frei aus, was?", knurrte er in Bens Richtung.



    Schnell schloßen die beiden Polizisten wieder auf den Ferrari auf, der von Bonrath mittlerweile auf 100 km/h auf der Überholspur eingebremst wurde. Ein LKW auf der rechten Spur bekam das Schauspiel mit und verlangsamte seinen Sattelschlepper im gleichen Tempo, wieder der blockiernde Porsche. Der Ferrari-Fahrer trat auf die Bremse, doch es war zu spät um hinter dem LKW auszuscheren, Semir war schon wieder direkt hinter ihm und klopfte hauchzart an der Stoßstange an. Über einige Kilometer hinweg wurde das Paket immer langsamer, und der geübte LKW-Fahrer verhinderte jegliches Entfliehen des Ferraris, bis alle vier zum Stillstand kamen, und alle Autos hinter ihnen sicher anhielten. Semir, Ben, Dieter und als letztes der beileibte Herzberger stiegen mit gezückten Waffen aus ihren Wagen aus. Bonrath sicherte so wie Semir, während Ben die Fahrertür aufriss und den fluchenden jungen Mann aus dem Ferrari zog und gegen das Auto drückte.
    "Endstation, mein Freund. Los, die Beine auseinander.", knurrte der Polizist und die vier Beamten nahmen eine astreine Verhaftung vor. Der Kerl wurde zum Porsche abgeführt, wo Hotte sich mit grimmigen Blick in seinem eigentlich immer gutmütigen Gesicht zu dem Autodieb auf die Rückbank saß. Ben setzte sich in den Ferrari und Semir in seinen Dienstwagen, während Bonrath sich am Seitenfenster bei dem LKW-Fahrer herzlich für seine Hilfe bedankte.



    Als alle Fahrzeuge und der Verkehr wieder im Rollen waren, nahmen die drei Fahrzeuge Kurs zurück zur Dienststelle. "Cobra 11 an Zentrale, haben den Flüchtigen gestoppt und verhaftet, kommen zurück zur Dienststelle, Ende.", gab Semir durch den Funk und bekam postwendend eine etwas ironische Antwort seiner Frau: "Keine Feuerwehr oder RTW zur Unfallstelle?" "Es gibt diesmal keine Unfallstelle...", antwortete Semir, obwohl er wusste, dass seine Frau ihn necken wollte. Normalerweise endeten Verfolgungsjagden meist in Unfälle. Andrea versuchte immer wieder mit Späßen ihren Mann aufzumuntern in letzter Zeit, was ihr nur halbwegs gelang. Semir versuchte das Gleiche bei Ben... auch ohne großen Erfolg. Die Stimmung auf der gesamten Dienststelle war seit zwei Wochen bedrückt.
    "Hat sich die Botschaft gemeldet?" "Semir... du fragst mich das jetzt seit zwei Wochen alle zwei Stunden, wenn ihr auf Streife seid. Ich würde dir den Anruf sofort weiterleiten..." Der Polizist seufzte und presste für einen Moment die Lippen zusammen. "Ich weiß, mein Schatz. Aber es geht mir einfach nicht aus dem Kopf." "Glaubst du, die Mühlen malen dort schneller als unsere? Im Gegenteil..." "Ich frage mich immer noch, ob wir nicht doch dorthin fliegen sollten, und Kevin selbst suchen sollten." Semir hatte mit Ben darüber geredet, der zwar sofort bereit gewesen wäre, aber eben auch Zweifel hatte. Jenny hätte es sich gewünscht, hatte aber Skrupel Semir und Ben dieser Gefahr auszusetzen. Und Andrea hatte einfach panische Angst. "Ich hab damals nichts gesagt, als du mit André nach Mallorca geflogen bist. Aber da wusste ich, dass André die Typen kannte, und sich auskannte. Aber in ein Rebellengebiet zu reisen, für eine Suche, für deren Ausgang es quasi keine Hoffnung gibt..." Semir hatte selbst allerhöchste Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Reise, und seine Frau gab letztlich den Ausschlag zum "Nein"... doch den Kommissar ließ ein kleiner, ganz kleiner Funke Resthoffnung nicht los...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 16:30 Uhr



    Die Helden der Stunde, das waren Semir, Ben, Hotte und Bonrath, kamen zurück zur Dienststelle. Hotte und Bonrath führten den verhafteten Autodieb schnurstracks ins freie Verhörzimmer, während Semir sich einen verdienten Kuss seiner Ehefrau abholte. "Und? Niemand angerufen?" "Nein, Semir... sonst hätte ich es dir gesagt.", wiederholte Andrea beinahe schon mantrahaft. Semir musste lächeln, ein bitteres Lächeln. "Ich nerv ein bisschen damit, oder?" "Kaum...", sagte seine Frau gütig und die beiden umarmten sich. Andrea wusste, dass Semir sich schrecklich schuldig fühlte. Die ganze Wut auf Kevin, die er hatte nachdem dieser nach Kolumbien fuhr um Annie zu helfen, hatte sich in Trauer umgewandelt, in Zweifel über seine damalige Reaktion, obwohl man sie ihm zum damaligen Zeitpunkt einfach nicht übel nehmen konnte.
    "Warum haben wir damals nicht einfach gesagt: "Kevin, es ist scheisse was du machst, aber wir helfen dir." Warum haben wir ihn einfach gehen lassen...?", sagte der Polizist zu seiner Frau und sah sie ein wenig unglücklich an. "Semir... das konnte doch niemand ahnen. Deine Reaktion war damals völlig verständlich, vor allem in deinem damaligen Zustand. Heute würdest du vielleicht anders reagieren. Es hat ihn niemand zu dieser Reise gezwungen." Semir wusste, dass Andrea recht hatte, und doch war es so schwer für ihn zu akzeptieren, dass der Mann, der ihn mal als "großen Bruder" bezeichnet hatte, im Bösen mit ihm auseinander gegangen war, und sie dieses Verhältnis nie wieder kitten konnten.



    Das Verhör des Autodiebes dauerte nicht allzu lange. Am Tag nach der schlimmen Nachricht um Kevin hatten sie den Fall auf den Tisch bekommen, und danach zwei arbeitsintensive Wochen gehabt. Lange Observationen, ständiges Durchfragen bei zwielichtigen Gebrauchtwagenhändlern, Abklappern alter Kontakte im Autoschiebermilieu, bis sie endlich einen Namen hatten, der für die 23 Autodiebstähle verantwortlich war... scheinbar. Der Typ, in Basecap und Jeansjacke, gab recht bald zu, dass er die Diebstähle im Auftrag vorgenommen hatte. Bei der Frage nach dem Namen des Auftraggebers schwieg er beharrlich, nicht mal Bens Nussnummer konnte ihn aus der Reserve locken.
    "Wenn ich die Typen verrate, die machen mich kalt, versteht ihr?" "Vor fünf Minuten hast du den Namen noch nicht gekannt. Willst du uns verarschen?", bellte Semir über den Vernehmungstisch, und der Autodieb wurde wieder ein paar Centimeter kleiner, nachdem er seinen Widerspruch bemerkt hatte. "Pass auf, wir machen einen Deal. Auf deiner Liste stehen 23 Autodiebstähle.", begann Ben, nachdem er das Mikrofon abgeschaltet hatte. "Wie wäre es wenn wir jeden zweiten davon streichen, wenn du uns den Namen deines Auftraggebers nennst." In den Kopf des Mannes begann es zu arbeiten. Das würde die Strafe sicher um einiges mildern, aber konnte er den Namen wirklich verraten. "11 Autos gegen den Namen, ist das ein Deal?" "15...", war das schnelle Gegenangebot des Mannes, und die Miene von Ben verfinsterte sich.



    "Wir sind hier nicht auf einem Basar! Hier wird nicht gehandelt, hier wird unser Deal angenommen, oder es bleiben gelassen. Dann fährst du für 23 Diebstähle in den Bau, und kannst die nächsten Jahre davon träumen, jemals nochmal in einem Auto zu sitzen.", sagte der junge Polizist laut. Unter der Basecap begann der Mann zu schwitzen, er rieb die Fingerkuppen nervös aufeinander, weil Semir ihn durch das bloße Tippen des Fingers auf dem Knopf des Mikros zu einer Entscheidung drängte. "Ich... Ich...", stammelte der Mann und biss sich auf die Lippen, während er aufgeregt zwischen Semir und Ben hin und her blickte. "Was? Ich ich?? Musst du aufs Klo, oder was?", fragte Ben und legte den Kopf ein wenig schief.
    Ein Klopfen unterbrach das Verhör, und Bonrath steckte den Kopf durch den Spalt. "Semir! Telefon für dich... klang wichtig." Semir sah kurz zu Ben, und der junge Polizist hatte das gleiche hoffnungsvolle und zugleich angstvolle Funkeln in den Augen wie sein bester Freund. Wäre es die kolumbianische Botschaft, könnte es sein, dass sie in einigen Minuten Gewissheit hatten, was mit ihrem Freund und Partner Kevin geschehen ist, und ob sie nun trauern, oder weiter hoffen könnten...



    Semir eilte zu seinem Apparat, auf den das Gespräch umgeleitet wurde. Andrea nickte ihm dabei nur kurz zu, weil sie wusste, wer dran war, Ben folgte seinem Partner, während Bonrath den Autodieb bewachte. "Gerkhan, Kripo Autobahn?" "Herr Gerkhan? Hier ist die deutsche Botschaft in Bogota. Entschuldigen sie, dass es so lange gedauert hat.", meldete sich die gleiche Frauenstimme, mit der er vor zwei Wochen telefoniert hatte. "Haben sie Neuigkeiten für uns?" "Hmm... ja, Neuigkeiten haben wir. Aber ich bin nicht sicher, ob sie ihnen helfen..." Was war denn das für ein Beginn? Warum rief die Frau dann an, wenn es sich um Belanglosigkeiten handelte, und doch Neuigkeiten waren? Ben verdrehte die Augen, während Semir sich bemühte, nicht patzig zu klingen.
    "Wir wären an den Neuigkeiten trotzdem interessiert.", sagte er mit ruhiger Stimme und blickte in sorgenvolle Augen seines Partners gegenüber. "Ich sage ihnen, wie es ist... wir haben einige Kilometer flussabwärts der ersten Brücke hinter Bogota zwei männliche Leichen gefunden." Semir wurde blass, Ben schlug die Hände vors Gesicht und wollte nicht glauben, was er hörte. "Sie sind sehr übel zugerichtet, vor allem im Gesicht durch die... die Felsen und die Stromschnellen. Eine optische Identifizierung war deshalb nicht möglich."



    Semir schluckte und fand als erstes die Sprache wieder. "Können sie sonst was zum Aussehen sagen... die Haarfarbe oder so." "Der eine hatte halblange schwarze Haare und war eher klein gebaut. Die andere Leiche war größer und hatte kurze braune Haare." Während die beiden Polizisten bei der ersten Leiche noch aufatmeten, so hielten sie bei der zweiten Beschreibung erneut den Atem an. Solange wurde es der Zufälle zuviel... "Ausserdem scheinen beide Leichen tättowiert gewesen zu sein. Aufgrund der langen Liegezeit im Wasser können wir aber unmöglich sagen, welches Motiv. Es sind, durch die Hautveränderung, nur Spuren davon zu sehen, im Bereich des oberen Rücken bei beiden." Ben hielt es nicht auf seinem Sitz. Ihm schossen Tränen in die Augen, er stand vom Stuhl auf und ging zum Fenster um ziellos hinaus zu schauen.
    "Das sind die einzigen Infos aus Bogota. Leider verbieten uns die polizeilichen Behörden jegliche Fotografien zu senden. Aber der Beschreibung nach zu urteilen... wie soll ich sagen... möchten die ihnen das auch nicht zumuten." Der erfahrene Polizist war von den neuen Infos, weiteren Hinweisen darauf, dass Kevin tatsächlich tot war, und doch noch keine endgültige Gewissheit, geschockt. "Also abschließend... wir können unmöglich sagen, dass es sich um die von ihnen vermisste Person handelt. Was ich ihnen aber trotzdem sagen will ist, dass dieser Fluss tödlich ist...", unterstrich die Dame nochmal.



    Weder Semir noch Ben hatten in diesem Moment Kraft für Diskussionen. Fingerabdrücke waren nicht zu vergleichen, da man keine von Kevin hatte, und wenn nicht mal Fotos verschickt werden durften, wären die kolumbianischen Behörden sicher nicht weiter zur Zusammenarbeit bereit. "Danke für die Infos. Auch wenn es nichts konkretes ist, so... so sind es doch sehr viele Zufälle die... die dafür sprechen würden.", sagte der kleine Kommissar mit mühsamer Stimme, während Ben sich schon vor dem nächsten schweren Gang zu Jenny sah.
    "Da ist noch etwas... wir haben in der Nähe der Leichen Teile eines Handys gefunden. Es war ziemlich zerstört, aber einiges konnten wir retten. Da die Behörden eine deutsche SIM-Karte, die teilweise noch vorhanden war, identifizieren konnten, und ihre Anfrage bereits hatte, haben sie die Teile des Handys zu ihnen versandt. Sie dürften die Tage bei ihnen ankommen." Semir bedankte sich erneut. Vielleicht war das Handy der letzte endgültige Beweis. Als die Frau aufgelegt hatte und auch Semir den Hörer zurück auf den Apparat legte, war ihm übel. Verloren sah er den grauen Kasten mit den Tasten und den Hörer an, und konnte keinen klaren Gedanken fassen, während Ben immer noch aus dem Fenster sah, und ihm stumm eine Träne die Wange herunterlief.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Jenny's Wohnung - 17:15 Uhr



    Irgendetwas tun... irgendetwas musste sie tun. War es nur zum dritten Mal diese Woche das Badezimmer zu putzen, einkaufen zu gehen obwohl sie eh keinen Hunger hatte, oder mal den Schrank nach alten Klamotten ausmisten. Nur vom Rumsitzen, warten, hoffen, trauern und Angst haben würde Jenny wohl wahnsinnig werden. Die Unwissenheit über den Verbleib ihres Freundes war präsent in ihrem Hinterkopf, Appetitlosigkeit begleitete ihren Tag. Die Chefin hatte ihr drei Wochen Sonderurlaub genehmigt... nein, eher verordnet. Während Jenny die erste Woche wirklich brauchte, viel weinte und kaum das Haus verließ, brauchte sie in der zweiten Woche eine Beschäftigung. Das Abwarten machte sie mehr fertig, als alles andere. Sie war in der 9ten Schwangerschaftswoche, die Morgenübelkeit war mittlerweile gewichen, doch hin und wieder spürte sie, seit sie die Nachricht von Kevins vermeintlichen Tod bekam, ein Ziehen im Bauch, Schmerzen, die sie nicht kannte. Doch es war immer nur so kurz, dass sie es ignorierte und meistens nachts.
    Nachts wurde die Trauer präsent. Sobald es draussen dunkel wurde, die junge Frau in der Wohnung das Licht anmachte, kam es ihr vor, als würden dunkle Schatten sie bedrohen. Dann sehnte sie sich nach Kevin, an dessen Anwesenheit sie sich in kürzester Zeit gewöhnt hatte, und die ihr jetzt so fehlte. Seine starken Arme, seine schützende Ausstrahlung, seine zwar monotone, aber Sicherheit schenkende Stimme. Jenny war kein ängstlicher Mensch, sie hatte ja auch zwischen ihrem letzten Freund und Kevin alleine gelebt... aber in Verbindung mit der Unwissenheit, der Trauer und der kompletten mentalen Situation drohte sie, in den Nächten zusammen zu brechen.



    Immer wenn es unten an der Haustür klingelte oder an der Wohnungstür klopfte, schreckte Jenny auf. Plötzlich waren da eine Vielzahl von Gefühlen... Überschwängliche Freude, weil sie sich immer mal wieder einbildete, es wäre doch Kevin, der zurückkehrte. Hoffnung, dass es Ben oder Semir mit guten Nachrichten waren, gleichzeitig aber auch Angst, dass es die beiden Polizisten, allerdings mit schlechten Nachrichten waren. Unsicherheit, oft auch die Unlust, überhaupt jemanden zu sehen. Aber Semir und Ben, genauso wie Andrea kannten in der Hinsicht kein Erbarmen. Sie ließen die junge Frau nicht im Stich und holten sie nach und nach aus ihrem kleinen selbstgebauten Schneckenhaus. Andrea ging mit ihr zum Shoppen, Ben ging mit ihr ins Kino.
    Vor allem Ben war Jenny sehr dankbar. Obwohl der gerade auch versuchte, so viel wie möglich mit Carina Bachmann, die er während des letzten Falls kennengelernt hatte, zu unternehmen, opferte er viel Zeit für Jenny. Sie telefonierten, sie trafen sich und redeten miteinander. Oft über Kevin, über die Arbeit, Jenny fragte auch oft, wie es denn mit Carina lief. Die junge Frau hatte vor zwei Wochen ihre demenzkranke Mutter verloren, und trotz der tiefen Trauer auch wieder Lichtblicke in ihrem Leben entdeckt. Die Freiheit, mal wieder auszugehen und Dinge zu tun, die sie in den letzten Jahren nie tun konnte, genoß sie, meist zusammen mit Ben. Aber der Polizist war auch voll und ganz für Jenny da... genauso wie er es war, als Kevin im Gefängnis saß, auch wenn sie damals eine Grenze überschritten haben.



    Als Jenny jetzt die Wohnungstür öffnete, und Ben vor der Schwelle stand, hatte die Angst die Oberhand gewonnen. Bens Blick, sein Gesichtsausdruck sprachen Bände. Auch meinte die Polizistin eine leichte Rötung der Augen zu sehen, und ohne ein Wort zu sagen wusste sie, dass er keine guten Nachrichten bringen würde. Wortlos umarmten sich die beiden für einen innigen Moment, danach schloß die junge Frau die Tür hinter ihm. Die Frage nach Neuigkeiten sparte sich Jenny, als ihr Kollege langsam die Jacke auszog und sich auf einen Stuhl am Küchentisch setzte. "Ben... bitte sag es mir, wenn du es weißt.", war das Erste, was Jenny sagte. Sie wollte endlich Gewissheit, egal wie schmerzhaft sie letztendlich war. Der Wunsch, endlich Gewissheit zu haben war beinahe größer als weitere Mutmacher, die letztendlich doch nichts aussagten. Die ganze Trauer in Jenny staute sich auf, und wollte endlich ausbrechen, doch immer noch blieb sie in der jungen Frau drin, weil noch dieses letzte kleine Fünkchen Hoffnung sie aufhielt. Tränen wurden vergossen, doch der Schmerz begann einfach nicht zu heilen.
    Ben seufzte, fuhr sich durch die leicht abstehenden langen Haare und sah kurz zu Boden. Er hatte weder Gewissheit, noch Mutmacher... nur noch mehr Vermutungen, Indizien, Hinweise darauf, dass Kevin den Sturz von der Brücke wirklich nicht überlebt hatte.



    "Die... die Botschaft hat sich gemeldet und gesagt, dass sie im Fluss flussabwärts zwei Leichen gefunden haben. Eine... eine passt von der Beschreibung her auf Kevin. Aber nur von Größe, Statur und Haarfarbe.", sagte er langsam, vorsichtig, als wolle er sich mit den Worten an einen Abgrund herantasten, den er nicht überschreiten dürfe. "Sie sind aber nicht zu identifizieren... optisch." Jenny wusste, was das hieß. Oft genug gab es auf der Autobahn Unfälle, wo man auch nur noch anhand von Ausweispapieren feststellen konnte, wer das Unfallopfer wirklich war. Langsam ließ sie sich ebenfalls auf einem Stuhl nieder. "Aufgrund der... der Liegezeit im Wasser ist auch kein... Tattoo mehr zu erkennen... zumindest kein Motiv." "Aber dass ein Tattoo da war, konnte man erkennen?", fragte sie leise, und erkannte ihre eigene Stimme von eben nicht wieder, als sie sich noch so selbstsicher anhörte. Ben nickte stumm...
    Informationen, die die Hoffnung wieder verkleinerten... so klein, dass fast nichts davon übrig blieb. "Sie haben noch ein total zerstörtes Handy gefunden, und schicken es uns zu. Wenn das Handy wirklich Kevin gehört, dann..." Bens Stimme stockte. Natürlich konnte man am Zerstörungsgrad des Handys nicht direkt ableiten, dass der Besitzer beim Sturz ums Leben kam, aber es war ein weiteres Indiz dafür, dass schwere Verletzungen garantiert sind. Ebenso der Verletzungsgrad der beiden gefundenen Leichen.



