Mit allen Mitteln

  • Für Semir hatte der Montagmorgen gut angefangen. Nach dem gemeinsamen Frühstück mit seiner Familie, hatte er seine beiden Töchter in die Schule und den Kindergarten gebracht, da Andrea an diesem morgen einen Termin beim Zahnarzt hatte. Nun war er auf dem Weg zur Arbeit. Die Sonne strahlte am Himmel und im Radio lief gerade eines seiner Lieblingslieder. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er schon etwas spät dran war. Ben würde diesmal höchstwahrscheinlich vor ihm in der PAST sein. Semir wusste was das bedeutete. Sein Partner würde ihn dann wochenlang damit aufziehen, dass er es vor ihm ins Büro geschafft hatte. Mit einem Grinsen im Gesicht beschleunigte Semir den silbernen BMW, drehte das Radio lauter und zog auf der Überholspur an mehreren Autos vorbei.



    Etwa 10 Minuten später kam Semir auf dem Parkplatz der Autobahnpolizei an. Er reihte seinen Dienstwagen rücklings zwischen den Streifenwagen der Kollegen vor dem Gebäude ein. Beim Aussteigen aus dem Auto hatte er mit geübtem Blick den Parkplatz gescannt. Semir stutzte als er weder Bens Motorrad noch seinen Dienstwagen, den silbernen Mercedes entdecken konnte. Sollte sein Partner etwa noch später als er selbst kommen?! Mit Schwung schlug Semir die Autotür zu und machte sich mit schnellen Schritten auf den Weg ins Gebäude. Er grüßte zwei Kollegen am Eingang und kramte, als er seinen Weg ins Büro fortsetzte, sein Handy aus der Tasche seiner Lederjacke. Er würde Ben anrufen und an sein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis erinnern. Das er selbst eben erst angekommen war, musste er ihm ja nicht unbedingt unter die Nase reiben. Doch nachdem die Nummer gewählt war, ertönte wider Erwarten kein Freizeichen sondern direkt die Mailbox. Semir hinterließ seinem Kollegen eine kurze Nachricht und legte dann das Handy griffbereit auf seinen Schreibtisch, falls Ben zurückrufen sollte. Nachdenklich setze er sich auf seinen Bürostuhl. Es war ungewöhnlich für Ben, dass er sein Handy ausgeschaltet hatte. Semir konnte nicht verhindern, dass ein ungutes Gefühl in ihm aufstieg und fragte sich, ob bei seinem Partner alles in Ordnung war. Doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Wahrscheinlich hatte Ben am Wochenende einfach zu viel gefeiert, hatte heute Morgen den Wecker überhört und lag jetzt noch selig schlafend im Bett. Der Hauptkommissar nahm sich eine Mappe mit Unterlagen von dem Stapel auf seinem Schreibtisch und öffnete am PC den dazugehörigen Fall. Sein Bericht über den letzten Einsatz stand noch aus.



    Semir hatte gerade erst ein paar Zeilen geschrieben, als die Tür hinter ihm aufschwang und Kim Krüger sein Büro betrat.



    „Gerkan! Kommen Sie in mein Büro! Es gibt einen neuen Fall.“



    „Wollen wir nicht warten bis Ben da ist?“, fragte Semir mit einem kurzen Blick auf den leeren Bürostuhl seines Kollegen.



    „Herr Jäger wird heute nicht kommen. Sein Vater hat angerufen und ihn krank gemeldet.“



    „Was?“ Semir schaute seine Chefin irritiert an. „Sein Vater hat ihn krank gemeldet? Warum hat Ben denn nicht selber angerufen?“



    „Sein Vater wollte sich nicht genau dazu äußern.“, Frau Krüger wich Semirs Blick für einen Moment aus. „Er hat nur gesagt, dass Ben eventuell länger ausfällt.“



    „Was heißt das, er wollte sich nicht dazu äußern?“ In Semirs Kopf begannen die ersten Alarmglocken zu schrillen. „Er muss doch irgendetwas gesagt haben?!“



    „Herr Jäger ist nicht verpflichtet genaue Angaben über die Erkrankung von seinem Sohn gegenüber uns als Arbeitgeber zu machen. Natürlich wäre es mir auch lieber gewesen, wenn er etwas gesagt hätte. Aber so müssen wir erstmal abwarten.“



    „Abwarten?!“ Semir war von seinem Stuhl aufgesprungen und stand seiner Chefin nun direkt gegenüber. „Frau Krüger, da stimmt doch irgendetwas nicht!“ „Ben war am Freitagabend nach Feierabend bei mir zuhause, da war er noch kerngesund. Was sollte er denn jetzt einfach mal so übers Wochenende kriegen, dass er gleich länger ausfällt? Außerdem hätte er sich dann gemeldet, wenn irgendwas nicht in Ordnung gewesen wäre.“ Semir merkte erst jetzt, dass er die letzten Worte beinahe geschrien hatte. Die Sorge um seinen Partner lies sein Temperament mit ihm durchgehen.



    „Herr Gerkan, jetzt reißen Sie sich mal zusammen! Herr Jäger hat gesagt, dass er sich in den nächsten Tagen noch einmal meldet, wenn er nähere Infos zu seinem Sohn machen kann. Bis dahin müssen wir uns eben gedulden. Und jetzt kommen Sie bitte in mein Büro, der Fall klärt sich schließlich nicht von alleine auf.“ Mit diesen Worten lies Frau Krüger ihn einfach stehen.



    Bevor Semir ihr folgte nahm er sein Handy, drückte die Kurzwahltaste, auf der Bens Nummer eingespeichert war und sprach ihm noch einmal auf die Mailbox:


    „Ben, ich bin’s nochmal. Mensch, was ist denn los bei dir? Meld dich bitte ja?! Ich mach mir Sorgen.“



    Es dauerte recht lange bis Ben aufwachte. Als er die Augen öffnete war seine Sicht zuerst leicht verschwommen, doch nachdem er ein paar Mal geblinzelt hatte wurde sein Blick klarer. Vorsichtig hob er den Kopf um sich zu orientieren. Was er sah lies ihn stutzen. Er lag auf dem Rücken in einem Bett, aber es war nicht sein Bett, er war nicht zu hause. Es war ein fremdes Zimmer, in dem er sich befand. An der gegenüberliegenden Wand standen ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Der Raum war eher klein, alles war in sterilem weiß gehalten. „Krankenhaus“ schoss es ihm durch den Kopf und Ben lies sich wieder zurück in das Kissen fallen und schloss die Augen. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen und sich ins Gedächtnis zu rufen was passiert war. Es war ja nicht das erste Mal, dass er nach einem Einsatz im Krankenhaus wieder aufwachte. Nur konnte er sich diesmal gar nicht an einen Einsatz erinnern. Er konnte sich irgendwie gerade an überhaupt nichts erinnern. Es kam ihm so vor als schien ihn irgendetwas in seinem Kopf davon abzuhalten klar denken zu können. Was war nur los mit ihm? Ben setzte sich und sah prüfend an sich herunter. Verletzungen konnte er keine erkennen und bis auf die leichten Kopfschmerzen schien er in Ordnung zu sein. Seltsam. Noch nicht mal einen Tropf hatte man ihm angehängt, wie es doch normalerweise bei stationären Aufnahmen gehandhabt wurde. Ein alarmierendes Gefühl stieg in ihm auf und ohne dass er es verhindern konnte breitete sich eine ungewohnte Nervosität in ihm aus.
    Als er sich noch einmal in dem kleinen Zimmer umsah und sein Blick an dem vergitterten Fenster hängen blieb, bestätigte sich seine Vorahnung, dass hier irgendetwas ganz gewaltig nicht stimmte.

  • Plötzlich waren vom Flur her laute Geräusche zu hören. Türen wurden zugeknallt, mehrere Personen rannten an Bens Zimmer vorbei und dann hörte er Schreie, laute verzweifelte Schreie, die ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken jagten. Was zum Teufel war hier los? Erschrocken sprang er auf um der Sache auf den Grund zu gehen. Die Tür zum Flur stand einen Spalt weit offen, doch sofort als Ben auf den Beinen stand, wurde ihm schwindelig sodass er sich nach den wenigen Schritten bis zur Tür erstmal einen Moment an der Wand abstützen musste.
    Nachdem er kurz durchgeamtet hatte, sammelte er sich wieder, stieß die Tür ganz auf und trat in den Flur
    .
    Dort steuerte geradewegs eine mittelgroße blonde Frau in einem weißen Arztkittel auf ihn zu. „Herr Jäger! Sie sind wach, wie schön. Ich wollte sowieso gerade nach Ihnen sehen. Ich bin Dr. Karoline Bauer, die leitende Stationsärztin.“ Die Frau streckte Ben die Hand zur Begrüßung entgegen. Doch Ben machte keine Anstalten den Gruß zu erwidern.


    „So? Was für eine Station leiten Sie hier denn?“, wollte er stattessen wissen.


    „Kommen Sie bitte mit in mein Büro, dort erkläre ich Ihnen alles.“


    Mit einem flauen Gefühl im Magen folgte Ben der Frau den Gang entlang, bis sie an der vorletzten Tür auf der rechten Seite stehen blieb, einen Schlüssel aus ihrer Kitteltasche holte und die Tür aufschloss. Nachdem Ben in das Zimmer eingetreten war, machte Frau Dr. Bauer die Tür zu, ging um den großen Schreibtisch herum, setzte sich und bedeutete Ben ebenfalls davor Platz zu nehmen. Sie nahm sich eine der grauen Akten, die vor ihr lagen und schlug sie auf. Ben ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Es war ein recht großes Büro mit großen Fenstern, durch die viel Licht herein kam. An der Wand hingen Bilder, bei denen er sich nicht ganz sicher war ob sie aktstrakte Kunst darstellten oder einfach von einem Kind gemalt waren. Dann blieb sein Blick an Frau Dr. Bauer hängen, die immer noch in der Akte las und seine Anwesenheit vergessen zu haben schien. Ben räusperte sich laut um die Ärztin daran zu erinnern, dass er sich auch noch im Zimmer befand und darauf wartete, endlich eine Antwort auf die vielen Fragen in seinem Kopf zu bekommen.


    „Ja, also ich wäre dann so weit. Von mir aus können Sie loslegen.“, schob Ben dann noch nach, nachdem das Räuspern keine Reaktion bei der Frau ausgelöst hatte.


    Frau Dr. Bauer schaute nun von der Akte auf und musterte Ben einen Moment lang.


    „Sie können sich nicht erinnern, was letzte Nacht passiert ist?“, fragte sie interessiert.


    Ben zuckte kurz mit den Schultern. „Also im Moment nicht, aber Sie werden mich ja bestimmt jetzt aufklären.“ Zuversichtlich schaute er die Ärztin an.


    Sie machte eine kurze Notiz in der Akte.


    Ben, der langsam ungeduldig wurde, lehnte sich nach vorn. „Es wäre schön, wenn Sie mir jetzt endlich mal sagen, was hier los ist, ich habe leider nicht den ganzen Tag Zeit.“


    „Ich fürchte, die Zeit werden Sie sich nehmen müssen.“ Frau Dr. Bauer klappte die Akte zu und legte sie wieder auf den Schreibtisch. „Wir sind hier auf der Akutstation der psychiatrischen Abteilung der Uniklinik Köln. Sie sind letzte Nacht im RTW mit Verdacht auf eine akute Psychose zu uns gekommen.“ Die Ärztin hielt kurz inne, um das Gesagt auf ihren Patienten wirken zu lassen.


    „Bitte was?“ Ben, der für einen kurzen Moment die Kontrolle über seine Gesichtszüge verloren hatte, starrte sein Gegenüber fassungslos an. „Soll das ein Witz sein?“


    „Nein Herr Jäger, über so etwas mache ich keine Witze.“


    Plötzlich ergab alles einen Sinn. Das vergitterte Fenster..., die lauten Schreie..., die hatten ihn tatsächlich in die Klapse gesteckt. Ben war entsetzt. „Aber das kann nicht sein. Wie kommen Sie denn darauf? Nur weil ich mich nicht an die letzte Nacht erinnern kann, sagen Sie ich hätte eine Psychose? Was sind Sie denn für eine Super-Ärztin?“ Bens anfängliche Fassungslosigkeit war nun in Ärger umgeschwungen.


    „Herr Jäger, es gehört mit zum Krankheitsbild, dass Sie sich nicht unbedingt daran erinnern können, wenn Sie eine psychotische Phase durchlebt haben. Es kann sein, dass Sie dann Dinge tun oder sagen, von denen Sie später nichts mehr wissen und es ist auch nicht ungewöhnlich, dass Sie sich nach diesen Schüben nicht unbedingt krank fühlen. Es ist auch nicht so, dass wir eine Psychose bei Ihnen vermuten, nur weil Sie sich nicht erinnern können. Wir haben ein Video, welches in der letzten Nacht aufgenommen wurde, kurz bevor der RTW bei Ihnen eingetroffen ist.“


    „Ja, klar! Sie haben ein Video! Prima! Dann sind ja alle Zweifel komplett unbegründet und aus dem Weg geräumt! Das Video ist ja der ultimative Beweis dafür, dass ich einen an der Klatsche habe!“, rief Ben sarkastisch. „Na dann zeigen Sie mir dieses Video doch mal!“


    „Ich kann hier jetzt nicht entscheiden, ob Sie das Video sehen dürfen. Das besprechen Sie am besten mit Herrn Dr. Winkler. Er wird nachher mit Ihnen die Aufnahmeuntersuchung machen und Sie in den nächsten Tagen therapeutisch betreuen.“


    „Das gibt’s doch nicht. Das kann doch jetzt echt nicht wahr sein!“ Ben war fix und fertig, die Tante vor ihm meinte das alles völlig ernst.


    „Das Krankheitsbild ist inzwischen in Ihrem Beruf keine Seltenheit mehr. Als Polizist sind Sie vielfältig extremen Situationen ausgesetzt, die eine solche Erkrankung durchaus begünstigen können.“, erklärte die Psychiaterin.


    Ben war hellhörig geworden. „Woher wissen Sie denn, dass ich Polizist bin?“


    „Das geht aus den Unterlagen hervor.“, Frau Dr. Bauer wies auf die vor ihr liegende Akte. „Ihr Vater hat den Rettungssanitätern letzte Nacht die wesentlichen Dinge über Sie mitgeteilt.“


    „Mein Vater hat den RTW gerufen?“ Ben zog die Stirn kraus. Das wurde ja immer besser. Seinen Vater hatte er bestimmt seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr gesehen, sie hatten auch sonst keinen Kontakt gehabt. Was also hatte seinen Vater nur bei dieser Aktion geritten? Das ergab doch alles keinen Sinn. „Ich muss ihn anrufen. Ich muss sofort mit ihm sprechen.“, verlangte Ben.


    „Es tut mir leid, das geht nicht. Alle unsere Patienten haben zu Beginn ihres Aufenthalts bei uns eine Kontaktsperre. Das bedeutet keine Anrufe und keine Besuche von Freunden und Familienangehörigen in den ersten drei Wochen. Es ist mittlerweile wissenschaftliche bewiesen, dass den meisten Patienten dadurch der Einstieg in die Therapie um einiges leichter fällt, als wenn sie unter dem Einfluss ihres bisherigen Umfeldes stehen.“


    „Achso ja, klar, verstehe…“, Ben atmete tief durch. Er musste sich arg zusammenreißen um nicht völlig auszuflippen. Er hatte schon das ein oder andere Mal während seiner Dienstzeit mit Personen zu tun gehabt, die an einer schweren psychischen Störung litten. Das waren arme Seelen - Menschen die aus welchen Gründen auch immer so neben der Spur waren, dass sie ihr Leben und sich selbst überhaupt nicht mehr unter Kontrolle hatten. Aber doch nicht er! Ihm ging es doch gut! Er hatte keine verdammt Psychose!


    „Dann erklären Sie es mir doch mal bitte mal wie es sein kann, das ich ganz normal hier sitze und mich mit Ihnen unterhalte. Wie Sie sehen bin ich ruhig und entspannt. Ich stelle ganz offensichtlich weder eine Gefahr für andere, noch für mich selbst dar.“, versuchte Ben die Ärztin zu überzeugen. „Von daher gibt es wohl keinen Grund warum ich auch nur eine Minute länger hier bleiben sollte. Sie können mich dann ja gehen lassen.“, meinte er wobei er sie herausfordernd anschaute.


    Doch es kam von ihr nicht die Antwort, die er sich erhofft hatte. „Sie sind ruhig und entspannt, wie Sie es nennen, weil Sie vor wenigen Stunden starke Medikamente bekommen haben. Herr Jäger, Sie verstehen mich nicht. Sie wurden letzte Nacht zwangseingewiesen; ich kann Sie jetzt nicht einfach so wieder gehen lassen.“


    Ben verstand tatsächlich nicht. Wie sollte er auch? Bis er hier aufgewacht war, war ja noch alles in Ordnung gewesen. Oder?
    War es das tatsächlich?

  • „Was gibt es denn nun für einen neuen Fall?“, fragte Semir und setzte sich auf einen der beiden Stühle, die vor dem Schreibtisch der Krüger standen.


    „Letzte Nacht gab es einen Unfall auf der A3. Ein LKW-Fahrer hatte einen Sekundenschlaf und ist mit seinem 40-Tonner in eine Baustelle gerast. Verletzt wurde zum Glück niemand, der Fahrer selbst ist mit einem Schock und ein paar Schrammen davon gekommen.“, fasste die Chefin kurz zusammen.


    „Aha. Und seit wann ist ein Unfall, der wegen einem Sekundenschlaf verursacht wurde, ein Fall für die Autobahnpolizei?“, fragte Semir leicht gereizt. Seine gute Laune vom Morgen war komplett verflogen.


    „Seitdem in den Baken, die die Baustelle abgesperrt haben insgesamt 3 kg reinstes Kokain gefunden wurde.“, antwortete Kim Krüger und schob Semir über den Schreibtisch eine Akte hin.


    „Na super! Welcher Vollidiot steckt denn sein Koks in so eine Bake und stellt es dann mitten auf die Autobahn?“ Semir schlug irritiert die Akte auf und schaute sich die Fotos von der Unfallstelle an.


    „Die Baken wurden noch heute Nacht zur Überprüfung in die KTU gebracht. Wenn geklärt ist woher sie stammen wird das Drogendezernat den Fall letztendlich übernehmen.“


    „Na das dürfte ja nicht allzu schwer werden, das herauszufinden, wenn wir mal bei der Autobahnmeisterei nachfragen, die die Dinger ja mit Sicherheit da aufgestellt haben.“, meinte Semir und klappte die Akte wieder zu.


    „So einfach wird das nicht. Auf diesem Abschnitt wo sich der Unfall letzte Nacht ereignet hat, dürfte eigentlich gar keine Baustelle stehen.“


    Semir schaute seine Vorgesetzte erstaunt an. „Na das wird ja immer besser." Er schob Frau Krüger die Akte wieder zu und stand auf. „Ich fahre mal zu Hartrmut rüber, vielleicht hat der ja inzwischen schon irgendetwas rausgefunden.“


    Semir ging in Richtung Tür, doch bevor er das Büro verließ, blieb er stehen und drehte sich nochmal zu seiner Chefin um. „Frau Krüger, es tut mir Leid wegen vorhin.“, entschuldigte er sich für seinen kurzen Ausbruch. "Ich mache mir einfach Sorgen um Ben."


    Frau Krüger schaute ihn verständnisvoll an. "Sobald ich was Neues weiß rufe ich Sie an.“


    Semir nickte kurz und machte sich auf den Weg in sein Büro. Dort steckte er sich Handy und Autoschlüssel ein. Der Bericht, den er angefangen hatte würde erstmal warten müssen. Auf dem Weg zum Auto zog er sich seine Jacke über und kurze Zeit später lenkte er den silbernen BMW vom Gelände der Autobahnpolizei in Richtung KTU. Unterwegs versuchte er nochmal Ben mit dem Handy zu erreichen, doch wieder hatte er nur die Mailbox dran.


    Als Semir wenig später die KTU erreicht hatte und das Gebäude betrat, grübelte er immer noch darüber warum Ben sich nicht selber an diesem Morgen krank gemeldet hatte und was wohl hinter dieser Geheimniskrämerei von seinem Vater stecken könnte.


    Am Schreibtischarbeitsplatz von Hartmut Freund angekommen, konnte er den KTU-Techniker jedoch nirgendwo entdecken.


    „Hartmut?“, rief Semir und lief bis nach hinten in die Halle, wo noch einige Unfallwagen auf ihren endgültigen Check warteten bis sie verschrottet wurden. Und dort sah er dann auch seinen Kollegen, welcher sich tief über den Motor eines Sportwagens gebeugt hatte und gerade dabei war mit der rechten Hand ein längliches schwarzes Etwas ans Tageslicht zu befördern, was Semir erst auf den zweiten Blick als Zylinderkopfdichtung erkannte. Doch der Kriminaltechniker schien so in seine Arbeit vertieft zu sein, dass er ihn noch gar nicht bemerkt hatte.


    „Hartmut?“, sagte Semir diesmal etwas lauter, worauf der Angesprochene erschrocken zusammenzuckte und dabei mit dem Kopf an die geöffnete Motorhaube stieß.


    „Scheiße!“, fluchte Hartmut und fasste sich an die schmerzende Stelle an seinen Kopf wobei er mit seiner schmutzigen Hand einen schwarzen Fleck auf seiner Stirn hinterließ. „Was musst du mich auch so erschrecken!“ Vorwurfsvoll schaute er Semir an.


    „Du hast da was.“, sagte der und deutete auf Hartmuts Stirn. Hartmut, der im Augenblick einfach nicht an den öligen schwarzen Film an seinen Händen dachte, wischte sich mit seiner rechten Hand gleich nochmal über die betreffende Stelle und verschmierte alles nur noch mehr. „Besser?“, fragte er dann und Semir musste grinsen. Wenigstens bei Hartmut war an diesem Morgen alles normal. Er reichte ihm ein Päckchen Taschentücher, welches in Reichweite auf dem Regal neben ihm lag und hielt es ihm hin. „Probier’s mal damit.“


    Während der KTU-Techniker seine Hände und sein Gesicht mit den Taschentüchern abwischte, schaute Semir sich kurz in der Halle um. „Was hast du denn bisher in dieser Sache mit den Baken von letzter Nacht herausgefunden?“


    „Leider nichts was uns erstmal weiterbringt.“ Hartmut ging zu einem Tisch in der Nähe, worauf einige der besagten Baken lagen. „Fest steht, da war auf jeden Fall kein Amateur am Werk.“


    Er nahm eine der Baken und hielt sie Semir hin, der ihm zu dem Tisch gefolgt war. „Hier unten ist normalerweise die Kennung der Bake eingraviert. Sie setzt sich aus einer elf-stelligen Zahl zusammen, aus der man erkennen kann wann die Bake von welcher Firma für welche Autobahnmeisterei hergestellt wurde. Auf jeder Bake wurde die Kennung komplett entfernt. Verwertbare Fingerabdrücke konnte ich leider auch keine sicherstellen.“


    Semir nahm Hartmut die Bake aus der Hand und betrachtete sie eingehend. Das Ding war zwar innen hohl, aber bot dort nur einen minimalen Platz an Stauraum. „Warum steckt jemand in so ein enges Ding das Kokain? Und warum stellt er es als Fahrbahnabsperrung auf die A3, warum nicht irgendwo anders hin, warum auf die Autobahn? Das macht doch gar keinen Sinn.“


    „Wieso? Das ist doch eigentlich ganz schön clever. Als Baustelle getarnt würde doch niemand auf die Idee kommen, dass mit den Baken was nicht stimmt.“, gab Hartmut zu bedenken.


    „Wie auch immer…“, Semir legte die Bake wieder auf den Tisch zurück. „Ich sehe mir die Unfallstelle nochmal an. Vielleicht haben die Kollegen ja die letzte Nacht was übersehen, es muss ja irgendwas geben das uns weiterbringt.“


    Semir verabschiedete sich von Hartmut und ging nach draußen. Er setzte sich in seinen Dienstwagen und startete den Motor. Doch er hatte nicht vor auf direktem Weg zu der Unfallstelle auf der Autobahn zu fahren. Die Sache mit Ben ließ ihm einfach keine Ruhe. Er würde erstmal zu seinem Partner nach Hause fahren und schauen was da überhaupt los war.


    Der Weg zu Bens Appartement war zwar nicht weit, aber Semir musste quer durch die Kölner Innenstadt fahren und stand vor fast jeder Ampel. Doch auch diese Fahrt endete irgendwann und er parkte endlich vor dem großen Gebäude in dem Ben seine Wohnung hatte. Mit schnellen Schritten stieg Semir die Stufen im Treppenhaus hinauf. Oben angekommen drückte er zweimal auf die Klingel neben der Wohnungstür und wartete gespannt dass ihm geöffnet wurde. Doch es passiert überhaupt nichts. Ungeduldig klingelte er nochmal und nochmal. Doch es rührte sich wieder nichts. „Ben?“, rief Semir und klopfte an die Tür. Er horchte kurz, doch drinnen war alles still. Und dann war es plötzlich wieder da, dieses ungute Gefühl. Das Gefühl was Semir auch schon am Morgen verspürt und bis eben wieder verdrängt hatte. Dieses Gefühl, das ihn warnte das hier etwas faul war. „Ben!“ Voller Ungeduld hämmerte er nun mit der Faust an die Wohnungstür. Dann zog er seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Für Notfälle hatte er einen Ersatzschüssel für Bens Wohnung, genauso wie Ben einen für Semirs Haus besaß. Doch er stutze als er merkte, dass die Wohnungstür gar nicht verschlossen war und er nur den Türgriff nach unten drücken musste um die Tür zu öffnen. Beim Betreten des Appartements fiel ihm sogleich der Geruch von Pizza auf. Semir folgte dem Geruch, der ihn ins Wohnzimmer führte. Dort auf dem Couchtisch lag noch ungefähr die Hälfte einer Pizza in einem aufgeklappten Pizzakarton. Daneben stand ein volles Glas Cola. „Ben?“, rief Semir noch einmal und ging zurück in den Flur. Er kontrollierte Zimmer für Zimmer doch von seinem Partner fehlte jede Spur. Als er zurück ins Wohnzimmer kam, bemerkte er einen dunklen Gegenstand, der halb unter der Couch auf dem Boden lag. Es war ein Handy. Semir bückte sich und hob es auf. Er erkannte es, es war Bens Handy und es war ausgeschaltet. Die Sorgenfalten auf Semirs Stirn wurden immer tiefer. Das passte doch alles überhaupt nicht zu seinem Partner. Semir holte sein Handy aus der Tasche und wählte Susannes Nummer.


    „Hey Semir, was gibt’s?“, begrüßte sie ihn am anderen Ende der Leitung.


    „Ich bin gerade in Bens Appartement, wo ich mal nach ihm sehen wollte, doch hier fehlt jede Spur von ihm. Kannst du bitte mal in den umliegenden Krankenhäusern nachfragen, ob er da vielleicht am Wochenende eingeliefert wurde? Und schickst du mir mal die Nummer von seinem Vater?“


    „Ja, mache ich. Ich ruf dich an, sobald ich was rausgefunden habe.“


    „Okay, danke Susanne! Ciao! Ciao!“


    Gerade als Semir sein Handy einsteckte, hörte er ein Geräusch direkt hinter sich. Ohne einen Moment zu zögern riss er seine Waffe aus dem Holster, entsicherte sie blitzschnell und wirbelte herum.

  • Vor ihm stand eine ältere Dame, die bei dem Anblick von Semirs Pistole einen ängstlichen Schrei ausstieß und erschrocken die Hände nach oben riss. Semir dagegen entspannte sich sofort wieder, steckte die Waffe weg und hielt der Frau stattdessen seinen Dienstausweis hin. „Semir Gerkhan, Kripo Autobahn.“, stellte er sich vor. „Und wer sind Sie?“


    Vorsichtig nahm die Frau ihre Arme wieder runter. „Mein Name ist Anneliese Steudel.“, sagte sie mit noch leicht zittriger Stimme. Semir schätze sie mindestens auf Mitte 80. „Ich bin die Nachbarin von Herrn Jäger. Ich wohne in dem Appartement hier direkt gegenüber.“ Sie deutete mit einer Hand in Richtung Treppenhaus. „Ich habe Sie vorhin gesehen, wie Sie hier in die Wohnung gegangen sind.“


    „Momentmal…“, überlegte Semir „…Sie haben gesehen, wie ich hier reingegangen bin?“


    Die Frau nickte. „Ja, wissen Sie, das kann ich von drüben aus sehen, denn ich lasse tagsüber immer die Wohnungstür einen Spalt weit offen, damit mein Kater rein und raus kann.“


    „Wenn Sie mich eben haben reingehen sehen. Haben Sie dann vielleicht auch gesehen wie der Herr Jäger die Wohnung verlassen hat?“, fragte Semir gespannt.


