Eiskalt

  • Ben und seine Familie waren am Wochenende auf eine Hochzeit eingeladen. Sarah´s Cousine heiratete und zwar nach Bayern in ein kleines verträumtes Dörfchen namens Mündling. Sie hatte beim Skifahren in den Alpen die Liebe ihres Lebens kennen gelernt und war ihrem Partner nach einigen Monaten Fernbeziehung in den Süden gefolgt, obwohl es für sie als gebürtige Hannoveranerin schwierig war, zu verstehen, was die Menschen dort in ihrem eigenen Dialekt sprachen, aber sie wurde dennoch freundlich empfangen und war fest entschlossen, in Nordschwaben heimisch zu werden. Ihr Verlobter hatte ein Grundstück im Ort und nachdem sie zunächst in der Einliegerwohnung seiner Eltern gewohnt hatten, wurde bald darauf mit dem Bau eines wunderschönen Wohnhauses begonnen, denn irgendwie schien jeder junge Mann hier im Dorf einen Bauplatz zu haben und einen finanziellen Grundstock mit dem zumindest der Rohbau bereits bezahlt war. Die Eltern waren früher Bauern gewesen und wenn sie nun auch schon lange keine Landwirtschaft mehr hatten, sondern zur Arbeit gingen, so hatten sie durch den Verkauf von Äckern und Wiesen keine finanziellen Sorgen und konnten ihre Kinder großzügig unterstützen. Corinna war mitten in der Stadt in einer Vier-Zimmer-Wohnung ohne Balkon aufgewachsen und genoss jetzt die Weite und Freiheit. Sie hielt sich gerne an der frischen Luft auf und als ihr ihre zukünftige Schwiegermutter zeigte, was in so einem bäuerlichen Gemüsegarten zu tun war, lernte sie mit Feuereifer und mit jedem Monat, den sie in Bayern war, verstand sie den Dialekt besser. Die Arbeitsmarktsituation hier war auch hervorragend-sie konnte sich die passende Stelle aussuchen und Klaus, ihr Verlobter arbeitete als Hubschrauberkonstrukteur im Militärbereich in einem in der nächsten Stadt ansässigen Großbetrieb und verdiente sehr gut.

    Als das Haus sich in der Fertigstellung befand-mit viel Eigenleistung, denn hier halfen auch beim Bau alle zusammen, jeder hatte einen Kumpel, der etwas konnte und so konnte man auch da die Kosten in Grenzen halten- wurde dann eine riesige Hochzeitsfeier geplant und jede auch noch so weitläufige Verwandtschaft eingeladen. Für alle die von weiter her kamen-wie auch Sarah und ihre Familie- waren in den umliegenden Gasthöfen Zimmer gebucht und man sah einem rauschenden Fest entgegen. Wenn nun noch das Wetter passte, dann würde das eine Traumhochzeit werden, natürlich ganz klassisch im Mai bei hoffentlich angenehmen Temperaturen.
    Corinna und Sarah hatten als Kinder oft zusammen die Ferien verbracht und auch wenn die Cousinen nun fast 500 km voneinander entfernt wohnten, durch E-Mail, Whats App und Telefon war ihre enge Verbindung auch in den letzten eineinhalb Jahren nie abgebrochen. Corinna und Klaus hatten Sarah und Ben auch immer besucht, wenn sie mal Richtung Norden fuhren, sie kannten die Kinder und sowohl ihre erste Wohnung, als auch das wunderschöne Gutshaus in dem sie jetzt lebten. Corinna hatte die gefährlichen Situationen und Abenteuer, die Ben und Sarah schon durchlebt hatten, seitdem sie zusammen waren, sozusagen aus der Ferne miterlebt und war von den beiden süßen Kindern mehr als begeistert-das war auch ihr Wunsch für die Zukunft-so ein wundervolles Pärchen wie Tim und Mia-Sophie!