    Jenny wusste nicht, wie sie auf diese neuen Informationen reagieren sollte. War die Hoffnung nun ganz weg? Sollte sie damit abschließen können, müssen? Ihr Herz pochte laut in ihrer Brust, ihre Augen suchten einen Fixpunkt auf dem Tisch, doch sie fanden nichts. Nur ihre zitternden Hände fanden die von Ben auf der Tischplatte und hielten sie fest. "Es tut mir so leid, Jenny... ich weiß selbst nicht, was ich tun soll. Ich mache mir Gedanken, Semir macht sich verrückt... wir wissen beide nicht, ob wir nach Bo...", weiter kam er nicht, als Jenny ihm ins Wort fiel. "NEIN. Ihr fahrt nicht nach Bogota! Ich würde niemals damit zurecht kommen, wenn euch auch etwas passieren würde.", sagte sie sofort und hörte sich sofort wieder viel selbstsicherer an.
    "Ich weiß... aber es fühlt sich so an, als würden wir ihn im Stich lassen... auch wenn es kaum Hoffnung gibt, und es so gut wie unmöglich ist, den richtigen Ort alleine zu finden..." "Nein, Ben. Semir hat eine Familie... zwei Kinder und eine Frau. Und ich brauche dich, Carina braucht dich." Die beiden sahen sich einander an, und Jenny spürte wie Ben, dass ihr wieder die Tränen in die Augen stiegen, und sie versuchte das Gefühl herunter zu schlucken. Immer noch ließ sie die Trauer nicht aus sich heraus. "Kevin hätte das nicht gewollt... er würde euch das nie zum Vorwurf machen.", sagte Jenny leise und ergriff mit beiden Händen die Hände Bens. Und der konnte ihrem Satz innerlich zustimmen... Kevin hätte niemals verlangt, dass sich seine Freunde in so große Gefahr begeben, um ein so aussichtsloses Unternehmen zu starten. Und seine Freundin sah es ebenfalls so... die beiden sollten nicht ihr Leben riskieren, um ihr Gewissheit zu verschaffen. Diese Aufgabe würde sie ganz alleine tragen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 6:00 Uhr



    Bonrath und Herzberger, die beiden dienstältesten Streifenbeamten der Autobahnpolizei, waren gerade auf der ersten Streife ihrer Schicht. Beide sind Frühaufsteher und meist viel früher im Dienst, als sie bei Wechselschicht eigentlich müssten, doch sie mochten es beide auf der Straße zu sein, wenn langsam hell wurde, wie auch heute, auch wenn es zur Zeit gerade noch stockfinster war und der Tag sich sicher noch über eine Stunde geduldete. Draussen war es trocken und immer noch bitterkalt, denn der Winter hielt sich hartnäckig, krallte sich mit seinen Eisklauen unerbittlich in Deutschland fest. Beide Polizisten waren dick eingepackt in Pullover und Lederjacke, Bonrath war am Steuer während Hotte sich an der heißen Thermoskanne die Hände warm hielt. Zu ihrem Glück waren die modernen Streifenwagen von heute auch schon mit Sitzheizung ausgestattet.
    Natürlich hatten sich beide über Kevins Schicksal unterhalten, natürlich waren auch beide bestürzt. Doch dank ihrer Routine schafften sie es, schnell zum Alltag überzugehen und die schlimmen Ereignisse zumindest auszublenden... und der Alltag bestand darin, dass der beleibte Hotte sich beschwerte, dass sein Partner und bester Freund an diesem Morgen ungefüllte Croissants mitgebracht hatte. "Ach Hotte, dann steig du das nächste Mal doch einfach selber aus, hmm?", meinte sein, manchmal zu Trägheit neigender Nebenmann.



    "Zentrale an alle... wer ist denn in der Nähe der Brücke hinter der Raststätte Frechen Nord auf der A4?", klang es irgendwann aus dem Funkgerät, und Hotte nahm das Anliegen an. "Wir sind nur wenige Kilometer weg... was gibts denn?" "Da liegt irgendwas auf der Straße, da haben uns jetzt schon zwei Autofahrer angerufen, aber sie konnten nicht erkennen was es war. Irgendwelche Kleinteile, vielleicht auch ein totes Tier... schaut ihr euch das mal an?" "Sind schon unterwegs." Der beleibte Polizist schaltete das Blaulicht an und sein Partner trat aufs Gaspedal. Als sie sich der Brücke näherten, fuhren sie langsam auf den Seitenstreifen, bis sie die undefinierbare Masse im Scheinwerferlicht sahen, an der ein Fuchs schnupperte, aber sofort weglief, als sich das Auto näherte. "Park am besten auf der rechten Spur, und wir sperren ab... das sieht mir irgendwie nicht nach einem Tier aus.", sagte Hotte.
    In Warnwesten und mit viel Routine stellten sie einige Pylonen bis zu dem Zeug auf, was auf der rechten Spur lag. Es war problemlos, denn es kam so gut wie kein Auto um diese frühe Uhrzeit vorbei. Dann gingen beide zu der Stelle und leuchteten mit starken Taschenlampen drauf. Bonraths Magen zog sich zusammen, und auch Herzberger verlor ein wenig die Farbe im Gesicht. Sie hatten beide schon vieles gesehen, doch das, was sich umrahmt einer großen Blutlache vor ihnen bot, war schwer verdaulich. Wie ein tropfendes Rinnsaal wurde die kleine Ansammlung von, für die beiden undefenierbaren glänzenden Glibber genährt, als Bonrath langsam die Taschenlampe nach oben hielt. "Hotte... guck mal..." "Jesus..."




    Brücke über der A4 - 7:30 Uhr



    Es dauerte nicht lange, und die beiden Streifenbeamten hatten in Windeseile eine komplette Vollsperrung angeordnet, und sofort Verstärkung angefordert. Vor allem kamen die Tatortermittler in ihren weißen Anzügen, die bei Morgengrauen bereits emsig dabei waren, Spuren zu sichern. Als die Sonne langsam sich am Horizont zeigte, rollte auch Semirs silberner BMW unter die Brücke durch die Absperrung, wo die beiden Autobahnpolizisten, von der Chefin sofort bei Ankunft im Büro auf die Autobahn geschickt, ausstiegen. Bonrath und Hotte standen hinter der Brücke und blickten hinauf, als sie die beiden Kollegen bemerkten. "Ich hoffe, ihr habt noch nicht gefrühstückt...", meinte Hotte beinahe schon unheilvoll und blickte gerade auf Ben, der aus einer Bäckerstüte ein belegtes Brötchen zog. "Ne... NOCH nicht... warum?", meinte er nach dem ersten Bissen mit halbvollem Mund. Mit dem Zeigefinger blickte Hotte erst zu Boden auf den Haufen Innereien, und dann langsam nach oben. Semir und sein Partner folgtem mit den Augen stumm den Blick, und das Kauen von Bens Kiefer verlangsamte sich. "Na Mahlzeit...", meinte Semir nur.
    Beide Polizisten waren nicht zimperlich beim Anblick von toten Menschen. Wenn auf der Autobahn übermotivierte Motorradfahrer mit LKWs zusammenstießen, konnten dabei Bilder entstehen, die einen den Magen umdrehten. Irgendwann stumpfte man ab, wenn man älter wurde. Der Kollege im weißen Anzug, der sich im Gras gerade übergeben musste, war scheinbar noch nicht so lange dabei. Semir und Ben gingen gerade, als sie neben der Autobahn die Böschung hinaufstiegen und oben an dem Feldweg, der über die Autobahn führte, an dem Mann vorbei. "Alles klar bei dir?", fragte Semir fast schon väterlich fürsorglich den tatsächlich noch sehr jungen Kerl. "Das ist mein erster Tag hier, und ich hab schon die Schnauze voll." Und beim Blick auf den kauenden Ben setzte er hinzu: "Dir wird es auch gleich so gehen."



    Am Brückengeländer, das in Fahrtrichtung der Autobahn lag, stand Roland Meisner, Leiter der Tatortermittler und Chef-Rechtsmediziner, bereits bei der Arbeit. Den genau hier war die Ursache für die Schweinerei auf der Autobahn zu finden. "Morgen Meisner... alter Leichenschnippler.", begrüßte Ben den grau melierten Mann... der Zusatz war spaßig gemeint und fast schon ein Running-Gag zwischen den beiden. "Hallo ihr beiden... da war jemand verdammt sauer auf den armen Kerl.", sagte der erfahrene Rechtsmediziner und trat einen Schritt vom Geländer weg, um den beiden volle Sicht auf den Tatort zu geben.
    Der "arme Kerl", den Meisner angesprochen hatte, stand ausserhalb von der Brücke, mit ausgestreckten Armen auf der Kante, als wolle er von der Brücke abheben. Arme und die zusammenstehenden Beine waren mit Kabelbinder fest an das Geländer fixiert. Die Leiche war komplett nackt, der Absatz der Brücke, auf dem er stand, voll Blut. Wo der Lebenssaft herkam war ebenfalls deutlich zu sehen, ein langer Schnitt vom Schritt beginnend bis knapp unter die Kehle klaffte deutlich auf, und die Organe, die durch Nerven und Muskeln noch im Körper hielten und nicht auf die Fahrbahn darunter gefallen sind, hingen aus dem offenen Körper. Ein strammes Seil, das quer durch seinen Mund geführt und ebenfalls mit dem Geländer der Brücke verbunden war, hielt seinen Kopf aufrecht, so dass er quasi in den Sonnenaufgang blickte.



    Semir und Ben waren beinahe sprachlos, ob solch einer Brutalität und beinahe schon Perversität. Sie empfanden Ekel, ein flaues Gefühl im Magen, aber keinerlei Würgereiz. "Ziemlich sauer, sagst du? Ich würde sagen, ziemlich krank.", meinte Semir und ging um die Leiche herum, bis zum Brückengeländer, wo er herunter auf die Sauerei blickte, die ebenfalls von einigen Beamten untersucht wurde. "Tatwaffe konnten wir nicht finden, aber ich gehe nicht von einem Skalpell aus, eher von einem großen, mittelscharfen Messer, da die Ränder der geöffneten Bauchdecke bis hoch zum Brustbein, ziemlich ausgefranst sind. Da musste sich jemand ziemlich anstrengen.", erklärte der Rechtsmediziner und schaute seine Notizen durch. "Da es so kalt war heute Nacht ist der Todeszeitpunkt schwer zu bestimmen, aber definitiv heute Nacht. Da der Verkehr hier sich erst gegen Mitternacht beruhigt, nehme ich an, dass der Mörder ungestört sein wollte... also so ab 2 Uhr abwärts bis maximal 5 Uhr." "Und wenn er woanders umgebracht wurde, und danach erst hier festgebunden?", fragte Ben und hatte die Tüte mit dem Brötchen nun doch zusammengeknüllt und in die Jackentasche gezwängt. "Er hat an den Armen und Beinen umfassende Spuren der Kabelbinder. Er muss sich also noch eine Zeitlang dagegen gewehrt haben. Ausserdem ist die Blutlache so groß da unten, dass wir davon ausgehen können, dass der Mord in dieser Lage stattfand." "Sieht mir fast nach nem Ritualmord aus, oder?", meinte Semir nachdenklich. "Oder ne verdammt wütende Ehefrau...", war Bens Antwort beim Betrachten der Leiche.



    "Verdammt wütend ist ein gutes Stichwort.", bemerkte der "Leichenschnippler" noch ein wenig zynisch und wies mit seinem Kugelschreiber in Richtung des offenen Torsos: "Die Innereien fallen nicht einfach so aus einem Körper. Natürlich kann mal ein Muskel oder eine Sehne reissen, aber im Allgemeinen ist da nichts so schwer, dass es nicht gehalten wird." "Das heißt was? Es wurde herausgeschnitten und dann von der Brücke geworfen?" Semir sah mit hochgezogener Augenbraue. "Wenn ich das eben, aus dieser Position richtig gesehen habe... wurde es nicht geschnitten, sondern gerissen." Die Vorstellung ließ die beiden Polizisten nun doch ein wenig blass um die Nase werden. "Wie soll ich mir das vorstellen... der Mörder packt den Lungenflügel des Opfers, und reisst so lange daran herum, bis er ihn in der Hand hat?", fragte Ben und Meisner nickte. "Exakt so."
    Semir stellte sich rechts von der Leiche ans Geländer und versuchte, ohne den Mann zu berühren, herumzugreifen. "Mit ein bisschen längeren Armen geht das... er kann ihm seitlich hinter dem Geländer stehend sowohl aufgeschlitzt, als auch etwas herausgerissen haben. Habt ihr schon festgestellt, ob was fehlt?" Der Rechtsmediziner schüttelte den Kopf. "Leider sind schon ein paar unvorsichtige Autofahrer drüber gefahren, ein Tier lief laut euren Kollegen gerade weg, und ein bisschen was ist noch drin. Schwer zu sagen, ob der oder die Täter etwas mitgenommen haben. Hier..." Er reichte den beiden ein verschlossenes Klarsichtpäkchen. "Der Personalausweis war das einzige, was direkt bei dem Toten lag. Als wolle der Mörder, dass wir genau wissen, wer das ist." Semir nahm den Ausweis mit der Folie in die Hand und las den Namen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Dienstauto - 9:00 Uhr



    Ben hatte sich den Appetit vom Anblick der grausam zugerichteten Leiche nicht nehmen lassen und begann im Dienstauto sofort wieder mit dem Verzehr seines Brötchens. Semir maulte konstant und zuverlässig darüber, dass sein Partner ihm ständig den ganzen Wagen vollkrümelte, doch heute schwieg er. Nicht der Mord hatte ihn nachdenklich gemacht, sondern sein Freund Kevin spukte ihm immer noch im Kopf herum und die Frage, ob man nicht doch sollte nach Bogota fliegen und ihn suchen. Doch sofort hatte er auch wieder die Stimme von Andrea im Hinterkopf, die Gefahr vor Augen und die Hoffnungslosigkeit im Kopf meldete sich und zeigte nochmal die Sinnlosigkeit des Unterfangens auf. Es schien, als sei genau diese Hoffnungslosigkeit der Schutz davor, dass sich die beiden Polizisten in ein lebensgefährliches Abenteuer stürzten, aus dem sie nichts gewinnen konnten.
    Eben jene Stimme von Andrea meldete sich dann über Funk. "Euer Toter, Heribert Greuler, ist 44 und wohnt in Chorweiler." Chorweiler war ein Brennpunkt von Köln, ein sozial schwaches Viertel. "Sehr interessant... der war erst ein halbes Jahr aus dem Knast raus." "Achja? Weswegen saß der denn ein?", fragte Ben interessiert, nach dem er den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte. "5 Jahre wegen Kindesmissbrauch in 2 Fällen." Eins der Verbrechen, die in dem hartgesottesten Polizisten immer noch Wut und Ekel heraufbeschworen, so auch in den beiden Autobahnpolizisten. "Find mal heraus, welche Mutter da Grund hatte, sauer auf den Typ zu sein, mein Schatz.", sagte Semir zu Ben herüber, der ihm das Funkgerät an diese Nase hielt. "Ich melde mich nochmal."



    Hier zwischen den Wohnsilos in Chorweiler regierten keine Grünanlagen, Parks und Bäume, sondern Graffitis, Stadtstreicher und Müll. Selbst das sonnige Wetter, das aus den Wiesen vor der Stadt den Tau aufsteigen ließ und die Kälte nochmal schärfer machte, konnte die triste Umgebung nicht aufhellen. Die Betonklötze waren hier noch aus den 70ern, und immer wenn sie an solchen Orten waren, erinnerte Ben sich daran, als er bei Kevin in der Wohnung war, der auch in solch einer Absteige gehaust hatte. Eine Gruppe Jugendlicher, die mit Zigaretten und bereits der ersten Bierdose des Tages auf einer Bank saßen, blickten die beiden Männer arggewöhnisch an, die nun auf das Hochhaus mit der Nummer 12 zusteuerten. "Ey, was wollt ihr hier? Eeeey, ich rede mit euch! Lutscher!" Wären Semir und Ben bei besserer Laune gewesen, hätten sie sicher einen lustigen Spruch zum Kontern gebracht, und den vorlauten Kindern danach den Dienstausweis unter die Nase gehalten. Doch die Stimmung war immer noch betrübt, und selbst wenn die Leiche ein Kinderschäner war, so hatte sich das Bild doch ein wenig in ihren Köpfen manifestiert. So ignorierten sie die Jugendlichen, die auch keinerlei Anstalten machten, den beiden Polizisten zu folgen. Die Haustür der Nummer 12 ließ sich schwer aufdrücken, und im kalten Flur hinterließ der Atem immer noch Rauchschwaden. Semir wollte auf den Knopf des 70er-Jahre-Aufzugs drücken, um in den 8ten Stock zu kommen, wo Greuler wohnte. Sie hatten es über die unübersichtliche Klingelübersicht herausgefunden. "Ähm... Semir.", meinte sein Partner ein wenig gehemmt und tippte dem kleinen Polizisten auf die Schulter. "Och nö, Ben. Ich hab keinen Bock zu laufen." "Ja, dann lauf ich halt alleine."



    Ben hatte Platzangst und vermied sowohl große Menschenansammlungen als auch kleine Aufzüge. Vor einigen Wochen war er in einem großen, modernen Bürogebäude, ein Aufzug für 25 Personen, wo er ein wenig seine Angst abtrainieren wollte. Aber in diesem wackeligen Ding... no way. Also orientierte der Mann mit der Wuschelfrisur sich langsam in Richtung Treppenhaus, und Semir hatte bereits den Fuß in den Aufzug gesetzt. Ein penetranter, beißender Geruch schlug ihm entgegen und er sah in der hinteren Ecke des Aufzuges, dass jemand dort beiderseits seine Notdurft verrichtet hatte, und dazu scheinbar etwas schlechtes gegessen hatte. Selbst wenn es ein Tier gewesen wäre, wäre der Gestank im wahrsten Sinne des Wortes "atemberaubend" gewesen. Semir verharrte kurz und verzog den Mund. "Nagut... dann eben doch Treppen...", knurrte er und folgte mit schnellen Schritten seinem Partner, der bereits ein Stockwerk Vorsprung hatte.
    Im 8. Stock angekommen hatte sich der Atem der beiden Polizisten dann doch etwas beschleunigt. Spätestens jetzt wäre ein Frozzelei von Ben fällig gewesen, doch der großgewachsene Polizist schwieg. Sie suchten nach einem Türschild, einer kleinen Klingel, bis der Name "Greuler" zu lesen war. Sie hatten von Andrea die Info bekommen, dass seine Frau sich nach der Verhaftung von ihm getrennt hatte, und er keinerlei soziale Kontakte mehr hatte, so hatte er es bei seinem Bewährungshelfer öfters durchklingen lassen. Dass Semir auf die Klingel drückte, hatte da eher Symbolcharakter.



    Wie erwartet öffnete niemand die Tür. "Von hier bis zur Brücke... das sind gute 30 Kilometer. Die wird er ja wohl kaum zu Fuß gelaufen sein.", meinte Ben während sie einen Moment nach dem Klingeln warteten. "Ein Auto war aber nirgends... Taxi? Oder hatte ihn der oder die Mörder mitgenommen?" Sie zuckten mit den Schultern und Semir nahm seinen Dienstausweis heraus. Er kniete sich vor die alte und vermutlich nicht besonders widerstandsfähige Tür und begann den Bolzen mit der Karte reinzuschieben. "Haben wir denn einen Durchsuchungsbeschluss?", meinte Ben sarkastisch und Semir war beinahe schon froh darüber, dass sein Partner endlich mal versuchte, lustig zu sein, gerade als die Tür mit einem Knacken nachgab. "Stand schon offen.", war sein kurzer Kommentar, stand wieder auf und grinste seinen Partner kurz an.
    Viel zu finden gab es in der Wohnung nicht, aber es war vermutlich die sauberste Wohnung im ganzen Hochhaus. Kein schmutziges Geschirr, keine angebrochenen Bierflaschen, kein Müll irgendwo. Obwohl die Wohnung sehr klein und karg eingerichtet war, konnten die Beamten nicht mal Staub entdecken, was sie zeitgleich aber auch ein wenig verwunderten. "Sieht fast so aus, als hätte hier jemand aufgeräumt... oder war der so reinlich?", meinte Ben, der auch einen Blick ins blitzende Badezimmer warf.



    Mit Einmalhandschuhen durchsuchten Ben und Semir Ordner und Unterlagen, doch bis auf Schreiben von Bewährungshelfer, Vermieter, Jobcenter und Sparkasse konnten sie nichts interessantes finden. Eine Hausdurchsuchung eines Mordopfers war sowieso meist unkoordiniert. Man wusste nicht wonach man suchte, hoffte aber irgendetwas zu finden, was einem half. In diesem Fall ein Drohschreiben, dass der Kerl sich doch bitte nicht so oft an Kindergarten oder Spielplatz aufhalten solle. Nur den Laptop nahmen die beiden Ermittler mit, darum durfte sich Hartmut kümmern.
    Ein Bild auf dem Regal erregte Semirs Aufmerksamkeit. Da war Heribert Greuler zu sehen, vermutlich 6 oder 7 Jahre jünger als er heute gestorben war, mit einer Frau im Arm und einem lachenden Kind vor den beiden stehend. Offenbar ein Foto aus früheren, glücklicheren Zeiten, bis Greulers geheimes Verlangen aufgeflogen war. Würde eine Frau ihren Mann so sehr hassen können, dass sie zu solch einer Tat fähig wäre? Oder hatte die Familie des damaligen Opfers nur darauf gewartet, dass der Kerl endlich aus dem Gefängnis kam, um sich an ihm zu rächen? "Fahren wir als nächstes zur Ehefrau?", fragte Ben, als sie gerade die Wohnung wieder verließen, und sein Partner nickte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Lagerhalle - 9:20 Uhr



    Jennys Kleinwagen hielt auf dem Seitenstreifen vor dem Industriegebiet, und ein wenig mulmig war ihr schon. Kevin hatte ihr von diesem Ort erzählt, sein Rückzugsort seiner Jugend. Hier kam er mit Annie zusammen, hier feierte er mit seinen Freunden die wildesten Parties und von hier zog er damals mit seiner Schwester los bevor die Katastrophe passierte, die sein ganzes Leben verändern sollte. Die junge Polizistin hatte lange darüber nachgedacht, ob sie das tun sollte, was sie gerade vor hatte... doch es gab keinen Weg zurück. Es brannte ihr auf der Seele, und sie wollte damit aufräumen. Mit einem Ruck stieg sie aus dem Wagen und stiefelte durch den morgendlichen Sonnenschein auf das Eingangstor der Halle zu.
    Innen war es kalt und zugig, ihr Kommen blieb nicht unbemerkt. Noch bevor sie die ersten Meter der Halle durchschritten hatte, kamen zwei Jugendliche mit bunt gefärbten Haaren auf sie zu und nahmen eine bedrohliche Haltung an. "Hey... was wird denn das hier?", fragte einer und sie stellten sich der jungen Frau in den Weg. "Ich will zu Annie.", antwortete Jenny mit sicherer Stimme. Sie war Polizistin, und ließ sich sicherlich nicht von zwei Jugendlichen einschüchtern, auch wenn sie sich gerade nicht in allerbester Form fühlte.