    „Ja, das habe ich.“, sagte die Frau eifrig. „Das war gestern, aber das war alles ganz seltsam. Wissen Sie, am frühen Abend hat plötzlich ein schwarzer großer Lieferwagen unten geparkt, das konnte ich von meinem Küchenfenster aus sehen. Diesen Wagen habe ich vorher noch nie hier in der Gegend gesehen. Und dann ist ein Mann ausgestiegen, wissen Sie, der hatte Klamotten an wie ein Pizzabote. Da habe ich mich noch gewundert, weil das Auto gar nicht aussah wie ein Auto von einem Pizza-Lieferservice und weil da auch keine Beschriftung drauf war. Aber wissen Sie, der Mann hatte eine Pizza in der Hand und ist damit hoch und hat an der Tür von Herrn Jäger geklingelt. Herr Jäger hat die Pizza bezahlt und sie dann mit reingenommen. Der andere Mann ist danach wieder nach unten gegangen und in den Wagen gestiegen. Und dann hat mich meine Tochter angerufen. Wissen Sie, wir haben lange telefoniert, denn sie ruft so selten an, weil sie beruflich so viel unterwegs ist.“ Die Frau machte eine Pause und strich sich eine ihrer grauen Haarsträhnen aus dem Gesicht.


    „Und weiter?“, drängte Semir ungeduldig. „Wir haben bestimmt fast zwei Stunden gesprochen. Wissen Sie, ich habe ja noch so ein altes Telefon mit Schnur und da habe ich mir mal einen Sessel neben das Telefon gestellt, wo ich sitzen kann, wenn ich so lange telefoniere. Als ich dann aufgelegt habe, bin ich danach direkt in die Küche gegangen und als ich aus dem Fenster geschaut habe, stand der Lieferwagen immer noch da. Ich habe mir dann erstmal etwas zu essen gemacht und dann war auf einmal so ein Tumult im Flur. Da bin ich nochmal an meine Wohnungstür gegangen und habe gesehen wie zwei Männer mit Herrn Jäger die Treppe runter wollten. Aber dem ging es gar nicht gut, der konnte kaum gehen, die anderen beiden mussten ihn stützen. Es stand noch ein dritter Mann dabei, der gesagt hat, dass sie sich beeilen und nicht so einen Lärm machen sollen. Ich bin dann raus und habe gefragt, ob ich einen Arzt rufen soll, weil der Herr Jäger so schlecht aussah, aber die haben gesagt, dass das nicht nötig wäre, sie seien seine Freunde und würden ihn jetzt ins Krankenhaus fahren und dass ich mir keine Sorgen machen sollte. Ich habe ihnen erst noch hinterhergeschaut und dann nach meinem Kater gerufen weil der noch nicht wieder da war. Der ist aber nicht gekommen und als ich dann wieder zurück in die Küche gegangen bin und aus dem Fenster geschaut habe, war der schwarze Lieferwagen weg.“
    „Verdammt!“, rief Semir der die Situation sofort erfasst hatte. „Warum haben Sie denn nicht gleich bei der Polizei angerufen?“ Er riss sein Handy aus der Jackentasche, was im selben Moment klingelte. Auf dem Display wurde Susannes Nummer angezeigt.


    „Ja, Semir!“, meldete sich der Hauptkommissar.


    „Semir es tut mir leid, ich habe nichts herausgefunden. Ben ist in keinem Krankenhaus registriert." Susanne räusperte sich kurz. "Aber das ist ja auch nicht unbedingt schlecht. Die Nummer von Konrad Jäger habe ich dir aufs Handy geschickt.“





    Ben stand im Flur hinter der großen schweren Glastür. Auf der anderen Seite waren das Treppenhaus und zwei Aufzüge zu sehen. Er drückte den Türgriff nach unten, doch die Tür ließ sich nicht öffnen, sie war abgeschlossen. „Fuck!“, wütend schlug er mit der flachen Hand gegen den Türrahmen.


    „Du hast jetzt nicht im Ernst gedacht du könntest hier einfach so raus spazieren, oder?“ Ben, der niemanden hatte kommen hören, dreht sich herum. Vor ihm stand eine Frau die ihn belustigt anlächelte. Sie war hübsch - so hübsch, dass er für einen Moment lang ganz vergessen hatte wo er eigentlich war. Erst als sein Blick auf die vielen Narben an ihren Unterarmen fiel, kehrt er wieder in die Realität zurück.


    „Du bist das erste Mal hier oder?“, fragte die Frau, die seinen erschrockenen Blick zwar bemerkt aber entschlossen ignoriert hatte. „Ich heiße Tanja.“, stellte sie sich vor und lächelte ihn an.


    „Ben“, gab er zögerlich zurück und wunderte sich gleichzeitig über sein Benehmen, da er doch sonst nicht so schüchtern bei Frauen war.


    „Warum bist du hier?“, wollte Tanja wissen.


    „Das würde ich auch gerne wissen“, meinte Ben wahrheitsgemäß und fuhr sich kurz mit der rechten Hand übers Gesicht. „Weißt du wie man hier am besten rauskommt?“


    „Du willst echt abhauen?“ Neugierig blitzen ihre dunklen Augen ihn an. „Die meisten kommen nicht weit. Die werden schneller wieder zurück gebracht, als wie sie hier rausgekommen sind. Du kannst es zwar probieren, aber denk dran, du hast nur diesen einen Versuch. Wenn der nicht klappt wirst du rund um die Uhr überwacht, dann kannst du noch nicht mal alleine pinkeln gehen.“


    Ben, der nicht im Geringsten an ihren Worten zweifelte, bemerkte plötzlich einen gehetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Als er an ihr vorbei den Gang entlang schaute, sah er einen großen kräftigen Mann, der kurz zu ihnen herüber schaute, dann aber von der Stationsleiterin Frau Dr. Bauer in ihr Zimmer geleitet wurde.


    „Scheiße!“, flüsterte Tanja. „Marc hat uns zusammen gesehen.“


    Perplex schaute Ben sie an. „Nimm dich vor ihm in acht. Wir kennen uns schon sehr lange und er denkt ich würde ihm gehören.“ Dann lächelte sie auf einmal. „Naja, manchmal stimmt das ja auch.“


    Doch bevor Ben nachfragen konnte wie sie das wohl gemeint hatte, wurde er von einem der Pfleger gerufen, der mit einem Tablett in der Hand auf dem Flur stand. Ben folgte ihm in das Zimmer, in dem er am Morgen aufgewacht war. Der Mann war ungefähr in Bens Alter, hatte blonde kurze Haare und ein sonnengebräuntes Gesicht. Er trug die weiße Kleidung des Klinikpersonals. Auf seinem weißen T-Shirt hatte er ein Namensschild worauf unter dem Logo der Uniklinik der Name Christian stand.


    „Da du ja heute Morgen das offizielle Frühstück verpasst hast, bekommst du es jetzt hier auf’s Zimmer gebracht.“, sagte Christian und stellte das Tablett auf dem kleinen Tisch ab. „Das ist aber die Ausnahme. Normalerweise essen alle vorne im Speisesaal.“ Er deutete kurz mit der Hand in die Richtung. Dann wandte er sich schon wieder zum Gehen. „Wenn du noch was brauchst, ich bin gegenüber im Stationszimmer, klopf einfach an die Tür.“


    Ben schaute auf das Tablett, wo ein Teller mit mehreren Scheiben Toast, ein Becher Kaffee und ein Becher mit Sprudel standen. Er, der normalerweise über einen sehr gesunden Appetit verfügte und in allen Lebenslagen und zu jeder Tages- und Nachtzeit etwas essen konnte sah nun mit einem leichten Anflug von Ekel auf das vor ihm stehende Essen. Ben war es schlecht. Schon seitdem er aufgewacht war, hatte er so einen seltsamen Druck in der Magengegend gespürt doch ihn bis eben beharrlich ignoriert. Erst jetzt als er das Essen vor sich sah, drängte sich die Übelkeit wieder in sein Bewusstsein. Trotzdem trank er den Kaffee und würgte zwei Scheiben Schinken hinunter, auch wenn die Gefahr bestand das es wieder retour kam. Den Rest musste er stehen lassen, mehr ging einfach nicht. Es dauerte nicht lange bis Christian wieder zurückkam. „Na, keinen Hunger gehabt?“, fragte er mit einem Blick auf das noch immer volle Tablett.


    „Mir ist kotzübel.“, brachte Ben es direkt auf den Punkt.


    „Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Kopfschmerzen…“, zählte Christian auf „…sind alles typische Nebenwirkungen, mit denen viele unserer Patienten hier am Anfang zu kämpfen haben. Doch keine Sorge, dass verschwindet meist nach ungefähr einer Woche. Seh einfach zu, dass du es im Notfall noch rechtzeitig bis zur Toilette schaffst, ja?“ Der Pfleger hatte sich das Tablett genommen und ging wieder in Richtung der Tür wo er sich noch kurz umdrehte „Sorry, mehr kann ich auch nicht machen.“, und dann mit einem mitleidigen Schulterzucken das Zimmer verließ.


    Ben setzte sich auf die Bettkante, stütze seine Ellenbogen auf die Oberschenkel und vergrub das Gesicht in den Händen. Er schien in den schlimmsten aller Alpträume hineingeraten zu sein. Das Gespräch mit Frau Dr. Bauer war am Morgen alles andere als gut verlaufen. Dabei war er fest davon überzeugt, dass er völlig gesund war, doch er konnte es im Moment einfach nicht beweisen. Die Erklärung, dass er vermutete ihm wolle jemand die Psychose anhängen hatte Frau Dr. Bauer lediglich als weiteres Symptom der Krankheit abgetan. Auf sein Verlangen hatte sie ihm auch die richterliche Verfügung, in seinem Fall eine einstweilige Anordnung über die Unterbringung in der Klinik von mindestens sechs Wochen mit Option auf eine dreimonatige Verlängerung, gezeigt. Als Begründung war dort das mysteriöse Video aufgeführt, von welchem die Stationsärztin gesprochen hatte. Ben war geschockt gewesen. Sechs Wochen stand er hier niemals durch. Und wie stellten die sich das überhaupt vor? Bis auf die Klamotten, die er anhatte, seine Schuhe, eine Jeans und ein weißes T-Shirt worüber er ein offenes grün-kariertes Hemd trug, hatte er ja keinerlei persönliche Sachen dabei. Und dann war da noch die Sache mit dem Blackout. Wieder und wieder hatte er verzweifelt versucht sich die letzte Nacht ins Gedächtnis zu rufen, doch es war immer dasselbe. Jedesmal konnte er das vergangene Wochenende wie einen Film vor sich sehen, doch je näher er dem vergangenen Abend kam, desto undeutlicher wurden die Bilder, bis letztendlich alles zu einem großen schwarzen Nichts verschwamm.


    Ben hob den Kopf, es gab nur eine Möglichkeit das Rätsel aufzuklären. Er musste dringend mit seinem Vater sprechen, der die Einweisung veranlasst hatte und dazu musste er hier raus – und zwar so schnell wie möglich.

  • Die Fenster im Flur waren nicht vergittert. Als Ben näher trat fielen ihm die Strahlen der Mittagsonne ins Gesicht und er musste kurz blinzeln. Er sah hinunter auf den Innenhof der Uniklinik. Ben vermutete dass sich die psychiatrische Station mindestens im 2. Stockwerk des Gebäudes befinden musste. Wie viele Meter waren es wohl bis nach unten? 4 Meter? 5? Oder doch mehr? Was wenn er einfach sprang? Ben atmete tief durch. Sollte er es riskieren? Erst jetzt fiel ihm auf das die Fenstergriffe abmontiert waren. Shit! Ein Umstand, der die Aktion natürlich nochmal erschweren würde. Er würde jedenfalls Platz brauchen um vorher Anlauf zunehmen, damit er genug Kraft hatte die Scheibe zu durchbrechen. Abwägend schaute er sich um.


    Doch Moment! Stopp! Worüber dachte er da eigentlich gerade nach? Das war doch total Banane! Die Chance, dass er einen Sprung durch das geschlossene Fenster in dieser Höhe ohne größere Verletzungen überstand war jedenfalls nicht sehr groß. Erschrocken über seine eigenen Gedanken und doch auch ein wenig erleichtert darüber, dass ihm sein Verstand letztendlich wohl doch nicht ganz im Stich ließ, wandte Ben sich von der Fensterfront ab. Es musste doch auch einen anderen Weg geben.




    Die Nadel auf dem Tacho kletterte immer weiter nach oben, bis sie den höchsten Punkt erreicht hatte und sich auf der anderen Seite wieder nach unten senkte. Der Motor des 3er BMWs heulte laut auf bis Semir endlich in den letzten Gang schaltete. Er war gerade auf dem Weg zur Konrad Jäger AG, der großen Baufirma von Bens Vater und er hatte es eilig, sehr eilig sogar. Das eben geführte Telefonat war alles andere als zufriedenstellend gewesen. Anstatt Konrad Jäger selbst hatte Semir lediglich dessen Sekretärin am Apparat gehabt, welche ihm ausgerichtete hatte, dass ihr Chef erst in einer halben Stunden von einem Auswärtstermin zurückkommen würde und dass sie ihn auch vorher telefonisch nicht erreichen könne, da er ausdrücklich gesagt hatte, dass er nicht gestört werden wolle und dass sie aus Erfahrung wisse, dass Herr Jäger bei solch wichtigen Terminen generell zwischendurch nicht an sein Handy ging. Also hatte sich Semir direkt ins Auto gesetzt, damit er Herrn Jäger bei seiner Rückkehr in die Firma gleich befragen konnte, warum er seinen Sohn denn an der Arbeit krank gemeldet hatte, obwohl er doch allem Anschein nach entführt wurde.


    Semir war durch die Erkenntnisse in den letzten Stunden ziemlich aufgekratzt. Er hatte Susanne gebeten, Hotte und Dieter vorbeizuschicken um Frau Steudel mit aufs Revier zu nehmen, damit sie dort ihre Beobachtungen nochmal zu Protokoll geben konnte. Außerdem war ein Team der Spurensicherung bestellt um eventuell hinterlassene Spuren in Bens Wohnung als Beweise sicherzustellen und der Rest von der übrig gebliebenen Pizza war bereits zur Untersuchung auf sämtliche Betäubungsmittel bei Hartmut in der KTU eingetroffen.


    Als Semir endlich den silbernen BMW mit quietschenden Reifen vor dem Bürogebäude der Baufirma zum stehen brachte, war, obwohl er sich so beeilt hatte, schon etwas mehr Zeit wie eine halbe Stunden seit dem Telefonat mit der Sekretärin vergangen. Konrad Jäger musste also schon vor ihm angekommen sein. Eilig stieg Semir aus und warf im Weggehen die Autotür hinter sich zu. Mit schnellen Schritten stieg er die wenigen Stufen bis zur Eingangstür hinauf. Doch gerade als er die große Tür aufstoßen wollte, nahm er aus dem Augenwinkel eine entfernte Bewegung wahr. Semir schaute genauer hin. Da hinten in Richtung der Lagerhallen ging ein dunkelhaariger Mann. Semir konnte ihn zwar nur von hinten sehen, aber das war doch … Ben! Er trug das bekannte grün-karierte Hemd, eine verwaschene Jeans und schwarze Stiefel.


    „Ben!“ rief Semir laut, doch der Angesprochene reagierte nicht auf sein rufen. Er ging weiter und verschwand schließlich hinter einem Baucontainer. Irritiert schaute Semir ihm hinterher. Wieso hatte Ben sein Rufen ignoriert? Er musste ihn doch gehört haben.


    „Ben!“, rief er wieder und sprintete los. Als Semir den Baucontainer erreicht hatte, war der Mann schon beinahe an einer der Lagerhallen angekommen. Semir rannte weiter und dann hatte er ihn fast eingeholt. „Ben! Jetzt bleib doch mal stehen!“


    Der Mann blieb stehen und dreht sich um, doch als Semir sein Gesicht sehen konnte, stoppte er mitten im vollen Lauf. Das war nicht Ben! Diesen Mann hatte er noch nie zuvor gesehen.

  • Ben hatte den restlichen Vormittag damit verbracht nach einer geeigneten Fluchtmöglichkeit zu suchen. Nachdem er von der Stationsleiterin erfahren hatte, dass Herr Dr. Winkler, der für Ben zuständig war, wegen einem Notfall in der Familie heute nicht zur Arbeit kommen würde und seine Vertretung nicht so kurzfristig einspringen konnte, hatte er ja sowieso nichts Besseres zu tun gehabt. Doch das Ganze gestaltete sich wesentlich schwieriger als er anfangs erhofft hatte. Die Klinik glich auf dieser Etage mehr einem Hochsicherheitstrakt als einem Krankenhaus. Penible Sicherheitsvorkehrungen sorgten dafür dass Ben seine Ideen mehrmals schon wieder verwarf bevor er sie überhaupt zu Ende gedacht hatte. Die meisten Türen waren abgeschlossen. Er hatte gerade mal freien Zutritt zu den Toiletten, einem Aufenthaltsraum, einer kleinen fensterlosen Bibliothek, dem Speisesaal und natürlich „seinem“ kleinen Zimmer. Doch so schnell ließ er sich nicht entmutigen. Ihm war noch eine Gedanke gekommen. Manchmal waren die simpelsten Lösungen ja auch gleichzeitig die Besten. Was wenn er einfach den Weg benutzte, den auch das Klinikpersonal benutzte? Die Glastür im Flur hatte ihn immer wieder wie magisch angezogen und er hatte sich mehr oder weniger unauffällig im Flur aufgehalten um zu beobachten wer wann kam oder ging, doch in den letzten beiden Stunden hatte sich dort nicht wirklich etwas getan.


    Gegen Mittag als das Essen vorbereitet wurde, verließ Ben dann seinen Beobachterposten im Flur. Die Essensausgabe fand in einem kleinen Raum neben dem Speisesaal statt. Wie die anderen Patienten bekam Ben am Eingang von einer Pflegerin ein Tablett in die Hand gedrückt. Sie notierte seinen Namen auf einem Zettel, welchen sie nach hinten an eine der Küchenhilfen weitergab. Ben reihte sich in die kurze Schlange vor der Ausgabe ein, doch er musste nicht lange warten. Es ging zügig voran und er bekam Besteck und einen Teller mit Hühnerfrikassee herausgereicht. Das war zwar nicht gerade sein Lieblingsessen, aber wenigstens war ihm nicht mehr so schlecht wie noch vor ein paar Stunden und er hatte inzwischen auch tierischen Hunger. Als Ben danach den Speisesaal betrat, ließ er seinen Blick kurz durch den Raum schweifen. Nur wenige der Tische waren bis jetzt besetzt. Tanja konnte er nicht entdecken und auch von diesem Marc war nichts zu sehen. Ben wählte einen Platz ganz rechts im Raum, von wo aus er sogar die Glastür im Flur sehen konnte. Kaum hatte er sich hingesetzt, steuerte ein kleiner hagerer Mann auf Ben’s Tisch zu.


    „Ich darf mich doch setzten, oder?“ Ohne eine Antwort abzuwarten stellte er sein Tablett auf den Tisch, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich darauf. Ben schob sich gerade mit der Gabel eine Portion Reis mit Hühnchen in den Mund und nickte nur beiläufig, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt im Moment Frau Dr. Bauer, die im Flur auf die Glastür zusteuerte. „Ich bin übrigens Philipp.“, sagte sein Gegenüber. „Hmmm“, murmelte Ben und schob sich eine weitere Ladung von seinem Essen in den Mund. Da! Jetzt holte sie den Schlüssel heraus. Er befand sich an einer Schnur, die irgendwo unter ihrem weißen Kittel verschwand. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drückte, während sie ihn dort herumdrehte auch gleichzeitig die Türklinke herunter. Ben stutze einen Moment. War das eine weitere Sicherheitsvorkehrung? Verfügte die Tür über einen bestimmten Schließmechanismus und lies sich nur öffnen, wenn man Schlüssel und Türgriff gleichzeitig bediente? Oder war es einfach nur Zufall gewesen, dass Frau Dr. Bauer die Tür gerade so aufgeschlossen hatte? Ben aß weiter und schaute ihr beinahe sehnsüchtig hinterher, wie sie in einem der Aufzüge verschwand. Das mit dem Türgriff würde er auf jeden Fall weiter beobachten müssen, damit er sich seiner Sache sicher war und keinen Fehler machte.


    Während Ben nach kurzer Zeit schon gut die Hälfte von seinem Mittagessen verputzt hatte, stand Philipps Teller noch gänzlich unberührt da. Nervös hatte er plötzlich begonnen seinen Bauch abzutasten. Immer wieder drückte er mit beiden Händen an eine bestimmte Stelle und verzog dann kurz das Gesicht. Ben schaute dem Ganzen eine Weile irritiert zu. „Was hast du denn da?“, wollte er schließlich wissen als der Mann überhaupt kein Ende mit dieser Abtasterei zu finden schien.


    Philipp hob den Kopf, lehnte sich dann ein Stück zu Ben herüber und flüsterte beinahe ehrfürchtig: „Da sind Mäuse drin.“ Wieder tasteten seine Finger die besagte Stelle an seinem Bauch ab, als ob er sich vergewissern wollte, dass die Mäuse auch noch da waren, nachdem er es ausgesprochen hatte. „Willst du sie auch mal fühlen?“ Ben hob sofort abwehrend die Hände. „Nee du, lass mal.“
    Philipp warf ihm einen enttäuschten Blick zu, doch dann hellten sich seine Gesichtszüge wieder auf. „Vorgestern habe ich versucht sie rauszuholen.“ Als Beweis schob er sein T-Shirt ein Stück nach oben worunter ein schneeweißer Verband zum Vorschein kam. Ungläubig starrte Ben erst auf den Verband und dann in Philipps Gesicht. Hatte der sich allen Ernstes den Bauch aufgeschnitten um die „Mäuse“ da herauszuholen? Jetzt reichte es. Ben musste auf Abstand gehen. Sofort! Das war zu viel! Der Typ war ja total irre! Geschockt nahm er sein Tablett um sich an einen anderen Tisch zu setzen. Doch dazu sollte es nicht kommen. Denn als Ben aufgestanden war, zog sich sein Magen plötzlich dermaßen zusammen, dass er befürchtete sein Mittagessen würde jeden Moment wieder zum Vorschein kommen. Kurzerhand knallte er das Tablett wieder zu Philipp auf den Tisch und rannte in den Flur in Richtung Toiletten.


    „Herr Jäger! Was ist los?“ rief ihm eine der Schwestern alarmiert hinterher. Ben drehte sich im vollen Lauf um, eigentlich wollte er ihr kurz antworten, doch sein Magen signalisierte ihm, dass keine Zeit für Erklärungen blieb. Als er wieder nach vorne schaute, stand Marc wie aus dem Nichts direkt vor ihm und versperrte ihm den Weg.
    „Lass mich durch Mann!“, schrie Ben. Er wusste, dass er es nicht mehr rechtzeitig bis zu den Toiletten schaffen würde. Trotzdem versuchte er es nochmal an Marc vorbeizukommen, doch der stellte sich ihm wieder in den Weg. Und dann kam was kommen musste. Ben erbrach sich. Sein Mageninhalt landete teilweise an der Wand, teilweise auf dem gräulichen Linoleumboden und auch auf Marcs Schuhen. „Igitt, du widerliches Schwein!“, schrie Marc sofort los und machte einen bedrohlichen Schritt auf Ben zu. Doch plötzlich war Tanja da. Fast wie aus dem Nichts war sie aufgetaucht und stellte sich zwischen die beiden Männer. Sie wandte sich sofort flehend an Marc. „Bitte reiß dich zusammen ja? Du musst jetzt nicht ...

    „Halts Maul!“, keifte Marc und schlug ihr derb ins Gesicht. Durch die Kraft des Schlages verlor Tanja ihr Gleichgewicht und stürzte zu Boden.


    „Sag mal geht’s noch?“, mischte Ben sich ein. „Was hast du denn für ein Problem? Wenn du hier nicht so blöd im Weg rumgestanden hättest, hätte ich dich auch nicht vollgereiert.“ Dann wandte er sich an Tanja um ihr aufzuhelfen.


    „Fass sie nicht an!“, zischte Marc leise. Der drohende Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Doch Ben ließ sich davon nicht einschüchtern. Marc im Augenwinkel behaltend, streckte er seine Hand entschlossen nach Tanja aus um sie hochzuziehen, doch sie wich erschrocken zurück. Noch im selben Moment ging Marc auf Ben los. Obwohl er mit einem Angriff gerechnet hatte, wurde Ben von Marcs kräftiger Attacke an die Wand neben ihm gedrückt. Marc setzte wieder zum Schlag an, doch diesmal duckte Ben sich rechtzeitig nach unten. Als er wieder hochschnellte, rammte er Marc seine Faust mit voller Wucht in den Bauch. Marc krümmte sich und schnappte nach Luft. Ben nutzte die Gelegenheit und schlug gleich nochmal zu. Der Kerl hatte es nicht anderes verdient. Diesmal traf er ihn mitten im Gesicht. Marc brüllte los vor Schmerz und Wut. Blut lief ihm aus der Nase und als er sich an die schmerzende Stelle gefasst hatte und dann das Blut an seiner Hand sah, stürzte er sich lauf fluchend erneut auf Ben.


    Die Auseinandersetzung der beiden war nicht lange unbemerkt geblieben. Eine Pflegerin war herbeigeeilt, immer wieder brüllte sie lautstark „Auseinander!!!! Auseinander!!!!“. Doch Ben hatte gar keine Zeit darauf zu achten. Es schien als wäre in Marcs Kopf nun endgültig die Sicherung durchgebrannt. Er attackierte ihn immer energischer. Wahllos schlug er zu und Ben hatte bald Mühe die Angriffe abzuwehren. Auch wenn Marcs Vorgehen kein System hatte, war er Ben doch körperlich überlegen. Er drängte ihn immer weiter zurück in Richtung des Speisesaales. Und dort kam gerade eine der Küchenhilfen mit einem Abräumwagen um die Ecke, auf dem sich stapelweise frische Teller für die Kantine befanden. Erschrocken riss sie den Wagen noch zur Seite, doch Marc schien es genau darauf abgesehen zu haben. Er packte Ben und stieß ihn rücklings mit solch einer Kraft dagegen, dass Ben zusammen mit mit dem Wagen umkippte. Die Teller fielen mit einem ohrenbetäubenden Poltern auf den Boden wo sie in unzählige kleine und große Stücke zersplitterten. Ben landete auf dem Rücken inmitten der Scherben. Er war hart mit dem Hinterkopf aufgeschlagen und blieb benommen liegen. In seinem Kopf dröhnte es fürchterlich und alles um ihn herum schien sich zu drehen, inklusive Marc, der über ihm kniete und mit einer scharfkantigen Scherbe in der Hand zum nächsten Schlag ausholte. Wie in Trance sah Ben Marcs Hand mit dem Stück Porzellan auf sich zukommen. Erst als die Scherbe seinem Gesicht schon bedrohlich nahe war, brachte er eine schwache Abwehrbewegung zustande. Marc verfehlte dadurch zwar sein eigentliches Ziel, erwischte ihn aber trotzdem über dem linken Auge an der Stirn. Ben hatte noch reflexartig den Kopf zur Seite gedreht doch Marc verpasste ihm einen Schnitt, der bis zum Haaransatz reichte. Ben stöhnte auf. Es dauerte nicht lange bis Blut aus der Wunde quoll. Berauscht von diesem Anblick holte Marc ein zweites Mal aus. Diesmal konnte Ben etwas zügiger reagieren. Er griff nach Marcs Handgelenk um den Schlag zu stoppen, doch wieder war Marc schneller. Mit einer fixen Bewegung zog er die Scherbe einmal quer durch die Innenfläche von Bens rechter Hand. Ben schrie als er spürte wie ihm das kühle Porzellan ins Fleisch schnitt. Doch es war mehr der Schock als der Schmerz, der ihm den Schrei entlockt hatte. Letzteren spürte er dank eines weiteren Adrenalinausstoßes kaum.


    „So, jetzt sag Lebewohl du Penner!“, zischte Marc mit einem diabolischen Grinsen, welches von einem unheimlichen Zucken um seine Mundwinkel begleitet wurde. Als er erneut ausholte, hatte er Bens Halsschlagader im Visier. Doch er hatte seine Rechnung ohne Ben Jäger gemacht. Von Marc unbemerkt hatte Ben mit seiner unverletzten linken Hand ebenfalls nach einer Scherbe getastet und auch schnell eine zufassen bekommen. Das Stück war zwar nicht so groß wie das, welches Marc in der Hand hatte, doch es war mindestens genauso scharf. Diesmal war Ben der Schnellere. Mit voller Kraft rammte er es Marc in die Seite. Dann ging alles sehr schnell. Marc brüllte los vor Schmerz, gleichzeitig sah es so aus als ob er beinahe die Balance verlieren würde. Ben zögerte keine Sekunde. Er stieß Marc von sich herunter und packte ihn dann von hinten. Marc schrie wie am Spieß, als Ben ihm den rechten Arm auf den Rücken verdrehte. Ben verharrte in dieser Position. Schwer atmend kniete er auf Marcs Rücken und hielt seinen Arm weiterhin in dieser Stellung.