    Sarah hatte am Donnerstag die Koffer schon gepackt und sie würden am Freitag, sofort nachdem Ben Feierabend hatte, losfahren. Wenn sie gegen fünf am Nachmittag starteten, war damit zu rechnen, dass die Kinder bald im Auto einschliefen und wenn sie dann gegen spätestens zehn im Hotel ankamen, konnten sie sie hoffentlich schlafend in ihr Familienzimmer tragen. Sarah hatte mit dem Hotelmanager telefoniert, ein normales Bett für Tim und ein Gitterbettchen für Mia-Sophie standen bereit und Tim freute sich schon sehr auf die Reise nach Bayern-Sarah hatte ihm das schon schmackhaft gemacht und sogar einen kleinen Anzug mit lila Fliege für den knapp Dreijährigen erstanden.
    Ben hatte leider keinen Urlaub am Montag bekommen, da der Personalstand wegen Krankheitsausfällen ein wenig knapp war und so würden sie am Sonntag am Abend wieder zurück fahren.


    Eigentlich hatte Ben gehofft, ein wenig früher raus zu kommen, aber Murphy´s Law-gerade heute wurden Semir und er um vier noch zu einem Unfall auf der Autobahn gerufen, mussten die Fahrstreifen eine Weile komplett sperren, damit ein Rettungshubschrauber landen konnte und als Ben aufs Handy sah, war es schon viertel vor fünf. Direkt neben der gesperrten Autobahn verlief eine Landstraße und nachdem jetzt genügend Kollegen vor Ort waren, bestellte Ben-nach Rücksprache mit Semir-Sarah dorthin, denn bis sich der Stau aufgelöst hatte und sie mit Semir´s BMW hier weg kamen, konnten noch Stunden vergehen. Als Ben sah, dass die voll bepackte Familienkutsche sich näherte, schwang er sich über die Leitplanke und lief die Böschung hinunter. Semir winkte ihm noch nach und rief: „Schönes Wochenende euch und denk dran-immer freundlich lächeln, auch wenn du nichts verstehst!“ und Ben schnitt eine Grimasse und winkte zurück. Ehrlich gesagt hätte er lieber ein stinknormales Wochenende zuhause verbracht, anstatt in seinen schicken Anzug zu schlüpfen und der Hochzeitsfeier beizuwohnen. Er hatte Semir auch schon sein Leid geklagt, dass er den Bräutigam auch immer sehr schlecht verstehen konnte-das war schon ein merkwürdiger Dialekt, den der sprach und es war zu befürchten, dass die meisten Hochzeitsgäste den ebenfalls benutzten, aber immerhin war ja auch Corinna´s Familie da, die redeten wenigstens Hochdeutsch!


    Sarah rutschte auf den Beifahrersitz, reichte jedem der Kinder noch ein Stück nicht bröselndes Stück Rosinenbrötchen nach hinten und dann stieg Ben aufs Gas und sie kämpften sich durch den zäh fließenden Feierabendverkehr auf die A3, aber mit jedem Kilometer wurde es besser. Um sieben hielten sie noch an einem Rasthof mit Burgerrestaurant, Ben verdrückte eine Riesenportion ungesunde Sachen, Tim bekamen zu seinem Entzücken eine Kindertüte und sogar Mia-Sophie durfte von der Mama ein wenig zerdrückten Burger probieren, als sie das angebotene Obstgläschen verschmähte-sie war inzwischen bereits ein dreiviertel Jahr alt-ein Vorzeigekrabbelbaby mit blonden Löckchen und strahlend blauen Augen. Sarah wickelte die Kleine noch, der Papa ging mit Tim aufs Männerklo-zur Vorsicht trug der nachts noch Windeln, aber untertags merkte er eigentlich, wenn er musste und als sie dann weiter fuhren, fielen den Kindern nach kurzer Zeit ganz nach Plan die Augen zu und tatsächlich waren sie um kurz vor zehn in Leitheim, wo das Zimmer im neu erbauten Schlosshotel sie schon erwartete. Sarah und Ben trugen die schlafenden Kinder ins Bett-die hatten weiche Jogginganzüge an, die sie auch als Schlafanzug tragen konnten und der Herr von der Rezeption brachte ihr nicht unerhebliches Gepäck mit einem Rollwagen nach. „Sag mal-wie lange willst du hier eigentlich bleiben, wandern wir aus?“ flüsterte Ben seiner Frau kopfschüttelnd zu, seiner Meinung nach hätte das Zeug für eine Afrikaexpedition gereicht! Sarah warf ihm ein gewinnendes Lächeln zu, formte einen Kussmund, antwortete aber nichts auf die Provokation und so verzog sich Ben noch auf einen Absacker an die edle Hotelbar. Dort kam er bald mit anderen Gästen ins Gespräch und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass die aus aller Herren Länder kamen, er aber keine Verständigungsprobleme hatte-hier zumindest noch nicht. An einem Tisch in der Ecke saßen sogar zwei Scheichs, die sich angeregt unterhielten und dabei einen Pfefferminztee und Snacks genossen. Ben hatte das einheimische Bier vom Fass probiert und das schmeckte vorzüglich, so war er schon wieder ein wenig versöhnt, als er eine Stunde später aufs Zimmer zurück ging, sich im Bad frisch machte, das bereitgelegte Schlafshirt und die Shorts anzog und dann neben Sarah, die wie die Kinder bereits schlief, ins bequeme Hotelbett schlüpfte. Auch diese Familienfeier würde vorüber gehen und wenig später sank auch Ben in einen traumlosen Schlaf.