    "Was ist hier los?" Hinter den beiden Jungs tauchte der lange schlaksige Ole auf, der Jenny vom Sehen her kannte, schließlich hatte er sie mit Kevin zusammen gesehen, als er ihn bat, nach Annie zu suchen. "Du bist doch Kevins Freundin, oder?" Jenny nickte und Ole schickte die beiden Jungs mit einer Handbewegung weg. "Was willst du hier?" "Ich will zu Annie. Ich muss mit ihr reden." Oles Haltung hatte nichts feindseeliges, sie war abwartend, ein wenig verwirrt. "Reden? Ich kann mir vorstellen, dass du auf Annie nicht gut zu sprechen bist, nachdem was passiert ist. Und auf mich auch nicht." Er sagte es nicht schnippisch sondern seine Stimme war seltsam belegt. "Ich habe Kevin dorthin geschickt." Es war beinahe wie ein Geständnis, das Jenny aufblicken ließ. "Sein Dämon hat ihn dorthin geschickt...", antwortete sie leise. "Wo ist Annie?"
    "Annie ist nicht mehr hier. Sie lebt momentan in einer betreuten Wohngemeinschaft für Drogensüchtige. Sie hat mir erzählt was passiert ist, und dass sie Kevins Wunsch erfüllen wollte.", erklärte der großgewachsene Punk. "Was willst du von ihr?", fragte er und klang immer noch ein wenig skeptisch. Er konnte nicht ausschließen, dass Jenny sich vielleicht doch an Annie rächen wollte. Wie Trauernde auf den Tod eines geliebten Menschen reagierten, konnte man ja nie vorhersehen. "Ich will nur mit ihr reden... ehrlich." Ole schien nachzudenken, doch das leicht flehende "Bitte" aus Jennys Mund ließ ihn umfallen. Er gab der Polizistin die Adresse der WG.




    Wohngemeinschaft - 9:35 Uhr



    Eine WG für Drogenabhängige war meist die letzte Chance für Leute, die an Stoff oder an der Nadel hingen. Hier konnten sie leben, untereinander Erfahrungen austauschen und wurden von Therapeuten betreut. Es war kein Gefängnis, keine Klinik und leider immer auch Umschlagplatz für Dealer, weil sie hier an leichte Kundschaft kommen. Jenny brauchte, nachdem sie den Wagen auf einem nahegelegten Parkplatz abgestellt hatte, gar nicht lange suchen. Annie saß auf einer niedrigen Mauer vor dem großen Anwesen am Bürgersteig. Sie hatte gerade mit einem anderen Mädchen geredet, das jetzt die Straße weiterging. Mit ihrer roten auffälligen Kurzhaarfrisur blickte die Frau auf und erkannte die Polizistin. Eine Mischung aus Erstaunen und sogar ein wenig Ängstlichkeit legte sie auf ihr Gesicht, als Jenny näher kam.
    "Hi..." "Hey... was machst du denn hier?" Annies Stimme klang unsicher. Würde Jenny ihr Vorwürfe machen? Sie hatten sich zuletzt gesehen, als sie und Juan Jenny die schlimme Nachricht überbracht hatten. Damals war sie völlig fertig, und wusste scheinbar nicht, auf wen sie mehr wütend sein sollte. Jetzt erschien sie Annie gefasst, zwar mit müden Augen aber festem Blick... gefasster, als die Rothaarige selbst war. "Ich wollte mit dir reden...", sagte Jenny und hatte ihre frierenden Hände in die Manteltasche gesteckt, während sie auf Kevins Ex-Freundin heruntersah.



    Annie rutschte ein wenig und gab ein Stück ihres Kissens frei, auf dem sie saß damit sie auf der kalten Steinmauer nicht zu sehr fror und die Polizistin nahm dieses stumme Angebot an. Ein kurzer Blick zu der dunkelhaarigen Frau, und ein wenig fragte sie sich: Was wollte sie mit ihr reden? Warum war sie hier? Aber Jenny kam sofort zur Sache. "Ich habe Kevin jetzt ein Dreivierteljahr gekannt... und ein halbes Jahr waren wir zusammen.", begann sie mit ruhiger Stimme, ohne Annie anzusehen. "Ich habe viel über ihn erfahren... von ihm und von anderen. Manchmal hatte ich den Eindruck, ich würde ihn ganz genau kennen, und manchmal glaubte ich, er sei ein fremder Mensch." Dann glitt ihr Kopf zu Annie herüber, die stumm zuhörte. "Was war er für ein Typ? Ich meine früher, bevor Janine umgebracht wurde?"
    Diese Frage stellte sich Jenny schon so lange. Sie hatte Kevin als geheimnisvollen, schweigsamen Polizisten kennen gelernt. Jemand, der nicht gerne von sich erzählte, der sich in manchen Momenten einen Schutzwall um seine Seele aufbaute und der nur wenige Menschen dort hinein ließ. Jenny war eine davon. Er erzählte ihr von der Mordnacht, dass er Drogen genommen hatte danach, und warum er dann zur Polizei ging. Er erzählte, dass er auch noch während seines ersten Falls mit Semir abhängig war. Und von seiner Zeit in der Gang hatte er erzählt, was für Dinger er gedreht hatte, von den wilden Konzerten und den tollen Erlebnissen. Nur was für ein Typ er war... das hatte er nie gesagt.



    Annies Lippen zitterten ein wenig, ob von der Kälte oder wieder aufkommender Trauer wusste Jenny nicht. "Kevin war früher ganz anders. Ich war gerade von einer älteren Freundin mit zur Gang genommen worden, als ein Boxkampf dort stattfand." Ein wenig musste sie, ob der Erinnerung nun lächeln, doch es wurde zu einem bitteren Lächeln. "Er stand mit seinen grün gefärbten Haaren dort im Ring, und boxte gegen einen 18jährigen, der einen halben Kopf größer und 15 Kilo schwerer war als er. Ich glaube, er hat die Prügel seines Lebens kassiert. Zwei Stunden später hab ich ihn angesprochen, warum er so blöd sei gegen so einen Koloss in den Ring zu steigen. Da hat er gesagt, dass der Kerl seine kleine Schwester damals auf dem Schulhof angemacht hatte, obwohl sie ein Kind war. Das war Kevin."
    Es entstand eine kurze Pause, bevor Annie weiter redete: "Er war früher viel offener. Er hatte soviel von sich erzählt, er war immer gut drauf, wollte im Mittelpunkt stehen. Wo er auftauchte war sofort gute Laune, denn Kevin hat andere mit seiner Energie und seinem Witz sofort angesteckt. Jerry hatte ihn mal als hyperaktives Kind bezeichnet." Wieder ein kurzes Auflachen, und diesmal lächelte auch Jenny. Das war es, was sie erfahren wollte... hatte wirklich nur Janines Tod das aus dem jungen Mann gemacht, was er am Ende war. Ein schweigsamer verschlossener Mann, der gegen sich selbst kämpfte, immer wieder Rückschläge erlebte. Angst vorm Versagen, Angst davor Menschen zu verlieren, die ihm nahe standen?



    "Als wir... als wir zusammen kamen wurde er ein kleines bisschen ruhiger. Da habe ich neue Seiten an ihm kennengelernt. Er konnte romantisch sein, eigentlich etwas, was ich nie von ihm erwartet habe. Er hatte bei mir manchmal seine Wildheit, in die ich mich verliebt habe, komplett abgelegt. Und ich habe noch etwas von ihm kennengelernt..." Jenny blickte auf. "Was denn?" "Unbeherrschtheit. Kevin neigte zur Gewalt. Niemals gegen mich, auch wenn wir uns manchmal lauthals stritten. Aber gegen andere. Ich denke, dass er das seinem Vater zu verdanken hat." Die junge Polizistin nickte: "Sein Verhältnis zu seinem Vater kenne ich." Annie fuhr sich mit der Zunge kurz über die Lippe. "Wenn wir auf Demos waren, hat er sich mit anderen mit den Faschos oder den Bullen..." für einen Moment verharrte sie "Sorry... mit den Polizisten angelegt. Wenn mich ein Typ nur schräg angesehen hat, ist er ausgeflippt. Auch im Bezug auf seine Schwester war er nicht zimperlich."
    Jenny wurde es mulmig, aber sie hatte etwas ähnliches geahnt. Kevin hatte ihr ja erzählt, dass er damals viel Wut im Bauch hatte, was er versuchte, in seinem Liedtexten zu verarbeiten. Offenbar bestand sein Ventil auch noch aus Gewalt. "Im Boxring hatte er einen Jungen mal zu Tode geprügelt. Der Junge ist zwar letztendlich, soweit ich weiß, an einer Überdosis gestorben, aber wenn Kevin rechtzeitig aufgehört hätte..." Ein wenig wippte sie mit dem Kopf zur Seite. "Der Junge war der Bruder von Janines späterem Mörder... und wahrscheinlich der Grund. Und als ich Schluss gemacht hatte, hat er aus Eifersucht meinen späteren Freund ins Krankenhaus geprügelt. Das war damals, das letzte Mal, dass ich mit ihm geredet habe. Einige Monate später ist Janine gestorben, und Kevin war fort. Als ich ihn jetzt wieder gesehen habe... war er komplett verändert."



    Jenny konnte nicht sagen, wie lange sie zusammen auf der Bank saßen, und sie einfach nur an Annies Lippen hing, was sie von dem Mann erzählte, der der Vater ihres Kindes war. Sie stellte Fragen, Annie erzählte, und es war keinerlei böses Blut zwischen den beiden Frauen. Die junge Polizistin spürte, dass Annie unter Kevins Tod ebenso litt, und sie wusste, dass nicht Annie Schuld daran war, dass er nach Kolumbien gefahren ist. Als die junge Punkerin noch einmal auf den Moment, als Kevin abstürzte ansprach, traten ihr Tränen in die Augen, und Jenny legte einen Arm um sie. Sie waren im Schmerz um einen Mann vereint.
    "Ich... ich wollte nochmal mit Juan sprechen. Weißt du, ob er noch hier ist?", fragte sie dann nach einem kurzen Moment der Stille. "Ich will ihm nur nochmal danken, dass er versucht hat, Kevin zu helfen." "Wo er ist, weiß ich nicht... aber er hat mir seine Handynummer gegeben.", sagte Annie und nannte der jungen Frau die Nummer. Dann griff Jenny in ihre Manteltasche und nahm ein Bild heraus. "Das wollte ich dir geben. Kevin hatte es zusammen mit einem Liedtext, den er offenbar nach eurem Beziehungsaus geschrieben hatte, aufbewahrt." Annie musste sich eine Faust vor die Lippen halten, als könne sie ihre Emotionen damit unterdrücken, als sie auf das Bild schaute, was sie und Kevin in einem kleinen Fotohäuschen zusammen gemacht hatten. Zwei Jugendliche, die befreit und verliebt in die Kamera lachten, Wange an Wange. Kevins ärmelloses kariertes Hemd, und ihr Top mit den Wassermalfarben und dem rutschenden Träger. Seine Zeilen darüber, dass ihre Zeiten vorbei waren, und nie mehr wieder kommen würden und dass ihm nur die wunderschöne Erinnerung bliebe. Jenny war stolz auf sich, über diesen riesengroßen Schatten gesprungen zu sein, und sie fühlte, dass es ihr gut tat, die Stärkere zu sein, als sie nochmals den Arm um Annie legte, die den Weinkrampf nicht mehr zurückhalten konnte. Danach bedankte sie sich mehrfach bei der jungen Polizistin...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Neubaugebiet - 10:00 Uhr



    Es war wie ein Stimmungswechsel, was die beiden Kommissare erlebten. Von der grausamen Realität der entstellten Leiche an der Autobahnbrücke weg zu einem sonnigen Neubaugebiet, wo die Welt einfach eine Bessere zu sein schien. Hübsche saubere Häuserfronten, gemachte Vorgärten und ein paar grüne winterharte Blumen, die der Kulisse Farbtupfer verliehen, da die restlichen Bäume noch kahl waren. Weil die Sonne in diesen kalten Vormittag schien, kam es den Polizisten wahrlich paradiesisch vor, als sie mit Tempo 30 durch die verkehrsberuhigten Straßen fuhren, auf dem Weg zum ehemaligen Wohnhaus von Heribert Greuler. Das Haus war eins der größten und ältesten in der neuen Siedlung, vielleicht 15 Jahre alt und sah noch immer aus, als wäre es gestern erst gebaut worden.
    Es lag am Ende einer Sackgasse und Semir hielt den silbernen BMW auf dem Bordstein. Als die beiden ausstiegen traf sie sofort die kalte Luft, denn im Inneren des Autos war es angenehm warm. "Nette Gegend hier, hmm...", meinte sein Partner Ben und sah sich um. "Bilderbuch-Siedlung. Hier würde niemand vermuten, dass ein Kinderschänder direkt neben ihm wohnt.", bestätigte Semir und die beiden gingen den kleine gepflasterten Weg zur Haustür. Der Name "Greuler" war an der Klingel nirgends zu sehen, stattdessen stand dort "Minninger".



    Es dauerte nach dem Klingeln nur wenige Minuten, bis geöffnet wurde. Eine schlanke Frau mit scheinbar blondierten Haaren und Brille öffnete die Tür. Trotz ihrer leichten Grübchen um den Mund sah sie noch recht jung aus, und war zwar wohnlich, aber dennoch recht teuer gekleidet. "Ja?", fragte sie höflich, als sie die beiden fremden Gesichter erblickte. "Guten Tag, Kripo Autobahn, mein Name ist Gerkhan, das ist mein Kollege Jäger.", ratterte Semir seinen Standardspruch herunter, den er in seiner Polizeilaufbahn schon so oft gesagt hatte... nur manchmal mit einem anderen Namen hinsichtlich seiner Partner. "Und was kann ich für sie tun?" "Sind sie die Ehefrau von Heribert Greuler?", fragte Ben und hatte ebenfalls kurz seinen Dienstausweis in der Hand. Das Gesicht der Frau, die gerade noch lächelte, schien einzufrieren. "Exfrau, wenn ich bitten darf.", sagte sie verkniffen. "Wieso?" "Können wir kurz hereinkommen? Wir möchten das nicht im Vorgarten besprechen.", bat der erfahrene Kommissar, und Frau Minninger ließ die beiden Polizisten eintreten.
    Das Innere des Hauses war mit den teuersten und modernsten Materialien ausgestattet. Ben kannte sich damit ein wenig aus, seine Penthouse-Wohnung war preislich in der gleichen Kategorie, während Semir sich eher mit gehobenem Standard, dafür aber auch einem ordentlichen Kredit bei der Bank begnügen musste. Beide nahmen auf einer Ledercouch im Wohnzimmer Platz, Frau Minninger bot Tee und Kaffee an, doch die beiden Kommissare lehnten dankend ab.



    "Also... wenn sie was von meinem Ex-Mann möchten, dann müssen sie nach Chorweiler fahren. Dort wohnt er zur Zeit.", sagte sie wobei sie das Wort "wohnt" sehr süffisant betonte. Semir schüttelte den Kopf. "Nein, Frau Minninger, dort wohnt er nicht mehr." "Wie meinen sie das?" Ben bedachte seinen Partner mit einem kurzen kritischen Blick. "Frau Minninger, ihr Ex-Mann wurde heute Nacht umgebracht." Für einen Moment war im Wohnzimmer nur das Ticken der Wanduhr, die gar nicht in das moderne Ambiente passen wollte, zu hören. Abwechselnd sah die blonde Frau Semir und Ben an, als wartete sie darauf, dass einer von ihnen den Scherz auflösen würden. Ihre Reaktion war gefasst, bis auf ein kurzes, hörbares Ausatmen beinahe emotionslos. "So... und... wie, also... wer ist dafür verantwortlich?", fragte sie und Semir wertete es als Schutzfrage, weil ihr ihre eigene Reaktion vermutlich unangenehm war. "Das wissen wir noch nicht, wir haben ihn erst heute morgen gefunden.", sagte Ben und setzte dazu: "Aufgrund ihrer Reaktion gehe ich davon aus, dass sie nicht mehr viel Kontakt zu ihrem Ex-Mann hatten?"
    Hanna Minninger schluckte kurz, fuhr sich mit der Hand über den Mund und brach den Augenkontakt für einen Moment ab, bevor sie antwortete. "Ich nehme an, sie wissen dass mein Mann im Gefängnis saß... und weswegen?" Die beiden Polizisten nickten einig. "Dann können sie sich sicher vorstellen, welche Auswirkungen so etwas auf ein Familienleben hat... auf das eigene Berufsleben und das Leben unserer Kinder."



    Der erfahrene Polizist ließ sofort die Augen im Zimmer umher gehen, als Hanna ihre Kinder ansprach. Er sah einige Bilder auf einem Ecktisch stehen, die ausschließlich die blonde Frau, sowie zwei Mädchen sah, die auf den Bildern vielleicht 10 und 13 Jahre alt waren, zum Zeitpunkt der Verhaftung ihres Vaters also vielleicht 5 und 8. "Ich habe mich sofort nach der Verurteilung von meinem Mann getrennt, und hatte keinerlei Kontakt zu ihm. Dass er vor einem halben Jahr aus dem Gefängnis entlassen wurde, habe ich nur über unseren Anwalt erfahren. Ich hätte mich melden sollen, falls Heribert versuchen sollte, Kontakt zu mir oder den Kindern aufzunehmen. Hat er aber nicht." "Woher wussten sie dann, wo er wohnt?", fragte Semir interessiert. "Ebenfalls durch unseren Anwalt."
    "Frau Minninger, ich muss sie das fragen. Aber hat sich ihr Ex-Mann auch... also... ging es bei dem damaligen Verbrechen auch im die eigenen Kinder?" "Nein!", antwortete die Frau sofort. "Die Kinder wurden damals von Psychologen betreut und befragt. Sie hatten glaubhaft angegeben, dass Heribert sie nie angerührt hatte." Ben und Semir tauschten Blicke aus. Es war für sie unvorstellbar, wie eine Frau, die einen Mann liebte, mit so einer schlimmen Situation umging. Hanna Minninger schien zumindest jetzt eine psychisch sehr stabile Frau zu sein, die ihre persönlichen Konsequenzen gezogen hatte. "Sie haben ihren Mann doch sicher geliebt. Was haben sie empfunden, als sie erfuhren, was geschehen ist?", hakte Ben trotzdem nach, um zumindest die Gefühle der Frau zu erkunden... und ob diese Gefühle auch in Hass umschlagen konnten. "Was würden sie empfinden, wenn sie erfahren dass ihr Mann ein Kind vergewaltigt hat?" "Das weiß ich nicht, deswegen frage ich sie ja?"



    Hanna Minninger schaute Ben mit funkelnden Augen an, sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und bließ äusserlich ganz ruhig. "Abscheu. Ekel. Hass. Ich war fassungslos und geschockt. Und gleichzeitig erleichtert, als ich erfuhr, dass meine Kinder unversehrt waren." "Wo waren sie denn heute Nacht zwischen 2 und 5 Uhr?", fragte Semir nun. "Ist das ihr Ernst? Heribert ist seit einem halben Jahr draussen, und ich war Gott froh, dass er nie Anstalten gemacht hatte, sich bei mir zu melden oder die Kinder zu sehen. Warum sollte ich ihn denn plötzlich umbringen?", fragte die Blondine nun, und ihr Stimmlage war nun zum ersten Mal ein wenig erregt. "Bitte, das ist nur Routine." "Ich war in meinem Bett. Alleine und ohne Zeugen." Semir nickte... es war natürlich ein schwaches Alibi, aber der erfahrene Kommissar fand bei der Frau kein Motiv. Sie hatte Recht, warum sollte sie nach einem halben Jahr Funkstille zum Mörder werden... wenn es denn wirklich bei der Funkstille blieb. "Was hat er Mann denn gearbeitet, wenn ich fragen darf?" "Mein Mann war Buchhalter in einer Elektrikfirma." Fast zeitgleich sahen sich die beiden Polizisten, ohne Absprache, verblüfft im Raum um, als könnten sie es nicht glauben, dass man mit diesem Beruf sich so ein luxuriöses Haus leisten konnte. Doch Frau Minninger kam ihnen zuvor: "Und bevor sie sich ihre Köpfe zerbrechen... ich arbeite in führender Position in einer der größten europäischen Banken. Deswegen wohnte mein Mann auch nach seiner Haftstrafe in Chorweiler, und nicht ich." Es klang ein wenig überheblich, war aber doch eine Erklärung für die Kommissare, denen ihre optische Auffälligkeit beinahe ein wenig peinlich war.