    Doch Ben blieb nicht viel Zeit um sich zu sammeln. Auf einmal wurde er von hinten gepackt und von Marc weg zu Boden gerissen wo er auf dem Bauch zu liegen kam. Mehrere Dinge drangen gleichzeitig in sein Bewusstsein. Der dumpfe Schmerz in seiner verletzten Hand und ein Stechen in seinen Knien und Ellbogen, als er unsanft auf dem Linoleumboden landete. Mehrere starke Hände hielten ihn fest und drückten ihn zu Boden. Um ihn herum schien alles in ein einziges Chaos ausgeartet zu sein. Überall wuselten auf einmal Pfleger in weiß herum. Von allen Seiten waren Rufe zu hören:


    „Er hat ihm die Schulter ausgekugelt!“


    „Warum hat das so lange gedauert?“


    „Scheiße, hier ist überall Blut!“


    „Wo bleibt das Flunitrazepam?“


    Irgendjemand heulte im Hintergrund und Marc brüllte immer noch wie von Sinnen. Ben wollte aufstehen, doch er wurde rücksichtslos daran gehindert. „Schön liegen bleiben.“, hörte er eine Stimme rechts direkt neben sich.


    „Lasst mich los! Wir können über alles reden, ja!“, schrie Ben unter verzweifelter Gegenwehr. Doch je mehr er sich wehrte umso fester hielten sie ihn gepackt. Was sollte das denn jetzt? Warum ließen sie ihn nicht los? Er hatte es doch gerade geschafft den durchgeknallten Marc kampfunfähig zu machen. Und das war jetzt der Dank dafür? Er verstand die Welt nicht mehr.


    „Haltet ihn unten! Und nimm die andere Seite.“, das war wieder Stimme von rechts. Kurz darauf spürte Ben eine Berührung an seinem linken Handrücken. Alarmiert hob er den Kopf so weit es ging, um zu sehen was da los war. Die wollten ihn sedieren! Erschrocken zuckte er zurück, doch es war schon zu spät, die Nadel steckte bereits in der Vene und er konnte fühlen wie die Flüssigkeit in seine Hand gelangte.


    „Was soll der Scheiß?“, keuchte er entgeistert. Das war das Schlimmste, was ihm in dieser Situation passieren konnte! Das schreckliche Gefühl dem Geschehen hilflos ausgeliefert zu sein und rein gar nichts tun zu können um die Kontrolle zurück zu erlangen, machte ihn fertig, er wurde panisch..


    „Ganz ruhig, Herr Jäger ganz ruhig.“, immer wieder redete jemand auf ihn ein. Doch Ben war alles andere als ruhig. Hochgepusht vom Adrenalin raste sein Herz wie wild, jede seiner Muskeln war bis zum Zerreißen angespannt und seine Atmung war so hektisch, dass sie sich beinahe überschlug. Zu allem Überfluss lief ihm auch noch das Blut aus der Stirnwunde ins linke Auge und schränkte seine Sicht ein. Quälend lange Minuten vergingen, in denen Ben sich immer wieder gegen die Pfleger wehrte und gleichzeitig verzweifelt versuchte mit aller Kraft gegen das Sedativum in seinem Körper anzukämpfen. Es durfte keine Kontrolle über ihn bekommen, nicht jetzt!


    Doch er hatte keine Chance, mit jedem Herzschlag verteilte es sich weiter durch die Blutbahn in Richtung Nervenzentrum um dieses zu betäuben. Und dann spürte Ben wie seine Kräfte nachließen. Er wollte schreien doch er brachte keinen Ton mehr heraus. Fuck! Warum half ihm den niemand? Krampfhaft versuchte er noch die Augen offen zu halten.


    Ben hörte noch wie Marc schrie: „Er hat mich angegriffen, der Penner! Macht ihn fertig!“


    Doch es war ihm egal. Plötzlich war ihm alles egal. Langsam dämmerte er weg in eine kalte Welt aus Nebel und Willenlosigkeit.

  • Der Mann in dem grün-karierten Hemd starrte Semir verunsichert an. „Was wollen Sie?“, fragte er in gebrochenem Deutsch.


    „Ich… ich habe Sie verwechselt.“, entschuldigte sich Semir, der nach dem kurzen Sprint gerade wieder zu Atem kam. „Ich dachte Sie wären der Sohn vom Chef, Ben Jäger. Kennen Sie den?“


    „Ich niemand kennen. Nur hier Aushilfe.“ Der Mann schien es eilig zu haben und wandte sich zum Gehen.


    „Moment mal…“, rief Semir, doch der Mann hatte sich schon ein paar Schritte entfernt. „Keine Zeit!“, rief er dem Hauptkommissar noch über die Schulter zu, bevor er hinter einem Bauwagen verschwand. Seltsam berührt von dieser Begegnung drehte Semir sich um und ging zurück zum Haupteingang des großen Bürogebäudes. Zum zweiten Mal stieg er nun die Stufen bis zur Eingangstür hinauf. Als er das Gebäude betrat stand er in einer großen hellen Eingangshalle, an dessen hinterem Ende sich ein Empfangstresen befand. Links und rechts an den Wänden hingen überall Bilder von großen Bauprojekten an denen die Konrad Jäger AG beteiligt war. Am Empfang saß eine hübsche Brünette, die Semir freundlich anlächelte, als er näher trat. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie und schaute ihn mit ihren dunklen Augen aufmerksam an.


    „Ich habe einen Termin bei Konrad Jäger.“, schilderte Semir sein Anliegen.


    „Okay, dann melden Sie sich oben bei Frau Kühnl, seiner Sekretärin. Dritter Stock, das vorletzte Büro auf der rechten Seite. Zum Fahrstuhl geht es da entlang.“, die junge Frau deutete in den Gang auf der rechten Seite. Semir bedankte sich und schlug den vorgegebenen Weg ein. Er hatte Glück, denn gerade als er den Fahrstuhl erreichte, öffneten sich dessen Türen und zwei Männer kamen heraus. Semir betrat den Fahrstuhl und drückte auf die Taste mit der Nummer 3. Als die Türen sich geschlossen hatten, musterte er sich kurz im Spiegel. Was würde ihn da oben erwarten? Wie lange war es her, dass er Bens Vater das letzte Mal gesehen hatte? Wie würde auf Semirs Anschuldigungen reagieren? Ihm schossen sämtliche Fragen durch den Kopf und die Fahrt nach oben schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, doch dann ertönte endlich das erlösende „Bing“ als der Aufzug das dritte Stockwerk erreicht hatte und die Türen sich öffneten. Semir folgte dern Anweisungen der Empfangsdame und blieb vor dem vorletzten Zimmer auf der rechten Seite stehen. Neben der Bürotür war ein Schild mit der Aufschrift „Monika Kühnl – Sekretariat - “ angebracht. Semir klopfte und eine Frauenstimme bat ihn von innen herein. Er öffnete die Tür und sah eine blonde Frau mittleren Alters auf sich zukommen. Sie war schlank und trug eine hellgrüne Bluse und einen mittellangen Rock. Sie sah ordentlich und gepflegt aus, so wie man es für dieses Unternehmen erwartete.


    „Semir Gerkhan.“, stellte sich der Hauptkommissar kurz vor und drückte hinter sich die Tür ins Schloss.


    „Guten Tag Herr Gerkhan. Ich bin Monika Kühnl, wir hatten telefoniert“, die Sekretärin schüttelte ihm die Hand. „Herr Jäger ist noch nicht hier.“, informierte sie Semir sofort.


    „Was soll das heißen, er ist noch nicht hier?“ fragte Semir ungeduldig. Er war doch nicht wie ein Bekloppter hierher gerast, nur um gesagt zu bekommen Konrad Jäger sei noch nicht hier.


    „Er ist noch nicht von seinem Termin zurückgekommen.“, erklärte Frau Kühnl. Das Telefon auf ihrem Schreibtisch begann zu klingeln und die Sekretärin griff nach dem Telefonhörer um den Anruf entgegen zunehmen. Semir trat ans Fenster. Als er hinausschaute fiel sein Blick sofort auf den großen Wagen, der da unten auf dem Parkplatz stand. Es war ein Bentley Continental in dunkelgraumetallic, ein aktuelles Modell. Die Luxuskarosse sah verdächtig nach dem Multimillionär aus. Der Wagen würde wohl kaum Frau Kühnl oder sonst einem der Angestellten gehören.


    „Sind Sie sicher, dass der Herr Jäger noch nicht zurückgekommen ist?“, fragte Semir als Frau Kühnl das Telefongespräch schon nach kurzer Zeit beendet hatte. „Das da unten ist doch bestimmt nicht Ihr Auto.“, schob er noch nach und sah die Sekretärin fragend an.


    „Ähm, nein.“, lächelte sie verlegen. „Der Wagen gehört Herrn Jäger, aber er ist mit einem Firmenwagen unterwegs.“


    „Aha“, meinte Semir nachdenklich, der ihren Worten nicht so richtig glauben konnte. Warum sollte Bens Vater für einen Geschäftstermin seinen Sportwagen gegen einen ausgelutschten Firmenwagen eintauschen? Da war doch was faul. Semir schaute auf und bemerkte erst jetzt eine zweite Tür in dem Büro der Sekretärin. Neben der Tür vom Flur, durch die er in das Zimmer getreten war, gab es noch eine weitere auf der rechten Seite des Raumes. War es nicht oft so, dass das Büro des Chefs mit dem der Sekretärin direkt verbunden war?


    „Was ist denn da hinter der Tür?“, erkundigte sich Semir und ging neugierig ein paar Schritte darauf zu.


    „Dort ist das Büro von Herrn Jäger.“, gab die Sekretärin zögernd zurück.


    „Achso.“, meinte Semir erfreut und ging darauf zu.


    „Stopp! Sie können da nicht einfach reingehen!“, rief Frau Kühnl sofort hektisch und stürzte um ihren Schreibtisch herum. Doch Semir war schneller. Unbeeindruckt von den Rufen der Sekretärin stieß er schwungvoll die Tür auf und tatsächlich! In dem angrenzenden Büro saß Konrad Jäger mit drei weiteren Männern um einen Tisch herum versammelt, auf dem sämtliche Unterlagen ausgebreitet waren. Die Köpfe der vier Männer waren herumgeschnellt und sie starrten ihn alle überrascht an, als Semir auf einmal mitten im Raum stand.


    „Herr Jäger es tut mir leid! Ich konnte ihn nicht aufhalten!“, entschuldigte sich die Sekretärin, welche sich direkt hinter ihn in das Zimmer gedrückte hatte. Semir sah wie Konrad Jäger ihr einen verärgerten Blick zuwarf. Es schien kurz als hätte er Luft geholt um etwas zu sagen, es dann aber doch hinuntergeschluckt. Ohne dass sie dazu aufgefordert wurde, dreht sich die Sekretärin um und ging wieder in ihr angrenzendes Büro.


    „Semir Gerkhan.“, stellte der Bauunternehmer mit Blick auf den ungebetenen Besucher fest und erhob sich von seinem Stuhl. Bens Vater trug ein dunkelblaues Hemd und eine helle Hose, seine grauen Haare waren ordentlich nach hinten gekämmt. Selbstsicher ging er auf Semir zu. Die Art wie er auftrat ließen keine Zweifel daran, wer hier das Sagen hatte.


    „Herr Jäger, ich muss Sie mal dringend unter vier Augen sprechen, es geht um Ihren Sohn.“, brachte Semir sein Anliegen ohne Zeit für Höflichkeitsfloskeln zu verschwenden direkt auf den Punkt.


    Der Bauunternehmer musterte Semir kurz mit einem abschätzenden Blick. Dann wandte er sich an die anderen Männer im Raum. „Sie haben es gehört, meine Herren. Wenn Sie uns also für einen Augenblick alleine lassen würden?“
    Doch nur zwei der Angesprochenen standen auf und verließen das Büro. Der dritte, ein großer Mann mit stechenden blauen Augen und einem grauen Anzug, blieb auf seinem Stuhl sitzen.


    „Das ist Felix Winkler, mein Berater. Ich habe keine Geheimnisse vor ihm.“, äußerte Konrad Jäger, als er Semirs fragenden Blick bemerkte.


    „Wie Sie meinen“, sagte Semir mit einem kurzen Seitenblick auf den Berater, der ihn seinerseits arrogant musterte.


    „Machen Sie es kurz, ich habe nicht viel Zeit.“ Ungeduldig verschränkte Bens Vater die Arme vor der Brust. Semir runzelte verständnislos die Stirn, ehe er antwortete. Diese Einstellung teilte er selbst überhaupt nicht. Wenn es um seine eigene Familie ging, würde er sich alle Zeit der Welt nehmen, aber es gab eine Menge Menschen die das anders zusehen schienen und Konrad Jäger zählte wohl zu dieser Sorte dazu.


    „Sie haben Ben heute Morgen an der Arbeit krank gemeldet.“, begann Semir. „Ich war vorhin bei ihm, um zu sehen wie es ihm geht, aber er war nicht zuhause, es fehlt jede Spur von ihm.“ Er machte eine kurze Pause um zu sehen wie die Worte auf sein Gegenüber wirkten. Die Sache mit der Entführung hatte er erstmal absichtlich zurück gehalten. Jetzt scannte er die Gesichtszüge des Bauunternehmers nach Hinweisen auf irgendetwas, das ihm in seiner Vermutung bestätigte, dass Konrad Jäger etwas mit dem Verschwinden von seinem Sohn zu tun hatte, doch der Berater funkte ihm dazwischen.


    „Moment mal…“, polterte der sofort los „… nur deswegen sind Sie hier in unsere Besprechung geplatzt?“ Er lachte kurz auf. „Konrads Sohn ist erwachsen, der braucht doch kein Kindermädchen, das bei ihm Händchen haltend am Bett sitzt, wenn er krank ist!“


    „Ja schön, dass Sie so gut über alles informiert sind!“, gab Semir lautstark zurück und funkelte den blassen Berater wütend an.


    „Es ist okay, Felix. Herr Gerkhan ist der Dienstpartner von meinem Sohn.“, informierte Bens Vater Herrn Winkler und wandte sich dann an Semir: „Ja, das ist richtig, ich habe ihn krank gemeldet. Er wird die nächsten Wochen nicht zur Arbeit kommen und auch nicht zuhause sein.“


    „Was soll das denn heißen?“, fragte Semir sofort ungeduldig. Er wollte jetzt endlich wissen was hier los war.


    „Es gibt bestimmte Dinge, bei denen es besser ist, wenn Sie nicht an die Öffentlichkeit gelangen.“, entgegnete der Bauunternehmer abgespannt und fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht.


    „Was denn für Dinge?“, Semir, in dessen Vorstellung sich gerade alles überschlug, sah Bens Vater perplex an. Doch Konrad Jäger atmete nur hörbar aus ohne etwas zu erwidern.


    „Herr Jäger antworten Sie mir!" Die Anspannung lies Semirs Stimme laut werden. "Ich mache mir Sorgen um Ben!“


    „Ihr Engagement in allen Ehren, Herr Gerkhan.", antwortete sein Gegenüber indes ruhig und gefasst. "Aber ich bin nicht verpflichtet Ihnen zu antworten und darf Sie bitten jetzt zu gehen.“ Mit diesen Worten war Konrad zur Tür gegangen und hielt sie auf, doch Semir war ihm nicht gefolgt. Wie angewurzelt stand er mitten im Raum. Fassungslos darüber, dass Bens Vater ihn einfach so rausschmeißen wollte, verlor er für einen kurzen Moment die Kontrolle über seine Gesichtszüge.


    „Herr Jäger, reden Sie mit mir!“, bat Semir eindringlich. „Ben war doch am Freitagnachmittag nach der Arbeit noch bei mir, da war alles in Ordnung. Was ist denn passiert?“


    Semir konnte erkennen wie Konrad Jäger einen kurzen Moment mit sich rang. „Es gab am Sonntag einen Vorfall, der … sagen wir … einiges verändert hat.", lies er dann schließlich zögernd verlauten. "Doch mehr kann ich Ihnen nicht sagen und jetzt gehen Sie bitte.“


    „Einen Vorfall, aha!“, ereiferte sich Semir. „Ich kann Ihnen sagen, was das für ein Vorfall war! Am Sonntagabend haben drei Männer Ben aus seiner Wohnung entführt.“, lies er nun die Katze aus dem Sack. „Stellt sich nur die Frage wo die ihn hingebracht haben? Aber das können Sie mir ja bestimmt sagen, schließlich wissen Sie ja wohl was hier läuft.“ Herausfordernd blitze Semir den Firmenchef an.


    „Herr Gerkhan, das geht zu weit!“ Nun war es um die Fassung seines Gegenübers geschehen, auch er wurde laut. „Sie mischen sich nicht nur in meine privaten Familienangelegenheiten ein, sondern beschuldigen mich auch noch, dass ich etwas mit der angeblichen Entführung von meinem Sohn zu tun habe?!“


    „Das ist schon längst keine private Familienangelegenheit mehr.“, stieß Semir bitter hervor.


    „Das ist doch lächerlich! Weiß überhaupt Ihre Dienstvorgesetzte, was Sie hier treiben?“, wollte Konrad Jäger wissen.


    Semir ignorierte die Frage nach der Dienstvorgesetzen, was spielte das auch jetzt für eine Rolle? „Das ist nicht lächerlich! Wir haben eine Zeugin, die gesehen hat, wie Ben entführt wurde!“, entgegnete er stattdessen.


    „Das wird ja immer besser!" Konrad klatschte in die Hände. "Was soll das denn bitte für eine Zeugin sein?“, fragte er dann und Semir meinte für den Bruchteil einer Sekunde einen verunsicherten Ausdruck in den Augen des anderen gesehen zu haben. „Eine Nachbarin.“, gab der Hauptkommissar dann triumphierend preis.


    „Etwa, die senile Alte von gegenüber?“, schaltete sich Felix Winkler plötzlich ein. „Hat Sie Ihnen vielleicht auch zufällig von der Katze erzählt, weswegen sie ihre Wohnungstür immer einen Spalt offen lässt? Das Vieh ist seit mindestens drei Jahren tot. Die wird Ihnen irgendeinen Schwachsinn aufgetischt haben, nur damit sie mal wieder jemanden zum Reden hat.“


    „Woher kennen SIE denn die Frau?“, wollte Semir überrascht wissen.


    „Ein Bekannter von meinem Neffen wohnt auch dort und hat mir schon öfter von ihr erzählt.“, erwiderte der Berater mit einem selbstgefälligen Lächeln.


    „Wie Sie sehen gibt es also keinen Anlass zur Sorge.“, fasste Konrad Jäger die Situation nun wieder mit ruhiger Stimme zusammen. „Und jetzt verlassen Sie mein Büro, oder muss ich den Sicherheitsdienst rufen?“


    Semir war perplex und wütend zugleich. Bens Vater wollte also tatsächlich nicht mit der Sprache rausrücken. „Ich versichere Ihnen, wir werden die Sache aufklären und wenn Sie irgendwas damit zu tun haben, dann bringe ich Sie höchstpersönlich in den Knast!“ Mit diesen Worten wollte Semir an Konrad Jäger vorbei zur Tür gehen, doch der packte ihn an der Schulter und hielt ihn auf. Er hatte seine Stimme zu einem leisen Flüstern gesenkt: „Wenn Sie meinen Sohn noch einmal lebend wiedersehen wollen, dann stellen Sie sofort die Ermittlungen ein und verschwinden Sie von hier.“


    „Herr Jäger, damit kommen Sie nicht durch! Niemals! Das verspreche ich Ihnen!“, stieß Semir, bemüht die Fassung nicht zu verlieren, beinahe heiser hervor.


    "Denken Sie an meine Worte, wenn sie ihn wirklich retten wollen.", presste Konrad Jäger warnend hervor, ehe er seine Hand von Semirs Schulter nahm und mit versteinertem Gesicht einen Schritt zurück trat.


    "Ich hätte niemals geglaubt was Sie für ein großes Arschloch sind.", entgegnete Semir kalt, ehe er das Büro verließ.


    Felix Winkler und Konrad Jäger tauschten noch einen kurzen Blick aus, dann ging Letzterer in das Büro seiner Sekretärin.


    Winkler war von seinem Stuhl aufgestanden und ans Fenster getreten. Er beobachtete genau wie Semir das Gebäude verließ und in seinen Wagen stieg. Dann holte der Berater sein Handy aus der Hosentasche und wählte eilig eine Nummer.







    Der Mann in dem grün-karierten Hemd stieg die wenigen Stufen des Bauwagens hinauf und schloss nachdem er eingetreten war, sorgfältig die Tür hinter sich zu. Er drehte sich herum und zuckte erschrocken zusammen, als er zwei Männer bemerkte, die schon auf ihn gewartet zu haben schienen. Der eine hatte eine große kräftige Statur, erinnerte irgendwie an Rambo, wohingegen der andere eher klein und zierlich wirkte. Während der Große mit verschränkten Armen und angekratztem Gesichtsausdruck da stand, lehnte der Kleine lässig an dem Schrank neben dem Tisch und schien sich an den beiden Kinderfotos, die neben ihm an der Wand hingen, zu erfreuen.


    „Du Idiot!“, fuhr Rambo den Eintretenden direkt an. „Was sollte das denn gerade da vorne? Schlimm genug, dass er dich gesehen hat und dann unterhältst du dich auch noch mit ihm?!“


    „Das war sehr dumm von dir.“, tadelte nun auch der Kleine, wandte sein Blick von den Fotos ab und trat bedrohlich nahe an den anderen Mann heran. Sein Blick bohrte sich tief in die Augen seines Gegenübers.


    „Ich nichts gesagt!", versuchte dieser mit zittriger Stimme zu versichern. "Ich schwöre, ich nichts gesagt. Kommt nie wieder vor."


    Von dem anderen unbemerkt war das Klappmesser beinahe lautlos aufgesprungen. „Keine Sorge, es wird nicht wieder vorkommen, da bin ich mir ganz sicher.“ Mit den letzten Worten hatte der Kleine ihm das Messer ohne mit der Wimper zu zucken bis zum Schaft in den Bauch gerammt. Erschrocken weiteten sich die Augen des Opfers und er taumelte zurück. Sein Mund öffnete sich noch, doch es kam kein Ton mehr heraus. Beinahe in Zeitlupe kippte er nach hinten auf den Boden, wo er mit starr aufgerissenen Augen liegen blieb.


    „Bist du verrückt?“, fuhr Rambo den Kleinen an. „Was soll das??? Vielleicht brauchten wir ihn noch.“


    Der Kleine zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht griff er in die Innentasche seines Jacketts. „Alles wozu wir ihn gebraucht haben, mein Lieber,..“, triumphierend hielt er einen kleinen USB-Stick in die Luft „..ist hier drauf.“


    Das Handy von Rambo klingelte. Er zog es aus der Tasche, entriegelte die Displaysperre und hielt es sich ans Ohr. „Winkler, was gibt’s?“


    „Schick Bosco und seine Männer los. Die sollen den Bullen überwachen, der gerade hier war. Er fährt einen silbernen 3er BMW mit dem Kennzeichen D-BM 3308.“

  • Mühsam öffnete Ben seine verklebten Augen. Sofort stach ihm gleisend helles Licht wie Messer in die Augen und löste direkt eine Lawine aus Schmerz und Schwindel in seinem Kopf aus. Erschrocken kniff er die Augen wieder zu. Er musste sich zwingen ein paar Mal tief durchzuatmen bevor er einen weiteren Versuch startete und irritiert in diese verdammte Helligkeit blinzelte. Was er sah war weiß, alles war weiß.
    Wo war er? Was war passiert? Er lag jedenfalls auf der Seite und neben diesen höllischen Kopfschmerzen fühlte sich auch der Rest seines Körpers ziemlich beschissen an. Sein Mund war trocken und als er schlucken wollte, merkte er dass sich auch sein Hals rau und unangenehm anfühlte. Sein Oberkörper schmerzte und auch sein Magen schien zu rebellieren, wobei Ben noch nicht mal genau sagen konnte ob vor Hunger oder einfach nur vor Übelkeit.
    Langsam drangen nach und nach die Ereignisse der vergangenen Stunden wieder in sein Gedächtnis. Das Mittagessen…, Philipp und die Mäuse…., der Kampf mit Marc….., die Pfleger… die Spritze.... Ben stöhnte leise auf.
    Seine Augen hatten sich inzwischen einigermaßen an dieses helle Licht um ihn herum gewöhnt und er war wieder in der Lage seine Umgebung wahrzunehmen. Als er sich aufrichtete um besser umsehen zu können, durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz in der rechten Hand und sein Blick fiel direkt auf einen Verband, der fest um Handinnenfläche und Handrücken gewickelt war. Ben versuchte den Schmerz zunächst zu ignorieren und schaute sich um. Was er sah ließ seine Laune sofort noch weiter in den Keller sinken. Er saß auf einer Matratze, die sich in einem kleinen quadratischen Raum befand. Wände, Boden und Decke waren komplett in weiß gehalten und schienen alle aus demselben Material zu bestehen, was sich gummiartig zäh anfühlte und unter Druck leicht nachgab. In einer der Wände konnte er die Umrisse einer Tür erkennen. Ein Fenster gab es nicht, allein die in der Decke eingelassenen Leuchtstoffröhren sorgten dafür, dass der ganze Raum in blendend helles Licht getaucht war. Und erst jetzt bemerkte er die Kamera über ihm an der Decke, die unentwegt auf ihn hinunter starrte.
    Das durfte doch echt nicht wahr sein! Ben unterdrückte das Bedürfnis den Mittelfinger in Richtung der Kamera zu halten und rutsche ein Stück nach hinten, bis er mit dem Rücken an der Wand lehnte. Er hatte in der Zeit seiner beruflichen Laufbahn einmal an einer Schulung teilgenommen, in denen die Polizisten auf Extremsituationen im Falle einer Entführung vorbereitet wurden. Er erinnerte sich noch genau daran wie der Ausbilder den Teilnehmern damals immer wieder eingebläut hatte wie wichtig es war das Zeitgefühl in einer solchen Situation nicht zu verlieren. Doch Ben war sein Zeitgefühl völlig abhanden gekommen. Er hätte es beim besten Willen nicht sagen können, wie viele Stunden seit dem Kampf mit Marc wohl vergangen waren. Ohne Tageslicht, an dem er sich hätte orientieren können schien diese Aufgabe unlösbar zu sein. Zudem befand er sich hier ja auch nicht in der Hand irgendwelcher Entführer sondern in einer gottverdammten Psychiatrie. Und er wusste nicht mal warum. Frustriert schloss er für einen Moment die Augen. Der Schmerz in der Hand war mittlerweile in ein dumpfes Pochen übergegangen. Das Gitarrespielen konnte er jedenfalls erstmal vergessen. Wobei hier würde er ja sowieso keine bekommen, schließlich bestand ja die Gefahr, dass er die Saiten herausriss und jemand anderen oder gar sich selbst damit erwürgte, dachte er sarkastisch.



    Ben war immer noch tief in seinen Gedanken versunken, als sich irgendwann die Tür öffnete und eine Frau in Begleitung zweier Pfleger den Raum betrat. Ben merkte wie sich ein Körper bei dem Anblick der beiden Männer ohne es zu wollen anspannte und wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Eine Reaktion, die ihn beunruhigte. Wenn das so weiterging würde er spätestens bei seiner Entlassung tatsächlich einen an der Klatsche haben, so viel stand jedenfalls fest.


    „Ist okay.“, nickte die Frau den Pflegern zu, die seine angespannte Haltung bemerkt hatte, worauf die beiden den Raum wieder verließen.


    „Ich heiße Monika Marini und bin als Psychiaterin hier im Kriseninterventionsbereich zuständig.“, stellte sie sich kurz vor und betrachtete Ben aufmerksam. „Folgendes weiß ich bisher über Sie Herr Jäger. Sie sind 35 Jahre alt, von Beruf Polizist, eingewiesen mit Verdacht auf akute Psychose, laut Angaben Familienangehöriger erster stationärer Aufenthalt, genaue Vorgeschichte noch unbekannt, Neigung zu destruktivem Verhalten gegenüber Mitpatienten.“, fasste sie kurz zusammen. „Wie hoch schätzen Sie aktuell Ihr Aggressionspotential auf einer Skala von 0 bis 10 ein?“, wollte sie dann wissen.


    „Bitte was?“, fragte Ben irritiert. Seine Stimme hatte rau und ungewohnt geklungen.