  • Am nächsten Morgen erwachten sie erst, als Sarah´s Handy klingelte. Die Kinder hatten völlig ruhig geschlafen, sogar Mia-Sophie, die sonst wesentlich früher wach war, hatte durch geschlafen. Man stand auf, duschte, zog sich zum Frühstücksbuffett erst mal noch nicht so schön an und nachdem alle gesättigt waren-das Baby bekam morgens noch eine Flasche- schlüpften sie in ihre Festtagsklamotten. Ben zwängte sich ein wenig lustlos in seinen Anzug-auch wenn er darin umwerfend aussah, hasste er dieses Kleidungsstück-ihm war legére Kleidung lieber, aber für eine Hochzeit gab es da bei Sarah keine Diskussionen und so half er dann noch Tim seinen Minianzug anzulegen, das weisse Hemd zu knöpfen und die winzige Fliege umzuziehen. Auch er hatte eine Krawatte in lila, Sarah´s Kleid war ein Traum in dieser Farbe und die kleine Mia-Sophie trug zu einem weissen Kleidchen ebenfalls eine lila Schleife an einem leichten Stirnband im selben Ton im blonden Haar und wenig später waren sie abfahrtbereit. Ben sah sinnend auf seine Dienstwaffe-verdammt, ohne daran zu denken, dass er sie bei Semir gelassen hätte, der sie im Revier eingesperrt hätte, hatte er sie versehentlich mitgenommen. Er hatte zwar für die Nacht das Magazin herausgenommen und sie unter seinem Kopfkissen verwahrt, aber jetzt musste er sie wohl anlegen, denn er konnte sie weder im Hotelzimmer, noch im Auto lassen.
    Wie Corinna ihnen gesagt hatte, wäre sogar ein Busshuttle zu den verschiedenen Hotels möglich gewesen, denn die Gäste sollten ohne Reue bei der Hochzeit Alkohol konsumieren können, Sarah allerdings hatte abgelehnt-sie trank eh kaum Alkohol und hatte wegen der Kinder lieber die Familienkutsche mit Windeln, Wechselwäsche und Spielzeug dabei. Allerdings waren im selben Hotel noch andere Hochzeitsgäste untergebracht-Sarah kannte die teilweise von Familienfeiern, aber die Menge an auswärtigen Gästen war in verschiedenen Gaststätten in der Region untergebracht, ein einziges hätte da gar nicht gereicht.