    Semir und Ben bedankten sich für die Informationen, drückten förmlich auch ihr Beileid aus, obwohl sie wussten, dass die Frau darauf scheinbar keinen Wert legte, denn allzu geschockt schien sie vom Tod ihres Mannes nicht zu sein. Auf dem Weg zur Haustür fiel Ben aber noch eine Frage ein: "Frau Minninger... war ihr Ex-Mann sehr reinlich?" Semir schaute kurz verwirrt, erinnerte sich dann aber sofort an die penibel gesäuberte Wohnung. "Wie meinen sie das?" "Naja... hat er sehr darauf geachtet, dass es überall sauber war? In seiner Wohnung schien es beinahe klinisch rein zu sein." Die blonde Frau nickte zögerlich: "Ja, das passt zu ihm. Klinisch kann ich zwar nicht behaupten, aber er hat sich immer sehr an Staub oder Krümel gestört, hat jeden Tag sein Büro im Keller gestaubsaugt und sauber gemacht. Einen kleinen Putzfimmel hatte er schon." "Danke, Frau Minninger... schönen Tag noch."
    Als die Haustür geschlossen wurde und die beiden Polizisten in Richtung ihres Dienstwagens gingen, fuhr Ben sich, laut ausatmend, durch die langen Haare. "Puuuh... ich weiß gar nicht, was ich davon halten soll." "Wieso? Ich finde ihre Reaktion ziemlich nachvollziehbar.", sagte Semir sofort und betätigte mit einem Druck auf den Schlüssel die Zentralverriegelung des BMWs. "Ja schon. Irgendwie... aber geht das, von einem auf den anderen Moment, von Liebe auf Hass umzuschalten?" "Bei sowas schon..." Semir hatte selbst Kinder, Ben nicht. Vielleicht konnte er eher nachfühlen, was in einem vorging. "Jedenfalls war es gut, dass du nach den eigenen Kindern gefragt hast. Ein wirkliches Motiv scheint sie ja nicht zu haben.", meinte der Polizist mit dem Wuschelkopf, und die beiden Polizisten setzten sich wieder ins Auto.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Gabriel's Haus - 11:00 Uhr



    Eigentlich war es nicht Gabriels Zeit, wach zu sein. Er war ein Nachtschwärmer, dem die Helligkeit ein Graus war und fühlte sich nur wohl, wenn er die Sonne weder sah noch spürte. Sein Haut war blass, seine Lippen schmal und um seine Augen lag immer ein leichter Schatten. Seine langen, wasserstoffblond gefärbten Haare hatte er zu einem Zopf zusammengebunden, und es gab an seinem Aussehen keinerlei Kontrast, da er immer helle Kleidung trug. Aufgrund seiner hellen Haut bekam er in nur kurzer Zeit einen Sonnenbrand... ein Grund mehr, das feindliche Licht zu meiden. Die Rolläden seiner Wohnung waren deshalb immer geschlossen, als Lichtquelle dienten oftmals nur Kerzen oder einzelne Glühbirnen, die den Raum allerdings nur notdürftig erhellten.
    Warum er jetzt wach war, lag eigentlich nur daran, dass er mehrere Telefonate führen musste. Es war ihm ein Graus, diese elektronischen Hilfsmittel zu nutzen, doch in der heutigen Zeit konnte man sich nicht ständig, Auge in Auge, treffen um Dinge zu verabreden, um zu reden. Es kostete zuviel Zeit, mehrere hundert oder sogar tausende Kilometer zu überwinden. Seine Gruppe der Engel, Gottes Diener und Richter, hatten heute Nacht zum ersten Mal zugeschlagen. Das wollte er dem Anführer einer weiteren Engelsgruppe aus der Schweiz, berichten.



    "Ich bin sehr gespannt auf die Reaktionen darauf, Gabriel. Möge Gott über euch wachen, wenn ihr seine Arbeit erledigt.", sagte der junge Mann, der sich selbst Seraphim nannte. "Das kannst du. Es wird ein großes Echo geben... und nach und nach wird die Menschheit merken, dass die Zeit der Strafe gekommen ist." Mit dem Hörer in der Hand schritt Gabriel von der Küche zum Sofa und zurück, ohne still zu stehen. Immernoch flossen Glückshormone durch seinen Körper, wenn er daran dachte, den Mann in Gottes Namen bestraft zu haben. Der Mann, der schlimmes Leid über die unschuldigsten der Menschen, ein Kind, gebracht hatte. "Die Menschen werden merken, dass die Zeit ihrer Sünden nun zu Ende ist. Wir sind bereit für den Krieg." Seraphim, am anderen Ende der Leitung, nickte stumm.
    "Es ist schön zu hören, dass eure Engelsscharen soweit sind. Bei uns gibt es leider noch einige Zweifler, und wir wissen nicht, wann wir den ersten Schlag gegen die Menschheit landen können.", gab er zu und klang dabei nicht glücklich. "Die Gottes Gesandten müssen an dich als ihr Hirte glauben. Du musst die Position Gottes einnehmen, damit sie dir folgen.", riet Gabriel ihm. Der blonde Mann wusste, dass Seraphim noch recht jung war, und von Gabriel persönlich ausgewählt, gläubige Gottesgesandte um sich zu scharen, um den Kampf gegen die Menschheit von der Schweiz aus heranzutreiben.



    "Bei wem habt ihr begonnen, Gabriel?", war dann die Frage Seraphims, der die Neugier nicht in sich behalten konnte. "Ein kranker Mann von schrecklicher Sünde. Ein Mann, der die schrecklichste aller Sünden begangen hat, einem unschuldigen Menschen, unbefleckt und rein in der Seele, ein Brandmal aufzudrücken." Die Stimme, mit der Gabriel sprach, war ruhig und in sich gekehrt, ohne Wut oder Erregung aber einer tiefen Genugtuung. "Wir haben ihm die schwarze Seele aus seinen leiblichen Hüllen entfernt und in die Scheol verbannt. Er musste leiden, wie auch die gelitten haben, denen er Sünde angetan. Mein Freund, morgen wirst du es erfahren." Die Genugtuung, die Aufgabe Gottes heute Nacht gut ausgeführt zu haben, ließ ihn leise aufseufzen, als er den Kopf in den Nacken legte, und die Augen schloß.
    "Ich werde euch unterrichten, wenn es hier weitere Schwierigkeiten gibt. Aber bitte, gebt mir noch etwas Zeit.", sagte Seraphim zu Gabriel, der am Telefon nickte. "Engelsbruder, du wirst Zeit haben, die deinigen auf diese große Aufgabe vorzubereiten. Sei ihnen ein guter Hirte, der auf seine Schaafe wacht und sie lehrt, gegen den Feind Mensch erbarmungslose Wölfe zu sein. Unser Kampf hat jetzt erst begonnen, und er wird nicht eher enden, bis dass der letzte Sünder dieser Erde ausgerottet wurde, und wir das Paradies zurückbekommen, aus dem wir wegen des Menschen verbannt wurden."




    Jenny's Wohnung - 11:15 Uhr



    Jenny fühlte sich erschöpft, müde... ja beinahe ausgelaugt, als sie von Annie zurückgekommen war. Ihr war übel und sie hatte heute noch nichts gegessen, jetzt musste sie erstmal ein wenig Flüssigkeit zu sich nehmen, sonst würde ihr Kreislauf wohl gleich komplett in den Keller sacken. Das Gespräch mit Annie hatte ihr auf der einen Seite gut getan, auf der anderen Seite spürte sie eine tiefe Traurigkeit. Traurigkeit nicht nur über den Verlust von Kevin, sondern vor allem bei der Vorstellung, seines früheren Lebens. Dass er ein so lebensfroher Kerl war, und was der Tod seiner Schwester aus ihm gemacht hatte. Seine Melancholie, sein Schwermut... alles was er tat, sagte und fühlte war überschattet von seinem Dämon. Es gab nur wenige Momente in denen Jenny fühlte, dass er glücklich war, frei von Janines Schatten, frei von dem Zwang. Es waren meist Momente, wenn sie beide alleine miteinander waren. Wenn Jenny in seinen Armen lag, langsam auf der Couch einschlief, wenn sie zusammen im Bett waren und ihre innige Zweisamkeit genossen. Oder wenn es stressig wurde auf der Arbeit, wenn er die Kontrolle behalten konnte und der starke Fels in der Brandung war. In diesen Momenten war er frei von allen dunklen Schatten, die sich sonst bei ihm aufhielten. Die junge Polizistin hätte gerne den jungen Kevin ebenfalls kennengelernt, während sie selbst jung war, das lebensfrohe Energiebündel, das nicht stillstehen konnte... auch wenn es die, von Annie beschriebenen Schattenseiten ebenfalls gab. Die Gewalt, seine Aggression, sein verpfuschtes Elternhaus. Beinahe war es ein Wunder, dass Kevin es trotz allem zu einer solch seriösen Anstellung, wie der eines Polizisten geschafft hatte, auch wenn dies eine Rolle war, die er eher akzeptierte, als dass er sie lebte.



    Das leichte Ziehen und Stechen in ihrem Bauch hörte langsam auf, je mehr sie zur Ruhe kam. Dann nahm sie die Handynummer, die Annie ihr gegeben hatte, und wählte sie auf dem Smartphone mit zitternden Fingern. Das monotone Tonsignal, das Jenny nun hörte, kam ihr mechanisch und ganz weit weg vor, bis sich die Stimme mit dem Akzent meldete, die ihr vor zwei Wochen die schlimme Nachricht überbracht hatte. "Sí?" "Juan... hier ist... hier ist Jenny. Kevins Freundin." Es herrschte für einen Moment Stille im Apparat und die junge Polizistin lauschte atemlos, ob der Kolumbianer nun sofort auflegte, oder doch antwortete. "Jenny? Was... was kann ich für sie tun?", fragte er höflich und sein spanischer Akzent war unüberhörbar.
    Jenny fuhr sich mit der Zunge über die Lipppen, bevor sie weitersprach. Natürlich hatte sie ein bestimmtes Anliegen, aber das wollte sie nicht am Telefon klären. "Also zuerst... wollte ich mich bei ihnen bedanken, dass sie... dass sie Kevin geholfen hatten. Ich habe das vor zwei Wochen nicht getan... mich bedankt." Ihre Stimme wurde erst nach einigen Sätzen langsam sicherer, und diese Sicherheit gab ihr vor allem die klare und unaufgeregte Stimme von Juan. "Das ist doch völlig normal. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen oder zu bedanken." "Ich wollte fragen, ob wir uns vielleicht zu einem Kaffee treffen könnten... heute Nachmittag. Ich habe da noch ein paar Fragen, was im Dschungel genau passiert ist." Wieder ein kurzes Schweigen, denn Juan, der von Natur aus skeptisch war, war sich nicht sicher, welche Absichten Jenny wirklich verfolgte. Denn der Kolumbianer wusste nun, dass Jenny eine Polizistin war... dass Kevin scheinbar ein Polizist war... und dass er ein Verbrecher war. Doch sollte die Freundin eines Mannes, der vor zwei Wochen ums Leben gekommen ist, und den Juan nur aus einem puren Zufall heraus kannte, jetzt plötzlich gegen ihn ermitteln? Nachdem er versucht hatte, ihrem Freund zu helfen?



    "Sehr gerne, Jenny. Wo... wo wollen sie sich treffen? Ich kenne mich ja hier nicht so gut aus." Jenny nannte ihm eine Adresse in der Kölner Innenstadt, ein neutraler Ort im Einakufsviertel, wo man ruhig und nett in einem Cafe sitzen konnte. "So gegen 15 Uhr?" "Okay, sehr gerne. Bis dann, Jenny.", verabschiedete Juan sich höflich. Das Herz der Polizistin schlug fest gegen den Brustkorb, als sie das Telefonat beendete, und auch das kurze Ziehen im Bauch, machte sich wieder bemerkbar...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Raststätte - 12:15 Uhr



    Semir hielt seinen guten Vorsatz ein... er wollte abnehmen. Weniger Süßigkeiten, weniger Fleisch, mehr Salat und Gemüse. Dafür war ihm regelmäßiger Spott seines Partners Ben sicher, der essen konnte, was er wollte aber einfach nicht zunahm, trotz seines eher geringen Sportantrieb. Einmal, vielleicht zweimal in der Woche ging er ins Fitnessstudio... meinst nur, wenn Kevin ihm so lange auf die Nerven gegangen ist, bis er sich endlich bequemt hatte. Doch im Prinzip hatte es der junge Polizist nicht nötig, er ass und ass, doch kein überschüssiges Gramm Fett blieb an seinem Körper haften. Bei Semir war das anders. Er kam jetzt langsam in ein Alter, in dem das Essen schlimmer ansetzte, als zuvor. Und weil er dem Kraftsport seit einigen Jahren sehr zugetan war, musste er darauf achten, nicht zu schwer zu werden.
    Als die beiden jetzt auf einer Raststätte hielten, auf dem Weg zu den Eltern der beiden Kinder die von dem Mordopfer missbraucht wurden, um Mittag zu essen, fiel das Mahl bei beiden sehr unterschiedlich aus. Während Semir sich den Teller zwar üppig vollpackte, allerdings ausschließlich mit Salat und Gemüse, setzte sich Ben mit einer Portion Pommes und einer Currywurst neben sich. "Hmm, Mittagessen für Hasen.", bemerkte er lächelnd. "Du weißt schon, dass du meinem Essen das Essen wegisst."



    Sie setzten sich in der Raststätte an einen freien Tisch und begannen zu essen. "Gut dass uns sowas wie heute morgen den Appetit nicht verderben kann." "Ben, DIR kann nichts den Appetit verderben.", merkte sein Partner an. Es war unruhig, wie in einer Kantine, von allen Seiten summten Gespräche, Geschirrgeklapper und Kindergekreisch. Es war sicher nicht der optimale Ort zum ruhigen Mittagessen, aber Ben und Semir bekamen hier Sonderpreise, es lag direkt an der Autobahn... und es schmeckte. Das war die Hauptsache, weswegen sie die unruhige Kulisse zum Essen auch in Kauf nahmen.
    "Also die Frau des Mannes scheidet wohl aus, oder?", stellte Ben eine eher rhetorische Frage, und sein Partner nickte zustimmend. "Das macht wirklich keinen Sinn. Auch wenn ihr Alibi natürlich eher schwach ist." "Ja, aber wenn du alleine lebst liegst du nun mal alleine im Bett. Ich hätte nachts momentan auch kein Alibi.", sagte Ben und zog zwei Pommes an der Gabel durch die Currysauce. "Wie gehts eigentlich Carina?", fragte sein bester Freund interessiert. Er wusste, dass sich Ben mit der Schwester des Mordopfers aus ihrem letzten Fall angefreundet hatte. Der Polizist hatte die junge Frau unterstützt, nachdem auch ihre Mutter kurz nach dem Fall an einem Herzinfarkt verstorben war. Als Antwort blickte Ben etwas arggewöhnisch. "Ihr gehts ganz gut... aber sie schläft nicht bei mir." "Hey, darauf hat die Frage doch gar nicht abgezielt..."



    Für einen Moment aßen sie stumm weiter, bis der junge Polizist bei seinem älteren Partner auf den Teller sah. "Wie kann man das nur jeden Tag essen? Du musst doch auch mal wieder ein Stück Fleisch auf den Teller bekommen." "Mann Ben, es ist gesund!", antwortete Semir, wobei er das u in "gesund" besonders lang zog. "Salat schaltet zum Beispiel freie Radikale aus." Ben zuckte mit den Schultern und meinte: "Das tut ein Schlagstock auch." Als Ergebnis auf Semirs Lacher mit halbvollen Mund erreichte die Salatsoße fast Bens Pommes, und auch der Verursacher des Witzes musste lachen. In dieser Zeit, in der sie mit dem Tod von Kevin bzw seinem Verschollensein klar kommen mussten, tat es unglaublich gut, einander zu haben.
    "Ach Ben... wenn ich daran denke, wie sehr ich mich alleine kaputt gemacht habe, als damals Tom und Chris ums Leben gekommen sind... oder André scheinbar...", sagte er, nachdem das Lachen verklungen war und er kurz inne hielt: "Dann tut es so gut, dass jetzt jemand da ist, der ähnlich fühlt wie ich." Die beiden Männer blickten sich an. "Ich meine, klar war damals Andrea da, die Chefin, Bonrath und Hotte... aber es war was anderes. Die drei waren meine Partner, meine Freunde. Und plötzlich standest du alleine da, hast allein im Büro gesessen... du hast dich einsam gefühlt, obwohl du es nicht warst."



    Ben nickte, er konnte seinen Partner verstehen. Er hatte selbst mitbekommen, wie es Semir in dieser Einsamkeit ging, weil er direkt auf Chris Ritters Tod zur Autobahnpolizei gekommen ist. Damals jagte er mit Semir zusammen Chris' Mörder Sander Kalvus und bekam in dieser Ausnahmesituation zu Beginn die ganze Ablehnung des Polizisten zu spüren. Toms Tod zu verarbeiten war für Semir noch schwerer, da Tom ein noch engerer Freund war als Chris, und er mit dem verschlossenen Polizisten damals ein schwieriges Verhältnis hatte, war der ehemalige Undercover-Kommissar sogar höchst verdächtig, Toms Mörder zu sein.
    Jetzt litten Ben und Semir, sowieso unzertrennliche Freunde, gleichermaßen unter Kevins Tod. Sie hatten beide ein ähnliches Verhältnis zueinander, Ben vielleicht freundschaftlich etwas enger aufgrund des ähnlichen Alters und der gleichen Vorlieben trotz des unterschiedlichen Charakters. Aber das Verhältnis zwischen Semir und Kevin war ein Besonderes. Kevin hatte den erfahrenen Polizisten mal als "großen Bruder" bezeichnet, weil er durch seine Art Zugang zu dem schweigsamen Mann gefunden hatte, und ihn beeinflusst hat. Dieser Zugang wurde mit der Zeit zwar schwieriger und schwieriger, dieser Satz hatte Semir aber sehr berührt. Damals hatte Kevin leichtsinnig sein Leben für den Familienvater aufs Spiel gesetzt. Aber weil sie bitte gleichermaßen am Tod von Kevin zu knabbern hatten, so waren sie beide füreinander da. Ob sie sich gegenseitig trösten mussten, wenn einer von Erinnerungen überfallen wurde, sie sich gegenseitig mit Scherzen aufzogen, um mal wieder zu lachen, oder beide die Waage hielten zwischen ganz kleiner Hoffnung auf ein Happy-End und dem Akzeptieren der Realität.



    "Wie gehts jetzt eigentlich weiter?", fragte Ben, als er sich mit der Serviette den Rest der Currysauce von den Lippen wischte. "Na, jetzt fahren wir trotzdem noch beide die Eltern der Kinder. Alibi prüfen... und dann hoffen, dass Meisner vielleicht doch noch ne bahnbrechende Spur an der Leiche findet, oder seine Mitarbeiter vielleicht im Umkreis der Leiche noch Spuren findet.", antwortete sein Partner und legte die Gabel in die Salatschüssel zurück. "Nein, ich meine... mit der Botschaft. Meldet die sich nochmal, was machen die jetzt noch?" Semir seufzte und fuhr sich mit der Hand kurz über die Stirn. "Normalerweise wird die Botschaft in solchen Fällen noch Zeugen befragen wollen. Das wären also Juan und Annie. Die ermitteln dann im Auftrag der deutschen Regierung, was mit einem verschollenen Landsmann passiert ist.", erklärte er, denn er hatte sich die Tage mal über die Vorgehensweise erkundigt. "Ähnlich, wenn zum Beispiel in Österreich jemand verunglückt... da findet man die Leiche ja meist in den Gletschern auch nicht. Oder bei einem Flugzeugabsturz. Wenn es genügend Indizien gibt, wird die Person offiziell für tot erklärt." Ben amtete tief durch und lehnte sich im Stuhl zurück. Es werden also Fakten gegeneinander aufgewogen, wie bei einem ihrer Kriminalfälle... und dann entschieden. Schuldig oder unschuldig, tot oder lebendig. Vielleicht nur aufgrund von Indizien, ohne eindeutige Beweise. Eine Gewissheit würden sie niemals haben. "Das kann halt gut sein aufgrund der Beschreibung der Leiche, Juans Aussage über den Fluss... und je nachdem, ob das Handy aus dem Fluss wirklich von Kevin ist." Semir deutete damit schon ein wenig an, dass dies ausreichen könnte, um ihren Freund und Parnter für tot zu erklären.



    "Du bist immer noch nicht weg von dem Gedanken, dorthin zu fahren?", fragte Semir nach einer kurzen Weile. Ben nickte wahrheitsgemäß. "Es fühlt sich so an, als würden wir ihn im Stich lassen. Als würden wir ihn einfach seinem Schicksal überlassen." "Ich weiß. Das Gefühl überkommt mich auch hin und wieder.", gab sein Partner zu. Wieder schwiegen sie für einen Moment, als müssten sie sich selbst einreden, dass es Unsinn, Wahnsinn, Leichtsinn war nach Kolumbien zu fliegen. Sollte man die Toten schon ruhen lassen, bevor man sich wirklich sicher war, dass sie tot waren? "Jenny hat mir gestern abend quasi verboten, überhaupt darüber nach zu denken.", sagte Ben irgendwann beinahe kleinlaut, was Semir aufschauen ließ. "Sie will also auch nicht, dass wir nach ihm suchen?" Sein bester Freund schüttelte den Kopf. "Sie würde es nicht ertragen, wenn uns deswegen etwas passiert. Wegen deiner Familie... wegen Carina... und natürlich auch wegen ihr selbst." Wieder kurzes betretenes Schweigen, und es fühlte sich für die beiden Männer so an, als schweige die komplette Raststätte mit ihnen, obwohl es immer noch so laut war wie vorher. "Ausserdem...", sagte Ben noch dazu "... meinte sie, dass es Kevin selbst niemals verlangt hätte, dass wir uns in eine so große Gefahr begeben würden." "Tja... da hat sie wohl vollkommen Recht.", sagte Semir leise...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Jenny's Wohnung - 13:00 Uhr



    Ein bisschen dösen... nur ein ganz klein wenig schlafen. Jenny hatte es sich, nachdem sie mit Juan telefoniert hatte, auf der Couch bequem gemacht, hatte sich eine Decke um den Körper geschlungen und den Kopf auf ein Kissen gelegt. Schützend hielt sie beide Arme vor ihren, noch flachen Bauch, unbewusst wie sie später, als sie aufwachte, feststellen musste. Als sie langsam ein wenig zur Ruhe kam, wurden auch die Schmerzen schwächer, die sie seit einigen Tagen spürte. Sie redete sich selbst ein, ruhiger zu werden... kürzer zu treten. Den Streß nicht an sich herankommen zu lassen. Doch je mehr Jenny darüber nachdachte, desto unruhiger wurde sie wieder, desto schneller begann ihr Herz in der Brust zu schlagen.
    Als sie schließlich auf ihrer Couch lag, erschöpft die Augen schloß und eigentlich nur ein paar Minuten dösen wollte, wurde sie ruhiger. Das weiche Kissen an der Wange, die warme Decke um ihren Körper und die leisen vertrauten Geräusche ihrer Wohnung um sie herum. Ob das leise Rauschen des Kühlschrankes, das Ticken der Küchenuhr oder das Schaben an der Decke, wenn Herr Hansen über ihr mal wieder den Esszimmerstuhl übers Parkett schob. Alles klang vertraut und friedlich in Jennys Ohren.