    „Nach dem Vorfall mit Marc Riemann ist es für mich wichtig zu wissen ob Sie in der Lage sind Ihre Gefühle einzuschätzen und wie weit dieses Empfinden gegebenenfalls von der Realität abweicht. Außerdem interessiert mich Ihr Aggressionspotenzial direkt vor dem Kampf und was genau Sie zu dem Angriff bewogen hat."


    Ben schaute sie völlig entgeistert an. „Soll das ein Witz sein? Das sollten Sie lieber mal den ehrenwerten Herrn Riemann fragen und nicht mich! ER hat MICH angegriffen, nicht ich ihn.", versuchte Ben genervt klar zu stellen. "Den, der die ganze Scheiße angezettelt hat, lasst ihr laufen und mich sperrt ihr weg! Ihr habt doch selber nicht mehr alle Latten am Zaun!“, beschwerte er sich dann lautstark um dem aufgestauten Ärger zumindest ein bisschen Luft zu machen.


    „Herr Jäger, es gibt keinen Grund ausfallend zu werden.“, mahnte die Psychiaterin. „Frau Heinze hat uns außerdem bestätigt, dass Sie zuerst auf Herrn Riemann losgegangen sind.“


    „Ach ja? Und wer ist diese Frau Heinze?“ Ben verstand nur Bahnhof.


    „Tanja Heinze, sie ist seit vier Wochen hier und hat den Vorfall beobachtet.“


    „Und das glauben Sie ihr?", fragte Ben fassungslos. Das man eine Aussage von dieser Tanja nicht für voll nehmen konnte war doch offensichtlich. "Der Riemann hat sie doch manipuliert, die würde wahrscheinlich alles machen was er ihr sagt. Sie wissen doch gar nicht was hier läuft.“


    „Glauben Sie mir, Herr Jäger, ich weiß alles was ich wissen muss. Und dazu gehört, dass Sie in der kurzen Zeit, in der Sie hier sind, einen Mitpatienten so schwer verletzt haben, dass er runter auf die Krankenstation verlegt werden musste. Sie haben ihm nicht nur die Nase gebrochen und die Schulter ausgekugelt sondern ihn auch in der Seite verletzt, was einen massiven Blutverlust zur Folge hatte und nur Gott weiß, was noch passierte wäre, wenn wir Sie nicht aus dem Verkehr gezogen hätten.“


    Ben schnaubte verächtlich. „Ja genau, jetzt bin ich der Böse, der den armen Herrn Riemann verletzt hat.", jammerte er gespielt mitleidig. "MANN ER WOLLTE MICH UMBRINGEN VERDAMMT NOCHMAL!!!“, schrie er dann außer sich. Warum glaubte ihm denn hier niemand?


    „Sind Sie deshalb auf ihn losgegangen?“, fragte die Psychiaterin dagegen betont ruhig.


    "Was? Nein!", stöhnte Ben. Hatte sie ihm denn überhaupt nicht zugehört.


    "Das wäre zumindest eine plausible Erklärung für Ihr Verhallten.", dachte die Psychiaterin laut nach. "Fragt sich nur noch woher Sie diese Information hatten, dass Herr Riemann Ihnen schaden wollte. War es vielleicht eine Art innere Eingebung oder hat Ihnen eine Stimme in Ihrem Kopf die Gefahr eingeredet?"


    "Verdammt nein! Sie stellen mich ja hin, als wäre ich total geistesgestört! Ich hatte weder eine innere Eingebung, noch höre ich irgendwelche Stimmen in meinem Kopf. Ich bin völlig normal, ja!", beteuerte Ben gereizt.


    „Das mag ja alles sein, jetzt wo die psychotische Phase abgeklungen ist, fühlen Sie sich auch wieder völlig normal.“, entgegnete die Ärztin. „Die Kollegen haben die Schwere Ihrer Erkrankung jedenfalls gewaltig unterschätzt, weshalb die bei Ihrer Aufnahme verabreichten Medikamente die Symptome nicht in dem dafür erforderlichen Maß eingedämmt haben. Wir werden die Medikation jetzt also um ein Vielfaches erhöhen müssen um das in den Griff zu bekommen."


    "Nur damit das klar ist, Tabletten werde ich hier bestimmt keine nehmen.", gab Ben direkt zu verstehen und funkelte sie wütend an.



    „Herr Jäger, darüber diskutieren wir hier nicht. Entweder Sie nehmen die Tabletten, was uns allen eine Menge Zeit und Ärger erspart oder Sie bekommen die Medikamente intravenös, was dann so aussieht, dass ich die Pfleger rufe, die Sie im Nebenzimmer auf einem Bett fixieren, wo Sie dann die Neuroleptika gespritzt bekommen und dort so lange bleiben, bis die Medikation Wirkung zeigt, was durchaus ein paar Stunden dauern kann. Das wollen Sie doch nicht oder?“


    Kaum merklich schüttelt Ben den Kopf. Nein, das wollte er nicht. Alles was er wollte war hier rauszukommen, weg von hier, egal wohin, nur weg von diesem Ort, an dem andere über sein Leben bestimmten und er überhaupt keinen Einfluss mehr auf irgendetwas zu haben schien. "Ich brauche die Tabletten nicht. Lassen Sie es uns ohne Medikamente versuchen, ich werde Ihnen beweisen, dass es auch so geht, bitte!", flehte er die Ärztin an, mit dem bitteren Beigeschmack, dass es sowieso sinnlos war.


    „Herr Jäger, nehmen Sie meine Entscheidung bitte nicht persönlich. Ich bin in meiner Schicht für die Menschen hier auf der Station verantwortlich und kann das Risiko unter diesen Umständen einfach nicht eingehen. Ich werde die Tabletten jetzt holen und nach der Einnahme dürfen Sie dann auch den Kriseninterventionsraum verlassen.“ Mit diesem Worten ließ die Ärztin ihn alleine.


    In Ben begann sich langsam aber doch unaufhaltsam die nackte Verzweiflung auszubreiten. Wenn er diese Neuroleptika erstmal intus hatte, konnte er sich wahrscheinlich glücklich schätzen, wenn er dann überhaupt noch wusste, wie er hieß. Er hatte es bei einigen auf der Station gesehen, die, nachdem sie mit Medikamenten zu gedröhnt, wie Zombies ruhelos durch den Flur geschlichen waren, völlig unfähig auf die Reize um sich herum zu reagieren. Ein Schrecken, der ihm schon vom Zuschauen gereicht hatte und den er nicht unbedingt am eigenen Leib erfahren musste.


    Was wenn er die Psychotante einfach überwältige, wenn sie gleich zurückkam? Sie musste doch auch einen von diesen verdammten Schlüsseln bei sich haben. Wenn er es schaffte ihn ihr abzunehmen, konnte er versuchen zu fliehen. Er musste nur schnell genug sein. Vielleicht war das die letzte Möglichkeit, die sich ihm bot.


    Ben machte sich keine Gedanken darüber, was passieren sollte, wenn sein Plan schiefging. Er schien sowieso schon am untersten Tiefpunkt angelangt zu sein, was hatte er also noch zu verlieren?

  • Mit Spannung erwartete Ben, dass die Psychiaterin zurückkam. Aber er musste sich noch eine ganze Weile gedulden, bis sich die Tür dann endlich wieder öffnete. Doch sie kam nicht alleine. Die erfahrene Ärztin war in Begleitung zweier Pfleger zurückgekehrt, wohlweislich, dass sich die Medikamenteneinnahme schwierig gestalten könnte. Ben, der damit nicht gerechnet hatte, spürte wie ihn der Mut verließ. Ihm war klar, dass er gegen die Pfleger keine Chance haben würde. Fuck! Was sollte er jetzt tun? Er brauchte einen Plan B, doch er hatte keinen. Verdammt!


    „So, das ist die erste Dosis.“, erklärte die Ärztin und hielt Ben neben einem Becher mit Sprudel noch einen kleinen Becher hin, in dem sich die Tabletten befanden. “Eine weitere bekommen Sie nachher vor dem Schlafen gehen.“ Doch Ben ignorierte was sie ihm hinhielt und schaute ihr direkt in die Augen.


    „Wie soll ich denn beweisen, dass ich nicht krank bin, wenn Sie mir gar keine Chance dazu geben?“, startete er einen letzten verzweifelten Versuch, die Ärztin doch noch von ihrem Vorhaben abzubringen.


    „Herr Jäger, Sie müssen mir jetzt nichts beweisen. Es ist wichtig, dass Sie erstmal zur Ruhe kommen und in den nächsten Tagen mit den Medikamenten richtig eingestellt werden, damit Sie die eigentliche Therapie beginnen können. Sie werden sehen, alles Weitere wird sich dann im Laufe der Zeit klären.“


    Ben schaute in den Behälter mit den Tabletten. Klein und harmlos sahen sie aus, nicht lohnenswert dafür einen Kampf zu beginnen, schon gar nicht einen, aus dem er so oder so als Verlierer hervorgehen würde. Ben sah kurz zu den Pflegern. Wenn er jetzt bockte, würden die ihn fertig machen. Vielleicht war es tatsächlich das Klügste erstmal den braven Patienten zu spielen und dann die nächste Gelegenheit zur Flucht zu nutzen. Was blieb ihm schon anderes übrig? So kam er zumindest schon mal aus diesem Raum hier raus. Ben rang einen Moment mit sich, dann nahm er die Tabletten in den Mund und spülte sie mit dem Wasser hinunter. Nach der Einnahme musste er den Mund aufmachen und die Ärztin kontrollierte seinen Rachenraum, ob er die Tabletten auch wirklich geschluckt hatte.


    „Sehr gut!“, lobte die Ärztin und nickte Ben anerkennend zu. Doch der hatte vielmehr das Gefühl, dass es gerade komplett falsch war, wie er gehandelt hatte. Als er nach dieser Prozedur der Ärztin und den Pflegern auf den Flur folgen durfte, stelle fest, dass er sich in einem ganz anderen Teil des Gebäudes befinden musste. Hier sah es anders aus, als auf der Station, auf der er vorher gewesen war.


    „Sie sollten jetzt noch eine Kleinigkeit essen, damit Sie die Medikamente besser vertragen.“, äußerte die Psychiaterin und unterbrach damit seine Gedanken. „Jens wird Ihnen gleich etwas bringen. Ich werde später nochmal nach Ihnen schauen.“ Mit diesen Worten wandte sie sich zum Gehen. Ben schaute ihr nach, wie sie durch eine Tür im Flur verschwand, die sie vorher mit einer Chipkarte geöffnet hatte. Als er sich weiter umsah, fiel ihm auf dass es auf diesem Flur keine Fenster gab und wohl alle Türen in diesem Bereich nur mit solch einer Karte geöffnet werden konnten.


    Es dauerte nicht lange als ein Pfleger mit einem Tablett um die Ecke kam. Er lotste Ben in einen kleinen Raum, in dem sich lediglich ein kleiner Tisch und zwei Stühle befanden. Dort stellte er das Tablett ab und Ben warf einen Blick auf das Essen. Schon wieder Toast, nur diesmal mit Marmelade.


    „Sie bleiben hier in dem Bereich, sodass ich Sie vom Dienstzimmer aus sehen kann.“, ordnete der Pfleger an und ging dann in einen Raum, schräg gegenüber wo er die Tür offen ließ damit er ein Auge auf Ben haben konnte.




    Kaum hatte Semir die PAST betreten und war in Sichtweite von Kim Krügers Büro angelangt, ertönte auch schon die energische Stimme seiner Chefin, als sie ihn den Flur entlang kommen sah.


    „Gerkhan! In mein Büro!“ Semir, der an dem Tonfall, mit dem die vier Worte ausgesprochen wurden schon ahnen konnte was jetzt auf ihn zukam, schloss nachdem er das Büro seiner Chefin betreten hatte, die Tür hinter sich. Was jetzt folgen würde, mussten die anderen ja nicht unbedingt live mitbekommen.


    „Der Polizeipräsident hat mich eben angerufen und jetzt raten Sie mal wer sich vorhin dort über Sie beschwert hat?“, legte Kim Krüger direkt los. Semir überlegte kurz. Sollte etwa Bens Vater schon wegen seinem Auftritt in der Baufirma den Polizeipräsidenten angerufen haben? Er ließ sich jedoch nichts anmerken und zuckte stattdessen nur unschuldig mit den Schultern.


    „Soll ich Ihnen einen Tipp geben?“, fragte die Krüger nun und blitze ihn dabei verärgert an. „Vielleicht könnte es ja was damit zu tun haben von wo sie gerade herkommen?“ Doch sie ließ ihm gar keine Zeit zu antworten. „Gerkhan, was fällt Ihnen eigentlich ein? Sie können doch nicht einfach so, ohne das konkrete Beweise vorliegen, bei Konrad Jäger in der Firma auftauchen und ihm unterstellen dass er etwas mit der Entführung von seinem Sohn zu tun hat!“, entrüstete sie sich.


    „Was heißt denn hier ohne konkrete Beweise?“, polterte Semir nun ebenfalls ungehalten los. Es ärgerte ihn immer noch gewaltig, dass er vorhin nichts aus Bens Vater herausbekommen hatte und mehr oder weniger unverrichteter Dinge wieder gefahren war. „Ben ist spurlos verschwunden, wir haben nur sein Handy in der Wohnung gefunden, sein Vater verhält sich mehr als verdächtig und will nicht mit der Sprache herausrücken und außerdem haben wir die Zeugenaussage von Frau Steudel. Ist das denn nicht konkret genug?“


    „Die Spurensicherung hat in der Wohnung von Herrn Jäger jedenfalls nichts gefunden, was auf eine Entführung hindeutet. Und was Frau Steudel angeht, das ist die Aussage einer alten Frau, die noch nicht hinreichend überprüft wurde.“, entgegnete Kim Krüger sachlich.


    Semir konnte ihr Verhalten überhaupt nicht verstehen. „Frau Krüger, was soll das denn jetzt? Was hat der Polizeipräsident Ihnen denn am Telefon eingeredet?", fragte Semir argwöhnisch und beschloss unter diesen Umständen die Tatsache, dass Konrad Jäger ihm mit dem Leben seines Sohnes gedroht hatte, erstmal für sich zu behalten.


    „Er hat mir überhaupt nichts eingeredet. Herr Gerkhan, ich kann Ihre Sorge um Ben Jäger durchaus verstehen, aber wir müssen uns, auch wenn es schwer fällt zunächst an die Fakten halten. Und solange die auf das Gegenteil eines Verbrechens hindeuten, haben wir die ausdrückliche Order von Oben, dass wir die Füße stillhalten. Konrad Jäger hat dem Polizeipräsidenten sein Wort gegeben, dass sein Sohn nicht entführt wurde und er uns in den nächsten Tagen eine Krankmeldung von ihm zuschicken wird." Frau Krüger atmete kurz durch bevor sie weitersprach. "Außerdem brauchen wir dringend Ergebnisse zu dem Vorfall auf der A3 um den Fall an das Drogendezernat übergeben zu können.“


    „Dann sollen die den Fall doch gleich komplett übernehmen und sich selbst darum kümmern“, antwortete Semir gereizt, der den Baken-Fall durch die Sache mit Ben ganz verdrängt hatte.


    Die Krüger sah ihn verständnisvoll an. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Sollte Herr Jäger tatsächlich entführt worden sein, werde ich alles was in meiner Macht steht tun, um Sie bei den Ermittlungen zu unterstützen und Ihnen zu helfen, aber vorerst müssen wir uns um den anderen Fall kümmern.“


    Semir überlegte, dass er die Ermittlungen in Bezug auf Bens Verschwinden dann wohl erstmal ohne das Wissen der Krüger vorantreiben musste. „Sind wir jetzt hier fertig?“, fragte er und wandte sich zur Tür.


    Sie nickte kurz. „Herr Gerkhan, tun Sie bitte nichts Unüberlegtes.“, gab sie ihm noch mit auf den Weg, ehe er ihr Büro verließ.


    Semir steuerte direkt auf Susannes Schreibtisch zu, wo die Sekretärin gerade ein Telefonat beendet hatte und ihn dann erwartungsvoll anschaute. "Gibt es schon was Neues?"


    „Das werden wir gleich sehen.", antwortete Semir. "Kannst du mal nachschauen, was du über einen Felix Winkler herausfindest.“


    „Mache ich.“, sagte Susanne und tippte gleichzeitig den Namen in den PC ein.


    „Wo sind denn Hotte und Dieter?“, fragte Semir mit Blick auf die beiden leeren Bürostühle.


    „Die bringen Frau Steudel wieder in ihr Appartement zurück.“, meinte Susanne und tippte wieder etwas in den PC.


    „Hattest du den Eindruck sie wäre irgendwie verwirrt oder dement oder so?“, fragte Semir nachdenklich.


    „Hmm, schwer zu sagen….“ Susanne schaute vom PC auf. „Semir, dieser Winkler taucht in der Datenbank nirgendwo auf.“


    „Bitte sag mir, dass das jetzt nicht wahr ist!“ Semir drehte sich abrupt zu der Sekretärin um und schaute hinter ihr auf den Bildschirm. Er musste es mit eigenen Augen sehen. War es das jetzt? Endeten die Ermittlungen in einer Sackgasse? „Das heißt ja wir haben überhaupt keinen Ansatzpunkt.“, stellte er frustriert fest.


    „Doch, haben wir.“, sagte eine bekannte Stimme im Hintergrund. Semir und Susanne schauten vom Bildschirm auf und sahen wie Hartmut mit einem Zettel in der Hand auf sie zusteuerte.


    „Einstein!“, begrüßte Semir den rothaarigen KTU-Techniker überrascht. „Was machst du denn hier?“


    „Ich habe hier was.“ Hartmut faltete den Zettel auseinander. "Die Pizza aus Bens Wohnung weist jede Menge Allobarbital auf.“, begann er seinen Bericht. „Allobarbital zählt zu der Gruppe der Barbiturate, welche zur Beruhigung und Schlafförderung eingesetzt wurden. Im Gegensatz zu anderen Schlafmitteln wirken Barbiturate nicht nur schlaf-anstoßend sondern schlaf-erzwingend fast in Form einer Narkose. Allobarbtital ist eine geruchs- und geschmacklose Substanz, die es sowohl in flüssiger Form als auch in Tabletten-Form gibt. Die betäubende Wirkung tritt schon wenige Minuten nach der Einnahme ein. Die Überdosis hat in 98% der Fälle den Tod zur Folge, weshalb es auch offiziell nicht mehr verwendet wird.“


    „Da hat die Krüger ihren konkreten Beweis.“, triumphierte Semir und nahm Hartmut den Zettel aus der Hand.


    „Wo kriegt man denn so ein Zeug her?“, wollte Susanne wissen.


    „Naja, auf dem Schwarzmarkt wahrscheinlich. Und es kann durchaus sein, dass es in Krankenhäusern noch Restbestände gibt.“, überlegte Hartmut.


    „Was ist mit Bens Handy?“, hackte Semir nach. „Als er sich die Pizza bestellt hat, hat er ja bestimmt den richtigen Pizzaservice angerufen.“


    „Ja, das denke ich auch.", pflichtete der KTU-Techniker seinem Kollegen bei. "Ich kann das nur nicht so einfach feststellen. Die Täter waren jedenfalls nicht blöd. Die haben die SIM-Karte rausgenommen und den Treiber zerstört. Ich habe eine Spezialsoftware um die Daten auf dem Handy zu rekonstruieren, aber das wird noch mindestens bis morgen Nachmittag dauern.“


    „Verdammt!", fluchte Semir. "Das ist zu lange! So viel Zeit haben wir nicht.“




    Ben hatte erstmal nur eine Scheibe Toast gegessen, er hatte keinen wirklichen Appetit. Nach einer Weile hatte er sich auf seinem Stuhl zurück gelehnt und die Augen geschlossen, eigentlich nur kurz, nur für einen Moment. Seinen Plan sich umzusehen, zu schauen ob es hier eine Möglichkeit zur Flucht gab, hatte er auf später verschoben, das konnte er dann immer noch machen. Es schien ihm jetzt nicht so wichtig. Ben dachte nach. Was war überhaupt noch wichtig? Er wusste es nicht so wirklich. Zumindest nichts was ihn dazu veranlassen sollte seinen Platz zu verlassen und irgendetwas zu tun. Die quälenden Gedanken, die Ungewissheit wie es die nächsten Tage weitergehen sollte waren inzwischen verschwunden, einfach so. Und es war okay so, wie es gerade war.

  • Das der Wille an seiner Situation etwas zu ändern, ebenfalls verschwunden war, war Ben zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewusst. Als wenig später einer der Pfleger vorbeikam um ihn vom Kriseninterventionsbereich wieder auf die reguläre Station zu bringen, folgte er ihm willig den Flur entlang ins Treppenhaus. Das Treppensteigen forderte Bens volle Konzentration und es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis sie das nächste Stockwerk endlich erreicht hatten. Diesmal kümmerte er sich nicht im Geringsten darum wie der Pfleger die Türen öffnete, welche sie auf dem Weg nach oben passierten, und ob er einen Schlüssel oder eine Karte benutzte. Er hatte von diesen Vorgängen noch nicht mal richtig Notiz genommen. Oben angekommen entließ der Pfleger ihn und ging seinen Aufgaben nach. Eine bleierne Müdigkeit hatte sich immer weiter in Ben ausgebreitet. Vergessen war der Gedanke an Flucht. Er sehnte sich im Moment einfach nur nach Ruhe und wollte am liebsten keine Menschenseele mehr sehen. Langsam durchquerte er den Flur. Die Spuren des Kampfes mit Marc waren komplett beseitigt, nichts erinnerte mehr an den Vorfall, der sich dort vor ein paar Stunden abgespielt hatte. Ben zog sich sofort auf sein Zimmer zurück wo er sich auf das Bett fallen ließ, die Augen schloss und in einer Welt verschwand, in der Zeit und Raum keine Rolle mehr spielten.


    Gegen Abend brachte eine Pflegerin ihm nochmal zwei Tabletten, die er auch brav schluckte. Sie forderte ihn auf gleich zum Abendessen zu kommen, doch kurz nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, döste Ben wieder ein. Es schien jedoch auch niemand zu stören, dass er das Abendessen ausgelassen hatte. Später brachte ihm eine der Praktikantinnen Sachen für die Nacht, doch auch diese blieben von Ben unbeachtet liegen. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre er gar nicht in der Lage gewesen sich die Zähne zu putzen oder sich umzuziehen. Gefangen in einem Zustand irgendwo zwischen Schlafen und Wachen fiel er dann irgendwann in einen traumlosen Schlaf, aus dem er aber in unregelmäßigen Abständen wieder aufwachte. Die Nacht auf der Station war alles andere als ruhig. Mehrmals war Tumult und Lärm vom Flur zu hören, das Personal hatte nicht nur mit den bisherigen Patienten sondern auch mit Neuaufnahmen alle Hände voll zu tun und obwohl die Geräusche nur gedämpft an seine Ohren drangen, schreckte Ben einige Male auf und einmal hörte er sogar eine Stimme, die er zwar kannte aber im Moment nicht zuordnen konnte. Sowieso schienen die Geräusche viel zu unwirklich und zu weit entfernt zu sein, als das er näher darauf reagiert hätte. Ben bekam es auch nicht mit, dass eine Pflegerin routinemäßig alle zwei Stunden zur Kontrolle in sein Zimmer kam um zu schauen ob mit ihm soweit alles in Ordnung war.


    Der nächste Morgen fing genauso trostlos an wie der letzte Tag geendet hatte. Obwohl Ben die letzten Stunden nur im Bett gelegen hatte, fühlte er sich immer noch antriebslos, müde und erschöpft. Es dauerte nicht lange bis eine Pflegerin von der Frühschicht kam und ihm die nächste Dosis seiner Tabletten brachte. Ben, der es wenigstens geschafft hatte sich in eine sitzende Stellung zu bringen, starrte sie nur desorientiert an. Sein Blick schien unscharf und verschleiert und daran änderte sich auch nichts als er mehrmals blinzelte und sich mit der Hand über die Augen wischte. Die Pflegerin schien es sowieso schon eilig zu haben und gerade als sie Ben die Tabletten und einen Becher mit Wasser gereicht hatte, rief auch noch jemand vom Flur nach ihr. Hektisch wollte sie das Zimmer verlassen, drehte sich aber an der Tür nochmal kurz um und sah wie Ben die Tabletten in den Mund nahm, bevor sie im Nebenzimmer verschwand. Ben schluckte die Medikamente mit etwas Sprudel doch es verkrampfte sich irgendetwas in seinem Hals sodass er heftig würgen musste und dann kam alles wieder raus. Dass er mangels Reaktionsvermögen einfach ins Bett gespuckt hatte störte ihn genauso wenig wie die Tatsache, dass der Becher mit dem restlichen Wasser aus seiner Hand gerutscht war und sich der Inhalt ebenfalls auf einem Teil der Bettdecke und dem Kopfkissen verteilte.


    Doch in den nächsten Stunden kam wieder etwas mehr Leben in Ben. Die Müdigkeit verschwand allmählich und seine Gedanken wurden langsam wieder klarer. Er wurde wacher, wieder mehr er selbst. Sein Orientierungssinn kehrte zurück und ihm wurde auch wieder bewusst wo er war. Das Hungergefühl hatte sich wieder eingestellt und sein Magen verlangte überdeutlich nach etwas zum Essen. Ben stand vorsichtig auf und wartete kurz bis sich der schon bekannte Schwindel gelegt hatte. Und dann hörte er auf einmal wieder diese Stimme, die er auch schon in der Nacht gehört hatte. Ben überlegte woher er sie kannte und dann fiel es ihm auf einmal wieder ein. Diese Stimme war doch unverkennbar, dass hörte sich doch ganz so an wie... Sturmi. Und tatsächlich, als Ben auf den Flur trat, sah er den Verschwörungstheoretiker dort mit Frau Dr. Bauer stehen. Er konnte nicht hören worüber sie sprachen, dafür stand er zu weit weg, er sah nur wie die Stationsärztin ihn abwimmelte und dann in ihrem Büro verschwand.


    „Sturmi!“, rief Ben und der Mann mit den blonden Haaren und den etwas zu kurzen Hosen drehte sich überrascht um.


    „Hey Kumpel!“ rief Sturmi zurück als er Ben erkannt hatte und stürmte begeistert auf ihn zu.


    „Mensch Sturmi, ich bin verdammt froh dich zu sehen.“, gestand Ben, der zuvor niemals geglaubt hätte, dass diese Worte jemals aus seinem Mund kommen würden.


    „Man du siehst scheiße aus.“, stellte der Blondhaarige dann mit Blick auf Bens Verletzung an der Stirn und seinen zerknitterten Klamotten fest. „Wo hast du denn deinen kleinen Kollegen gelassen?“, wollte er noch wissen, ließ Ben aber gar keine Zeit zum Antworten, sondern schaute ihn vielsagend an und flüsterte dann beinahe „Lass mich raten, ihr zwei seid undercover hier.“


    „Semir ist nicht hier und außerdem sind wir Autobahncops und ermitteln nicht verdeckt in einer Klapse.“, korrigierte Ben und sah wie sich Sturmis Gesichtsausdruck von begeistert zu nachdenklich veränderte.


    „Aber wenn du hier nicht ermittelst…“, überlegte Sturmi laut „… warum bist du dann hier?“


    Ben überlegte kurz ob er Sturmi tatsächlich die Wahrheit sagen sollte, denn der würde doch wahrscheinlich sofort irgendeine Verschwörung hinter der ganzen Sache vermuten und das war so ziemlich das letzte was er jetzt gebrauchen konnte.
    Die Aufmerksamkeit der beiden wurden aber zunächst erstmal auf einen Arzt gerichtet, der mit einer Pflegerin im Schlepptau den Flur entlang ging und währenddessen in den Unterlagen blätterte, die sie ihm gereicht hatte. Als die beiden in etwa auf der Höhe von Ben und Sturmi angekommen waren, deutete der Arzt im Vorbeigehen auf den Verschwörungstheoretiker und fragte die Pflegerin, ob dass der neue Patient mit dem Suizidversuch se,i woraufhin die Pflegerin nickte.


    „Suizidversuch?“, wiederholte Ben ungläubig als der Arzt und die Pflegerin außer Hörweite waren.


    „Man, ich habe den Selbstmordversuch nur vorgetäuscht!“ Sturmi schaute Ben an wie einen der überhaupt nix kapierte. Ben kapierte auch wirklich nix, was diesmal aber nicht an den Medikamenten lag, die er bekommen hatte sondern einfach an Sturmis Logik, die wenn überhaupt gerade mal er selbst verstehen konnte. „Ich wollte doch, dass die mich einweisen damit ich überprüfen kann wer von denen alles an dem Komplott mit den neuen Medikamenten beteiligt ist.“


    „Du bist doch echt völlig irre.“, meinte Ben nur, der Sturmis Anwandlungen immer noch nicht nachvollziehen konnte.