    So brachen sie auf und fuhren die paar Kilometer zunächst nach Harburg einer wunderschönen mittelalterlichen Stadt an der romantischen Straße, die von einer beeindruckenden Burg , die ganz oben am Berg lag, gekrönt wurde und es versprach bei strahlendem Sonnenschein und mildem Wetter ein wundervoller Vorfrühlingstag zu werden. Als sie eintrafen warteten bereits eine Menge Hochzeitsgäste vor dem Rathaus-die engen Straßen waren von den vielen Autos verstopft, aber nun begrüßte man sich und wartete, dass das Brautpaar nach der Trauung aus dem historischen Rathaus kam. Die standesamtliche Hochzeit war um elf, im Freien waren ein Sektempfang und Kanapés hergerichtet, Arbeitskollegen und Freunde standen Spalier, es wurde Reis geworfen, aber wie im traditionellen Bayern üblich-erst wenn die kirchliche Trauungszeremonie vollzogen war, galt das Brautpaar als richtig verheiratet. Junge Frauen in Tracht waren herum gegangen und hatten liebevoll vorbereitete Bänder in den Farben des Brautstraußes ausgeteilt. Corinna und ihre Freundinnen hatten schon Wochen vorher angefangen, diese kleinen Kunstwerke herzustellen und bald waren alle Fahrzeuge derart verziert und ein laut hupender Konvoi machte sich nun langsam-das Brautauto, ein wunderschön geschmückter alter weisser Daimler vorneweg- auf die wenigen Kilometer Fahrt nach Mündling, das idyllisch oben auf der Alb in 550 m Höhe über dem Wörnitztal lag. Ben musste grinsen-alle Verkehrsregeln wurden missachtet, man scheuchte sogar den einen oder anderen Traktor von der Straße, aber es machte tatsächlich großen Spaß, da in der Menge zu fahren und wie ein Wilder zu hupen. Tim gefiel das besonders und als sie nach der Ankunft das Auto abstellten-irgendwie war ganz Mündling, das ja nur etwa 500 Einwohner hatte, jetzt zugeparkt-durfte er auch nochmals auf die Hupe drücken, was man ihm normalerweise ja nicht tun ließ und er lachte vor Begeisterung.

    Die kirchliche Trauung fand in der wunderschönen historischen Heimatkirche des Bräutigams im Rokkokostil statt. Dort war er bereits getauft worden, hatte seine Erstkommunion und die Firmung erhalten und vermutlich würde irgendwann dort auch einmal sein Requiem gelesen werden, bevor er auf dem Dorffriedhof, der rund um die Kirche lag, im Familiengrab beigesetzt werden würde-ja Tradition und Heimatverbundenheit wurden hier noch großgeschrieben, obwohl die Menschen deswegen ja auch modern waren, aber das schloss sich ja nicht aus!
    Zu Ben´s Erleichterung hatten gar nicht alle Hochzeitsgäste-so 350 an der Zahl- in dem Gotteshaus Platz und so konnten sie draußen ein wenig in der lauen Frühlingsluft herumwandern und andere Gäste, die sie kannten, begrüßen. Auch Sarah´s Eltern und Geschwister mit ihren Kindern waren da und das Baby wanderte von Arm zu Arm. Tim und seine kleineren und größeren Cousins musste man davon abhalten, sich in den Dreck zu schmeissen, aber Sarah und Ben war jetzt schon klar, dass der Anzug vermutlich die längste Zeit des Tages sauber gewesen war. Die festlichen Geräusche der Orgel drangen aus der geöffneten Kirchentür und jetzt schritten eine glücklich lächelnde Corinna in einem Traum von Brautkleid und ein fröhlicher lachender Klaus, Arm in Arm aus der Kirche und nun setzte sich die Dorfkapelle, die schon Aufstellung genommen hatte, an die Spitze des Zuges und man lief noch gemeinsam eine kleine Runde durchs Dorf, eigentlich wäre es gar nicht nötig gewesen, denn der Gasthof in dem die Feier stattfand, war schräg gegenüber der Kirche-man ließ in Bayern aber keine Gelegenheit für einen kleinen Umzug aus.