    Irgendwann kam dann auch diese ihr so vertraute Person ins Zimmer. Er legte seine Lederjacke ab, den Schlüssel auf den Küchentisch und trat langsam und leise ins Wohnzimmer. Seine hellblauen Augen schauten wie immer etwas melanchonisch, seine Haare standen wie immer wild vom Kopf ab und seine Kiefer mahlten einen Kaugummi. Jenny blinzelte, sie erkennte die Schemen nur verschwommen und obwohl sie nicht mit seinem Auftauchen rechnete, erschrak sie nicht. Sie spürte eine tiefe Ruhe in sich aufsteigen, als der Mann in schwarzer verwaschener Jeans und Shirt dicht an die Couch herantrat, vor ihr in die Hocke ging und seine Lippen die von Jenny sanft berührten. Zärtlich und schützend streichelte er dabei auch ihren Bauch über der Decke.
    Plötzlich war Jenny glücklich... einfach nur glücklich. Sie spürte die Anwesenheit des Mannes, sie spürte seine tiefe Liebe. Nichts von dem bösen dunklen Traum war mehr übrig, als sie dieses Gefühl der Ablehnung, der Verachtung gespürt hatte. Er war zurück, er war dicht bei ihr und ihrem Kind und es würde jetzt alles gut werden. Nur eins schmerzte sie: Sie wusste, dass sie träumte. Sie träumte einen herrlichen Traum, dass Kevin zur Tür reingekommen war, und sie auf der Couch umarmte. Dass er sagte, dass alles gut sei. Dass er sagte, sie niemals allein zu lassen.



    Als Jenny durch ein Klopfen an der Wohnungstür geweckt wurde, spürte sie ihre feuchten Wangen und einen kleinen dunklen Fleck auf dem Kissen neben ihrem Kopf. Es dauerte einen Moment, bis sie Traum und Realität wieder unterscheiden konnte, blinzelte etwas und richtete sich auf. "Wer ist da?" "Hier ist Andrea... störe ich?", erklang die so vertraute Stimme von hinter der Tür. "Ähm nein... warte kurz.", sagte Jenny, rappelte sich endgültig von der Couch auf und wischte sich die letzte Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln. Mit einigen schnellen Schritten ging sie zur Küchenspüle und warf sich zwei Hände voll Wasser ins Gesicht, um etwagige Tränenspuren komplett zu entfernen. Ihr Bauch verhielt sich still... kein Schmerz, kein Ziehen.
    Dann öffnete die junge Polizistin die Tür und versuchte zu lächeln, als sie Andrea erblickte. "Hey. Ich wollte mal sehen, wie es dir geht.", sagte Andrea zur Begrüßung und die beiden Frauen umarmten sich gegenseitig. Jenny bat Semirs Frau herein und die nahm das Angebot gerne an. "Willst du etwas trinken? Einen Kaffee oder irgendwas?" "Nein danke... ich wollte nur mal kurz vorbeischauen, ich war in der Stadt etwas erledigen zu Mittag." Die Sekretärin der Dienststelle setzte sich auf Jennys Couch, die junge Polizistin nahm daneben Platz.



    "Wie geht es dir denn so?", fragte Andrea dann. Sie waren mittlerweile sehr gut befreundet, nachdem Andrea der jungen Kollegin nach einer Vergewaltigung und Kevins Verhaftung sehr beigestanden hatte. Jenny nickte tapfer: "Es ist alles okay. Ich versuch mich mit allem Möglichen ein bisschen abzulenken.", war ihre Antwort. Vor allem versuchte sie sich mit Hausarbeit abzulenken, sie ging spazieren, was aber eher wieder ihre Gedankenmaschine und somit die Erinnerungen anlaufen ließ. "Am liebsten würde ich wieder arbeiten..." "Das kann ich mir vorstellen. Aber die Chefin bleibt hart. Eine Woche sollst du noch zu Hause bleiben, meint sie." Die Polizistin seufzte. Auf der Dienststelle hätte sie zumindest eine sinnvolle Ablenkungsbeschäftigung, während sie hier nur auf die Idee kam, unbedingt alle Küchenschränke mal auszuräumen und zu reinigen, was allerdings überhaupt nicht notwendig gewesen wäre.
    "Und, wie gehts dem kleinen Menschen?", war Andrea's nächste Frage, wobei ihre Miene bei dieser Frage deutlich aufgehellter schien, als vorher. Auch Jennys Lächeln fiel natürlicher und sofort freundlicher aus, als sie kurz im Sitzen auf ihren Bauch blickte. "Alles gut. Die Morgenübelkeit ist fast komplett weg." "Ja, das hat bei mir auch nur die ersten zwei Monate angehalten. Jetzt wird er... oder sie... langsam anfangen zu wachsen." Es war eigentlich etwas, wovor Jenny ein wenig Angst hatte. Sie war nicht eitel, aber sie achtete auf ihr Aussehen und ihre Figur... und auf die war sie eigentlich immer sehr stolz. Sie hatte viel gelesen von Schwangerschaftsstreifen, Rückenbeschwerden und ähnliches. Trotzdem war sie so stolz auf ihr Kind, dass sie es andererseits kaum erwarten konnte, dass man ihr es auch von aussen ansah, dass sie schwanger war.



    "Wie gehts bei euch auf der Dienststelle?", fragte nun wiederrum Jenny. "Auch alles gut. Die Jungs haben einen neuen Fall und Hotte wollte bereits seine Pensionierung aufschieben, damit du ohne Probleme in Mutterschutz gehen kannst." Dabei lachte Andrea auf, und auch Jenny kicherte leise. Hotte Herzberger hatte eigentlich vor im Herbst in die wohlverdiente Rente zu gehen, was genau mit der Geburt von Jennys Kind zusammenfallen würde. Er hatte tatsächlich, mehr im Scherz als ernsthaft angekündigt, die Rente deswegen um zwei Jahre zu verschieben. Andrea wurde aber auch ein wenig ernster: "Es ist natürlich alles ein wenig komisch. Ich glaube, vor allem Semir und Ben wissen nicht, ob sie noch hoffen oder trauern sollen."
    Jenny seufzte, und alle Freude verschwand wieder aus ihrem Blick. "Das weiß ich selbst nicht, Andrea." Für einen Moment schwiegen die Frauen. "Aber würde er nicht alles dransetzen, sich zumindest bei mir zu melden, wenn er noch leben würde?" Es klang, als nehme Jenny sich selbst ein wenig die Hoffnung, und Andrea wollte, auch wenn ihr danach war, nicht zustimmend nicken. Sie selbst fühlte sich der jungen Polizistin gegenüber auch nicht angenehm, hatte sie doch Semir gegenüber Bedenken geäussert, nach Kolumbien zu fahren. Doch Jenny kam ihr diesem schlechten Gefühl zuvor. "Ich habe aber beiden gesagt, dass sie sich hüten sollen, nach Kolumbien zu fliegen. Das hätte Kevin nie gewollt."



    Diesmal nickte die Sekretärin zustimmend und nahm ihre Freundin tröstend und liebevoll in den Arm. Sie war froh, dass Jenny doch eine mental recht starke Frau war, die die Vergewaltigung damals recht schnell und gut, wenn auch mit etwas Hilfe, weggesteckt hatte und nun tapfer mit Kevins Tod umging. "Es tut vor allem Semir sehr leid, wie er und Kevin auseinander gegangen sind." "Das konnte doch keiner ahnen... und ich war zwar damals sehr erschrocken, was Semir getan hatte... aber auch darüber, was Kevin gesagt hatte.", gab die werdende Mutter zu. "Ja... trotzdem tut es ihm sehr leid." Die beiden Frauen sahen sich für einen Moment stumm an, die Geräusche um Jenny waren wieder so vertraut, wie eben, als sie auf dem Kissen lag. "Ach, Jenny...", seufzte Andrea und wieder hielten sich die Freundinnen Arm in Arm fest...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Vorort Köln - 14:00 Uhr



    Ausserhalb von Köln gab es noch Orte, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein schien. So auch in dem kleinen Vorort, in dem Semir jetzt den BMW an der Hauptstraße parkte, wo rechts und links der kleinen Häuseransammlung weite Felder waren, auf denen sogar vereinzelt schon Trecker unterwegs waren und versuchten, mit schwerem Gerät den leicht gefrorenen Boden zu lockern. Neubaugebiete gab es hier (noch) nicht, es gab nur eine Hauptstraße und zwei Nebenstraßen, die meisten Häuser waren alte und renovierte Bauernhäuser, von denen jeder noch eine echte Scheune ins Haus integriert hatte. Selbst wenn die Bewohner der Häuser keine Landwirte waren erfreuten sie sich an dem ein oder anderen Vorteil eines solchen Hauses.
    Auch das Haus von Familie Eschberg war ein solches Bauernhaus. An der Hauptstraße gelegen, rechts und links angebaut mit einer unscheinbar wirkenden Haustür, aber einer großen Scheunen-Doppeltür daneben. Kein Wagen parkte auf dem Platz vor dem Haus, die Vorderfront war strahlend weiß, weil die Sonne dagegen schien und die Fensterrahmen waren dunkelrot und aus Holz. Die beiden Polizeikommissare gingen die hellen Steinstufen hinauf zur Haustür, die leicht überhöht lag und drückten auf den altmodischen Klingelknopf.



    Drinnen rumorte es, doch die Tür blieb verschlossen. Ben sah zu Semir, der bereits seinen Dienstausweis in der Hand hatte und wiederholte das Läuten. Plötzlich bewegten sich die Vorhänge an dem Fenster neben der Haustür, und die angstvollen Augen eines kleinen, vielleicht 11jährigen Mädchens erschienen an der Scheibe und blickte die beiden fremden Männer an. Semir setzte sofort sein väterlich wirkendes Lächeln auf und winkte: "Huhu. Hallo? Ist deine Mama zu Hause? Oder dein Papa?", fragte er mit lauter, aber sanftwirkender Stimme, doch das Mädchen reagierte nicht. Sie stand am Fenster, blickte mit großen, ängstlichen Rehaugen auf die beiden Männer... kein Kopfschütteln, kein Nicken und keine Reaktion ging von ihrem Blick aus. Ihre dünnen Lippen zitterten leicht, ihre Hände hatte sie um die Fensterbank geklammert.
    Ben versuchte auch, so vertrauenserweckend wie möglich zu wirken und hielt ihr den Polizeiausweis ans Fenster. "Du brauchst keine Angst zu haben, wir sind von der Polizei.", sagte er ruhig, doch auch damit schaffte er es nicht, dass der ängstliche Blick aus den Augen des Mädchens verschwand. "Denkst du was ich denke?", fragte der junge Polizist leise seinen Partner, der betroffen nickte. Scheinbar hatten sie es hier mit dem Opfer der damaligen Vergewaltigung zu tun, die nun Angst davor hatte, fremden Männern die Tür zu öffnen... was völlig verständlich und vermutlich von der Mutter so eingeimpft, auch richtig war.



    Hinter sich hörten die beiden Polizisten dann das Knirschen von Reifen auf Pflastersteinen, als ein Kleinwagen von der Hauptstraße auf den Vorplatz vor der Scheune abbog und parkte. Eine dunkelhaarige Frau mit den gleichen rehbraunen Augen stieg aus und blickte die beiden Polizisten an der Tür beinahe feindselig an, vor allem als sie sah, dass ihre kleine Tochter am Fenster stand. "Wer sind sie? Was machen sie hier??", rief sie und ihre Augen funkelten. "Entschuldigen sie... Gerkhan, Kriminalpolizei, das ist mein Kollege..." "Wie können sie es wagen, meine Tochter so zu erschrecken??", fauchte Marlene Eschberg in Richtung der beiden Polizisten und kam mit schnellen Schritten zur Treppe, den Haustürschlüssel bereits in der Hand. "Was wollen sie hier?"
    "Frau Eschberg, wir haben nur geläutet und ihre Tochter kam ans Fenster. Sonst haben wir nichts gemacht.", rechtfertigte sich der jüngere der beiden Polizisten und hob beschwichtigend die Hände, den Dienstausweis noch in der Hand. Als das kleine Mädchen ihre Mutter erblickte, löste sie sich vom Fenster und fiel ihr sofort, nachdem Marlene die Tür geöffnet hatte, stumm um den Hals. "Hey Maus... keine Angst, ich bin jetzt wieder zu Hause." "Ich hab die Tür nicht aufgemacht.", sagte das Mädchen mit piepsiger Stimme. "Ja, das war sehr gut, mein Schatz. Komm jetzt mit rein."



    Semir und Ben standen etwas teilnahmslos noch ausserhalb des Hauses auf der Treppe und beobachtete die Szene, bis der zweifache Familienvater das Wort ergriff: "Wieso lassen sie ihre Tochter überhaupt alleine... in diesem Zustand?" Marlene Eschberg fuhr herum, und wieder lag Feindseligkeit in ihrem Blick. "Was geht sie das an? Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was sie hier wollen?" "Frau Eschberg, wir möchten das nicht zwischen Tür und Angel erklären. Können wir kurz reinkommen?" Die Mutter blickte die beiden Polizisten nacheinander an. Die Sorge um ihre Tochter war so groß, dass sie die beiden Männer erst einmal als Feinde, als Angreifer sah, die ihre Tochter verängstigt hatten. Eher widerwillig gab sie den Weg frei in das schön und freundlich renovierte Bauernhaus, in dem der enge Flur in ein großes Wohnzimmer führte, mit Blick auf einen riesengroßen Garten.
    Nachdem die beiden Polizisten Platz genommen hatten, sah Marlene die beiden herausfordernd an. "Und?" "Ich nehme an, sie erinnern sich an den Namen "Greuler"?", begann Semir vorsichtig, was eigentlich eine rhetorische Frage war. Der Zustand des Mädchens gerade war wohl Beweis genug, dass dieser schreckliche Vorfall das Leben der Familie nach wie vor bestimmte. Die Frau nickte. "Er wurde letzte Nacht auf bestialische Art und Weise umgebracht." Marlene hielt den Blick zu Semir für einen Moment aufrecht, und in ihrem Gesicht war keine Regung zu erkennen: "Es gibt keine Art, die bestialisch genug wäre, was dieses Monster verdient hätte.", sagte sie mit erstickender Stimme.



    "Sie verstehen doch, warum wir zu ihnen kommen, Frau Eschberg...", sagte der erfahrene Kommissar, während Ben seine Augen durch den Raum gleiten ließ und auf Bildern an der Wand auch ein zweites, älter wirkendes Mädchen erblickte. "Natürlich... sie meinen, dass ich oder mein Mann diesen Kerl umgebracht haben.", schlussfolgerte die Frau und klang beinahe sarkastisch. "Glauben sie mir, der Mörder hat all meine Sympathien. Aber sowohl mein Mann als auch ich müssen für unsere Töchter da sein. Auch wenn es...", sie stockte kurz "... auch wenn es schwer war, als wir von unserem Anwalt erfahren haben, dass der Kerl wieder draussen ist." Semir blickte die Frau genau an, jahrelang Verhöre ließen ihn an Körpersprache und Mimik oftmals erkennen, oder zumindest vermuten, ob jemand log oder flunkerte... oder die Wahrheit sagte.
    "Wo waren sie und ihr Mann denn letzte Nacht?" "In unseren Betten. Alle beide." "Würden sie denn merken, wenn ihr Mann nachts zum Beispiel aufstehen würde, und für eine oder zwei Stunden verschwinden würde?", fragte Ben und hatte die Hände im Schoß gefaltet. "Ich weiß es nicht, weil man Mann das noch nie getan hat." Und nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: "Meine Herren, glauben sie wirklich, wir würden das unseren Kindern antun, für 25 Jahre ins Gefängnis zu gehen, um uns an etwas zu rächen, was wir nie mehr rückgängig machen können? Das Leben unserer Töchter ist für immer beeinträchtigt. Zoey war 5, als es passierte... sie haben sie ja gerade gesehen, wie sie reagiert, wenn es nur an der Tür klingelt. Und Kira war 10 und ist jetzt...", die Frau stockte wieder, und die Feindseligkeit von eben schlug um.



    "Was ist mit ihrer älteren Tochter...?", fragte Semir vorsichtig, denn er war betroffen von der Situation... mehr noch als Ben, als Vater von zwei kleinen Mädchen begann sofort bei dem Polizisten das Kopfkino einer solchen schrecklichen Situation. "Kira ist momentan in psychatrischer Behandlung in einer Klinik. Sie hat das ganze noch mehr mitgenommen, weil sie zuerst mit ansehen musste, was ihrer kleinen Schwester angetan wurde. Sie war auf dem Weg der Besserung in diesen 5 Jahren, bis sie vorige Woche einen Rückfall hatte und... und...", plötzlich füllten sich die Augen der Mutter mit Tränen. "Sie hat versucht sich das Leben zu nehmen. Wir haben sie mit einer Überdosis Schlaftabletten und Alkohol hier zu Hause gefunden... deswegen ist sie jetzt wieder in einer Klinik."
    Semir und Ben blickten sich stumm an... Betroffen, geschockt... aber beide Polizisten dachten das Gleiche. Ein solcher Vorfall könnte den Hass auf diesen Mann wieder neu entfachen und das Entlastungsargument "Warum sollte man plötzlich nach einem halben Jahr auf die Idee kommen, den Vergewaltiger der Töchter zu ermorden" entkräften...beide brachten es nicht übers Herz, diesen Sachverhalt der Frau in diesem Moment zu sagen. Sie entschlossen beide stumm, durch Blickkontakt verständigend, zu warten bis es DNA oder Fingerabdrücke an Leiche und eventueller Mordwaffe gibt, bevor sie Vergleichsproben nahmen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Café - 15:00 Uhr



    Juan war ein extrem pünktlicher Mensch, so flapsig und chaotisch er auch manchmal erschien. Ausserdem war er neugierig, was die Freundin des Mannes, den er in Kolumbien begleitet hatte, von ihm wollte. Wirklich nur Fragen zum Hergang, und was sie im Dschungel alles getan hatten? Er hatte sich schon auf ein unangenehmes Gespräch eingestellt, er war kein Psychologe und Jennys Reaktion als er mit Annie zu ihr nach Hause kam um zu erzählen dass Kevin ums Leben gekommen war, hatte er noch gut in Erinnerung. Jetzt saß er im Cafe, hatte die Winterjacke, die er sich sofort nach Ankunft gekauft hat, über die Lehne des Stuhls gelegt und trank einen heißen Kaffee. Jenny schien sich zu verspäten, was bei dem Verkehr da draussen auch kein Wunder war.
    Er hatte Deutschland nicht mehr so kalt in Erinnerung, und hatte das Gefühl zu erfrieren. Jahrelang Kolumbien, wo man keinen richtigen Winter kannte, ausser in den Hochgebirgen, veränderten das Kälteempfinden. Ausserdem war der Kaffee hier im Vergleich zu Bogota hochgradig ungenießbar, doch Juan brauchte das Koffein und Cola verabscheute er. Also biss er in den sauren Apfel und müsste sich zeitnah Kaffee aus Kolumbien importieren lassen. Regelmäßig hielt er Kontakt mit seinen Leuten, doch die Lage im Viertel hatte sich noch nicht beruhigt, immer noch wartete Santos mit gewetzten Messern, dass der Kartellchef wieder zurückkehren würde. "Er wird sich nicht auf ewig verstecken können", soll er gesagt haben.



    Die Tasche mit den 50 000 erweckten in dem Kolumbianer das schlechte Gewissen. Er wusste, dass Kevin das Geld geliehen hatte, sie hatten sich in Kolumbien darüber unterhalten, als Juan versuchte ein wenig hinter die Fassade des schweigsamen Mannes zu schauen. Wer war er? Ein Drogendealer, ein Zuhälter? Er wäre im Leben nicht drauf gekommen, dass Kevin ein Polizist sei und sich derart tief in den Dreck wagte nur um ein Mädchen vor den Drogen und der Prostitution zu retten. Juan kannte aber auch Zack, von dem der Polizist das Geld geliehen hatte und suchte ihn in seiner Kneipe auf. Zuerst war der Clubbesitzer von dem unangekündigten Besuch überrascht, hatte er doch selbst Kevin an Juan vermittelt. Auf die Nachricht, dass Kevin ums Leben gekommen war, reagierte er bestürzt... und einem doppelten Whisky, den sie auf Kevin tranken.
    "Was ist mit dem Geld, dass du ihm geliehen hast?", fragte der Kolumbianer erst noch versteckt... vielleicht siegte in Zack dessen weiche und freundschaftliche Seite über die geschäftliche... es wäre natürlich auch zu Juans Nutzen. Doch auch wenn Zack Freunde niemals hängen ließ, so waren die Freunde seiner Freunde noch lange nicht auf seiner Seite. "Das muss ich wohl woanders eintreiben...", meinte er und Juans Gesichtszüge vereisten. Er warf ihm die Tasche zu, die er mitgebracht hatte, gefüllt mit Zacks Geld. "Gar nichts wirst du. Kevins Umfeld hat genug mit seinem Tod zu knabbern, da können sie dich nicht gebrauchen." Der Clubchef hob beinahe entschuldigend die Arme und setzte ein unschuldiges Grinsen auf. "Ich weiß von nichts..."