    „Du verstehst es nicht, ich bin da gerade an einer richtig heißen Sache dran.", rechtfertigte sich Sturmi. "Und zwar…“


    „Stopp mal…“ unterbrach ihn Ben, der von Details verschont bleiben wollte. „Und wie willst du wieder hier rauskommen, wenn du die Geschichte aufgeklärt hast?“


    „Ich bin doch kein Anfänger. Ich habe natürlich vorgesorgt.“ Sturmi sah sich kurz um ob sie beobachtet wurden, drängte Ben dann zurück in dessen Zimmer, wo er sich nochmal umsah bevor er tief in die linke Tasche seiner Sweatjacke griff und ein Handy hervor holte. Ben starrte das Telefon an als wenn er zum ersten mal in seinem Leben eines sehen würde.


    „Wie hast du das denn hier reingeschmuggelt?“ fragte er dann und konnte nicht verhindern das in seiner Stimme so etwas wie anerkennende Bewunderung mitschwang.


    „Ja, dass willst du jetzt gerne wissen.“ Sturmi grinste. „Ich habe ja schon immer gesagt, dass ihr zwei von mir noch was lernen könnt. Ich werde es aber nicht verraten, sonst ist es ja nicht mehr geheim.“


    „Ja ist klar“ murmelte Ben. Er nahm dem Verschwörungstheoretiker das Handy aus der Hand. „Ich darf mal kurz telefonieren.“
    Noch vor ein paar Stunden war seine Situation mehr als hoffnungslos gewesen doch jetzt hatte sich das Blatt gewendet. Jetzt war er endlich in der Lage wieder Einfluss auf sein Schicksal zu nehmen. Ein Hochgefühl durchströmte Ben als er eilig Semirs Handynummer eintippte. Mit angehaltenem Atem lauschte er quälend lange Sekunden dem Freizeichen bis die Stimme seines Partners dann endlich mit einem „Ja! Semir!“ am anderen Ende der Leitung ertönte.


    „Semir, ich bin es, Ben.“


    „Ben?!“ aus Semirs Stimme drangen Erleichterung und Besorgnis gleichzeitig. „Wo bist du? Was ist passiert?“, sprudelte es sofort aus ihm heraus.


    „Du ich habe jetzt keine Zeit das alles zu erklären, aber mein Vater hat mich einweisen lassen. Wir sind hier in der Psychiatrie der Uniklinik Köln. Du musst uns so schnell wie möglich hier rausholen!“, fasste Ben die Situation mit wenigen Worten kurz zusammen.


    „In der Psychiatrie?“, rief Semir ungläubig. „Und was heißt hier uns?“


    „Sturmi ist auch hier.“, klärte Ben seinen Partner auf.


    „Na das überrascht mich jetzt nicht.“, gab Semir zurück.


    Ben sah nur aus dem Augenwinkel wie Sturmi eine hektische Bewegung machte und als er sich umdrehte, kam gerade ein Pfleger ins Zimmer. Shit!


    „Ich muss jetzt Schluss machen.“ Mit diesen Worten trennte Ben die Verbindung. Der Pfleger kam direkt auf ihn zu. „Geben Sie mir das Handy, na los.“ Auffordernd hielt er die Hand auf, doch Ben hatte nicht vor es ihm einfach so zu überlassen. Fieberhaft schaute er sich in dem kleinen Raum um und sein Blick blieb an dem gekippten Fenster hängen – perfekt!


    „Hol es dir doch.“, forderte Ben den Pfleger auf und warf das Handy kurzerhand durch den Spalt des geöffneten Kippfensters nach draußen. Der Pfleger warf Ben einen finsteren Blick zu. „Das hat noch Konsequenzen Herr Jäger!“, drohte er an, bevor er missmutig das Zimmer verließ.
    „Das hat noch Konsequenzen Herr Jäger!“, äffte Ben den Pfleger nach. Jetzt wo er mit Semir telefoniert hatte fühlte er sich wieder sicher. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern bis er hier rauskam und dieser Alptraum endlich ein Ende hatte.


    „Sag mal bist du völlig bescheuert?!?!“, poltere Sturmi aufgebracht los.


    „Ich weiß nicht ob ich denen hier trauen kann.", verteidigte sich Ben. "Wenn ich Glück habe ist das Handy kaputt und sie können den Anruf nicht zurückverfolgen.“


    „Das Telefon war unsere einzige Verbindung zur Außenwelt.“, jammerte Sturmi verzweifelt.




    Wenige Minuten später bückte sich der Mann auf dem Hof der Uniklinik, hob das Handy auf und ließ es in eine der großen Taschen seines weißen Kittels gleiten. Er würde seinen Boss wohl oder übel über den Vorfall informieren müssen. Als er wieder im Gebäude mit dem Aufzug auf dem Weg nach oben war, nahm er sein eigenes Handy, drückte auf eine der Kurzwahltasten und schilderte den Vorfall dann in kurzen Worten.


    „Und wie kommt es dass er herumläuft und telefoniert, obwohl sogar die offizielle Order lautet ihn ruhigzustellen?“, blaffte ihn der Boss am anderen Ende der Leitung an. „Sag mal was kannst du eigentlich?“


    Der Mann antwortete nicht, was hätte er auch sagen sollen.


    „Wen auch immer er angerufen hat wird jetzt vermutlich wissen wo er ist. Er kann also nicht länger in der Klinik bleiben. Wir müssen nun zu Plan B übergehen.“, fuhr der Boss fort. „Ich schicke Igor vorbei, der soll ihn abholen. Weißt du was du zu tun hast?“


    Der Mann in dem weißen Kittel war inzwischen aus dem Aufzug ausgestiegen und betrat dem kleinen Raum, welcher an das Stationszimmer der Pfleger angrenzte, in dem die Medikamente aufbewahrt wurden. „Ja“, antwortete er nur kurz.


    „Und keine Fehler diesmal, verstanden?!“


    Der Mann antwortete nicht gleich. Er hatte erst eine Spritze und dann eine Ampulle mit einer milchigen Flüssigkeit aus dem Regal genommen.


    „ICH WILL WISSEN OB DU DAS VERSTANDEN HAST???.“, brüllte der Boss hitzig.


    „Ja“, gab der Mann wieder nur einsilbig zurück und zog mit geübten Handgriffen die Spritze auf.

  • Semir befand sich gerade mit dem Auto am Kölner Stadtrand als ihn Bens Anruf erreicht hatte. Nachdem sein Partner das Telefonat so abrupt beenden musste, war Semir sofort in die Eisen gegangen und hatte seinen Dienstwagen mit einem gekonnten 180er mitten auf der Straße gewendet. Jetzt war er auf den Weg zur Uni Köln.


    In Semirs Kopf waren nach Bens Anruf unzählige Fragen aufgetaucht. Warum hatte Konrad Jäger seinen Sohn in die Psychiatrie einweisen lassen? Wie stand das im Zusammenhang mit den Beobachtungen von Bens Nachbarin und der manipulierten Pizza in seiner Wohnung? Hatte Bens Vater Wind von der Entführung bekommen und seinen Sohn befreien können? Was hatte Ben während der Entführung erlebt? War er danach durchgedreht und sein Vater hatte ihn deshalb einweisen lassen? Doch Semir konnte es sich nicht so recht vorstellen. Das passte einfach nicht zu Ben. Der steckte sowas weg, zwar nicht einfach so, aber doch leichter als alle anderen, die Semir kannte. Oder wollte Bens Vater seinen Sohn mit dieser Aktion aus dem Weg schaffen? Aber wozu? Und wieso hatten Susannes Recherchen keinen Erfolg gebracht? Sie hatte doch alle Krankenhäuser abgefragt. Die verschiedenen Abteilungen der Uniklinik hingen doch alle zusammen, die hätten ihr doch sagen müssen, dass Ben dort aufgenommen wurde. Je länger Semir darüber nachdachte, desto komplexer schien die ganze Sache zu werden. Und als er dann endlich die Uniklinik erreichte, grübelte er immer noch was um alles in der Welt da in den letzten Tagen wohl passiert war.


    Das Gelände der Uniklinik war weitläufig und unübersichtlich. Es dauerte eine Weile bis Semir das Gebäude fand, welches er gesucht hatte. Am Eingang stand ein Schild Uniklinik Köln, Zentrum für Neurologie und Psychiatrie, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Ihn überkam ein mulmiges Gefühl als er durch die automatische Schiebetür am Eingang trat. Semir folgte dem Schild „stationäre Aufnahmen“ bis in die erste Etage des mehrstöckigen Gebäudes. Hier sah es fast aus wie in einem gewöhnlichen Krankenhaus. Semir nahm sich den erstbesten Pfleger beiseite, der ihm über den Weg lief.


    „Entschuldigen Sie, ich bin auf der Suche nach Ben Jäger. Können Sie mir sagen wo ich ihn finde?“


    „Ben Jäger?“, wiederholte der Angestellte und Semir konnte sehen wie sich seine Stirn in Falten legte, während er nachdachte. „Es tut mir leid, einen Ben Jäger haben wir hier nicht, da bin ich mir ganz sicher, aber vielleicht ist er auf der Akutstation.“, überlegte er weiter. „Wer dort aufgenommen wird, bekommen wir hier auf der offenen Station gar nicht mit. Aber da oben kommen Sie nicht so einfach rein, Sie müssen sich vorher anmelden. Am besten Sie fragen mal unten bei der Information nach.“


    Semir bedankte sich und machte sich wieder auf den Weg zum Treppenhaus. Wenn Ben tatsächlich auf der Akutstation war, erklärte das zumindest seinen Anruf, dass Semir ihn dort rausholen sollte, denn da konnte er sich wahrscheinlich nicht mal eben selbst entlassen. Im Erdgeschoss angekommen, ging Semir direkt auf die zierliche junge Frau hinter der Anmeldung zu. Sie begrüßte ihn freundlich und Semir wiederholte sein Anliegen. Gespannt beobachtete er wie die Frau Bens Namen in den PC eintippte.


    „Kein Treffer!“ die Frau hob den Kopf und sah Semir an.


    „Das kann nicht sein!“, entgegnete er sofort.


    „Sind Sie sicher, dass Herr Jäger hier in der Uniklinik aufgenommen wurde und nicht in einer anderen Klinik?“, fragte sie vorsichtig nach.


    „Ja, natürlich bin ich mir sicher!“, antwortete Semir gereizt. „Geben Sie den Namen nochmal ein!“, forderte er. „Vielleicht haben Sie sich ja vertippt.“


    „Nein, ich habe mich nicht vertippt.“, gab die Frau nach einem prüfenden Blick auf den Bildschirm unsicher zurück. „Oder schreibt man Jäger mit ae?“, wollte sie dann wissen und versuchte es mit dieser Konstellation.


    „Nein, nein!“, winkte Semir ab. „Jäger schreibt man ganz normal mit ä.“


    „Ich habe noch die Möglichkeit das Geburtsdatum in der Suchfunktion einzugeben.“, schlug sie vor.


    Semir nannte Bens Geburtsdatum, doch auch das brachte keinen Erfolg.


    „Es sieht tatsächlich so aus, als ob er nicht bei uns eingewiesen wurde.“ Die Frau zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Es tut mir leid, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“


    „Jetzt sag ich Ihnen mal was!“, brauste Semir auf, dessen Geduld nun endgültig ihr Ende erreicht hatte. „Der Herr Jäger hat mich vor ungefähr einer halben Stunde von hier aus angerufen! Jetzt erzählen Sie mir nicht, er wäre hier nicht registriert!“


    Eingeschüchtert von der energischen Art des eben noch so netten kleinen Mannes, stammelte die Frau, dass sie jetzt ihren Vorgesetzten holen würde, der die Angelegenheit sicherlich aufklären könnte.


    „Ja dann holen Sie den mal! Da bin ich gespannt, was er dazu zu sagen hat!“, rief Semir ihr hinterher, als sie ihren Platz hinter der Anmeldung verlassen hatte, noch bevor sie den Flur hinunter um eine Ecke verschwand. Semir überlegt einen Moment dass er selbst nochmal im PC nachschauen sollte, ob der Name seines Partners dort wirklich nirgendwo auftauchte, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Ben bezeichnete ihn nicht ganz umsonst als Technik-Legastheniker und die Chancen, dass er bei einer unbekannten Software tatsächlich etwas Brauchbares zutage förderte, waren nicht sehr groß. Semir wartete eine Weile ohne dass er von der jungen Frau oder ihrem Vorgesetzten etwas zu sehen bekam. Er konnte gar nicht sagen woher es genau kam, aber er hatte plötzlich irgendwie das Gefühl, dass ihm gerade die Zeit davonlief. Wenn er Ben wenigstens hätte zurückrufen könnte, doch der Anruf war mit unbekannter Nummer bei ihm eingegangen und brachte ihn so kein Stück weiter.


    Ungeduldig trat Semir an die Fensterfront im Flur und schaute hinaus. Er sah wie gerade ein Sprinter von einer Wäscherei auf das Gelände fuhr, wendete und dann rückwärts auf ein Tor am hinteren Teil des Gebäudes zusteuerte. Es dauerte nicht lange bis sich das Tor elektrisch nach oben aufrollte und der Wagen in der dahinterliegenden Einfahrt unterhalb des Gebäudes verschwand. Das Tor, welches nach wie vor geöffnete blieb, sah für Semir wie eine Einladung aus. Für ihn stand jedenfalls fest, dass hier in dem Laden etwas gewaltig daneben lief, wieso sollte er sich nicht mal umsehen, wenn sich ihm schon die Gelegenheit dazu bot? Semir schaute nochmal den Flur hinunter. Von dem Klinikpersonal war immer noch nichts zu sehen, also machte er sich auf den Weg nach draußen.


    Neben dem Tor war ein Schild angebracht auf dem in großen roten Lettern stand: Unbefugten ist der Zutritt strengstens verboten! Semir schaute sich kurz um. Es schien niemand in der Nähe zu sein, der sich um die Einhaltung dieses Verbotes kümmerte. Wie er schon vorhin bemerkt hatte, führte die Einfahrt unter das Gebäude und Semir stand, nachdem er ihr gefolgt war, in einer geräumigen Tiefgarage. Auf der linken Seite parkten einige Autos, die nach der Aufschrift auf Motorhaube und Türen zufolge zur Uniklinik gehörten und ganz hinten stand der Sprinter von der Wäscherei mit geöffneten Hecktüren. Erst als Semir näher trat sah er, dass sich dahinter eine weitere Tür befand, die ebenfalls offen stand. Als er durch diese Tür getreten war, kam er in einen Flur an dessen Seiten sich links und rechts hohe Alu-Regale aneinander reihten. Hier war es kühl und die Luft schien zu stehen. Einige Meter vor ihm auf der linken Seite stand noch eine Tür offen und Semir hörte wie sich dort in dem Raum zwei Männer unterhielten. Er vermutete erst, dass es die Männer von der Wäscherei waren, die dort ihre Arbeit machten doch er entschied sich spontan um, als dann zwei Typen in schwarzer Kleidung aus dem Raum in den Flur traten. Semir schaffte es gerade noch rechtzeitig hinter der Regalreihe auf der rechten Seite in Deckung zu gehen, bevor sie ihn bemerkten konnten.


    Was waren denn das für Gestalten? Die sahen jedenfalls nicht aus, als ob sie für die Wäscherei arbeiteten. Semir hatte die Waffe am Gürtel des Vorderen deutlich gesehen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sich die beiden auf Russisch unterhielten. Was zum Teufel wollten die hier? Er drückte sich noch fester an die Wand, als er hörte wie sich ihre Schritte seinem Versteck näherten. Wenn sie nach draußen wollten mussten sie unweigerlich an ihm vorbei. Zum Glück war ein Teil der in der Decke eingelassenen Lampen defekt, sodass der Flur nur notdürftig beleuchtet war. Die Männer gingen an Semirs Versteck vorbei ohne ihn zu bemerken. Der wartete noch einen Moment ehe er seine Deckung verließ. Semir schaute sich um aber von den beiden Männern war nichts mehr zu sehen. Semir hatte aus ihrem Gespräch die Worte „Lieferung“ und „Verspätung“ heraushören können. Was wollten die beiden wem liefern und warum waren sie zu spät? Neugierig betrat Semir den Raum, den die sie eben verlassen hatten. Es schien ein Lagerraum zu sein, denn dort standen noch mehr Regale und unzählige Kisten und Kartons. Den Inhalt der selbigen zu überprüfen würde jedenfalls einige Zeit in Anspruch nehmen und Semir wollte den Raum schon wieder verlassen um sich von dem gesamten Keller erst einmal einen Überblick zu verschaffen, als sein Blick auf etwas oder besser gesagt auf jemanden fiel, der dort hinten an der Wand lehnte. Semir musste zweimal hinsehen nur um dann erschrocken festzustellen, dass ihn seine Augen wirklich nicht getäuscht hatten. Die Person da hinten war niemand anderes als sein Partner. Ben saß dort auf dem Boden mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Beine lang ausgestreckt.


    „Ben!“ rief Semir und stürzte auf ihn zu. „Was machst du denn hier unten?“, fragte er fassungslos, als er ihn erreicht hatte. Doch Ben schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen, zumindest zeigte er keinerlei Reaktion. Seine glasigen Augen starrten einfach ins Nichts, sein Mund war leicht geöffnet und ein Speichelfaden rann ihm übers Kinn. Semir kniete sich zu ihm hin, doch wurde seine Aufmerksamkeit in dem Moment auf die Geräusche die vom Flur her kamen, abgelenkt. Da waren Schritte zu hören, schnelle Schritte, es kam jemand den Flur entlang und schien es verdammt eilig zu haben.


    Shit! Semir verfluchte sich selbst. Warum hatte er keine Verstärkung angefordert oder wenigsten die Krüger informiert bevor er hier her gefahren war? Jetzt war er ganz auf sich alleine gestellt! Aber Semir wischte die Bedenken wieder beiseite, für Selbstvorwürfe fehlte ihm gerade die Zeit.


    Lautlos zog Semir die Pistole aus dem Holster und stellte sich schützend vor seinen Partner. Jede Faser seines Körpers war angespannt und sein Herzschlag ging schnell, doch die Waffe lag ruhig in seiner Hand als er sie auf den Eingangsbereich hinter der Tür richtete.


    Wer auch immer gleich den Raum betreten sollte, er war bereit.

  • Näher, immer näher kamen die Schritte. Semir lauschte angestrengt. Jetzt war es soweit - jeden Moment musste jemand hereinkommen. Gespannt hielt er den Atem an. Doch wider Erwarten betrat niemand den Raum. Wer auch immer den Flur entlang eilte, ging vorbei und die Schritte entfernten sich immer weiter, wurden bald immer leiser. Semir ließ die Waffe sinken und spürte wie ein Teil der Anspannung von ihm abfiel, aber nur ein Teil, denn in Sicherheit waren sie noch lange nicht. Er steckte die Pistole weg und zog sein Handy aus der Hosentasche. Spätestens jetzt war es soweit die dringend erforderliche Verstärkung anzufordern. Doch ein Blick auf das entsperrte Display nahm ihm jegliche Hoffnung. In dem Keller hier unten hatte er keinen Empfang. Verdammt! Frustriert steckte Semir das Handy wieder ein. Voller Sorge schaute er auf seinen Partner hinunter. Die Verletzung an dessen Stirn und der Verband an seiner rechten Hand störte ihn nicht so sehr wie die Tatsache, dass Ben im Moment gänzlich in seiner eigenen Welt zu leben schien. Wie sollte Semir es schaffen mit ihm in diesem Zustand von hier weg zu kommen? Er konnte ihn ja schlecht einfach nehmen und raustragen. Das würde er niemals schaffen. Dafür war der Weg viel zu weit und Ben ihm viel zu schwer. Außerdem konnten die Männer von eben jeden Moment zurückkommen und dann?


    Semir kniete sich zu seinem Partner. „Ben! Wir müssen hier raus!“, redete Semir beschwörend auf ihn ein. Doch das interessierte sein Gegenüber im Moment herzlich wenig. Verzweifelt versuchte Semir irgendwie Kontakt mit Ben aufzunehmen. Er rief mehrmals seinen Namen, tätschelte mit Nachdruck seine Wangen, hielt seinen Kopf. Da! Für einen kurzen Moment hatten sie Blickkontakt, doch dann rutschte Bens Kopf zur Seite als Semir ihn los ließ und er war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er sich den Blickkontakt vielleicht auch nur eingebildet hatte. Was jetzt?


    Semir sah sich eilig in dem großen Kellerraum um, nach irgendetwas das ihm weiterhalf. Plötzlich waren wieder Geräusche vom Flur zu hören. Eine Tür wurde geöffnet und fiel dann wieder ins Schloss. Kurz darauf konnte Semir hören, wie jemand laut ausamtete. Leise schlich er bis zur Tür um zu sehen, was da los war. Als Semir dort vorsichtig um die Ecke lugte, fiel sein Blick auf einen stämmigen Jugendlichen, der sich keine fünf Meter entfernt lässig an die Wand lehnte. Semir schätze ihn auf ungefähr 15 vielleicht auch 16 Jahre. Der Jugendliche trug zwar einen weißen Kittel über seinen eigentlichen Klamotten, doch sonst wollte sein Äußeres nicht so richtig zu einem Klinikmitarbeiter passen.Seine Kleidung erinnerte mehr an einen Rapper. Er hatte weite kurze Hosen an, die ihm gerade so über die Knie reichten, seine Füße steckten in knöchelhohen Turnschuhen und auf dem Kopf trug er eine Basecap. Gerade zog er eine Zigarette aus der Tasche und steckte sie in den Mund. Erst auf den zweiten Blick erkannte Semir, dass es gar keine Zigarette war. Es sah mehr aus wie ein Joint. Semir runzelte die Stirn. Was war das denn? Bevor er richtig darüber nachdenken konnte, was er jetzt überhaupt vorhatte, verließ Semir seine Deckung hinter der Tür und trat auf den Flur.


    „Hey! Was machst du denn da?“, herrschte er den Jugendlichen an.


    Der Junge, der sich wohl vorher in Sicherheit gewähnt hatte, zuckte erschrocken zusammen, riss sich blitzschnell den Joint aus dem Mund und ließ ihn in eine der Taschen seines weißen Kittels gleiten.


    „Ey du hast nix gesehen, oder? Du hast nix gesehen.“, stammelte er sofort drauf los.


    Semir überlegte kurz. Der Kerl kam ihm eigentlich gerade wie gerufen. „Das kommt jetzt ganz auf dich an, mein Freund. Wenn du mir hilfst, habe ich vielleicht nichts gesehen. Komm mal mit.“ Semir winkte ihn zu sich heran und ging dann zurück in den Raum aus dem er gerade gekommen war.


    „Alter! Was ist mit dem Typ dahinten?“, fragte der Jugendliche erschrocken, als er hinter Semir ebenfalls den Raum betreten hatte und sein Blick auf Ben fiel. „Hast du den umgeboxt?“, wollte er dann wissen und starrte Semir verunsichert an.


    „Jetzt hör mir mal zu! Ich bin Polizist.“ Semir deutete auf Ben. „Das dahinten ist mein Partner, der ist eben zusammengeklappt.“, log er. „Du wirst mir jetzt helfen ihn hier rauszubringen.“


    „Ey laber doch nicht Mann! Du bist kein Polizist, das kann ja jeder sagen. Du siehst aus wie von der Türken-Mafia.“, behauptete der junge Kerl und musterte Semir nochmal von Kopf bis Fuß.


    „Türken-Mafia.“, wiederholte Semir „ja klar.“ und hielt dem Jugendlichen zum Beweis seinen Dienstausweis unter die Nase.


    „Ey, der ist doch gefälscht, oder? Krass Mann, wo hast du den machen lassen? Der sieht voll echt aus.“, neben anfänglicher Skepsis schwangen nun auch Begeisterung und Bewunderung in der Stimme des Jungen mit.


    Semir verdrehte die Augen. Der Kerl schien echt nicht besonders helle zu sein. Doch für lange Diskussionen hatte er jetzt gar keine Zeit. Semir kam ein Gedanke wie er die Sache beschleunigen konnte. Er zog seine Waffe und entsicherte sie.


    „Boah Alter! Ganz ruhig, Mann okay?“, der Jugendliche hob sofort beide Hände. „Chill mal, ich mach alles was du sagst!“


    „Geht doch.“, sagte Semir zufrieden, steckte die Pistole wieder weg und ging zu Ben. „Jetzt pack mit an.“, forderte er den Jugendlichen auf.


    Doch der zierte sich noch etwas als er näher getreten war und den Speichel, der aus Bens Mund kam, bemerkte. „Das ist ja ekelig. Was ist denn mit dem?“


    „Jetzt komm. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“, entgegnete Semir nur und ignorierte die Frage.


    Als der Jugendliche dann nach kurzer Überwindung doch endlich mit anpackte, zogen sie Ben zusammen hoch. Erfreut stellte Semir fest, dass sich die Körperspannung seines Kollegen nicht auch ganz verabschiedet hatte und Ben sich überraschenderweise noch ziemlich gut auf den Beinen halten konnte. Zwar knickten sie ihm nach ein paar Schritten immer wieder ein, doch stützten sie ihn links und rechts und konnten jeweils nach einer kurzen Pause die nächsten paar Schritte zurücklegen.


    Auf diese Weise kamen sie mehr oder weniger gut voran und standen bald im Flur. Semir schaute skeptisch den Gang hinunter, in die Richtung aus der er hergekommen war.


    „Da können wir nicht rausgehen. Gibt es noch einen anderen Weg nach draußen?“, wollte er dann von seinem unfreiwilligen Helfer wissen.


    „Ja, wir können hier lang.“, antwortete der Jugendliche und deutete mit dem Kopf zu der Tür, aus der er eben gekommen war.


    "Okay, dann mal los.", meinte Semir und sie setzten langsam ihren Weg fort. Als sie die Tür erreicht hatten und Semir sie öffnete stellt er fest, dass sie in ein Treppenhaus führte.


    "Das war ja eine tolle Idee.", beschwerte er sich bei dem Jungen. "Siehst du wie viele Stufen da herauf führen? Gibt es nicht noch einen anderen Weg?"


    "Alter! Ich kann ja auch nix dafür, es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen ja nur bis zur Hälfte, da gibt es eine Seitentür nach draußen.", entgegnete der Jugendliche beleidigt.


    Semir atmete tief ein. Den Weg über die Treppe zurückzulegen, würde natürlich dauern, aber was hatten sie schon für eine Wahl. Nachdem sie einige Stufen geschafft hatten, blieb der Jugendliche keuchend stehen.


    „Ich kann nicht mehr, ich brauch ne Pause.", jammerte er nach Luft ringend.


    „Reiß dich zusammen. Pause kannst du machen, wenn wir fertig sind. Los! Weiter!“, trieb Semir ihn an. „Sag mal was machst du überhaupt hier in der Klinik?“ fragte er dann, zum einen weil es ihn wirklich interessierte, aber auch um den Jugendlichen durch ein Gespräch ein bisschen von seiner Erschöpfung abzulenken.


    „Ey, ich muss meine verfickten Sozialstunden hier ableisten.“, beschwerte sich der Junge. „Wenn ich das Arschloch nochmal sehe, der mir das aufgebrummt hat, mach ich den fertig, ich schwörs. Alter, hier zu arbeiten ist die schlimmste Strafe die es gibt.“, beteuerte er dann.


    "So?", fragte Semir. "Und warum musst du Sozialstunden leisten?"


    "Weil ich Mist gebaut habe. Mehr brauchst du nicht zu wissen, klar!"


    "Okay, du willst es mir also nicht verraten.", sagte Semir und konnte die Seitentür, von der sein Begleiter gesprochen hatte, schon sehen. Gleich hatten sie es geschafft. "Ich kann ja auch versuchen zu erraten was du angestellt hast."


    "Alter du nervst!", gab der Jugendliche nur zurück. Für ihn war das Gespräch beendet.


    Semir atmete auf, als sie wenig später durch die Tür ins Freie getreten und kurz darauf auch endlich ohne Zwischenfälle bei seinem Dienstwagen, der von dem Jugendlichen als "boah voll die fette Karre" kommentiert wurde, angelangt waren. Gerade als sie Ben gemeinsam auf den Beifahrersitz gehievt hatten, nahm Semir aus dem Augenwinkel eine entfernte Bewegung wahr. Einer der Russen aus dem Keller stand dahinten unter dem geöffneten Tor in der Einfahrt und sah sich suchend um. Schnell schlug Semir die Autotür zu, bevor dessen Blick auf seinen Partner fallen konnte.