    Juan war kein Unmensch. Er war zwar ein Verbrecher, aber sich die menschliche Seite bewahren, zumindest im Bezug auf seine Freunde, war ihm wichtig. Und Kevin gehörte zu seinen Freunden. Er hatte zwar seinen Teil der Abmachung, Annie zu finden, erfüllt... aber im Gegenzug Kevin nicht zurückgebracht. Dass deswegen vielleicht Jenny von Zack belästigt werden würde, ließ ihn schlecht schlafen und auf die 50 000 war er nicht angewiesen. Doch die Sache mit dem Geld verschwieg er, als die junge Frau im Wintermantel in das gut geheizte Kaffee kam und sich ein stilles Wasser bestellte. Die zwei begrüßten sich kurz und flüchtig, und Jenny bot dem eigentlich fremden Mann das "Du" an, weil es sich so leichter reden ließ.
    "Willst du wirklich alles erfahren, was im Dschungel passiert ist?", fragte Juan nochmals nach und wäre froh, er käme um die Erzählung herum. Jenny aber nickte und nippte an dem Glas Wasser, als der Kolumbianer begann... nicht ausführlich, nicht detailliert, aber er vergaß nichts. Wie sie in den Slums nach Annie gesucht hatten, dass er Kevin vor Santos gewarnt hatte. Die Erpressung Santos, der Plan mit Esteban und die Flucht im Dschungel inklusive des Aufenthalts in dem Dschungeldorf. Und natürlich, was Kevin abends im Motel erzählt hatte. "Wenn er von sich aus nicht gesagt hätte, dass er nur noch Annie hätte... dann hätte ich ihn nicht alleine gelassen.", meinte er abschließend. "Er hat erst danach von dem Kind erfahren... und erst am anderen Tag nochmal mit mir telefoniert.", antwortete Jenny leise und strich sich unter dem Tisch sanft über den Bauch.



    "Es... es hört sich vielleicht merkwürdig an... und auch etwas vermessen weil ich ihn nur zwei, drei Tage gekannt habe. Aber Kevin ist mir ans Herz gewachsen dadurch, dass er für einen anderen Menschen soviel riskiert. Es tut mir wirklich sehr leid was passiert ist.", sagte Juan dann nach einem Moment des Schweigens und Jenny blickte den Mann an. Jetzt war der Zeitpunkt, an dem sie den Schritt nach vorne wagen könnte. "Wenn es dir so leid tut... dann könntest du etwas für mich tun.", sagte sie und suchte wieder den Augenkontakt. Juan spürte ein ungutes, mulmiges Gefühl in sich aufsteigen, als ahne er schon, was Jenny vor hatte. "Flieg mit mir nach Kolumbien. Dorthin, wo es passiert ist. Ich brauche einfach Gewissheit..."
    Für einen Moment saßen die beiden still da, bis Juan energisch den Kopf schüttelte. "Vergiss es!" "Bitte..." "Jenny, du wirst keine Gewissheit dort finden. Du wirst eine Brücke sehen im Dschungel, einen Fluß und mehr nicht." Jennys Stimme wurde lebhafter, energischer... beinahe flehend, als klammere sie sich an den letzten Strohhalm Hoffnung. "Vielleicht lebt er noch. Dann finden wir ihn in der Stadt." "Wenn er noch leben würde, hätte er sich doch längst gemeldet."



    Die junge Frau war verzweifelt, das Zwicken in ihrem Bauch wurde stärker, je höher ihr Adrenalin stieg. "Ausserdem ist es dort zu gefährlich. Der Dschungel dort ist Rebellengebiet, und das Viertel ist auch kein Vergnügungspark." "Ich bin Polizistin... ich kann...", doch Juan unterbrach die Frau: "Und du bist schwanger!" Für einen Moment blieben sie still, einige Leute von anderen Tischen schauten bereits, den die Worte hatten sich langsam aufgeschaukelt. "Ich kann nicht zurückkehren.", sagte Juan dann etwas leiser. "Der Kerl, der Kevin umgebracht hat, hat ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht mit der nach Kolumbien fahren." Die letzte Hoffnung, die Jenny hatte, mit Juan nach Kolumbien zu fahren, brach langsam entzwei.
    Der Kolumbianer bemerkte, wie der Kampfgeist der jungen Frau verebbte, und sie innerlich einbrach. "Jenny glaub mir... wenn ich es könnte, hätte ich es längst versucht, ihm zu helfen. Aber es wird dir nichts bringen... du wirst ihn nicht finden.", sagte er nun mit möglichst viel Verständnis in der Stimme, und setzte dann hinzu: "Und selbst wenn er, bei aller Unwahrscheinlichkeit, noch leben würde..." Die junge Frau blickte auf, als Juan diesen Konjunktiv verwendete... "Wenn er erfahren würde, dass ich dich mit seinem Kind im Bauch nach Bogota bringen würde... er würde mich umbringen. Und das zurecht." Er wollte damit nicht seine Angst vor Kevin ausdrücken, sondern sagen, dass Kevin selbst niemals wollen würde, dass Jenny sich in Gefahr bringt. "Ich werde nicht verantwortlich sein, dass dir und deinem Kind dort etwas passiert..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 17:15 Uhr



    Es dunkelte bereits im Büro der beiden Autobahnpolizisten, so dass Semir für die letzten Buchstaben zum Abtippen der Zeugenaussagen doch noch die Schreibtischlampe anknipsen musste. Ansonsten wurde der Raum von den großen Monitoren an der Wand hinter Ben beleuchtet, die kühle Deckenbeleuchtung, bestehend aus Neonröhren, benutzten die beiden Kommissare nie. Sie waren vorhin bei Anna Engelhardt, die jetzt bereits Feierabend hatte, und berichteten was sie bisher zu dem Mordfall Heribert Greuler herausgefunden hatten... also war das Gespräch recht schnell beendet. "Glauben sie, die Mutter der beiden Mädchen käme als potentielle Täterin in Frage?", fragte sie zum Abschluß des Gespräches. Semir zuckte mit den Schultern und setzte einen skeptischen Gesichtsausdruck auf. "Ich weiß nicht. Wenn man so wütend auf einen Menschen ist, der seinen Kindern etwas angetan hat... dann sticht man vielleicht ein paar Mal mit dem Messer zu... aber dann gerät man in Panik, man versucht die Leiche verschwinden zu lassen... man ist es doch nicht gewöhnt, jemanden umzubringen." Ben stimmte seinem Partner nickend zu, als dieser fortfuhr: "Aber man bindet die Leiche dann doch nicht in dieser Haltung an die Autobahnbrücke und weidet sie aus. Das ist doch viel zu geplant und beabsichtigt." "Und selbst wenn sie ihn auf diese Weise hätte quälen wollen, und ihr würden diese Skrupel fehlen, glaube ich, dass sie in diesem Kontext noch ganz was anderes... entfernt hätte.", fügte Ben an, und machte mit Zeige- und Mittelfinger eine Scherenbewegung.



    "Vielen Dank für den Gedankengang, Herr Jäger...", meinte die Chefin ein wenig ironisch. "Im Ernst. Ich glaube eher dass wir es hier mit ganz was anderem zu tun haben. Vielleicht ein Mafiamord... die lassen sich doch immer mal etwas abscheuchliches einfallen, um abzuschrecken. Vielleicht sollten wir uns morgen mal umhören, mit wem Greuler im Knast so Kontakt hatte." "Als Kinderschänder? Vermutlich nicht alzu viel... aber versuchen können wir es mal." Die Chefin verabschiedete sich danach, und jetzt, kurz vor Feierabend, warf auch Semir seine dick gefütterte Jacke um die Schultern. "Andrea ist heute mit den Kleinen schwimmen. Für ein Bierchen hätte ich noch Zeit.", meinte Semir in Richtung seines Partners, der seinen Monitor ausschaltete, und ebenfalls die Jacke anzog. "Ich bekomme jetzt noch Besuch.", entschuldigte der sich.
    Semir lächelte, zog eine Augenbraue hoch und drehte den Kopf ein wenig: "Oh... Kann man behilflich sein?" "Ganz sicher nicht, Casanova. Ich hab Carina zum Essen eingeladen, ganz gemütlich.", meinte Ben lächelnd ob des Scherzes seines besten Freundes. Der hatte überhaupt kein Problem damit, auf das Feierabendbier mit Ben zu verzichten, ob solch einer Alternative für seinen Partner. "Na, dann wünsche ich euch guten Appetit.", sagte er und die beiden verabschiedeten sich auf dem Parkplatz vor der Dienststelle.



    Während Semir den Heimweg antrat, nahm Ben einen Umweg durch die Stadt um noch das Essen und einen guten Wein einzukaufen. Er hatte davon eigentlich wenig Ahnung, weil er kein Weintrinker war, also ließ er sich im Fachgeschäft beraten und hoffte, damit auch Carinas Geschmack zu treffen. Die Wahl fiel auf einen Weißwein, der gut zu Pasta passen sollte. Zuhause sprang er schnell unter die Dusche und knöpfte sich gerade danach das Hemd zu, als es an der Tür klingelte. Über den Summer ließ Ben die Haustür aufschnappen, und Carina fuhr mit dem Fahrstuhl in die zweite Etage des Hauses, wo Ben seine teuere Wohnung hatte. Die junge blonde Frau war verhüllt in einen Wintermantel, den sie mit Bens Hilfe, nachdem sie sich mit beinahe scheuen Küssen auf die Wange begrüßt hatten, entgegen nahm und zur Garderobe trug.
    "Guck mal, den hab ich zum Essen mitgebracht... ich kenn mich eigentlich nicht aus, aber im Geschäft haben sie gesagt, der würde gut zum Essen passen.", sagte Carina und zog aus einer Art Geschenktüte exakt die gleiche Flasche Wein, die Ben vor einer Stunde gekauft hatte. Die beiden lachten über diesen lustigen Zufall und begannen gemeinsam zu kochen. Ben briet Scampis mit Zwiebeln in einer Pfanne an, während Carina die Tomaten würfelte, die sie danach dazu gab. Im Topf daneben kochten die Spaghetti gemütlich vor sich hin.



    Ben tat es gut, den Alltag ein wenig zu vergessen, auch wenn Carina ihn während des Essens auch mal fragte, wie sein Tag war. Er vermied es, über den abscheulichen Mord zu berichten, und er war froh, dass er für ein paar Stunden auch mal von den Gedanken um Kevin abgelenkt war. Carina ging es ebenso. Der schmerzvolle Verlust ihrer Mutter und ihres Bruders steckte noch immer tief in ihrem Herzen, aber sie verarbeitete diesen Verlust, in dem sie langsam begann, wieder für sich zu leben nachdem sie die letzten Jahre damit verbracht hatte, ihre Mutter liebevoll zu pflegen... und damit sehr viel auf ihre Schultern geladen hatte, psychisch und physisch. Dieser ganze Druck, diese ganze Last schien abzufallen und half, die Trauer zu verarbeiten.
    Carina kam nur langsam aus ihrem Schneckenhaus heraus, und Ben hatte ihr die letzten Wochen, selbst unter Kevins Verlust leidend, damit geholfen... und half sich dabei selbst. Er hatte sie begleitet, als sie die Formalitäten zu beiden Beerdigungen erledigt hatte, die Formalitäten zum Erbe und ähnliches. Ausserdem war sie seit Ewigkeiten mal wieder aus, sie waren zusammen shoppen und gingen abends ins Kino. Ja, sie hatten sich mehr als nur angefreundet, Ben konnte die Schmetterlinge im Bauch, wenn er bei Carina war, nicht mehr verleugnen. Wo er vor Wochen noch unsicher war, ob es "nur" Mitleid und Hilfsbereitschaft war, war er sich jetzt sicher... er hatte sich verliebt. Nur ob Carina mehr als nur Freundschaft sah, wusste er nicht.



    Für Carina dagegen war Ben sowas wie der rettende Engel, als alles um sie herum einstürzte. Wie eine Schutzhaube, die sie über sich zog, damit die Gesteinsbrocken, die von oben herab fielen, sie schützte. Nicht nur, dass sie ihm beistand, während den Ermittlungen um den Mord an ihrem Bruder, sondern auch nach dem Tod der Mutter. Die junge Frau hatte niemanden mehr und spielte ernsthaft nach der Beerdigung ihrer Mutter aus Köln wegzuziehen, das Haus zu verkaufen, alles hinter sich zu lassen. Doch diese Person, dieser Polizist mit den Wuschelhaaren, hielt sie davon ab. Mit dem sie endlich wieder lachen konnte, was sie zuletzt vor allem mit ihrem Bruder getan hatte, bei dem sie sie selbst sein konnte und wieder ihre Fröhlichkeit zu erlangte. Sie fühlte sich in den letzten Monaten nicht als starke Frau obwohl Ben ihr mehrmals sagte, dass er beeindruckt war und ist, wie sich Carina um ihre demenzkranke Mutter gekümmert hatte, während ihr Bruder das Geld verdiente.
    Sie redeten nach dem Essen bei einem Gläschen Wein am Essenstisch so viel, dass der Uhrzeiger in Rekordzeit über die Zahlen zu fliegen schien. Carina erzählte von ihrer Kindheit, dass sie auf dem Land aufgewachsen war, bis ihre Eltern und ihr Bruder in die Stadt zogen, dass sie eigentlich Tierärztin werden wollte, und sich so vieles geändert hatte, als ihr Vater gestorben war. Ben wiederrum erzählte von seiner Kindheit, dass es schwer war unter seinem millionenschweren Vater, der den Sohn als Polizisten nur schwer akzeptieren konnte. Dabei schämte sich der junge Kommissar immer ein wenig, weil er etwas als Belastung empfand, um das andere, die es schwerer hatten, beneideten. Er hätte einen ganz leichten Weg gehen können, bei seinem Vater arbeiten und irgendwann die Firma übernehmen... er wählte den schwereren.



    "Ich finde das toll, dass du das gemacht hast... und deinen eigenen Weg gegangen bist.", sagte Carina lächelnd und ergriff, ganz automatisch, Bens Hand, die auf dem Tisch lag. Es war nur eine Berührung, eine Geste, die in Ben eine Gänsehaut auslöste. Er war bei Frauen normalerweise immer recht locker, flirtete gerne und meist mit (mehr oder weniger erfolgreichen) flapsigen Sprüchen. Bei dieser Frau, die so herrlich "normal" erschien wie Carina, empfand er das zum ersten Mal als unangebracht. Natürlich scherzte er auch mit ihr, trotzdem war es anders. Und als sie jetzt seine Hand ergriff, war er so perplex, dass er für einen Moment nicht wusste, wie er reagieren sollte.
    Carina nahm ihm die Entscheidung ab, als sie auf die Uhr sah und meinte: "Puh, es ist schon spät... ich sollte vielleicht nach Hause fahren." Der Zeiger der Uhr zeigte bereits kurz vor Mitternacht an und Ben hätte schwören können, nach seinem Gefühl wäre es erst kurz nach zehn. "Soll ich dir noch helfen mit Abräumen?" "Ach was, das mach ich gleich.", sagte Ben schnell und winkte ab, spürte seinen Herzschlag als er Carina ansah. Er wollte nicht, dass sie ging. Er wollte, dass sie bei ihr blieb, einfach nur mal nicht die ganze Nacht alleine sein. Und auch die junge Frau bewegte sich vom Stuhl weg zur Garderobe so zögerlich, als spüre sie die Anziehungskraft. Sie hatte die Jacke bereits angezogen, stand auf dem Weg zur Tür als die beiden sich zum Abschied nochmal feste umarmen: "Es war ein wunderschöner Abend.", sagte Carina und blickte dabei tief in Bens Augen. Er kannte diese Aufgeregtheit, diese Hemmung, die er gerade empfand überhaupt nicht... und er war es nicht gewohnt, Überwindung aufzubringen... trotzdem tat er es. Es war wie eine Aufforderung, als Carina leicht nach oben sah und die Augen schloß... eine Aufforderung, die Ben sich nicht zweimal geben ließ, eine Erleichterung die Grenze zu überwinden, und die Frau in seinen Armen zu küssen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Tiefgarage - 21:00 Uhr



    Bernd Trauge hatte das Handy fest am Ohr, seine Stimme war eine Mischung aus Erregung und ein wenig Angespanntheit. Er trat gerade aus dem Aufzug in der Tiefgarage, die unter dem großen Bürogebäude der deutschen Bank lag. "Nein, Frau Zimmer. Sie rechnen die Sachen morgen früh genauso ab, wie ich es ihnen gesagt habe." Im feinsten Anzug, teurer Uhr und einem blitzenden Ring am Finger schritt der führende Manager der größten Bank durch die Kälte der dunkel-schummrigen Tiefgarage. Es waren nur noch wenige Autos da, er hatte länger gearbeitet, weil er noch ein wichtiges Geschäft mit einem Geschäftspartner aus Amerika abschließen musste, und in New York war es gerade mal 15 Uhr am frühen Nachmittag.
    "Natürlich ist das nicht vorteilhaft für den Kunden. Aber es ist vorteilhaft für uns, verstehen sie? Wir arbeiten in erster Linie geschäftsorientiert und erst DANN kundenorientiert. Herr im Himmel, wie oft muss ich ihnen das noch erklären." An der großen dunklen Audi-Limousine, die ihn vor einigen Wochen knapp 90.000 Euro gekostet hatte, blieb Trauge stehen. Der Empfang des Handys war hier bereits schlecht genug, wenn er jetzt ins Auto einsteigen würde, würde er die junge Bank-Angestellte, die er gerade zur Bilanzenfälschung anstiftete , gar nicht mehr verstehen.



    "Illegal? Frau Zimmer...", Bernd Trauge stöhnte genervt auf und verdrehte die Augen. "Hören sie mir mal zu. Entweder, sie tun das was ich ihnen sage und rechnen die Sachen morgen EXAKT so ab, wie wir es vor 4 Stunden besprochen haben, oder sie können sich einen neuen Job suchen. Und mit kurzen Röckchen retten sie sich bei mir dann auch nicht mehr. Und es ist mir auch egal, ob sie heute nacht schlecht schlafen können, solange sie morgen hellwach sind." Trauges Stimme knurrte, sie war kräftig wie sein Erscheinungsbild und respekteinflössend. Danach hatte er der eingeschüchterten jungen Frau nichts mehr zu sagen und beendete das Gespräch.
    Bernd Trauge hatte im Leben bisher alles erreicht, was er erreichen wollte. Er hatte weder Frau noch Kinder, dafür ständig wechselnde Bekanntschaften und Affären. Durch harte Arbeit und kluge Kontakte hatte er es in dem großen Konzern bis in die oberen Etagen geschafft und war man erstmal dort, brauchte man keine harte Arbeit mehr. Kluges Verhandeln, einen Schuss kriminellen Charakter und man verdiente sich eine goldene Nase auf Kosten der Kunden. Trauge kassierte Provisionen für Beratungen, die den sicheren Ruin von Anlegern bedeutete, die aber in den Bilanzen niemals auftauchte. Bei dem Gedanken rückte er lächelnd seine Krawatte zurecht, als er in die verspiegelte Seitenscheibe seines Luxusautos blickte. Wie gesagt... kluge Kontakte musste man haben.



    Die weiße Gestalt, die in der Tiefgarage nur auf ihn zu warten schien, nahm er in der verspiegelten Scheibe erst wahr, als sie direkt hinter ihm stand. Für einen Moment fühlte sich Trauge wie in einem Horrorfilm, bei der die typische Szene aller Szenen passierte. Man sah in den Spiegel, und hinter sich manifestierte sich eine unheimliche Gestalt... eine weiße Kapuze, kein Gesicht zu erkennen, fast so groß wie er selbst. Doch in den Filmen erschrak man nur, man drehte sich um und die Person war fort. Als Bernd Trauge sich umdrehte, war die Person immer noch da. Und obwohl er direkt in die Kapuze sah, konnte er nur Schemen des Gesichtes sehen, das mit weißer Farbe so grell überschminkt war, dass nur der rote Mund und die blauen Augen herausstachen.
    Noch bevor der Bankmanager mit einem überraschten Ausruf oder der Frage: "Was wollen sie von mir?" reagieren konnte, nahm er nur eine kurze Armbewegung der Gestalt war. Der brennende, atemraubende Schmerz im Bauch folgte sofort danach, denn die leuchtend wirkende Gestalt stach mit dem scharfen Messer blitzschnell zu... einmal, zweimal. Er zog das Messer so schnell wieder zurück, das kein Tropfen Blut an der Hand oder dem Ärmel des weißen Kapuzenpullovers zu sehen war, denn es dauerte wenige Sekunden, bis das Blut aus den beiden Stichen begann, heraus zu strömen.



    Wie in einem Reflex presste der Mann sich beide Hände auf die Wunde und vor Schmerz gaben die zitternden Beine nach. Klackernd fiel das Handy, das er eben noch in der Hand hielt, auf den Asphalt. Geschockt, unfähig ein Wort zu sagen, fiel Bernd Trauge auf die Knie... eine Haltung, die er in seinem Leben niemals hatte annehmen müssen. "Vater Unser im Himmel, geheiligt werde dein Name...", flüsterte es aus der Kapuze, die sich auffallend langsam um den knienden, stöhnenden Mann herum ging. "Herr, ich tue deine Pflicht. Vergib ihm seine Schuld." Das Atmen des Mannes wurde schneller und schneller, panisch und zitternd versuchte er das Blut aus seinem Bauch, was nun immer mehr und mehr wurde, und bereits eine kleine Pfütze vor ihm bildete, zurück zu halten.
    Als die Gestalt hinter Bernd Trauge stand, packte die weiße Hand den Mann an den Haaren, so dass dieser wieder schmerzvoll aufstöhnte. "Was... was tun sie da... warum?", hechelte er nun doch einige Worte heraus. Vergessen waren die gefälschten Bilanzen, seine luxuriöse Villa oder sein Sportwagen. Vergessen seine junge Mitarbeiterin, die er unter Druck setzte und vergessen aller Reichtum, den er besaß. Gerade sah er nur den Asphalt vor sich, spürte er sein warmes Blut an den Händen und den brennenden Schmerz, der sich durch den gesamten Körper verbreitete.



    "Sssscht...", machte die Stimme hinter ihm und zog den Kopf zurück. "Ich bin der Diener meines Herrn. Ich richte für ihn. Ich tue das, was er versäumt hat.", flüsterte sie wieder und Bernd schloß krampfhaft die Augen... er konnte sich beinahe ausmalen, was gleich geschehen würde. "Sie sind nicht rein, die Hierachie der Engel kennt kein Platz für sie. Der freie Wille knüpft den Strick und wirft sie dann ins Meer zurück..." Mit diesen Worten und einer schnellen Handbewegung wurde dem Bank-Manager die Luftzufuhr abgeschnitten. Es fühlte sich für ihn so an, als würde man ihm den Hals zudrücken, als würde sein Mund plötzlich mit Spucke volllaufen, doch es war Blut. Weil er japsend den Mund aufriss, konnte es unkontrolliert den Weg über seine Unterlippe nach draussen finden und vermengte sich mit dem Fluß, der nun den offenen Schnitt an seiner Luftröhre und der Halsschlagader verlief.
    Der Engel öffnete seine Hand, und Trauge kollabierte, in dem er zur Seite in sein eigenes Blut fiel. Dort röchelte und zuckte der Mann noch wenige Minuten, erstickte qualvoll, während die weiße Gestalt betend und zufrieden auf die erfüllte Aufgabe blickte. "Der Herr ist dir nicht gnädig. Deine schwarze Seele wird in die Scheol verbannt... Amen."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Tiefgarage - 6:00 Uhr



    Roland Meisner fuhr als Beifahrer in dem Kleinbus gerade durch die Schranke der Tiefgarage. Das weiß-rot kursiv gestreifte Brett, das verhindern soll, dass zu große Fahrzeuge in die Tiefgarage hineinfahren, wurde nur knapp verfehlt. "Na... heute ein neuer Versuch?", fragte er den Fahrer, jenen jungen Beamten, der gestern morgen den Einsatz abbrechen musste, weil er sich beim Anblick und ersten Arbeiten um die Leiche herum übergeben musste. Heute war er voller Tatendrang, hatte extra nichts gefrühstückt und wollte so eine Schmach nicht nochmal erleben. "Ja, Chef. Heute reiße ich mich zusammen, versprochen." Im ersten Untergeschoss hielten die beiden Wagen der Tatortaufnahme, ein Krankenwagen stand schon dort, sowie zwei Streifenwagen, die von dem Hausmeister der Tiefgarage, der beim letzten Kontrollgang vor Schichtende die Leiche entdeckt hatte, gerufen wurde.
    Schon beim Näherkommen wurde der junge Beamte wieder blaß um die Nase. Meisner, in weiser Voraussicht um das Wohlbefinden seines Schützlings bedacht, stoppte einige Meter vorher. "Schau du dich mal da hinten um, okay? Ich ruf dich, wenn ich was brauche." "J... ja, Chef.", stotterte der junge Mann und drehte sofort ab. Was er gesehen hatte, reichte im wieder vollkommen. Meisner, Mitfünfziger und absolut hartgesottener Rechtsmediziner, spürte nur ein leicht flaues Gefühl im Magen. Als er dann an dem Wagen stand, die Leiche auf der Motorhaube vor sich und nur einen Blick darauf warf, drehte er sich zu einem Streifenbeamten um, der daneben stand... und ebenfalls ein wenig blass war. "Ruf bitte auf dem Autobahnrevier 11 an. Die sollen Semir Gerkhan und Ben Jäger schnellstmöglich hierher schicken."




    Dienststelle - 7:00 Uhr



    7:00 Uhr war offizieller Dienstbeginn, auch wenn die beiden Kripo-Beamten natürlich Gleitzeit hatten. Diese wurde auch regelmäßig überzogen, so dass Semir vermutlich nur durch Überstunden knapp drei oder vier Monate früher in Rente gehen konnte. Manchmal hatte er diese Gedanken und stellte mit Erschrecken fest, dass der Begriff Rente immer präsenter wurde, und die Zahl der Jahre bis dahin nur noch einstellig war. Er war meist schon kurz vor 7 Uhr da, sein Partner schwankte in der Dienstbeginnzeit zwischen halb 8 und 9... je nach "Wetterlage", wie Semir es scherzhaft bezeichnete. Das war heute nicht anders, der erfahrene Kommissar war als erstes im Büro, wechselte an der Kaffeemaschine das Wasser und ließ die erste Tasse des Tages durchlaufen. Im Büro brannten nur die Tischlampen, das helle Neonlicht ließen sie meist aus.
    Dass allerdings so früh bereits ernsthafte Arbeit auf ihn wartete, war neu. Bonrath steckte den Kopf zur Tür herein. "Semir, wir haben da einen Anruf von der Rechtsmedizin." "Ah, gibts was Neues zu dem Toten an der Autobahnbrücke?", fragte er sofort, denn er wartete noch auf Meisners Abschlussbericht, doch der lange Streifenpolizist schüttelte den Kopf. "Nein, ihr sollt mal sofort zur Tiefgarage der deutschen Bank in die Innenstadt kommen. Es klang dringend." Verwunderung legte sich auf das Gesicht des Polizisten. Deutsche Bank? Innenstadt? Das war doch gar nicht ihr Bezirk. "Alles klar, ich mach mich auf den Weg."



    Auf dem Weg zu seinem Dienstwagen wählte er die Rufnummer seines Partners, doch die säuselnde Frauenstimme verkündete ihm nur, dass die Mailbox sich aktiv schaltete. "Guten Morgen an die Mittagsschicht. Falls du nach dem Frühstück etwas Zeit aufbringen kannst, dann komm zur Tiefgarage der deutschen Bank in die Innenstadt. Meisner hat uns angerufen. Schöne Grüße.", sprach er auf den modernen Anrufbeantworter, und nahm Kurs auf die Innenstadt von Köln. Draussen wurde es nur langsam hell, die Scheiben beschlugen ob der Kälte und die Bäume würden noch eine Zeitlang kahl bleiben, wenn sich das Wetter nicht endlich ändern würde. Bereits im ersten Untergeschoss sah er einige Kollegen in weißen Anzügen, die nach Spuren suchten, gelbe Pappkärtchen mit Nummern aufstellten und um ein Auto herumstanden.
    Semir parkte seinen Dienstwagen und stieg aus, der Weg bis zu Meisner war nicht weit. "Morgen Meisner. Was..." soll ich eigentlich hier, wollte Semir fragen, doch ein Blick auf die Leiche, die ausgebreitet auf der langen Motorhaube des Luxusauto lag, ließ die Frage erübrigen.



    Das Hemd aufgeschnitten, ein langer Schnitt vom Brustbein bis zum geöffneten Hosenknopf. Überall bräunlich getrocknetes Blut, und ein Teil der Gedärme lugte rechts und links des Schnittes heraus. "Genau deshalb.", beantwortete Meisner die Frage, während er sich Notizen machte. Die Arme des Toten waren nach rechts und links ausgebreitet, die Beine zusammen... ähnlich, wie die Leiche am Brückengeländer. "Dann können wir unsere Theorie der Racheeltern wohl beerdigen.", murmelte Semir seine Gedanken laut aus, und sah in einer Mischung aus leichter Anwiderung und Grauen auf die Leiche, deren Augen weit aufgerissen waren. Neben dem Schnitt in Bauchbereich war ein weiterer Einstich zu sehen, ausserdem wurde ihm die Kehle aufgeschlitzt, was die große Sauerei rund um das Auto und auf der Motorhaube erklärte.
    "Todeszeitpunkt nach erstem Erkenntnis schon 8 bis 12 Stunden her. Also zwischen 19 und 23 Uhr. Schätze aber eher später, denn sonst hätte die Sauerei hier jemand früher bemerkt. Der Hausmeister hat ihn bei seinem letzten Kontrollgang vor Schichtwechsel gefunden." "Ein Hausmeister mit Nachtdienst in einem Gebäude, wo nachts eigentlich keiner arbeitet? Was ist denn das für ein Quatsch?", fragte der Polizist und Meisner klärte ihn auf, dass die Tiefgarage auch für Besucher ist, und somit 24h geöffnet.



    "Diesmal scheinen keine Innereien zu fehlen... ob sie mit Gewalt an die Oberfläche gezogen wurden, oder von selbst hervorkamen... weiß nicht, ob wir das nachträglich feststellen können.", erklärte der Rechtsmediziner und wies mit seinem Kugelschreiber in Richtung der beinahe künstlich aussehnden Organe. "Todesursache ist entweder der Blutverlust durch den aufgeschlitzten Torso, oder Tod durch Ersticken und Blutverlust durch den Kehlenschnitt. Beides war zeitlich dicht beieinander, weswegen ich nicht sagen kann, was nun zuerst passierte, und ob das Opfer bei dem jeweils zweiten Vorgang nicht schon tot war." Semir schrieb sich ebenfalls einige Notizen mit, doch Meisner hielt ihn an, dass alles in seinem Bericht stehen würde.
    "Wo ist eigentlich dein Partner?" "Ach, Meisner... das ist einfach noch nicht seine Zeit.", meinte der erfahrene Polizist sarkastisch und grinste. Dann ging er nachdenklich um das Auto herum und blieb neben der Beifahrertür mit Blick auf die Haube stehen. "Die Stellung... die Arme ausgestreckt, die Füße zusammen. Erinnert mich irgendwie..." Semir überlegte kurz "an ein Kreuz... Satanisten?" Meisner blickte auf: "Satanisten hängen das Kreuz aber für gewöhnlich verkehrt herum auf." "Naja, das kommt drauf an, von wo man guckt... von hier ist es verkehrt herum." Roland Meisner blickte etwas arggewöhnisch von seinem Zettel auf. "Normalerweise stehst du aber vor dem Auto... ansonsten kannst du es dir ja drehen wie du willst, was ergibt das für einen Sinn? Jedenfalls haben wir weder mit blutbeschmierte Pentagramme, noch geopferte Katzen gefunden, falls du fragst."



    Langsam ging der Kommissar wieder zurück zu Meisner und blickte auf die Leiche. "Eine Kreuzigung?", meinte er dann nachdenklich. "Fehlt nur das Kreuz...", ergänzte der Rechtsmediziner und übergab dem Polizisten den Personalausweis, den sie zu den Füßen des Toten gefunden hatten. Bernd Trauge, wohnhaft in einer feudalen Gegend um Köln, auch die teure Uhr am Handgelenk sowie der Anzug und das Auto deuteten daraufhin, dass er in der Bank nicht nur als Schalterbeamter gearbeitet hatte. "Die Morde hängen definitiv zusammen. Das wird morgen von der Presse ausgeschlachtet, dass ihr richtig Druck bekommt auf der Dienststelle.", sagte Meisner, wobei er das Wort "ausgeschlachtet" ironisch betonte. "Ja, ich kanns mir vorstellen.", murrte Semir missmutig...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Ben's Wohnung - 8:30 Uhr



    Es war ein so schönes Gefühl, gemeinsam einzuschlafen... auch wenn das Erwachen aus diesem süßen Schlaf ein kleiner Schock war. Ben spürte noch die Arme von Carina um seinen muskulösen nackten Oberkörper, als er in die ersten Sonnenstrahlen blinzelte, die durch das Fenster auf sein Gesicht strahlten, und ihn somit aufweckten. Sein erster Blick fiel auf die Zahlen seines Digitalweckers, und diese zeigten die totale Pleite an. Bereits seit über einer Stunde sollte er im Büro sein. "Oh nein...", stöhnte er, und es entsprach überhaupt nicht seinen momentanen Glücksgefühlen, die überall im Körper verteilt waren. Carina neben ihm wurde von den Geräuschen ebenfalls wach, sie lag dicht an den Polizisten gedrückt und umklammerte ihn, als wolle sie ihn nicht mehr los lassen.
    "Hmm... was ist denn?", fragte sie im Halbschlaf und obwohl Ben nach der ersten gemeinsamen Nacht mit der jungen Frau am liebsten bis heute mittag mit ihr im Bett geblieben wäre, gab er ihr einen Kuss und entzog sich dem angenehmen Griff. "Ich müsste schon längst im Revier sein... verdammt...", murrte er schläfrig, stieg nackt aus dem Bett, war innerhalb von 5 Minuten Dusche wieder aus dem Badezimmer raus und angelte sich aus dem Schrank Unterwäsche, bevor er seine Kleidung, die durch das komplette Zimmer verstreut war, zusammen suchte.



    Langsam wurde auch Carina wacher, sie setzte sich im Bett auf und zog sich die Decke nach oben über ihren nackten Oberkörper. "Schade...", sagte sie lächelnd als sie beobachtete, wie Ben sich hektisch anzog. "Tut mir leid... aber wir sehen uns doch heute abend, oder?", fragte er dann, als er sich ein Langarmshirt über den Kopf zog und dann auf dem Bett sitzend die Schuhe anzog. Dabei schmiegte sich Carina noch mal an ihn, umarmte ihn von hinten und küsste zärtlich sein Hals. "Natürlich." Für einen Moment ließ der Polizist sich dann doch nochmal Zeit, lehnte sich nach hinten und das junge Pärchen küsste sich nochmal innig. Wieder vergaß Ben alles um sich herum, so wie es gestern abend auch schon passiert war.
    Trotzdem musste er jetzt los. Schweren Herzens verabschiedete er sich von Carina, die nun auch aufstand, denn es war ihr doch ein wenig unangenehm ganz alleine in Bens Wohnung, die ja doch noch ein wenig fremd für sie war, zu sein. Mit schnellen Schritten lief er das Treppenhaus herunter in die Tiefgarage und startete dann seinen Dienstwagen. Auf dem Weg nach draussen schaltete er das Handy ein und sah auch gleich die neue Mailbox-Nachricht, die er über die Freisprecheinrichtung abhörte. Mit einem Blick auf die Uhr entschied er sich, nicht mehr zur deutschen Bank zu fahren, weil Semir dort vermutlich längst fertig war, und nahm den direkten Weg zur Dienststelle.



    Es fühlte sich so gut an, gestern abend mit Carina eingeschlafen zu sein. Sie hatten gekocht, sie hatten geredet und völlig die Zeit vergessen. Irgendwann wollte die junge Blondine dann doch den Nachhauseweg antreten, und Ben war endlich über seinen Schatten gesprungen. Was danach passierte, konnten beide nicht planen, sie ließen sich einfach fallen, schweben und ihren Gefühlen freien Lauf. Ben wusste gar nicht mehr, wer angefangen hatte, den jeweils anderen auszuziehen, erst auf die Couch und später ins Bett zu ziehen, während der andere sich nicht gewehrt hatte und die Einladung dankend annahm. Er wusste nur, dass sie eine wunderschöne Nacht verbracht hatten, irgendwann eng umschlungen eingeschlafen sind und er jetzt viel zu spät aufgewacht war.
    Die Autobahn lichtete sich langsam vom morgendlichen Berufsverkehr und das Ziel für Ben rückte näher. Auf dem Parkplatz sah er gleich, dass seine Vermutung wohl gestimmt hatte... Semirs BMW stand auf dessen Parkplatz, und die Armbanduhr zeigte bereits kurz nach 9. Ein prüfender Griff auf die Motorhaube des silbernen Dienstwagens... noch warm. Sein Partner war also gerade erst zurückgekommen. Ben stellte sich schon mal auf erwartbaren Anschiss ein, und kam mit noch zotteligeren Haaren als sonst in das Großraumbüro gelaufen.



    Semir stand mit dem Rücken zu ihm in der Tür des Chefin-Büros, und sein Partner tauchte langsam mit einem entschuldigenden "Morgen" neben ihm auf. "Ach ne... Morgen.", sagte der kleine Polizist und sah zu seinem besten Freund auf, wobei er ein wenig die Stirn in Falten zog, ob Bens Auftreten... die Haare abstehend, ein wenig schläfrig noch. "Herr Jäger, so langsam müssen wir mal über ihre Dienstbeginnzeiten reden.", meinte die Chefin kritisch, wollte aber wieder zurück zum Thema kommen, und überließ ihrem besten Beamten wieder das Wort. "Also, die Frau war extrem geschockt, konnte aber ein paar Aussagen machen. Fürsorglich, liebevoll, nach aussen hin aber bestimmt, trotzdem beliebt. Sie hat einen glaubhaften Eindruck vermittelt. Das Kind war in der Schule."
    Ben verstand nicht ganz um was es ging, aber er hörte weiterhin aufmerksam zu, auch wenn ihm ständig Carina in seine Gedanken hineinfunkte. "Also kann man davon ausgehen, dass der Mord an dem gerade freigelassenen Kinderschänder nur ein riesengroßer Zufall war, und keine Rache?", fragte die Chefin und Semir zuckte mit den Schultern: "Zumindest keine Rache von Betroffenen. Vielleicht hat dieser Trauge andere Leichen im Keller, von denen wir noch nichts wissen... aber der Mörder. Ansonsten hätten wir einen zufällig mordenden Serienkiller, dann können wir uns gratulieren." "Gut... ich fordere Unterstützung von der Mordkommission an.", sagte die Chefin und wollte schon zum Telefonhörer greifen.



    "Ähm... entschuldigt... kann mich mal jemand aufklären?", fragte Ben nun doch verwirrt, denn der Name "Trauge" war ihm überhaupt nicht geläufig. "Wir haben einen zweiten Mord.", sagte Semir in aller Kürze und zeigte ein Tatortbild von seinem Smartphone, was den aufgeschlitzten Leichnam zeigte. "Oh...", machte Ben und verzog bei dem Anblick ein wenig das Gesicht. "Ein Bank-Manager mit... noch... blütenweißer Weste." "Ich denke, es wird das Beste sein, den Toten mal genauer unter die Lupe zu nehmen, meine Herren. Wenn wir da irgendetwas finden, haben wir vielleicht ein Motiv.", sagte die Chefin mit dem Hörer in der Hand und die beiden Polizisten nickten, wobei Semir nochmal auf Ben blickte: "Na wenigstens scheinst du dich heute morgen beeilt zu haben.", merkte der kleine Polizist an, und Ben verstand nicht so recht.
    Quasi als Erklärung griff Semir das Schildchen des Langarmshirts, das Ben am Brustkragen hervorstand, und eigentlich auf den Rücken gehörte... in der Eile hatte der Polizist das Oberteil falsch herum angezogen, was er jetzt erst bemerkte. "Ach du Scheisse...", murmelte er und trat sofort und mit Eile den Weg ins eigene Büro an. Während Anna Engelhardt den Kopf schüttelte, folgte Semir seinem Freund grinsend ins Büro, wo Ben bereits das Shirt ausgezogen und gewendet hatte. Um ihn noch ein wenig zu ärgern, sah Semir nochmal genau hin... "Sag mal, hast du wieder auf dem Parkplatz rumgeknutscht?" "Hää?" "Alles voller Lippenstift..." Er zog ein Taschentuch aus der Jeans und tat so, als würde er draufspucken, wie es die Omas früher bei den Jungs immer gemacht haben, wenn sie sich mit Essen eingesaut hatten, und hob es in Richtung Bens Hals, der sofort die Hände abwehrend hochhielt: "Hör auf! Aus!! WEG!!", während Semir sich köstlich amüsierte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienstelle - 9:30 Uhr



    Ben hatte sich wieder konzentriert, nachdem Semir seine Neckerei mit seinem Auftreten hatte. Das Shirt richtig herum am Oberkörper, den ganz leicht zu sehenden Lippenstift von Carina, als sie ihm den Kuss auf den Hals eben gegeben hatte, hatte er abgewischt. Sie hatte sich gestern abend nicht mehr abgeschminkt und war, wie sie war, heute morgen wach geworden. Jetzt saß der Polizist, mit einer Tasse Kaffee bewaffnet, am Schreibtisch und betrachtete die Fotos des Tatorts, die Meisner über sein Handy bereits geschickt hatte. Semir stand mit verschränkten Armen hinter ihm, und sah sie sich ebenfalls nochmal an. "Das ist doch eindeutig eine Handschrift. Der aufgeschlitzte Oberkörper, die Lage der Leiche...", murmelte Ben in seine Kaffeetasse. "Neu ist nur der Bauchstich und der Kehlenschnitt.", gab sein Partner zur Antwort.
    Irgendwann lehnte Ben sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme ebenfalls. "Auf der Brücke konnte er sein Opfer fixieren. Hier nicht... vielleicht musste er es deshalb erst "ausschalten."", meinte der junge Kommissar nachdenklich und klickte das Bild dann irgendwann weg, den sonderlich schön war die ganze Sache trotzdem nicht anzusehen, auch wenn beide Polizisten einiges Schlimmeres gewohnt waren. Bei Unfällen auf der Autobahn von LKWs gegen Motorräder gab es weitaus hässlichere Bilder zu sehen.



    "Glaubst du, wir haben es mit dem gleichen Täter zu tun?", fragte Ben und schaute nach hinten zu Semir, der dann langsam und nachdenklich wieder zurück in Richtung seines Platzes ging. "Das glaube ich ganz sicher. Das wäre sonst ein Riesenzufall. Fraglich ist jetzt nur, wie die beiden Opfer zusammenhängen. Der eine ein gerade erst freigekommener Kinderschänder, der andere ein hochrangiger Bankmanager... was haben solche Menschen gemeinsam?" Er ließ sich wieder auf seinen Drehstuhl fallen, knüllte ein Blatt Papier zusammen und warf es gekonnt in den kleinen Basketballkorb, den sie sich mal vor langer Zeit an die Wand gehängt hatten, und genau darunter den Papierkorb aufgestellt hatten. Raschelnd fiel das Blatt Papier zu dem restlichen Müll.
    "Was ist, wenn Trauge Dreck am Stecken hatte? Vielleicht ähnliches wie Greuler... was nur noch nicht aufgeflogen ist?", überlegte Ben laut und fuhr sich durch die Haare, um die Frisur wenigstens ein bisschen in Ordnung zu bringen. "Das würde aber bedeuten, dass der Mörder Trauge persönlich kannte... wenn er davon wusste. Aber zwischen Trauge und Greuler gibt es absolut keinerlei Kontakt." Für einen Moment schwiegen sie und schaukelten beide auf ihren Stühlen nach links und rechts. "Vielleicht sollten wir das Büro von Trauge mal unter die Lupe nehmen...", meinte Semir nachdenklich und Ben nickte ihm zu. Er war immer froh, dass Semir selbst in der dunkelsten Sackgasse ihres Denkens immer noch eine Idee hatte, wie man vielleicht doch irgendwo eine Tür finden konnte.