    Er wandte sich an den Jugendlichen. „Okay, danke das wars. Du kannst gehen.“


    „Ey du hast aber eben nix gesehen. Das war nur eine Notlösung, ehrlich!“, entschuldigte sich der Jugendliche „ich werd sonst noch bekloppt, bei den ganzen Psychos.“


    Semir nickte nur beiläufig, ging um das Auto herum öffnete die Fahrertür und stieg ein. Die Sache mit dem Joint würde er nicht einfach so unter den Tisch fallen lassen, er war schließlich Polizist. Er würde es der Klinik mitteilen. Doch ein straffälliger Jugendlicher der während der Ableistung seiner Sozialstunden in der Klinik Gras rauchte, war bald wahrscheinlich das kleinste Problem der Klinikleitung dachte Semir im Stillen. Auf die Erklärungen warum Ben als Patient der Klinik unten im Keller gesessen hatte und warum sein Name nirgendwo im PC aufgetaucht war, war er jedenfalls doch schon sehr gespannt. Aber das musste warten, jetzt galt es erstmal von hier zu verschwinden. Betont langsam setzt Semir den BMW zurück um ja keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ebenso langsam verließ er das Klinikgelände und beschleunigte den Wagen erst nachdem er in die nächste Straße abgebogen war. Auf den Straßen in der Stadt herrschte reger Betrieb und Semir musste sich voll auf den Verkehr konzentrieren. Zwischendurch warf er immer wieder einen prüfenden Blick zu Ben und fragte sich wie lange es wohl noch dauerte bis er wieder zu sich kam. Als Semir auf die Autobahn aufgefahren war, überlegte er gerade die Krüger anzurufen um sie auf den neusten Stand der Dinge zu bringen, als sein Handy klingelte. Er nahm den Anruf über die Freisprechanlage des Dienstwagens entgegen und bevor er sich melden konnte, schlug ihm schon die Stimme der Chefin entgegen.


    „Gerkhan! Wo zum Teufel stecken Sie?“


    „Frau Krüger! Ich wollte Sie gerade anrufen! Ich bin auf dem Rückweg von der Uniklinik, also von der Psychiatrie um es genauer zu sagen und jetzt raten Sie mal wen ich dort abgeholt habe.“


    „Doch nicht etwa Herrn Jäger, oder?“, fragte sie ungläubig.


    „Hundert Punkte Frau Krüger! Ich kann Ihnen nur jetzt noch gar nichts sagen. Ben ist nicht wirklich ansprechbar, ich vermutete, dass die ihn irgendwie unter Drogen gesetzt haben.“, entgegnete Semir mit einem besorgten Seitenblick auf seinen Partner. Dabei fiel ihm auf, dass sich Bens Körperhaltung verändert hatte. Er saß jetzt anders da, als noch wie vorhin. Tatsächlich schien wieder etwas mehr Leben in ihn zu kommen. Ben lehnte sich erst langsam ein Stück nach vorne und stützte sich mit den Händen am Handschuhfach ab. Semir beobachtete die Aktion mit einem unguten Gefühl. Ben war nicht angeschnallt, darum hatte er sich selbst eben in der Eile gar nicht gekümmert.


    „Gerkhan! Sind Sie noch dran?“, riss Kim Krüger ihn aus seinen Gedanken.


    „Ja! Ja!“, antwortete Semir und wollte ihr gerade sagen, dass er vorhatte Ben erstmal mit zu sich nach Hause zu nehmen, als er sah wie sich sein jüngerer Kollege nun am Griff der Beifahrertür zu schaffen machte. „Ben?“, fragte Semir irritiert. Ein Blick auf den Tacho verriet ihm, dass sie im Moment mit knapp 130 Sachen unterwegs waren. Der wollte doch jetzt nicht allen Ernstes während der Fahrt aussteigen. Doch Ben schien genau das vorzuhaben. Unbeirrt stieß er die Autotür auf und schickte sich an einen Fuß aus der Tür zu setzen.


    „BEN!!!“, schrie Semir erschrocken. Die linke Hand noch am Lenkrad, lehnte er sich so weit wie möglich nach rechts und griff nach seinem Partner, der gerade in aller Seelenruhe seinen Platz verlassen wollte. Semir erwischte sein Hemd und riss ihn mit aller Kraft zurück. Durch die Aktion geriet der BMW aus der Spur und kam ins Schlingern wodurch die Tür wieder zufiel. Die Autofahrer rings um die beiden herum starteten ein Hupkonzert und einige zeigten ihnen entrüstet den Vogel. Schnell verriegelte Semir das Auto von innen, noch bevor er den Wagen wieder in die richtige Spur brachte.


    „SAG MAL WAS WAR DAS DENN GERADE?!“, schrie er seinen jüngeren Kollegen schockiert an. Eine Antwort bekam er nicht, doch der Ausdruck, den er in Bens Augen sah, sprach Bände. Irritation, Verzweiflung und Hilflosigkeit spiegelten sich in seinem Blick wider und da war noch etwas, etwas das Semir überhaupt nicht zuordnen konnte.


    Überhaupt war Semir so mit seinem Partner beschäftigt, dass er den dunklen Geländewagen der ihnen in sicherem Abstand folgte, gar nicht bemerkte.

  • 12 Stunden später


    Ben schlug die Augen auf - nur um sie danach direkt wieder zuzukneifen. Es war so verdammt hell. Doch diesmal war es nicht das kalkig weiße Licht einer Leuchtstoffröhre das ihn gerade geblendet hatte, es war die Sonne, die schon vor einigen Stunden aufgegangen war und jetzt am späten Vormittag bereits ihre volle Kraft entfaltet hatte. Ben konnte ihre Wärme deutlich auf seinem Gesicht spüren. War das ein Traum? Wenn ja, wollte er am liebsten gar nicht aufwachen. Aber wie passte der Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee dazu? In Träumen gab es doch keine Gerüche. Vorsichtig öffnete Ben erneut die Augen. Nach mehrmaligem Blinzeln gelang es ihm sie offen zu halten und sich zu orientieren. Die Sonnenstrahlen fielen hinter ihm durch das große Wohnzimmerfenster auf die Couch, auf der er lag. Doch es war nicht bloß irgendein Wohnzimmerfenster und auch nicht irgendeine Couch. Schnell hatte Ben begriffen wo er sich befand, die Umgebung war ihm mehr als vertraut. Er drehte den Kopf zur Seite und sah Semir, der ihm schräg gegenüber saß und ihn erwartungsvoll aber gleichzeitig auch besorgt musterte.


    „Hey Partner!“, begrüßte Ben seinen älteren Kollegen. Er war unglaublich froh den kleinen Türken zu sehen, auch wenn er sich die Situation im Moment nicht so recht erklären konnte.


    „Hey!“, kam es ganz erleichtert von Semir zurück. Die zwei Worte seines Kollegen hatten ausgereicht um einen Großteil der Sorgen, die er sich in der letzten Nacht über den Zustand seines Partners gemacht hatte, zu zerschlagen und auch ein Blick in die Augen von seinem Gegenüber bestätigten ihm was er noch am frühen Morgen gar nicht zu hoffen gewagt hatte. Ben schien nun auch mental wieder bei sich zu sein, der seltsame Ausdruck in seinem klaren Blick war verschwunden und Semir spürte wie ihm dadurch gleich mehrere Steine vom Herzen fielen.


    „Guten Morgen Ben! Na ausgeschlafen?“, begrüßte nun auch Andrea den dunkelhaarigen Polizisten, als sie mit einem Frühstückstablett in den Händen das Wohnzimmer betrat. Während sie auf den Couchtisch zusteuerte sagte sie an Semir gewandt: „Siehst du ich habe dir doch gesagt, dass er erstmal etwas Schlaf braucht. Du hättest dir gar nicht so viele Sorgen machen müssen.“


    Schnell warf Semir seiner Frau einen vielsagenden Blick zu. Sie musste jetzt vor Ben nicht unbedingt zum Besten geben wie sich sein so-viele-Sorgen-machen geäußerte hatte und wie oft er in der Nacht immer wieder ins Wohnzimmer gegangen war und nach ihm geschaut hatte. Doch Andrea schien zum Glück kein Interesse daran zu haben, die nächtlichen Aktionen ihres Mannes näher auszuführen sondern stellte Ben das Tablett mit dem Frühstück auf den Couchtisch. "Damit du auch schnell wieder zu Kräften kommst.", zwinkerte sie Ben zu, der sich aufgesetzt hatte und mit einem tierischen Heißhunger auf das üppige Angebot an Frühstücksleckereien schaute. Andrea hatte wirklich an alles gedacht.


    „Danke! Andrea du bist die Beste!", lobte Ben und sah fast ein bisschen neidisch zu Semir herüber. "Ich glaube du weißt gar nicht wie gut du es hast.“


    „Oh doch das weiß ich.“, versicherte Semir an seine Frau gewandt, zog sie zu sich heran und küsste sie zärtlich. Ben beobachtete die Szene kurz mit einem breiten Grinsen im Gesicht und machte sich dann über das vor ihm stehende Essen her.


    „Semir, ich muss jetzt leider schon wieder los." Andrea löste sich aus der Umarmung ihres Mannes. "Ich habe Frau Jansen versprochen, dass ich ihr noch heute Vormittag die Unterlagen für das neue Kindergartenprojekt vorbei bringe." Sie schnappte sich eine dicke Mappe und mehrere Schnellhefter, die auf dem Sideboard hinter ihr gelegen hatten. "Ich bringe ihr die Sachen schnell zu Fuß rüber."


    „Du gehst zu Fuß?“, fragte Semir verwundert.


    „Ja. Wieso denn nicht? Das ist viel besser für die Umwelt wenn wir mal das Auto stehen lassen.", gab Andrea zu bedenken "Und außerdem wohnt sie ja nur zwei Straßen weiter."


    "Aha", murmelte Semir noch nicht ganz so überzeugt und folgte ihr in den Flur wo er die Unterlagen hielt während sie ihren Mantel anzog. Andrea steckte noch ihren Haustürschlüssel ein und nahm ihm dankend die Unterlagen wieder ab. "Der Kaffee den ich euch angestellt habe müsste gleich durchgelaufen sein.", informierte sie noch ihren Mann bevor sie sich verabschiedete und das Haus verließ.


    „Wie hast du mich eigentlich gefunden?“, wollte Ben wissen, der es sich noch immer nicht erklären konnte wie er auf einmal bei den Gerkhans im Wohnzimmer aufgewacht war, wo er sich doch noch an einem ganz anderen Ort gewähnt hatte, als Semir kurz darauf ins Wohnzimmer zurückkam. Mit wenigen Worten klärte der seinen Partner über die Rettungsaktion am vergangen Tag auf. „Ich würde nur gerne mal wissen wer diese Typen da unten im Keller waren und vor allem warum dein Vater dich überhaupt in die Klinik hat einweisen lassen.“, sprach Semir zum Schluss die Gedanken aus, die ihn seit den letzten Stunden fast pausenlos beschäftigten.


    Ben schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß es nicht.“


    „Du weißt es nicht?!“, wiederholte Semir und sah ihn fragend an.


    Ben erzählte ihm wie er in der Klinik aufgewacht war, wie die Ärzte ihm aufgrund eines angeblichen Videos eine Psychose andichten wollten und dass seine Erinnerungen an den Abend zuvor komplett verschwunden waren.


    Während Ben noch redete begannen sich in Semirs Kopf die ersten Puzzleteile zusammenzufügen. Sein Partner hatte wahrscheinlich keine Erinnerungen an den Sonntagabend mehr, da er die Pizza mit dem Allobarbital gegessen, welches ihn komplett ausgeknockt hatte und die Männer die ihn aus der Wohnung entführt hatten, waren vielleicht die gleichen, die er im Keller der Uniklinik gesehen hatte. Doch was war der Sinn hinter dem Ganzen? Und welche Rolle spielte Bens Vater dabei?


    "Ben was ist los mit deinem Vater? Was denkst du könnte der Grund für sein Verhalten dir gegenüber sein? Warum die Einweisung? Ich meine es muss doch irgendein Vorfall zwischen euch beiden gegeben haben.", hakte Semir nach.


    "Ich weiß überhaupt nicht was mit ihm los ist! Ich hatte seit Monaten gar keinen Kontakt mit ihm!", gab Ben etwas lauter wie eigentlich beabsichtigt zurück.


    Das laute Surren aus der Küche erinnerte Semir an den fertigen Kaffee, von dem Andrea vorhin gesprochen hatte. Er ging in die Küche, nahm zwei Tassen und füllte sie nacheinander. „Sag mal kennst du eigentlich einen Felix Winkler?“, rief Semir dann als ihm der Berater von Bens Vater wieder in den Sinn gekommen war.


    Ben überlegte kurz. „Den Namen habe ich noch nie gehört. Wer soll das denn sein?“, fragte er als Semir mit jeweils einer vollen Tasse Kaffee in der rechten und in der linken Hand wieder aus der Küche zurückkam. Doch Semir antwortete ihm nicht, er blieb plötzlich wie angewurzelt an der Schwelle zum Wohnzimmer stehen und ließ dann die Kaffeetassen einfach fallen.


    Ben verfolgte die Flugbahn der beiden Tassen bis auf den Fußboden wo sie zersplitterten und sich der Kaffee über die hellen Fliesen ergoss. Irritiert schaute er in die Augen seines Kollegen und sah wie sich diese entsetzt weiteten. Dann ging alles sehr schnell. Semir schrie laut „DECKUNG!!!“ und riss gleichzeitig seine Pistole aus dem Holster. Ben vergeudete keine Zeit damit sich erst umzudrehen und zu schauen, was sich gerade hinter seinem Rücken abspielen musste und seinen Partner so aus der Fassung gebracht hatte. Er glitt sofort von der Couch auf den Boden. Nur eine Millisekunde später durchschlugen die unzähligen Geschosse einer Maschinenpistole das Wohnzimmerfenster, hinter dem er eben noch gesessen hatte. Automatisch wollte Ben ebenfalls seine Waffe ziehen doch seine Hand griff ins Leere. Fuck! Er trug seine Pistole ja gar nicht bei sich. So blieb ihm nichts anderes übrig als weiter auf dem Boden zu kauern und zu hoffen das die Couch stabil genug war um die tödlichen Projektile von ihm fernzuhalten.


    Mit einem unbeschreiblichen Lärm entlud sich ein Kugelhagel nach dem anderen in das Wohnzimmer der Gerkhans und verwandelte es innerhalb weniger Sekunden in ein chaotisches Schlachtfeld. Verbissen feuerte Semir in die Richtung der Angreifer. Er hatte sie im Garten stehen sehen, als er aus der Küche gekommen war. Zwei Männer in schwarz, jeder von ihnen hatte eine MP im Anschlag. Doch Semir hatte keine Chance richtig auf die beiden zu zielen, dafür hätte er seine Deckung hinter dem großen Schrank im Flur verlassen müssen, aber das wiederum würde ohne die Hilfe seines Partners, der ihm Feuerschutz gab, sein sicheres Todesurteil bedeuten. Es war Semir klar, dass er diesmal nicht auf Ben zählen konnte, im Gegenteil, sein Partner saß da vorne im Wohnzimmer selber in der Klemme und war auf ihn angewiesen. Semir fasste die Lage nüchtern zusammen. Er sah sich nicht nur mit zwei Angreifern konfrontiert die ihn und Ben gleichzeitig unter Beschuss nahmen, auch in Bezug auf die Waffen waren die Karten viel zu ungleich gemischt. Es war eine der Situationen, in die er schon mehrmals in seinem Leben geraten war, Situationen die von ihm verlangten das Unmögliche möglich zu machen. Bisher hatte er es immer wie durch ein Wunder geschafft sich aus diesen Situationen herauszumanövrieren, doch wie lange würde das noch gutgehen? Das Glück konnte doch nicht immer auf seiner Seite sein.


    Das laute Knattern der Maschinenpistolen verstummte kurz und Ben konnte hören wie die Hülsen der Patronen nur wenige Meter von ihm entfernt zu Boden klimperten. Erschrocken darüber wie nah ihm die Schützen schon gekommen waren hielt er die Luft an.

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  • Ben spürte deutliche wie die Panik nach ihm griff als ihm klar wurde, dass er in der Falle saß – so oder so. Blieb er wo er war, war es nur noch eine Frage der Zeit bis die Angreifer ihn entdeckten, verließ er seinen Platz hinter der Couch, begab er sich direkt in die Schusslinie. Wie er es auch drehte und wendete, er schien keine Möglichkeit haben seine Chancen zu verbessern. Ohne den Kopf zu heben schaute Ben in die Richtung, in der er Semir vermutete. Einzig der Gedanke an ihn war der Grund warum die Panik Ben noch nicht komplett vereinnahmte, warum da noch ein bisschen Platz für Hoffnung war. Hoffnung die Situation mit Semirs Hilfe doch noch irgendwie zu überstehen.


    Die Angreifer hatten das Feuer eingestellte nur kurz, nur für einen kleinen Moment, doch lange genug für Semir um sich einen schnellen Überblick zu verschaffen. Er hatte hinter dem Schrank hervorgelugt, hatte bestürzt gesehen wie nah die Schützen schon gekommen waren. Der Erste war bereits auf der Terrasse, nur noch wenige Schritte trennten ihn vom Wohnzimmerfenster. Stand der Kerl erstmal im Haus war Ben verloren. Semir musste sich etwas einfallen lassen und zwar JETZT SOROFT!


    Er handelte ohne weiter darüber nachzudenken ob es wirklich Sinn machte oder nicht. Semir riss seine Pistole nach oben und schoss auf die Halterung des großen schweren Vorhangs, den Andrea vor einigen Wochen mit der Begründung „so etwas wäre jetzt wieder modern“ dort über dem Fenster aufgehängt hatte. Einige der Kugeln trafen ihr Ziel. Der Vorhang krachte fast bis zur Hälfte herunter und verdeckte ein Teil des Wohnzimmerfensters. Semir wusste wenn überhaupt brachte ihm das nur wenige kostbare Sekunden um die Angreifer kurzzeitig aufzuhalten. Ohne zu zögern verließ er seine Deckung hinter dem großen Schrank im Flur und rannte bis nach vorne zum Wohnzimmer.


    Und dann sah er ihn – Semir! Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht und stand plötzlich in der Tür zum Wohnzimmer. Ben sah wie er mit der Pistole in der rechten Hand über ihn hinwegfeuerte, gleichzeitig winkte er ihn hektisch zu sich herüber und schrie irgendetwas in seine Richtung. Semirs Worte gingen im Lärm der Knallerei komplett unter aber Ben verstand sofort. Tief geduckt, fast auf allen vieren kriechend verließ er seinen Platz hinter der Couch und machte sich auf den Weg. Es waren nur wenige Meter bis zum rettenden Flur, doch die schienen sich unendlich lange zu ziehen. Jeden Moment rechnete Ben damit von den Kugeln oder einem der Querschläger getroffen zu werden. Mehrmals hörte er wie die Geschosse dicht an ihm vorbei pfiffen, ihn nur um Haaresbreite verfehlten. Nach einer halben Ewigkeit erreichte er Semir und drückte sich an ihm vorbei in den sicheren Flur.


    „Bist du okay?“, fragte Semir mit besorgter Stimme.


    Ben nickte „Danke! Das war knapp!“


    Semir hatte das Magazin seiner Pistole kontrolliert, nur drei Schuss blieben ihm noch, dann war es leer. „ Jetzt nix wie raus hier!“


    Ben rannte nach vorne in Richtung Haustür. Auf dem Schränkchen unter dem Spiegel im Flur sah er einen Autoschlüssel liegen. Perfekt!


    „Ich habe den Schlüssel!“, rief er seinem Partner zu. Semir, der den Rückweg sicherte nickte nur kurz. Ben beeilte sich zur Haustür zu kommen, öffnete sie aber nur einen kleinen Spalt weit. Erst als er vor dem Haus nichts Verdächtiges bemerkte stieß er die Tür ganz auf und stürzte nach draußen. Ben aktivierte die Fernbedienung des Autoschlüssels und sofort blitzten die Scheinwerfer von Andreas blauem Skoda Fabia auf. Was zum…? In der Annahme er habe Semirs Autoschlüssel für den BMW in der Hand starrte Ben kurz irritiert auf das grüne Skoda-Emblem welches ihm auf dem Schlüssel entgegen blitzte, setze dann aber seinen Weg fort. Die Situation war gerade denkbar ungünstig um wählerisch zu sein.


    Ben war gerade im Begriff die Fahrertür des Fabia zu öffnen als er sah wie Semir direkt auf die Beifahrertür des BMWs zusteuerte, der hinter dem Skoda parkte.


    „Semir! Hier!“, rief er und winkte seinen Partner zu sich.


    „Was machst du denn?“ schrie Semir und schaute zu ihm herüber als wäre der von allen guten Geistern verlassen.


    „Steig ein!“ schrie Ben.


    „Doch nicht Andreas Auto!“, schrie Semir aufgebracht zurück.


    Ben sah aus dem Augenwinkel wie die beiden Angreifer mit den Maschinenpistolen im Anschlag aus der Haustür stürmten.
    „JETZT STEIG ENDLICH EIN!!!“, brüllte er und ließ sich eilig auf den Fahrersitz des Skodas gleiten. Semir hatte die beiden ebenfalls gesehen und beeilte sich nun zu Ben in den Wagen zu steigen. Er hatte die Tür noch nicht richtig zugeschlagen als Ben den Motor aufheulen ließ und den Wagen mit durchdrehenden Rädern anfuhr. Die Schützen eröffneten sofort das Feuer und trafen ihr fahrendes Ziel mehrfach. Semir und Ben duckten sich nach unten als die Heckscheibe mit einem lauten Knall zersprang und einige der Glassplitter wie scharfes Konfetti bis zu ihnen nach vorne wirbelte. Ben trat das Gaspedal voll durch, der Fabia beschleunigte und raste die Straße hinunter.


    „Sag mal bist du völlig verrückt geworden?“, tobte Semir los, jetzt wo sie außer Reichweite der Geschosse gekommen waren. „Warum nimmst du denn nicht meinen Dienstwagen? Du hast doch gesagt du hast den Schlüssel!?“


    „Ich habe nicht gesagt dass ich DEINEN Schlüssel habe. Ich habe nur gesagt das ich EINEN Schlüssel habe und das war DER HIER!“, stellte Ben klar und deutete auf den Schlüssel der im Zündschloss des Fabias steckte. Ben sah zwar das Stoppschild am Ende der Straße doch er beschleunigte den Skoda weiter und der Wagen schlitterte mit quietschenden Reifen um die Kurve.


    „Ja aber warum nimmst du denn den von Andreas Auto und nicht meinen?“, bohrte Semir weiter.


    „Man woher sollte ich denn wissen wo du deinen Autoschlüssel hingelegt hast?!“, schrie Ben gereizt und warf Semir einen verärgerten Blick zu ehe er sich wieder auf den Verkehr konzentrierte.


    „Jetzt sag nur du hast den nicht gesehen! Der lag doch auf dem Couchtisch, direkt vor deiner Nase!“, entrüstete sich Semir.


    „Ja toll, den habe ich nicht gesehen aber selbst wenn doch, was hätte ich denn machen sollen?“, verteidigt sich Ben lautstark. „Zu den Typen ins Wohnzimmer gehen und sagen: Oh, entschuldigen Sie, könnten Sie bitte kurz das Feuer einstellen? Ich muss mal schnell den Autoschlüssel von meinem Partner holen?!“ Im Rückspiegel sah einen dunklen Geländewagen, der ihnen folgte. Ben überfuhr eine rote Ampel, verfehlte einen wild hupenden Mercedes nur ganz knapp und streifte beinahe einen Citroen, der ins Schleudern geriet.


    „Haha, sehr witzig!“, knurrte Semir. „Und wie soll ich es meiner Frau erklären, dass wir gerade ihr Auto zu Schrott fahren?“, fragte er während er sein Handy aus der Jackentasche holte und dann Susannes Nummer eintippte.


    „Was heißt hier ihr Auto zu Schrott fahren? Jetzt entspann dich doch mal. Vielleicht bleibt es ja bei der zerbrochenen Heckscheibe.“, frotzelte Ben und schlängelte den Fabia durch zwei freie Lücken weiter nach vorne durch den zäh fließenden Stadtverkehr.


    „Das glaubst du ja wohl selber nicht.“, spottete Semir während er sein Handy ans Ohr hielt und dem Freizeichen lauschte.


    Ben glaubte es natürlich nicht, aber er verstand auch nicht warum sich Semir so darüber aufregte. Überhaupt gab es da noch viel mehr was Ben nicht verstand. Während Semir bei Susanne Verstärkung anforderte und ihr das Kennzeichen des dunklen Geländewagens durchgab, fragte er sich zum x-ten Mal in was sie da hineingeraten waren. Wer hatte die Killer auf sie angesetzt und warum? Steckte sein Vater da etwas auch mit drin? So wie in der Kliniksache? Aber warum? Verdammt warum??? Bens Hände krallten sich in das Lenkrad sodass die Knochen weiß hervortraten. Er musste mit seinem Vater reden und zwar so schnell wie möglich. Seine Aufmerksamkeit wurde von einem Warnschild, welches Bauarbeiten auf der Straße ankündigte, abgelenkt. Shit! Eine Baustelle konnten sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Ben entschied sich spontan für die Autobahnauffahrt hinter der nächsten Biegung. Der Skoda legte sich weit in die scharfe Linkskurve, er war viel zu schnell für die enge Biegung. Als Ben das erkannte drosselte er sofort das Tempo und riss das Lenkrad herum, trotzdem streifte der Wagen am oberen Ende der Auffahrt die Leitplanke sodass Funken sprühten.


    „Mensch pass doch auf!“, rief Semir der gerade das Telefonat mit Susanne beendet hatte.


    „Ja sorry!“, gab Ben zurück und setzte den linken Blinker um so schnell wie möglich auf die Überholspur zu kommen.


    Semir beobachtete irritiert durch den rechten Außenspiegel wie der dunkle Geländewagen immer weiter zurück fiel, kaum dass sie auf die Autobahn aufgefahren waren. Ben hingegen konzentrierte sich auf den Verkehr vor ihnen, er überholte gerade einen umgebauten Kleinlaster mit der Aufschrift „Concept Catering Crew“ als Semir sich hektisch nach hinten drehte.


    „Guck mal da! Guck doch mal da!“, schrie er. Seine Stimme klang heiser vor Aufregung.

  • Ben warf einen Blick in den Rückspiegel und erkannte sofort warum Semir so aus dem Häuschen war. An dem dunklen Geländewagen zog gerade ein silberner 3-er BMW vorbei – Semirs Dienstwagen. Verdutzt schaute Ben ein zweites Mal hin, nur um sich zu vergewissern dass es real war, was er gesehen hatte.


    „Die Mistkerle haben mein Auto genommen! Das gibt’s doch nicht!“, schrie Semir aufgebracht.


    „Na ganz offensichtlich schon.“, korrigierte Ben mit einem kurzen Seitenblick auf seinen Partner.


    Semir ignorierte den Kommentar seines Partners. „Fahr mal schneller!“, forderte er ungeduldig. „Die kommen immer näher!“


    „Ja sorry, es geht nicht schneller!“, äußerte Ben mit Blick auf den Tacho, dessen Anzeigenadel gerade so an der 160 kratzte und sich auch nicht weiter bewegte, obwohl er das Gaspedal ganz durchgedrückt hatte. „Mach du doch auch mal was!“


    „Was soll ich denn machen? Ich kann doch nicht auf meinen eigenen Dienstwagen schießen!“, entgegnete Semir ungläubig.


    „Das wirst du wohl müssen wenn du willst, dass wir den nächsten Anschiss von der Krüger noch live erleben sollen.“, meinte Ben sarkastisch.


    „Ja und den von Andrea.“, fügte Semir hinzu, zog seine Waffe und entsicherte sie. Er lehnte sich aus dem Fenster und zielte auf den rechten Vorderreifen des BMWs. Er drückte ab, doch sofort verrieten ihm die grellen Funken auf dem Kühlergrill und der Stoßstange, dass er sein Ziel verfehlt hatte. Verdammt! Semir versuchte es erneut, aber auch jetzt hatte er kein Glück. Nur einen Schuss hatte er noch, einen einzigen. Hochkonzentriert zielte er wieder auf den Vorderreifen. Genau in dem Moment als Semir abdrückte riss der Fahrer das Steuer herum und auch die letzte Kugel verfehlte ihr Ziel.


    Semir lehnte sich auf seinen Sitz zurück. „So das wars.“


    „Wie das wars?“, fragte Ben irritiert. Der BMW war immer noch hinter ihnen und holte auch immer noch weiter auf.


    „Ich hab keine Munition mehr.“, klärte Semir seinen Partner auf und steckte die nutzlose Pistole weg.