    Als die beiden Kommissare aufblickten, konnten sie durch die Glasscheibe sehen, dass Jenny ins Büro kam. Sie sah müde aus, irgendwie abgekämpft und ausgelaugt, aber sie lächelte Bonrath und Herzberger zu, die beide aufstanden um sie kurz zu herzen und zu umarmen. "Was macht Jenny denn hier?", fragte Semir ein wenig verwirrt, als er sich die dick gefütterte Lederjacke anzog. "Keine Ahnung, ich bin nicht Jesus. Fragen wir sie.", antwortete Ben sarkastisch und die beiden Polizisten betraten das Großraumbüro. Auch sie umarmten Jenny kurz, wünschten ihr einen guten Morgen. Die junge Frau lächelte, so gut es ging, auch die beiden Kollegen an, wobei ihr Blick dann auf Bens Hals haften blieb. "Ben, du hast da was... wie Lippenstift?", fragte sie zögerlich und tippte sich selbst auf die Stelle am Hals. "Mensch, du hast doch gesagt, es sei alles weg!", knurrte der große Polizist nach unten zu seinem Partner und begann mit dem Daumen wieder zu reiben, damit die Farbe verblasste.
    "Was machst du denn hier? Wir dachten, du hättest noch ein paar Tage Urlaub?", fragte Semir dann. "Mir fällt zu Hause die Decke auf den Kopf. Ich muss wieder irgendetwas tun, die Zeit im Mutterschutz wird in ein paar Wochen vermutlich langweilig genug. Ich halte es zu Hause einfach nicht mehr aus...", sagte sie mit leicht niedergeschlagener Miene. "Hmm... ja, das können wir verstehen. Du wir, müssen dann mal los. Bis später.", sagte der erfahrene Polizist, und die beiden verließen die Dienststelle.



    Jenny klopfte an der Glastür der Chefin, die ihr auch sofort Einlass gewährte. "Frau Dorn... sie haben Urlaub.", sagte sie sofort, und es klang nicht nach Verwunderung, sondern nach einer Anweisung. "Ich weiß, Chefin. Aber ich muss irgendetwas tun. Ich habe zu Hause nichts mehr, womit ich mich ablenken könnte." Die Wohnung war schon 4mal gewischst, und seit Juan gestern mittag ihr jede Hilfe verweigert hatte, mit ihr nach Kolumbien zu fliegen und Kevin zu suchen, wurde das Engegefühl in der Wohnung noch schlimmer. Gestern abend bekam sie dann einen Weinkrampf ohne Grund, bis sie unter Tränen auf der Couch eingeschlafen war. Es musste etwas passieren, entweder unternahm sie selbst was, oder sie arbeitete wieder, um sich abzulenken. Sie glaubte, dass ihr das gelingen würde.
    Doch kam war sie nur in das Großraumbüro getreten, schaute sie sich nach Kevin um. War er im Büro? Bis sie traurig feststellte, dass Semir und Ben alleine aus der Tür kamen und die bittere Realität holte sie wieder ein. Aber auf Streife, wenn sie arbeitete, wenn sie Geschwindigkeitssünder anhielt oder LKW-Fahrern Knöllchen schrieb, weil die Ladung mal wieder nicht gesichert war oder die Reifen beinahe profillos waren, dann würde sie nicht an Kevin denken... oder daran, auf eigene Faust nach Kolumbien fliegen.



    "Bitte, Frau Engelhardt. Ich brauch die Arbeit, ich kann nicht daheim rumsitzen und nichts tun." Jenny setzte einen flehentlichen Gesichtsausdruck auf und die Chefin ihren typisch nachdenklichen... strengen Blick. Sie wusste, dass sie den Kopf hinhalten musste, wenn etwas bei einem Einsatz passierte und rauskäme, Jenny war wegen ihrer emotionalen Ausnahmesituation nicht bei der Sache gewesen. Andererseits hatte sie dieses Risiko vor einigen Wochen auf bei Semir eingegangen. Jedoch war der langjährige Polizist Semir ein anderes Kaliber als die junge Jenny.
    "Sie fühlen sich wirklich fit genug, um zu arbeiten?", fragte Anna Engelhardt mit strengem Blick und die junge Polizistin nickte sofort. "Sie müssen mir versprechen, sich zusammen zu reißen... und keinen falschen Ehrgeiz zu zeigen. Wenn sie sich schlecht fühlen, sagen sie Bescheid, ja? Nicht nur wegen Kevin, sondern auch wegen ihrem Kind." So streng die Chefin zu ihren Männern auch war, Fürsorge stand für sie an erster Stelle und die junge Frau, die vor ihr stand hatte momentan Fürsorge bitter nötig. "Ich verspreche es ihnen. Hoch und heilig." "Nagut. Ich streiche ihren Urlaub. Aber ich werde Bonrath und Herzberger sagen, dass sie ihnen nicht zuviel zumuten sollen." Jenny wollte eigentlich nicht als heilige Kuh gelten, und von allem geschont werden, aber sie schwieg. Wenn die Chefin jemandem entgegen kam, waren Widerworte der schlechteste Dank.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Bürogebäude - 11:00 Uhr



    Das enge Kleid, dass die schlanke junge Angestellte der deutsche Bank anhatte, das ausserdem nicht unbedingt als "lang" zu bezeichnen war und im dunkelblau perfekt zum Firmenlogo passte, zog nicht nur die Blicke von Ben und Semir auf sich, sondern garantiert im Berufsalltag auch die Blicke aller Männer. Noch dazu, wenn die Angestellte Selina Ratke demnächst die Managerstelle von Trauge übernehmen würde und damit auch finanziell einen Sprung machte. Der Schock war trotzdem noch präsent von dem, was in der Tiefgarage vorgefallen war und die beiden Autobahnpolizisten sparten bei ihren Ausführungen reichlich an Details. "Wir müssten uns die Büroräume des Herrn Trauge genauer ansehen." Die junge Frau nickte, ihre Augen waren leicht gerötet, denn sie hatte mit Trauge jeden Tag zu tun und mochte ihn eigentlich. Weil sie fast gleichgestellt mit ihm war, hatte sie keine Tyrannei zu befürchten, anders als die ein oder andere Auszubildene.
    Selina Ratke wurde der Eilbeschluss zur Durchsuchung gezeigt, den die beiden Kommissare erstaunlich schnell bekommen hatten. Aber die Presse hatte über den ersten Mord bereits berichtet, und die Staatsanwaltschaft geriet bereits unter Druck. So führte sie die beiden Polizisten in ein geräumiges und gut ausgestattetes Büro, in das Semir ein wenig ausser Atem eintrat. "16. Stock... Du und deine blöde Treppenlauferei.", sagte er in Richtung seines Partners, der sich erneut erfolgreich durchgesetzt hatte, und den Aufzug vermied. "Das ist gut für die Oberschenkel. Irgendwann wirst du mir dankbar sein.", meinte Ben altklug.



    Ben und Semir ließen sich von Frau Ratke die wichtigsten Unterlagen, die laufenden Geschäftsakten und Bilanzen zeigen. Der erfahrene Kommissar fühlte sich unwohl, den er spürte, dass sie hier ohne Plan und Konzept vorgingen und etwas suchten, was sie selbst nicht kannten. Einige Dinge ließen sie sich erklären und vorrechnen, auch wenn sie keine Ahnung von den ganzen Zahlen hatten, die auf den Blättern und in Tabellen aufgelistet waren. "Wie gut kannten sie den Toten eigentlich?", fragte Ben dann während einer kleinen Verschnaufpause. "Naja... wir waren gute Arbeitskollegen, und haben sehr gut zusammengearbeitet." "Könnten sie sich vorstellen, dass er mal in irgendeiner Form in ein Verbrechen verwickelt war?" Die Augen der jungen Frau wichen von dem jungen Kollegen, als würde sie nachdenken. "Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen..."
    Nach einer Stunde hatten die beiden Polizisten genug. "Wir würden uns gern noch etwas umsehen.", sagte Semir dann nickend und die junge Frau setzte sich auf den Stuhl hinter den Schreibtisch. Sie hatte zwar den Durchsuchungsbefehl, doch alleine lassen wollte sie die beiden Männer nicht.



    Semirs Handy meldete sich. "Ja?" "Hier ist Andrea. Hier ist ein Päkchen für euch gekommen.", sagte die Stimme seiner Frau. "Deshalb rufst du mich an? Legs mir bitte auf den Schreibtisch." "Ich rufe extra an weil es... weil es aus Kolumbien ist." Kevins Handy, fuhr es Semir sofort durch den Kopf. Hoffentlich hatte Jenny das Päkchen nicht mehr gesehen, als sie eben da war. Doch die junge Frau war bereits auf Streife, bevor das Paket abgegeben wurde. "Ok. Wir sind hier gleich fertig und kommen dann rein, dann schauen wir es uns mal an. Danke mein Schatz.", sagte Semir und legte auf.
    Danach wählte er sofort die Nummer von Hartmut Freund, dem KTU-Genie. "Hallo Semir, was gibts?" "Hey Hartmut. Du, willst du vielleicht die Mittagspause bei uns im Büro verbringen? Ben gibt einen aus." "WAS MACH ICH?", rief der Betreffende, der den Kopf gerade in einem der Schränke hatte, und diesen nach geheimen Verstecken abtastete. Einer der Holzschränke war ihm nämlich komisch vorgekommen, war dessen Rückseite doch weitaus tiefer, als es im Schrank den Eindruck machte. Semir winkte nur ab und bekam positives Feedback von Hartmut: "Na klar. Gute Idee. So gegen 12, halb eins bin ich bei euch." "Bis dann, Einstein.", sagte Semir lachend und beendete das Gespräch. "Jetzt hab dich nicht so, ne Pizza wirst du ja mal springen lassen können.", meinte er noch in Richtung seines Partners.



    Der wurde auf einmal hibbelig, als seine Hand tief im Schrank verschwunden war. "Ich hab hier was!" Semir kam näher und auch Selina Ratke stand vom Stuhl auf und baute sich hinter den beiden Kommissaren auf. "Hier sind in der Rückwand ein paar Kerben, die von den Ordnern verdeckt wurden. Warte mal... vielleicht...", Ben murmelte und versuchte einen Fingernagel in die Kerbe zu bekommen, um zu versuchen, irgendetwas aufzuhebeln oder aufzubrechen. Vorher nahm er aber noch alle Ordner aus dem Schrank, um mehr Platz zu haben. Immer wieder rutschte er mit den Fingernägeln ab, einer riss ein was der Gitarrist laut befluchte. "Komm, lass mich mal.", meinte Semir, doch der hatte Mühe an die Kerbe heranzukommen, weil er doch ein gutes Stück kleiner war. Er ächzte und Ben ließ sich zu einem: "Soll ich dem kleinen Semir vielleicht ein Stühlchen holen." hinreißen.
    Doch Semir schaffte es, eine Holzklappe fiel ab und ein Zwischenraum des Schrankes tat sich auf. Ben griff hinein und bekam einige dünne Aktenordner zu fassen, die dahinter verstaut waren. Sie wurden ans Tageslicht befördert, auf den Deckeln der Akten stand "Bilanzen" und verschiedene Jahreszahlen. "Werden die bei ihnen immer so gut versteckt?", fragte Semir beinahe sarkastisch, denn es war ihnen klar, dass diese Akten nicht für Jedermann waren, wenn sie so gut verborgen lagen. Die junge Frau wusste zunächst keine Antwort.



    Zusammen gingen sie zurück zum Schreibtisch, wo Selina Ratke die Akten aufschlug und stumm die Zahlen studierte. Irgendwann wendete sie sich an den PC auf dem Schreibtisch, wo sie weitere Tabellen und Zahlenreihen aufrief, und ihre Miene verfinsterte sich zunehmend. "Na... was können sie sagen?", fragte der jüngere Polizist neugierig, der hinter dem sitzenden Semir stand. "Offenbar sind die Bilanzen, die wir in den letzten Jahren eingereicht haben, gefälscht worden." "Gefälscht?" "Ja... wo festgehalten wird wieviel Umsatz gemacht wurde, Zinsen, Kredite, Tresorfüllung. Diese stimmen nicht überein mit denen, die an die Zentralstelle übergeben wurde." Die beiden Polizisten blickten sich vielsagend an.
    "Das heißt, Trauge hat die Bilanzen gefälscht, und sich den Überschuss in die Tasche gesteckt.", bilanzierte Ben und sah in ein geschocktes Gesicht. "Das... das kann ich mir nicht vorstellen.", stotterte Selina und war über die kriminelle Kraft geschockt. "Macht Trauge die Bilanzen alle selbst?" "Nein, einiges wird von den Auszubildenen gemacht. Aber er kontrolliert und muss die Sachen abzeichnen. Er hätte es bemerken müssen." Wieder blickte die Frau die beiden Polizisten an. "Glauben sie, dass er deswegen... umgebracht wurde? Aber, das würde ja bedeuten... hier... also, von den gefälschten Bilanzen kann ja nur jemand hier im Haus gewusst haben." Semir dachte kurz nach: "Wir glauben zwar, dass es was damit zu tun hat... aber wir glauben nicht daran, dass der Mörder von hier ist." Es gab einen Bezug zu dem Mord auf der Brücke... und es wäre ein Riesenzufall, wenn ein anderer Bankangestellter erst einen Kinderschäner und dann einen Bilanzenfälscher "bestrafen" würde... an soviel Zufall wollte Semir nicht glauben.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 12:15 Uhr



    Ben orderte die Pizza für sich, Semir und ihren KTU-Kollegen Hartmut schon von unterwegs, denn durch den Mittagsverkehr wurden sie auf der Autobahn ein wenig aufgehalten. Als sie wegen eines Verkehrsunfalls, den die Kollegen bereits aufnahmen, im Stau standen hatten sie Zeit sich zu unterhalten. "Du denkst also, die beiden Morde hängen zusammen.", fragte Ben nochmal auf Umwegen Semirs Gedanken ab, und der erfahrene Polizist nickte. "Zumindest ist es der gleiche Mörder. Die Art der Aufbahrung, die Brutalität der Verletzung, das kann innerhalb von zwei Tagen kein Zufall sein. Aber Trauge hängt nicht mit Greuler zusammen. Also, wie passt das?" Er hatte den Arm auf den Rand am Seitenfenster abgestützt, und den Kopf auf den Arm, während er zu Ben herübersah, der nachzudenken schien.
    "Das Einzige, was die beiden verbindet, ist dass sie etwas auf dem Kerbholz haben. Aber Kindesmissbrauch ist doch ne andere Hausnummer, als ein paar Bilanzen fälschen... dass man dafür eher jemanden umbringt, okay... aber fürs Bilanzen fälschen." "Wir wissen ja nicht, um wieviel Geld Trauge die Anlegen gebracht hat, oder die Bank. Das müssen jetzt unsere Experten rausfinden." Semir hatte den Fund und den Sachverhalt sofort an die Kollegen der Finanzermittler weitergegeben.



    Der Stau lichtete sich langsam, die beiden Polizisten grüßten per Handzeichen die Kollegen am Unfallwagen. Es waren Hotte, Dieter und Jenny, wobei Letztere die beiden Polizisten übersah, weil sie sich gerade mit einem der Beteiligten unterhielt und nicht sehr aufmerksam wirkte. "Jenny wieder im Dienst?", fragte Ben überrascht und sein Partner zuckte mit den Schultern. "Vermutlich hat sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Kann ich verstehen." Er war selbst vor einigen Wochen in dieser Situation, zwangbeurlaubt zu sein. Die Langeweile und Isolation daheim machte die Probleme, weswegen er zu Hause blieb, noch stärker. Erst die Arbeit und die Unterstützung seiner Freunde halfen ihm, sich aus dem Sumpf heraus zu ziehen. Die dunkle Zeit hatte er komplett hinter sich gelassen.
    "Zwei Leichen, beide grausam zugerichtet, beide mit krimineller Energie, einer mehr, einer weniger.", zählte Semir nochmal auf und sah wieder zu Ben. "Auftragskiller?" Der junge Polizist verzog ein wenig den Mund und schüttelte den Kopf: "Glaub ich nicht. Der würde doch niemals so auffällig vorgehen, sich so eine Mühe machen." Damit hatte Ben recht, ein Profikiller würde seinem Opfer eine Kugel in den Kopf jagen oder die Schlinge um den Hals ziehen, und damit hat sich die Sache. Dass der Auftraggeber einen Kinderschänder leiden sehen möchte, hätten die beiden Kommissare auch noch als plausibel betrachtet, aber das Delikt von Trauge passte einfach nicht hinein.



    Als sie um viertel nach zwölf auf den Parkplatz einbogen, war von Hartmuts orangener Lucy noch nichts zu sehen. Auch die Pizza dampfte noch nicht auf dem Schreibtisch, wie Ben enttäuscht feststellte, als sie das Büro betraten. Stattdessen stand dort ein graues Paket, das bei beiden Polizisten sofort ein mulmiges Gefühl im Magen auslöste, und den Hunger komplett unterdrückte. Semir nahm sein Taschenmesser und durchtrennte das Klebeband, mit dem das Paket sehr gut zugekleistert war. Sein Herz pochte laut, als er langsam die beiden Deckel öffnete und erstmal nur Styropor und Sicherungsmaterial zum Vorschein kam. Ben stand schräg hinter ihm und kaute an den Fingernägel. Sofort war alles wieder präsent, die Unsicherheit, die Angst und die Ungewissheit über das Schicksal ihres Kollegen, ihres Freundes. Alle Gefühle, die die Arbeit schaffte zu unterdrücken und davon abzulenken, kamen mit voller Wucht in ihr Gedächtnis, als Semir das Verpackungsmaterial langsam entfernte.
    Es warem mehrere Plastikbeutel, in denen das Handy... oder was davon übrig war... verpackt war. Auf den ersten Blick sah es aus wie billiger Plastikschrott mit ein paar Platinen, Splitter des Displays, ein Stück von der Sim-Karte. Semirs Hände zitterten leicht, als sie die Päkchen aus dem Paket nahmen und nebeneinander auf den Tisch legten.



    Beide Männer waren bestürzt, sie blickten die Teile an und stellten sich vor, welche Kraft auf sie eingewirkt haben muss. Sie hatten bereits Mobiltelefone aus Unfallwagen geholt, die ähnlich zerstört waren, allerdings nur bei wirklich schlimmen Unfällen. Wenn das Handy von besagter Brücke fiel mit Kevin, und durch den Fluss und die Felsen so beschädigt wurde, war es doch ein sehr eindeutiges Indiz dafür, wie schlecht die Chancen um den jeweiligen Menschen waren, der ebenfalls herunterfiel. "Scheisse...", war das einzige, was Ben rausbrachte bevor er sich kopfschüttelnd abwandte. Auch Semirs Gesichtsausdruck drückte Betroffenheit, gar Resignation aus. Jeden Hinweis den sie von Kevin bekamen, sprach gegen sein Überleben...
    Gerade passend kam nun Hartmut ins Büro und rieb sich über den Bauch. "Naaa... gibt schon Es...?" Das letzte Wort blieb ihm im Halse stecken, als er die Gesichter der beiden Polizisten sah. "Was ist los? Ist der Pizzabäcker etwa verunglückt?" "Einstein, setz dich mal nen Moment.", sagte Semir in ruhigem Ton, und das KTU-Genie nahm Platz und betrachtete jetzt auch die eingetüteten Handyreste an. "Was ist das?", fragte er und nahm eine Tüte in die Hand. "Das ist Kevins Handy... oder zumindest vermuten wir das. Es wurde in dem Fluss gefunden, und auf der SIM-Karte ist ein deutscher Netzbetreiber erkennbar." Hartmut blickte durch die Tüte genau auf den Teil der Simkarte, wo er noch das rote Logo zur Hälfte erkennen konnte.



    Der rothaarige Techniker wusste über die Vorkommnisse in Kolumbien natürlich Bescheid. Er blickte die Stücke lange und ausgiebig an. "Teile der SIM-Karte... hier ein Stück von der Hauptplatine, da ein Teil von der Festplatte... puh. Ziemlich heftig.", meinte er nachdenklich und konnte sich schon ausmalen, was seine Rolle bei der Sache war. "Du musst versuchen, irgendeinen Beweis auf den Teilen zu finden. Wir müssen wissen ob das Kevins Handy ist... wenn nicht, dann gibt es immer noch Hoffnung." "Und wenn doch...?" Hartmut blickte unsicher und Semir runzelte die Stirn. "Dann... ja, dann verschwindet die Hoffnung so langsam."
    Hartmut ließ den Blick nochmal über die Teile streifen. "Das wird nicht leicht..." "Na, deswegen haben wir ja auch dich gefragt, und nicht irgendeine Pfeife.", sagte Ben und legte seine Hände von hinten auf Hartmuts Schultern. "Hartmut, es ist wirklich wichtig." "Okay, ich geb mein Bestes.", sagte er und packte die Tütchen wieder in den Karton. Die Pizza, die nur wenige Minuten später ankam, schmeckte allen drei fad. Ob sie wirklich weniger gewürzt war als sonst, oder ob es einfach der allgemein düsteren Laune geschuldet war, wussten sie nicht.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!