    „Ja und jetzt?“, fragte Ben und schaute zum wiederholten Mal in den Rückspiegel und scannte den Horizont vergeblich nach den blinkenden Blaulichtern der Kollegen ab. „Wo bleibt denn die verdammte Kavallerie wenn man sie braucht?“


    „Das frage ich mich auch.", pflichtete Semir ihm bei "Sie müssten doch eigentlich schon längst hier sein.“


    Ben gab sein Möglichstes, holte alles was ging aus Andreas Wagen heraus und versuchte die Verfolger durch riskante Überholmanöver, begleitet von Semirs zwar konstantem aber auch gleichzeitig wirkungslosem Flehen er möge doch bitte auf das Auto achten, doch noch irgendwie abzuschütteln. Aber alle Versuche die fehlenden PS nur ansatzweise durch fahrerisches Können auszugleichen, schienen von vornerein zum Scheitern verurteilt. Gegen den hochmotorisierten BMW hatte der kleine Fabia einfach keine Chance. Der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen verringerte sich immer mehr und gleich würde der BMW sie eingeholt haben. Ben überlegte ob es nicht doch eine Möglichkeit gab den Angreifern zu entkommen. Sie mussten runter von der Autobahn – am besten sofort. DA! Eine Gelegenheit dazu bot sich etwa vierhundert Meter weiter vorne, wo die Autobahn eine Landstraße kreuzte. Die Brücke, welche die Autobahn über die Landstraße führte war nicht besonders hoch. Wenn er die momentane Geschwindigkeit hielt, sollte es möglich sein das Brückengeländer zu durchbrechen und auf die Landstraße überzusetzen. Es blieben Ben nur wenige Sekunden um sein Vorhaben abzuschätzen.


    „FESTHALTEN!“, schrie er gerade noch bevor er das Lenkrad mit beiden Händen herumriss und der Skoda kurz darauf mit einem ohrenbetäubenden Krachen das Brückengeländer durchbrach. Die Zeit um sie herum schien still zustehen als die Räder des Autos den Bodenkontakt verloren hatten und sich der Wagen wie in Zeitlupe der Landstraße unterhalb der Autobahn näherte. Semir und Ben schrien aus vollem Hals, während Letzterer auch gleichzeitig versuchte das Lenkrad für den unmittelbar bevorstehenden Aufprall so gerade wie möglich zu halten.


    Und der Aufprall kam mindestens doppelt so heftig wie erwartet. Begleitet von dem Geräusch nach splitterndem Glas und dem rauen Kratzen von Blech über den Asphalt war der Skoda auf der Landstraße aufgesetzt. Semir und Ben die während dem Flug noch in den Gurten hingen, hatte es unsanft zurück in die Sitze gedrückt. Der Motor war ausgegangen und der Fabia rollte noch einige Meter die Straße entlang bis er endgültig zum Stehen kam.


    Ben, der sah wie Semir ihn mit offenem Mund und aufgerissenen Augen fassungslos anstarrte, hob sofort beschwichtigend beide Hände und begann auf seinen Partner einzureden: „Hey, es gibt jetzt keinen Grund um auszuflippen, ja? Es ist bestimmt nicht so schlimm wie du jetzt denkst. Das Getriebe hat nur ein bisschen was abbekommen und da gibt es ein paar Kratzer im Lack und vielleicht den ein oder anderen Blechschaden, aber das kriegt die Werkstatt bestimmt wieder hin, du wirst schon sehen, die kriegen den Wagen bestimmt wieder zum Laufen.“ Er nickte Semir aufmunternd zu und schaute dann zurück nur um erschrocken festzustellen, dass der silberne BMW gerade im Begriff war ihnen zu folgen. Die Vorderräder befanden sich schon in der Luft als der Wagen durch die Lücke im Brückengeländer fuhr, die der Skoda geschaffen hatte.


    „Scheiße!“, schrie Ben alarmiert „Raus hier! Raus!“


    Fast gleichzeitig rissen die beiden Polizisten die Türen auf und hechteten aus Andreas Auto heraus. Semir drehte sich kurz um und sah seinen Dienstwagen wie in Zeitlupe auf sich zu fliegen. Was war das nur für ein beschissener Tag? Mehr in seinem Unterbewusstsein nahm er auf einmal ein plätscherndes Geräusch war. Und dann sah er die Flüssigkeit, die sich auf dem Boden am hinteren Teil des Skodas sammelte, dort wo der Tank saß. Benzin!


    Semir rannte los, keine Sekunde zu früh. Im nächsten Moment krachte der silberne BMW in den blauen Skoda. Die Kollision der beiden Fahrzeuge löste eine gewaltige Explosion aus.


    Semir und Ben wurden von der starken Druckwelle erfasst und zu Boden gerissen.

  • Leicht benommen richtete Ben sich auf. Er wagte es kaum sich umzudrehen, tat es dann aber schließlich doch. Bei dem Anblick der beiden Autos, oder besser gesagt bei dem, was davon übrig geblieben war, wurde ihm sofort klar, dass die Ausmaße des Crashs seine Befürchtungen sogar noch übertroffen hatten. Beide Fahrzeuge brannten als wären sie zuvor mit Benzin übergossen worden. Die Rauchentwicklung des Feuers war enorm und hüllte ein Teil der Wracks in dicken schwarzen Qualm. Neben dem hektischen Knistern des Feuers waren in der Ferne nun auch die Sirenen der Einsatzwagen zu hören und am Horizont tauchten die ersten Lichter der blauen Signalgeber auf. Die Kavallerie war im Anmarsch.


    Semir rappelte sich nun ebenfalls auf, gerade in dem Moment in dem sich die dunkle Rauchwolke allmählich lichtete und das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar wurde. Der BMW hing längsseitig auf dem Skoda und hatte dessen Karosserie fast komplett eingedrückt.


    Der Anblick löste in Semir eine Welle von Emotionen aus. Nein! Das war unmöglich! Das konnte nicht wahr sein! Das durfte einfach nicht wahr sein! Sein BMW! Der Fabia! Fassungslos stürzte er auf die brennenden Fahrzeuge zu. Für ihn war ein Auto weit mehr als nur ein Haufen Blech auf vier Rädern, das seinen Zweck erfüllte. Gerade seine Dienstwagen, von denen er während seiner beruflichen Laufbahn schon etliche gefahren hatte, bedeuteten ihm viel und auch wenn sie optisch innerhalb einer Altersklasse alle gleich aussahen, so hatte doch jeder Wagen seine kleine Besonderheit, die ihn von den anderen unterschied. Zu sagen dass er seine Autos liebte war vielleicht etwas übertrieben, er hing einfach an ihnen und er achtete im Gegensatz zu seinem Partner penibel darauf, dass er im Auto keinen Kaffee verschüttete, es nicht zumüllte und auch nicht mit Essen vollkrümelte.


    Ben, der sich vorerst im Hintergrund hielt, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und setzte eine möglichst unbeteiligte Miene auf. Er konnte deutlich sehen wie sein Kollege um Fassung rang, wie er mit seinen Gefühlen kämpfte und schließlich von ihnen überwältigt wurde. Semir drehte sich zu ihm um. „Sag mal wer hat dich eigentlich damals für die Autobahnpolizei zugelassen?“, brauste er lautstark auf. „Und wo hast du überhaupt deinen Führerschein gemacht!?“ Er ließ Ben keine Zeit zum Antworten. „Wahrscheinlich hast du gar keinen gemacht, sondern dein Vater hat dir einfach einen gekauft, als du 18 warst! Das würde zumindest erklären, warum du alles zu Schrott fährst, was Räder hat und dir zwischen die Finger kommt!“


    Ben hatte zwar eine Antwort parat, doch hielt er es für das Beste erst abzuwarten bis der kleine Türke sich halbwegs abreagiert hatte. Semirs Handy klingelte doch ungeachtet dessen polterte er einfach weiter. „Weißt du eigentlich wie lange Andrea oder ich für so einen Gebrauchtwagen wie den Skoda arbeiten müssen? Weißt du das?“ Semirs Stimme überschlug sich beinahe. Ohne Luft zu holen fuhr er fort: „Und den Dienstwagen hatte ich gerade mal seit zwei Wochen!" Semir baute sich dicht vor Ben auf. "Seit zwei Wochen!“, wiederholte er nochmal.


    „Ähm nur zur Info. Dein Handy klingelt. Vielleicht solltest du da mal ran gehen.“, unterbracht Ben seinen Partner jetzt doch.


    „Ja, vielen Dank für den Hinweis.“, knurrte Semir genervt, zog aber trotzdem sein Handy aus der Tasche. „Glaub ja nicht dass wir hier fertig sind!“ schob er noch hinterher, bevor er auf das Display schaute. Es war Andrea. Natürlich war es Andrea. Wie konnte es auch anders sein? Sie hatte einfach Talent in solchen Momentan anzurufen. Er nahm das Gespräch an und sofort schlug ihm die aufgeregte Stimme seiner Frau entgegen. „Semir wo seid ihr und was ist passiert? Ich komme gerade von Frau Jansen zurück und hier wimmelt es überall von Polizisten die mich nicht ins Haus lassen wollen, weil die Spurensicherung noch nicht fertig ist und die Nachbarn reden dauernd von einer Schießerei.“


    Semir konnte sich das Aufgebot an Ermittlern gut vorstellen, die sich vermutlich nach einem Anruf der besorgten Nachbarn bei ihnen zu Hause eingefunden hatten. „Wir sind von zwei Männern mit Maschinenpistolen überfallen worden, kurz nachdem du das Haus verlassen hast. Aber mach dir keine Sorgen, uns geht es gut.“ Im Gegensatz zu unseren Autos beendete Semir den Satz im Stillen.


    „Was waren das für Männer? Und was wollten die von euch?“, fragte Andrea verunsichert.


    „Das wissen wir noch nicht. Andrea bitte bleib ganz ruhig. Das wird sich bestimmt aufklären.“, versuchte Semir seine Frau zu beruhigen.


    Andrea schluckte nur. Sie sah sich nach ihrem Auto um, doch der Fabia schien sich in Luft aufgelöst zu haben. „Semir wo ist mein Auto?", fragte sie dann und ahnte nicht was diese Frage bei ihrem Mann auslöste.


    „Dein Auto?", fragte Semir gespielt verwundert um ein bisschen Zeit zu gewinnen. "Äh... ja das hat Ben genommen.“, antwortete er dann ausweichend. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt um es ihr zu sagen, nicht jetzt und nicht am Telefon. Am liebsten wollte er es sowieso so lange hinauszögern wie es eben ging.


    „Ben hat es genommen?“, fragte sie ungläubig. „Du weißt doch, ich muss die Kinder aus der Schule und dem Kindergarten abholen.“ Der vorwurfsvolle Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Semir ich brauche mein Auto! Jetzt sofort.“


    „Andrea! Schatz! Dass ist jetzt gerade ganz schlecht.“, entgegnete Semir mit einem Seitenblick auf die brennenden Autowracks. „Hör zu, ich kümmere mich darum dass Ayda und Lilly abgeholt werden, okay?“


    Andrea stutzte. Der Klang seiner Stimme und die Art wie er sich ausdrückte ließ sie aufhorchen. "Semir? Ist da nicht noch etwas das du mir sagen willst?", hackte sie nach. Sie war lange genug mit ihm verheiratet um zu spüren wann er ihr etwas verheimlichte.


    „Du ich muss jetzt Schluss machen.“, blockte Semir ab "Ich rufe dich wieder an. Cioa! Ciao ciao!“


    Ben stand etwas abseits der Straße während Semir telefonierte. Nachdenklich beobachtete er wie die Streifenwagen der Kollegen sich näherten. Von dem dunklen Geländewagen der Killer war nichts mehr zu sehen und er vermutete, dass der Fahrer wahrscheinlich beim Anblick der vielen Einsatzwagen das Weite gesucht hatte.


    Viel zu surreal wirkten die Ereignisse der letzten Stunden auf Ben und er hatte fast den Eindruck als wäre es alles bloß ein schlechter Traum. Die letzten Tage hatten ihm zwei Blackouts beschert. Nach dem Ersten war er in der geschlossenen Psychiatrie aufgewacht, als psychotisch eingestuft und, nach der Schlägerei mit einem anderen Patienten, mit Medikamenten ruhig gestellt worden. Nach dem Zweiten war er bei Semir im Wohnzimmer auf der Couch zu sich gekommen, kurz darauf beinahe von zwei schwer bewaffneten Killern, die sie bis hierher verfolgt hatten, ins Jenseits befördert worden. Von den beiden Autos, die bei dem Crash nach dem Sprung von der Autobahnbrücke explodiert waren, ganz zu schweigen.


    Er fragte sich still was wohl als Nächstes kommen würde.


  • PASt – ca. 45 Min. später

    Semir und Ben hatten sich auf Geheiß der Chefin in deren Büro eingefunden. Und kaum hatte sie das Büro betreten, versuchte Ben auch sofort eventuelle im Vorfeld entstandene Missverständnisse in Bezug auf den Crash zu beseitigen.


    „Also… Frau Krüger… ähm… wie Sie ja an dem Vorfall erkennen können, dass der Dienstwagen geschrottet wurde, obwohl ihn keiner von uns beiden gefahren hat… also was Sie ja daran sehen können… also was ich damit sagen will…“, druckste er herum „…also das ist ja jetzt so was wie ein Beweis dafür, dass wir …ich kann es mir ja auch nicht erklären, aber das muss irgendwie an den Autos direkt liegen also völlig unabhängig davon, von wem sie gefahren werden…also können wir eigentlich gar nichts für die ganzen Crashs und…“ Ben schaute Semir auffordernd an. „Sag du doch auch mal was!“


    Semirs Augen weiteten sich überrascht. „Du fährst meine beiden Autos zu Schrott und erwartest dann das ich noch was dazu sage?!“


    „Komm, jetzt tu nicht so als ob es besser ausgegangen wäre, wenn du gefahren wärst.“, verteidige sich Ben.


    „Was soll das denn heißen?“, brauste Semir auf. „Natürlich wäre das besser ausgegangen!“


    „Tz!“ Ben schüttelte kurz den Kopf. „Wer hat denn bitte hier die meisten Autos geschrottet, hm?“, herausfordernd schaute er seinen Partner an.


    „Ich bin ja auch älter als du!“, rechtfertige sich Semir lautstark.


    „Was hat das denn mit dem Alter zu tun?“, fragte Ben gespielt irritiert, obwohl er genau wusste auf was sein älterer Kollege hinaus wollte.


    „Rein statistisch gesehen hatte ich in deinem Alter noch nicht mal halb so viele Autos zerlegt, wie du jetzt schon.“, stelle Semir klar.


    „Statistisch gesehen?“, wiederholte Ben überrascht. „Seit wann verstehst du denn was von Statistiken?“, zog er seinen Partner auf.


    „Ich verstehe jedenfalls mehr von Statistiken wie du vom Autofahren.“, grinste Semir.


    "Genau!", nickte Ben sofort. "Und ich bin der Kaiser von China."


    „Meine Herren, es reicht!“, unterbrach Kim Krüger gereizt. Sie hatte sich auf ihren Bürostuhl gesetzt, die Unterarme auf den Schreibtisch gelegt und sich leicht nach vorne gelehnt. Mit einem durchdringenden Blick sah sie ihre beiden Mitarbeiter an. „Ich will jetzt endlich wissen was hier läuft!"


    Am Abend zuvor hatte sie noch mit Semir telefoniert und wusste von Bens Rettungsaktion aus dem Keller der Uniklinik und auch von den Russen die sich dort aufgehalten hatten. Doch das war bevor die Killer in das Haus der Gerkhans eingedrungen, das Feuer auf die beiden Hauptkommissare eröffnet und sie von dort bis an den Kölner Stadtrand gejagt hatten.


    „Jäger, was war in den letzten Tagen bei Ihnen los?", fragte sie an Ben gewandt. "Was zum Teufel haben Sie in der Psychiatrie gemacht?" Sie gab ihm allerdings nicht wirklich die Zeit zum antworten, sondern fuhr an Semir gewandt direkt fort: "Und was waren das für Killer, von denen Sie bis auf die Autobahn verfolgt wurden?"


    „Frau Krüger wir wissen noch nicht wer die Männer waren.“, klärte Semir die Chefin auf. Doch damit war für ihn noch nicht alles gesagt. In seinem Kopf kreisten seit kurzem immer wieder die gleichen Gedanken. Gedanken, bei denen er bis jetzt gezögert hatte sie auszusprechen, die ihm jedoch auch keine Ruhe ließen. "Ben, was wenn dein Vater etwas damit zu tun hat...?", sprach er sie dann schließlich aus.


    „Was soll das denn jetzt?" Ben sah seinen Partner entgeistert an. "Jetzt mach mal halblang! Er hetzt uns doch nicht irgendwelche Killer auf den Hals!", stellte er dann verärgert klar.


    „Woher willst du das denn wissen? Schließlich hat er dich auch einweisen lassen! Warum nimmst du ihn denn jetzt in Schutz?“ Semir hatte die Hände vor der Brust verschränkt und sah seinen Partner abwartend an.


    Ben wusste es in dem Moment selbst nicht so genau. Vielleicht aus dem einfachen Grund weil es sein Vater war und weil er sich schlichtweg weigerte zu glauben, dass sein Vater so etwas tat. Natürlich war Ben ihm wegen der Einweisung in die Klinik alles andere als dankbar und konnte sich auch beim besten Willen keinen Reim darauf machen, jedoch zu behaupten er hatte versucht Semir und ihn auszuschalten war nochmal eine ganz andere Hausnummer. Sollte sein Vater wirklich etwas damit zu tun haben, würde Ben der Erste sein, der ihn zur Verantwortung zog, doch solange das nicht eindeutig bewiesen war, gab Ben den Glauben an die Unschuld seines Vaters nicht auf. Auch wenn er sich mit ihm nie besonders gut verstanden hatte, war er neben Julia alles was von seiner Familie noch übrig geblieben war und die Familie ließ man eben nicht so einfach im Stich. „Das werden wir ja sehen. Ich fahre zu ihm und werde mit ihm reden - und zwar alleine!“ Bei den letzten Worten blitzen seine Augen Semir wütend an. Auf einen Partner, der seinen Vater zu so etwas verdächtigte, konnte er bei dem Gespräch jedenfalls gut verzichten.


    „Alleine fahren Sie mir da bestimmt nicht hin!", schaltete sich die Chefin ein. "Das kommt überhaupt nicht in Frage!“


    „Und wie das in Frage kommt!", entgegnete Ben patzig. "Das ist eine Familienangelegenheit, ich habe wohl noch das Recht erstmal alleine mit ihm zu sprechen!“ Er war laut geworden. Nach den Erlebnissen der letzten Tage reagierte Ben besonders allergisch darauf wenn ihm jemand vorschreiben wollte was er zu tun oder zu lassen hatte. Er war verdammt nochmal selbst in der Lage eigene Entscheidungen zu treffen!!


    Bevor die Chefin etwas erwidern konnte, wurde die Tür aufgerissen und Susanne platzte herein. „Ich habe etwas über den Halter des schwarzen Geländewagens herausgefunden.“ Die Sekretärin schaute in die angespannten Gesichter ihrer drei Kollegen und kam zu dem Schluss, dass sie wohl gerade einen denkbar schlechten Zeitpunkt für ihre Mitteilung gewählt hatte. Noch im gleichen Moment klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch der Chefin. Kim Krüger, die einen Rückruf aus der Uniklinik bezüglich Bens Aufenthalt erwartete, nickte den beiden zu. „Gehen Sie, wir reden später weiter.“ Dann nahm sie den Hörer ab und die beiden Hauptkommissare verließen das Büro.


    Susanne hatte die Daten und Fotos des Verdächtigen auf die beiden großen Bildschirme geworfen, die an der Wand in Semir und Bens Büro hingen. „Das Fahrzeug ist auf einen Igor Iwanow zugelassen.", begann sie. "Iwanow ist mehrfach vorbestraft. Er wurde in den letzten Jahren unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung, Drogenbesitz und Raub verurteilt. Seine letzte Haftstrafe hat er in der JVA Ossendorf abgesessen, wo er erst vor zwei Monaten entlassen wurde.“


    „Dann stellte sich jetzt nur die Fragen ob er in meinem Dienstwagen gesessen hat als er explodiert ist...", überlegte Semir laut "...oder ob es sein Komplize war und Iwanow den Geländewagen gefahren hat, der den Kollegen entkommen ist.“


    „Da müssen wir wohl auf die Ergebnisse von Hartmut aus der KTU warten.", antwortete Susanne mit einem Schulterzucken. "Ich habe jedenfalls einen Streifenwagen zu seinem Appartement geschickt, damit die Kollegen ihn festnehmen falls er noch lebt."


    „Aber welche Verbindung gibt es zwischen dem Iwanow und uns?", fragte Ben. "Warum kommt er plötzlich auf die Idee uns mit Blei zu durchlöchern?“


    "Es gibt anscheinend keine Verbindung. Ich habe seinen Namen durch sämtliche Programme auf meinem Rechner laufen lassen, aber ihr wart an keiner der Ermittlungen gegen ihn beteiligt.", erklärte Susanne. Nachdenklich schaute sie Semir und Ben an. Sie musste keine Hellseherin sein um zu merken, dass zwischen den beiden etwas nicht stimmte. Trotzdem wollte sie nicht länger für sich behalten was sie noch herausgefunden hatte. „Ben, da ist noch etwas. Ich habe die Finanzen von deinem Vater gecheckt. Privat und auch von der Firma.“


    „Ja? Und?“, hakte Ben nach.


    „Dein Vater ist so gut wie pleite. Wusstest du davon?“


    „Was!“ Ben glaubte erst sich verhört zu haben. Wie konnte das sein? Als Multimillionär ging man doch nicht von einem Tag auf den anderen pleite.


    Als hätte Susanne seine Gedanken erraten fuhr sie fort. „Das ging natürlich nicht von heute auf morgen. Die Auftragslage seiner Baufirma ging schon vor etwa anderthalb Jahren immer weiter zurück. Doch anstatt Insolvenz anzumelden hat er erst vor ein paar Tagen einen nagelneuen Bentley auf seinen Namen zugelassen.“


    Ben musste schlucken. Sein Vater steckte also anscheinend doch viel tiefer in der Scheiße als er zunächst angenommen hatte. Überhaupt stieß es ihm bitter auf, dass seine Kollegen offenbar weit mehr über ihn wussten als er selbst.


    Auf einmal stand die Krüger in der Tür. „Gerkhan! Kommen Sie bitte mal in mein Büro!“, forderte sie und warf Ben nur einen kurzen Blick zu bevor sie sich auf dem Absatz herumdrehte und sich zurück auf den Weg in ihr Büro machte. Semir folgte ihr und als er an Ben vorbei ging vermied er es ihn anzusehen. Die Reaktion seines Partners sagte Ben mehr als tausend Worte es jemals hätten tun können.


    Seltsam berührt schaute er den beiden hinterher. Was hatte die Krüger wohl für Neuigkeiten? Und warum wollte sie nur Semir darüber informieren? In ihrem Blick hatte so etwas befremdliches, ja fast misstrauisches gelegen als sie vorhin zu ihm herüber geschaut hatte.

  • Ben sah den beiden hinterher bis sie im Büro der Chefin verschwunden waren. Was auch immer die Krüger für Neuigkeiten hatte – sie sollte sich ruhig genügend Zeit nehmen um diese mit Semir zu besprechen. Denn je länger das Gespräch dauerte umso größer würde sein Vorsprung sein wenn er sich jetzt auf den Weg zu seinem Vater machte um ihn zur Rede zu stellen. Ben beschloss keine Zeit zu verlieren. Er musste sich zunächst nach einem fahrbaren Untersatz umsehen, denn sein eigener Dienstwagen, der bei ihm zuhause vor der Tür stand nutze ihm dort genauso wenig wie Semirs BMW, der ausgebrannt bei Hartmut in der KTU auf die anstehenden Tests und Untersuchungen wartete. Doch die Autobahnpolizei verfügte ja schließlich noch über eine ganze Reihe weiterer Fahrzeuge und Ben sah kein Problem darin sich mit einem anderen Wagen auf den Weg zu machen. Susanne war gerade in die Küche gegangen um sich einen neuen Kaffee zu holen als Ben das Büro verließ um sich auf den Weg nach draußen zu machen. Er ging an Dieter Bonrath vorbei, der am Schreibtisch saß und ganz in seine Arbeit vertieft in den vor ihm stehenden Computerbildschirm starrte. Im Vorbeigehen fragte Ben sich noch wo Hotte wohl steckte als der ihm einige Meter weiter an der Tür nach draußen um Parkplatz direkt in die Arme lief.


    „Hotte!“, begrüßte Ben seinen älteren Kollegen freudig. „Sag mal du hast nicht zufällig den Schlüssel vom Porsche dabei?“


    „Ja, das habe ich.“, antwortete Horst Herzberger und hielt den Autoschlüssel zum Beweis in die Luft. „Aber das kannst du gleich wieder vergessen, Ben. Den Porsche kriegst du nicht, der ist gerade eben von der Inspektion zurückgekommen und frisch gewaschen ist der auch. Außerdem …“


    Ben hatte es eilig und keine Zeit den langen Erklärungen seines Gegenübers bis zum Ende zuzuhören. Ohne groß zu überlegen riss er seinem Kollegen einfach den Autoschlüssel aus der Hand und rannte los. „Danke Hotte! Du hast was gut bei mir!“, rief er ihm noch über die Schulter zu bevor er den hochmotorisierten Einsatzwagen erreichte, sich auf den Fahrersitz schwang und der Porsche kurz darauf mit quietschenden Reifen das Gelände verließ.


    „Ist das denn zu fassen? Da reißt er mir einfach den Autoschlüssel aus der Hand.“, brummelte Hotte missmutig vor sich hin, als er an seinen Schreibtisch zurückkehrte und sich schwerfällig auf den Bürostuhl sinken ließ. Bonrath, der ihm gegenüber saß, schaute vom Computerbildschirm auf, legte seine hohe Stirn in Falten und schaute seinen beleibten Kollegen fragend an. Hotte schaute mit vorwurfsvoller Miene zurück, sagte aber nichts weiter.


    „Na wer denn?“, platze es ungeduldig aus Bonrath heraus.


    „Ben!“, schnaubte Hotte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.


    „Ben?“, fragte Susanne perplex, die das Gespräch der beiden mitgehört hatte.


    Semir hatte währenddessen von Frau Krüger erfahren, dass sie soeben wegen Bens Klinikaufenthalt einen Rückruf von der leitenden Stationsärztin Frau Dr. Bauer erhalten hatte. Mit Skepsis hörte er sich die Ausführungen zu Bens angeblichem Gesundheitszustand an, dass er eine Psychose hatte, sein Verhalten unberechenbar war und er so schnell wie möglich wieder zurück in die Klinik müsse.


    „Aber Chefin, dass glauben Sie doch nicht im Ernst?“, lenkte Semir ein als die Krüger mit ihrem Bericht geendet hatte. „Mit Ben ist alles in Ordnung, der hat keine Psychose! Das hätten wir doch gemerkt!“


    „Das habe ich auch erst gedacht. Aber dann habe ich das Video gesehen.“, entgegnete die Chefin besorgt.


    „Was denn für ein Video?“, wollte Semir sofort wissen.


    „Die Sekretärin von Frau Dr. Bauer hat mir vorhin ein Video von Herrn Jäger in der Nacht kurz vor der Einweisung geschickt. So wie es aussieht können wir die Klinik in dieser Hinsicht nicht belangen. Die Einweisung von Herrn Jäger erfolgte zwar gegen seinen Willen, aber längst nicht ohne Grund. Er muss vollkommen durchgedreht sein. Hier, sehen Sie sich das an.“ Kim Krüger drehte den Bildschirm ihres Computers herum, so das Semir ihn sehen konnte. Noch bevor sie das Video startete wurde erneut die Bürotür aufgerissen. Wieder war es Susanne. „Ben ist weg!“






    Ben hatte den Porsche auf Hochtouren gebracht und raste die A4 hinunter. Doch er fuhr nicht zur Firma seines Vaters sondern zu ihm nach Hause. Heute war Donnerstag und donnerstags war sein Vater so gut wie nie im Büro. Ben hatte keine Ahnung warum sein Vater das mal irgendwann eingeführt hatte, er wusste nur dass er es schon seit Jahren so handhabte. Eine Info die er absichtlich in der PASt bei Semir und den Kollegen verschwiegen hatte und von der er sich einen weiteren Vorsprung erhoffte. Falls Semir ihm folgte würde er wahrscheinlich erstmal zur Firma seines Vaters fahren.


    Je weiter Ben fuhr umso größer schienen die Zweifel an seinem Vorhaben zu werden. Zu groß war der Streit damals zwischen ihnen gewesen als Konrad Jäger begriffen hatte, dass sein Ben niemals in seine Firma mit einsteigen würde. Vater und Sohn lebten seither jeweils ihr eigenes Leben ohne das der eine vom anderen etwas davon mitbekam und Ben hatte zu oft das Gefühl, dass sie bis auf den Nachnamen nicht wirklich etwas gemeinsam hatten.


    Als er das Anwesen seines Vaters endlich erreichte und den Porsche auf dem hellen Kies vor dem großen Wohngebäude zum Stehen brachte, fiel sein Blick als erstes auf den neuen Bentley, den Susanne bereits erwähnt hatte. Unter anderen Umständen hätte er sich die Zeit genommen das Auto näher zu betrachten, doch jetzt stieg er aus und ging auf direktem Weg auf die große Eingangstür zu. Mit gemischten Gefühlen drückte er den Klingelknopf neben der Tür. Noch wusste er nicht was ihn erwartete und ob er richtig gehandelt hatte, als er seinen Vater vor den Kollegen in Schutz genommen hatte.


    Es dauerte nicht lange bis Konrad Jäger die große Haustür öffnete. „Ben?! Was machst du denn hier?“, fragte er fassungslos und starrte seinen Sohn an wie einen Geist. Ben hatte deutlich gesehen wie sein Vater erschrocken war und wie sich seine Gesichtszüge veränderten als er ihn erkannt hatte. Und auf einmal wusste Ben dass er einen Fehler gemacht hatte. Dass es falsch und leichtsinnig gewesen war alleine hierher zu kommen und zu glauben er könne die Sache selbst regeln. Es waren weder die Worte seines Vaters die ihn zu dieser Erkenntnis brachten noch die Art und Weiße wie er sie ausgesprochen hatte. Nein, es waren seine Augen. Sie schienen ihn panisch anzuschreien: Geh weg, Ben! Geh weg!


    Das war noch bevor die beiden Männer neben Konrad in der Tür auftauchten.






    Zur selben Zeit befand sich Semir seit etwa 20 Minuten in einem Streifenwagen auf dem Weg zur Baufirma von Bens Vater. Semir ärgerte sich mächtig. Über Ben, weil er einfach abgehauen war und über sich selbst weil er es nicht verhindert hatte. Außerdem ärgerte er sich über die Stationsleiterin der Klinik die mit ihrem Telefonat der Krüger diese Hirngespinste von Bens Psychose in den Kopf gesetzt hatte und über die Krüger die Ben nach seinem Verschwinden aus der PASt am liebsten zur Fahndung ausgeschrieben hätte. Semir der dies nur durch eine Menge gutes Zureden und das Versprechen er würde Ben auf direktem Weg selbst zurückholen damit sich alles aufklären konnte, verhindert hatte, saß nun in Ermangelung eines zivilen Dienstwagens in einem Einsatzwagen der "Streifenhörnchen" und erreichte nach einer gefühlten Ewigkeit dann endlich das Gelände der Jäger AG.


    Semir beschloss von hinten an das Gebäude heran zu fahren, sollte Ben ruhig erstmal weiterhin glauben er wäre mit seinem Vater alleine. Der türkische Hauptkommissar parkte den auffälligen Einsatzwagen also etwas abseits und betrat dann das weiträumige Gelände. Er war noch nicht weit gegangen als er hörte wie zwei Männer gar nicht weit von ihm entfernt miteinander stritten. Neugierig um was es bei dem Streit wohl ging, pirschte sich Semir näher an die beiden heran. Er hatte keine Mühe genügend Deckung zu finden, überall lagerte das Material der Baufirma.


    Semir schlich gerade an einem Anhänger vorbei, auf dem sich sämtliche Baken zum Absperren und Sichern von Baustellen befanden, als nur einige Meter vor ihm ein Mann auftauchte. Schnell trat Semir einen Schritt zurück um nicht entdeckt zu werden und stieß dabei mit der linken Schulter an eine der vorstehenden Baken, die auf dem Anhänger lagen, den er irgendwie weiter hinten gewähnt hatte. Durch den kräftigen Stoß war die Bake vom Hänger gerutscht, jedoch nicht ohne noch drei weitere Exemplare mit nach unten zu reißen wo sie mit einem dumpfen Poltern auf dem Boden landeten.


    Verdammt! Semir verfluchte seine eigene Ungeschicktheit. Was war denn los mit ihm? Da stellte sich der Elefant im Porzellanladen ja noch besser an als er! Verärgert wollte er nur einen flüchtigen Blick auf die am Boden liegenden Baken werfen doch es kam anders. Semir schaute nämlich viel genauer hin als er die kleinen Tütchen mit dem weißen Pulver bemerkte, die dort zwischen den Baken auf dem Boden verstreut lagen.


    Moment mal…. Semir stutze. Die Tütchen mit dem Kokain sahen doch genauso aus wie die, die er Anfang der Woche bei Hartmut in der KTU gesehen hatte. Sollte es das gleiche Koks sein das zufällig bei dem Unfall auf der A3 entdeckt worden war? Semir hatte daran keine Zweifel. Doch warum zum Geier wurden die Drogen hier auf dem Gelände von Bens Vater gelagert? Hatte er etwa mit dem Drogenhandel seine Finanzen aufgebessert?


    Semir griff in seine Jackentasche um sein Handy herauszuholen als er neben sich ein leises Geräusch hörte. Er drehte sich zur Seite und griff gleichzeitig nach seiner Waffe.


    „Das würde ich an deiner Stelle nicht tun!“, mahnte eine tiefe Stimme hinter ihm. Als Semir in die Richtung schaute aus der die Stimme gekommen war, sah er einen großen kräftigen Mann in dunkler Kleidung auf ihn zutreten. Gefolgt wurde dieser Mann von einem kleinen hageren Mann, ebenfalls in schwarz gekleidet. Der Anklick der beiden löste in Semirs Kopf unweigerlich den Gedanken an Dick und Doof aus. Doch die beiden waren nicht alleine gekommen. Ein dritter Mann kam nun ebenfalls um den Anhänger mit den Baken herum und alle drei zielten mit ihren Pistolen auf Semir.


    "Was haben wir denn da? Ein Bullenschwein das unseren Stoff entdeckt hat.", säuselte der Dicke. "Du nimmst jetzt deine hübsche Pistole und legst sie ganz brav auf den Boden und trittst dann schön ein paar Schritte zurück.", forderte er den Polizisten auf.


    Widerwillig zog Semir ganz langsam seine Pistole aus dem Gürtel und tat wie ihm befohlen.


    „Ihr hört mir jetzt mal ganz genau zu.", ergriff Semir sofort das Wort. "Meine Kollegen wissen wo ich bin, sie sind auch schon auf dem Weg hierher und werden jeden Moment hier eintreffen.", log er in der Hoffnung damit seine Chancen etwas aufzubessern.


    „Spar dir lieber deine Luft. Deine Kollegen interessieren uns einen Scheißdreck!“, zischte der Kleine drohend und ging mit vorgehaltener Waffe einen Schritt auf Semir zu.


    Aber Semir ließ sich davon nicht einschüchtern. „Dir werden sie als Erstes den Arsch aufreißen.“, entgegnete er und sah seinem Gegenüber fest in die Augen.


    „Das glaub ich kaum.“, antwortete der Kleine mit einem diabolischen Grinsen.


    Ehe Semir begriff was dieses Grinsen zu bedeuten hatte, war ein weiterer Mann von hinten dicht an ihn herangetreten. Mit einer schnellen Bewegung hatte er Semir eine dünne Drahtschlinge um den Hals gelegt und zog sie zu. Panisch versuchte Semir sich zu befreien. Mit beiden Händen griff er an seinen Hals und versuchte die Finger unter die Drahtschlinge zu bekommen, doch seine Bemühungen blieben ohne Erfolg. Viel zu tief hatte sich der dünne Draht schon in seine Haut gebohrt und viel zu stark war der Druck um seinen Hals, der ihm gnadenlos die Luft abschnürte. Doch Semirs Panik dauerte nur wenige Sekunden denn dann wich das helle Tageslicht einer tiefen, dunklen Schwärze, die das Erlöschen seines Bewusstseins begleitete.

  • Sie standen mittlerweile im Wohnzimmer. Ben hatte keine Chance gehabt sich zu wehren oder ihnen zu entkommen. Dafür waren es viel zu viele und sie trugen alle Waffen. Zwei der Männer hatten ihm die Arme auf den Rücken gedreht und hielten ihn fest. Ein dritter tastete ihn ab ohne jedoch etwas zu finden. Wie auch? Er war ohne Waffe von der PASt weggefahren. Noch nicht mal ein verdammtes Handy hatte er dabei. Ben kam sich vor wie ein Anfänger. Er war so versessen darauf gewesen endlich Antworten auf die vielen Fragen zu bekommen, die ihn seit Tagen beschäftigten, dass sich anscheinend sein Verstand ausgeschaltet hatte. Das war nun die Quittung. Zu spät hatte er seinen Fehler bemerkt. Er tröstete sich damit das Semir nach ihm suchen würde, wenn er sein Verschwinden bemerkte. Es war also nur eine Frage der Zeit bis er, hoffentlich mit Verstärkung, hier auftauchte und seinen Vater und ihn aus den Händen dieser Männer befreite, von denen es hier im Haus nur so wimmelte.


    Ben schaute zu seinem Vater, der einige Meter von ihm entfernt stand und sich frei bewegen durfte. Es sah so aus als ob er um Jahre gealtert war, seitdem er ihn vor einigen Monaten das letzte Mal gesehen hatte. Die Falten auf seiner Stirn schienen tiefer und seine Augen hatten ihre Ausdrucksstärke verloren. Als sich ihre Blicke trafen konnte Ben sich nicht länger zurückhalten. „Was ist hier los? Wer sind diese Typen? Was wollen die von dir?“, fragte er ungeduldig.


    Doch Konrad Jäger ließ sich Zeit mit den Antworten, so viel Zeit, dass Ben schon fast glaubte er würde den Mund überhaupt nicht aufmachen. „Mann, rede mit mir!“, schrie Ben aufgebracht. Gerade in dem Moment in dem es so aussah, als wollte sich sein Vater doch noch äußern, betrat ein groß gewachsener Mann das Zimmer. Die anderen Männer schauten gespannt zu ihm herüber und Ben vermutete das er hier das Sagen hatte. Mit einem überheblichen Grinsen im Gesicht ging der Mann auf Ben zu. Im Gegensatz zu seinen Handlangern war er gut gekleidet und frisiert. Ben schätze sein Alter auf Anfang fünfzig.


    „Der verlorene Sohn ist also zurückgekehrt.“, höhnte der Mann verächtlich und starrte Ben an wie ein Raubtier das seine Beute fixiert. Ben ließ sich davon nicht beeindrucken, er hielt dem stechenden Blick seiner blauen Augen stand. Wer war der Typ? Er wirkte auf Ben wie einer von den aufgeblasenen Geldsäcken, die er schon bei verschiedenen Geschäftsterminen in der Firma seines Vaters gesehen hatte. Der Mann war ihm von der ersten Sekunde an unsympathisch und wäre es auch genauso gewesen wenn sie sich unter anderen Umständen getroffen hätten. „Was wollen Sie hier? Und wer sind Sie überhaupt?", blaffte Ben ihn unbeherrscht an.


    „Aber Konrad…“, tadelte der Mann ohne jedoch den Angesprochenen anzusehen. Sein Blick ruhte immer noch auf Ben. „… so begrüßt man doch niemanden. Was ist bloß bei der Erziehung deines Sohnes schief gelaufen? Er stammt doch aus gutem Hause. Wo sind seine Manieren?“ Der Mann schüttelte gespielt entrüstet den Kopf, dann wandte er sich von Ben ab.


    Ben packte die Wut. Warum ließ sich sein Vater das gefallen? Warum wehrte er sich nicht?
    „Ich zeig dir gleich wie gut meine Manieren sind!“, drohte Ben dem arroganten Kerl. „Wenn ich mit dir fertig bin und du dir in Zukunft nach dem Scheißen noch selbst den Arsch abwischen kannst, hast du noch verdammt viel Glück gehabt.“


    Der Mann drehte sich wieder zu Ben um und grinste nur dünn. „Ich glaube du hast deine Lage noch nicht ganz erfasst, Freundchen. Sieht so aus als müssten wir da noch ein bisschen nachhelfen.“ Er nickte dem Mann auffordernd zu, der am Esstisch lehnte und sich bisher unauffällig im Hintergrund gehalten hatte. „Ich bin übrigens Felix Winkler.“, beantwortete er noch Bens Frage, bevor er ein paar Schritte zurück trat.


    Es blieb Ben gar keine Zeit diese Information zu verarbeiten. Er sah noch wie der Kerl vom Esstisch auf ihn zukam und spürte gleichzeitig wie die beiden Männer die ihn festhielten, ihren Griff verstärkten. Im nächsten Augenblick traf ihn schon die Faust mit dem Schlagring in der Magengegend. Der Schmerz kam heftiger als erwartet. Ben zog scharf die Luft ein und konnte nur mit großer Mühe ein Stöhnen unterdrücken. Das gönnte er den Typen nicht, außerdem war sein Vater anwesend, ein weiterer Grund um sich zusammenzureißen.


    „Felix, bitte!“, mischte sich Konrad Jäger nun endlich ein. Irritiert schaute Ben auf. Die Stimme seines Vaters hatte so kraftlos und müde geklungen.


    „Bitte?“, wiederholte Winkler und zog verwundert eine Augenbraue hoch. „Seit wann hast du denn noch was zu bitten? Anstatt zu bitten solltest du auf die Knie fallen und mir danken! Was ist los mit dir Konrad?“ Winkler ging ein paar Schritte auf Bens Vater zu. „Hast du vergessen was ich für dich getan habe? Hast du jetzt alles vergessen nur weil dein Sohn auf einmal hier aufgekreuzt ist?“ Enttäuscht starrte Winkler sein Gegenüber an. „Ich muss dich wohl nochmal daran erinnern: DU bist zu mir gekommen und hast um Unterstützung gebettelt, damit sie dir die Firma nicht wegnehmen, dein Lebenswerk, dein ganzer Stolz." Winkler lächelte selbstgefällig. "Du weißt ich bin großzügig. Ich habe dir unter die Arme gegriffen und dir einen Deal angeboten. Wir wickeln die Drogengeschäfte mit meinen russischen Partnern über deine Firma ab und du wirst am Gewinn beteiligt. Das ist doch in den letzten Monaten alles glatt gegangen. Als ich kurzfristig meine alte Lagerhalle aufgeben musste und beschloss meine Ware für die nächsten Wochen auf dem Gelände deiner Firma zu lagern warst du erst nicht einverstanden, aber du wusstest von Anfang an, dass wir nach meinen Regeln spielen. Doch jetzt musste dein Sohn aus dem Weg. Als Bulle ist er eine Gefahr für mein Geschäft und du weißt ich kann in der Beziehung nicht vorsichtig genug sein. Es hat zwar einiges an Überzeugungskraft gebraucht, aber wir haben uns darauf geeinigt, dass er für acht bis zwölf Wochen von der Bildfläche verschwindet, je nachdem wie lange ich gebraucht hätte um mich nach einem neuen Domizil umzusehen. Und ich finde die Idee mit der Einweisung in die Psychiatrie war doch genial. Niemand hätte Verdacht geschöpft. So eine Psychose kann jeden treffen und ich bin mir sicher wenn dein Sohn am Ende aus der Klinik entlassen worden wäre, hätte er selber geglaubt psychisch erkrankt zu sein, das hätten sie ihm dort schon eingebläut."


    Ben musste schlucken als er das hörte. Jetzt wusste er also warum sein Vater ihn hatte einweisen lassen.


    "Im Gegenzug dafür hast du den Bentley als Bonus bekommen.", fuhr Winkler fort. "Mein lieber Konrad, ich muss gestehen, ich habe dich für klüger gehalten, aber da habe ich mich wohl geirrt. Den ganzen Aufwand, den wir betrieben haben, die Einweisung in die Klinik, der Dreh für das Video.", zählte Winkler auf. „Glaubst du das habe ich alles nur für dich gemacht? Glaubst du das wirklich?“ Er lachte laut auf. „Nein mein Lieber, das habe ich für mich getan, ich brauchte deinen Sohn auch gleichzeitig als Druckmittel. Denn wodurch sollte ich ausschließen, dass du deine Meinung im Fall der Fälle nicht doch änderst? Das du nicht doch plötzlich wenn es hart auf hart kommt nicht zu deinem Wort stehst und mich oder mein Geschäft verrätst?" Winkler zuckte kurz mit den Schultern. „Jetzt ist einiges schief gelaufen und du fragst dich sicherlich wie es nun weitergeht. Das dein Sohn an einer Psychose erkrankt ist, wissen dank unseres netten Videos jetzt auch seit kurzen die Bullen von der Autobahnpolizei.“, grinste Winkler in Bens Richtung, bevor er sich Konrad wieder zuwandte. „Wir müssen also an unserem Plan festhalten. Du hast sicherlich schon gehört, dass solch eine Erkrankung gefährlich und heimtückisch sein kann, wenn sich die betroffene Person einer Behandlung entzieht. Der Patient kann unberechenbar werden, außer Kontrolle geraten. Jetzt stell dir also vor was passiert wenn solch eine Person auch noch Zugang zu einer Schusswaffe hat.“ Winkler hielt inne und grinste diabolisch. Dann winkte er den Schläger herbei, der sich nach dem Angriff auf Ben wieder an den Esstisch gelehnt hatte. Erst jetzt bemerkte Ben das dunkle Kästchen, welches sich neben dem Kerl auf dem Tisch befand.


    Der Kerl brachte dieses Kästchen nun seinem Boss. Winkler nahm es beinahe feierlich entgegen, öffnete es und holte einen Gegenstand heraus, der in ein weißes Tuch eingewickelt war. Winkler zögerte noch kurz. Er genoss ganz offensichtlich diesen Moment der Spannung und Vorfreude und wollte ihn bis zur letzten Sekunde auskosten. Dann entfernte er ein Teil des Tuches und ging auf Ben zu.


    Ben erkannte sofort dass es sich bei dem Gegenstand in Winklers Hand um eine Pistole handelte und als Winkler nahe genug an ihn herangetreten war erkannte Ben noch etwas. Das war nicht irgendeine Pistole - das war seine Dienstwaffe!


    "Na, erkennst du die?", fragte Winkler triumphierend.

  • „Wo habt ihr die her?“, wollte Ben wissen.


    Winkler zwinkerte ihm zu. „Den Safe in deiner Wohnung zu knacken war ein Kinderspiel.“


    Beinahe sehnsüchtig blicke Ben auf die Pistole in Winklers Händen. Wenn er sie doch nur in den Händen hielt, dann wäre er nicht mehr so wehrlos wie jetzt. Er könnte sie Winkler auf die Brust setzten und mit ihm als Schutzschild das Haus verlassen. Doch dazu sollte es nicht kommen. Nachdem Winkler theatralisch mit der Waffe vor Ben herumgefuchtelt hatte, legte er sie wieder in das Kästchen zurück.


    „Also Konrad…“, wandte sich Winkler dann an Bens Vater „… du rufst jetzt die Polizei, weil dein Sohn bei dir aufgekreuzt ist und dich mit seiner Waffe bedroht hat. Zufällig waren einige deiner Freunde gerade bei dir und konnten ihn überwältigen." Winkler grinste kurz in die Richtung seiner Männer. "Die Bullen müssen also nur kommen und ihn zurück in die Klinik bringen. Dort wird er zwar erzählen dass alles ganz anderes war, doch niemand wird ihm glauben. Die Ärzte werden das als Hirngespinste und Verschwörungstheorien abtun. Außerdem hast du ja deine Freunde als Zeugen, dein Sohn wird also mit seiner Version der Geschichte niemals durchkommen.“


    Mitfühlend legte er Konrad dann die rechte Hand auf die Schulter. „Du wirst verstehen, ich kann deinen Sohn nach all dem Ganzen hier nicht einfach so gehen lassen. Auch nicht wenn ich in ein paar Wochen eine neue Lagerhalle gefunden habe und meine Ware wieder an einem anderen Ort lagern kann. Um den Rest wird sich letztendlich die Klinik kümmern. Ich habe mal gehört, dass diese Psychopharmaka zum Teil ziemlich heftige Nebenwirkungen bei den Patienten auslösen können. Gerade wenn bei Psychosen bestimmte Medikamente miteinander kombiniert werden, können sie bei den Betroffenen tiefe Depressionen verursachen, die nicht selten im Selbstmord enden. Das ist zwar traurig aber leider wahr.“


    Ben, der jedes Wort verstanden hatte, war kurz davor die Fassung zu verlieren. Doch da war noch etwas, das ihm viel mehr zusetzte, als das unheilvolle Schicksal, das ihn erwarten sollte. Ungläubig starrte Ben den Mann an, der sich sein Vater nannte. Er selbst hatte ihn noch in der PASt bei den Kollegen in Schutz genommen, hatte an seine Unschuld geglaubt obwohl die Beweise gegen ihn sprachen. Er hatte es getan weil es sein Vater war, seine Familie und weil man für seine Familie da war, hinter ihr stand und zu ihr hielt auch wenn es schwierig wurde. Das hatte Ben gelebt, zumindest bis heute, bis zu dem Tag an dem seine Welt völlig aus den Fugen geraten sollte. Wie konnte er sich nur so getäuscht haben? Sein Vater hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht wie wichtig seine Firma für ihn war, das sie an erster Stelle stand. Trotz allem traf Ben die Erkenntnis schmerzhaft mitten ins Herz, dass sein Vater bereit war ihn für seine Firma zu opfern. Damit hätte er einfach nicht gerechnet – niemals.


    Was würde er jetzt tun? Ben suchte angestrengt in Konrads Gesicht nach Anzeichen, die ihm verrieten was er jetzt vorhatte, doch er konnte nichts erkennen, gar nichts. Das Gesicht seines Erzeugers schien wie versteinert.


    Inzwischen hatte Winkler Konrad ein Handy gereicht. „Versuche ja nicht mich zu täuschen, keine Tricks. Du weiß ich sitze am längeren Hebel. Stell dir einfach vor was dein Sohn in seiner speziellen Situation mit seiner Waffe alles anrichten kann. Ich sehe schon die Schlagzeilen in der Zeitung: Psychotischer Polizist erschießt Vater und Schwester ehe er sich selbst richtet.“


    „Lass Julia aus dem Spiel, du Schwein!“, rief Ben außer sich. Jetzt war es mit seiner Selbstbeherrschung endgültig vorbei. Den Gedanken, dass auch noch seine Schwester in die Sache mit reingezogen wurde, ertrug er einfach nicht. „Ich mach dich fertig!“, schrie er und begann heftig sich zu wehren. Die beiden Männer, die ihn festhielten hatten Mühe ihn von Winkler zurückzuhalten.


    Winkler, der diese Situation einen kurzen Augenblick beobachtete, platze schnell der Kragen. Er riss dem Kerl, der links hinter ihm stand das Schnellfeuergewehr aus der Hand, näherte sich damit den drei Männern, holte aus und schlug zu. Der Kolben traf Ben mit einem dumpfen Krachen im Gesicht. Halb betäubt sackte er zusammen. Blut ließ ihm aus Mund und Nase. Zufrieden gab Winkler die Waffe wieder an seinen Handlanger zurück bevor er sich erneut Bens Vater zuwandte.


    „Nun Konrad, du hast es in der Hand. Denke daran - dein Leben und das deiner Tochter kannst du noch retten."








    Einige Stunden später


    Abrupt schreckte Semir auf. Wie ein Ertrinkender, der zurück an die Wasseroberfläche gelangt, schnappte er gierig nach Luft und obwohl sich seine Lungen mit ausreichend Sauerstoff füllten, hatte er das Gefühl immer noch nicht genug davon zu bekommen. Er spürte immer noch den starken Druck der Drahtschlinge um seinen Hals und musste mehrmals hintereinander husten. Und auch obwohl er die Augen weit aufgerissen hatte, blieb es dunkel um ihn herum. Panik überfiel ihn. Warum konnte er nichts sehen? Instinktiv wollte er mit den Händen nach seinen Augen fassen, doch es ging nicht. Was war hier los? Was war mit ihm passiert?


    Semir musste sich zwingen einige Male tief durchzuatmen und die Panik unter Kontrolle zu bekommen. Als sich sein Puls etwas beruhigt hatte, drangen die Ereignisse der vergangenen Stunden wieder in sein Gedächtnis. Er war von der PASt losgefahren um Ben zurückzuholen, den die Krüger nach dem Erhalt des Videos aus der Klinik am liebsten zur Fahndung ausgeschrieben hätte. Doch statt Ben hatte Semir eine Ladung Koks auf dem Firmengelände von Konrad Jäger gefunden und kurz darauf waren auch schon die Männer aufgetaucht, die ihn mit Hilfe der Drahtschlinge komplett ausgeknockt hatten. Wieder überkam Semir ein Hustenanfall bei der Erinnerung an den dünnen Draht um seinen Hals. Die Stelle schmerzte immer noch und würde wahrscheinlich noch tagelang zu sehen sein – wenn er überhaupt noch tagelang lebte.


    Semir versuchte sich nun ohne die Hilfe seiner Augen so gut es ging zu orientieren. Wo auch immer er sich befand, er saß auf dem Boden, seitlich an eine Wand gelehnt. Das nächste was ihm auffiel war die unnatürliche Stellung, in der sich seine Arme über seinem Kopf befanden. Er wollte die schmerzhafte Position ändern, aber es gelang ihm nicht, seine Hände waren an der Wand fixiert. Stattdessen spürte er nun überdeutlich, worüber ihn sein Unterbewusstsein schon längst informiert hatte, die dumpfen Schmerzen in seinen Armen und Handgelenken und die Taubheit in seinen Händen. Semir stöhnte auf.
    Ob er wohl aufstehen konnte? Vorsichtig versuchte er es. Das, was sonst im Alltag ohne darüber nachzudenken innerhalb weniger Sekunden erledigt war, forderte nun seine volle Aufmerksamkeit und schien eine halbe Ewigkeit in Anspruch zu nehmen. Sein ganzer Körper protestierte, nur mühsam konnte er sich aufrichten und als er dann endlich auf den Füßen stand, begann es sofort unangenehm in seinen Armen zu kribbeln. Semir vermutete dass er sich schon eine ganze Weile in dieser misslichen Lage befunden haben musste. Es tat so gut zu stehen. Abwechselnd trat er von einem Fuß auf den anderen um die Blutzirkulation anzuregen. Nachdem er aufgestanden war, befanden sich die gefesselten Hände nun in Höhe seiner Hüften, was wesentlich angenehmer war als vorher.


    Angestrengt spähte Semir in die Dunkelheit. Die erdrückende Angst erblindet zu sein, verschwand jedoch sofort wieder als er links von sich etwas weiter oben einen dünnen Lichtstreifen erkennen konnte. Es sah so aus wie ein schwacher Lichtstrahl, der von weiter Ferne durch ein Fenster zu ihm herein fiel.


    Beruhigt darüber, dass sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und dass die Schmerzen in seinen Armen langsam nachließen, machte sich Semir nach einer Weile daran seine Fesseln zu untersuchen, was sich allerdings mit beinahe tauben Händen weit mehr als schwierig gestaltete. Denn auch wenn sich der Rest seines Körpers wieder etwas entspannt hatte, das Gefühl in seinen Händen war nur teilweise wieder zurückgekehrt.
    Nur schwer ertastete Semir dass seine Hände mit Handschellen - vermutlich seinen eigenen - gefesselt waren und dass die Handschellen wiederum von einem stabilen Griff an der Wand fixiert wurden. Die Hände einfach aus den Fesseln herauszuwinden kam nicht infrage, dazu umschloss das unnachgiebige Metall seine Handgelenke viel zu eng. Doch so schnell gab Semir nicht auf. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm schließlich die Hände zu Fäusten zu ballen und er ruckte er mehrmals kräftig zurück um die komplette Vorrichtung aus der Verankerung zu reißen. Immer und immer wieder, jeweils mit kurzen Pausen dazwischen, wiederholte er diese Aktion.
    Doch bis darauf, dass sich die Schmerzen an seinen Handgelenken immer weiter verstärkten und das Gefühl in seinen Händen immer mehr verschwand, erreichte er damit nichts. Der Griff hielt und Semir musste einsehen, dass er auf diese Art und Weise nichts ausrichten konnte. Er begann allmählich sich darauf einzurichten, die nächsten Stunden womöglich im Stehen zu verbringen.


    Ein entferntes dumpfes Krachen riss Semir kurze Zeit später aus seinen Gedanken und ließ ihn aufhorchen. Was war das? Er hatte zunächst an eine Explosion geglaubt, doch als er wenig später hörte wie es draußen heftig zu regnen begann, vermutete er das es nur ein Donnergrollen gewesen war.


    Ein Gewitter war aufgezogen und der Regen ergoss sich in Strömen über das Land. Semir starrte eine Weile in die Dunkelheit. Gerade als er sich fragte was aus Ben geworden war und wo der wohl steckte, durchzuckte plötzlich ein Blitz den Himmel und für einen kurzen Moment wurde es in Semirs Gefängnis taghell.


    Dieser kurze Moment hatte ausgereicht um Semir vielleicht für eine Sekunde einen Einblick in seine direkte Umgebung zu ermöglichen.


    Eine Sekunde, in der Semir gesehen hatte, dass er sich in einem Bauwagen befand - und in der er noch etwas gesehen hatte, etwas, dass ihm einen leisen Schrei entlockt hatte und seinen Herzschlag für einen Moment aussetzen ließ.


    Das war unmöglich! Das konnte doch nicht wahr sein!

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