    In dem großen Saal, der den ganzen ersten Stock des Dorfgasthofs einnahm, war alles festlich geschmückt und die Tischdekoration war ebenfalls in den Farben des Brautstraußes-man hatte an jedes Detail gedacht! Es standen liebevoll verzierte Platzkarten an den Tischen und bald hatte jeder den ihm zugewiesenen Platz gefunden. Für die Kinder lag an jedem Set ein kleines Tütchen mit alterentsprechendem Spielzeug bereit und während nun noch frische Getränke serviert wurden und ein paar Tischreden geschwungen wurden, hatten die Kinder bereits die kleinen Spielzeugautos, Minipuzzles usw. heraus gekramt und waren fürs Erste beschäftigt. Im Hintergrund war ein riesiges Kuchenbuffett aufgebaut-außer der mehrstöckigen Hochzeitstorte lauter selbst gebackene Kuchen, Schmalzgebäck und Torten-auch das war in Bayern so üblich-Freundinnen, Nachbarn und Bekannte schenkten die zur Hochzeit, denn selbst Gebackenes schmeckte ja meistens besonders gut! Das Brautpaar schnitt nun gemeinsam die Hochzeitstorte an und wenig später wurde es ein wenig ruhiger im Saal, als alle sich am Kuchenbuffet bedient hatten und nun genüsslich schmausend bei Kaffee und Kuchen saßen. „Ich wäre jetzt beinahe verhungert!“ hatte Ben seiner Frau zugeflüstert, denn die Häppchen vor dem Rathaus waren nun doch schon wieder eine Weile her gewesen. „Na da bin ich ja froh, dass du jetzt doch noch rechtzeitig was zu essen gekriegt hast, nicht dass du mir vom Fleisch fällst!“ sagte Sarah ein wenig spöttisch und Ben stand auf, um sich ein zweites Mal am Buffet zu bedienen.
    Die Hochzeitskapelle spielte im Hintergrund bekannte Musik und nach dem Kaffee unterhielt man sich, begrüßte Freunde und Bekannte, tauschte Neuigkeiten aus und langsam begannen sich die Verwandten und Freunde des Bräutigams und der Braut anzunähern und Gespräche zu führen-die Horde Kinder war sowieso schon im Pulk unterwegs, Tim immer mittendrin und auch das Baby ließ man ein wenig krabbeln-sie hatte zwar vorher mal ein kurzes Schläfchen im Buggy gemacht, aber jetzt war auch sie nicht mehr zu halten. Ben stellte fest, dass er sich langsam an den einheimischen Dialekt zu gewöhnen begann-ganz so schlimm, wie er befürchtet hatte, war der also doch nicht. Obwohl der Saal gut gelüftet war, begann es jetzt wegen der vielen Menschen ein wenig stickig zu werden und Ben beschloss, sich draußen mal ein wenig die Beine zu vertreten. Sarah unterhielt sich gerade angeregt, die Kinder wurden von der Oma beaufsichtigt und so stieg er die Stufen hinunter. Unten lief der normale Gasthausbetrieb, die einheimischen Gäste gönnten sich nach getaner Samstagsarbeit wie Rasenmähen oder anderen Tätigkeiten ein Feierabendbier und Ben fand sich wenig später an der Theke wieder, wo er ein angeregtes Gespräch mit mehreren Einheimischen führte, die ihn sofort einbezogen hatten.
    Das Bier schmeckte hervorragend und Ben vergaß fast ein wenig die Zeit, bis er plötzlich aus dem Augenwinkel etwas sah, was ihn erstaunte. Die beiden Scheichs aus dem doch 10 km entfernten Hotel, diesmal nicht in ihrer traditionellen Kleidung, sondern ganz dezent im dunklen Anzug, standen flüsternd mit ein paar Männern in Jeans und T-Shirts vor dem Wirtshaus. Sie waren keine Hochzeitsgäste-so viel war klar, aber was wollten die hier? Unbewusst fühlte Ben nach seiner Waffe, die aber immer noch gut versteckt im Holster unter seiner geöffneten Anzugjacke ruhte. In diesem Augenblick kam ein ganzer Schwung Gäste-angeführt von der Braut die Treppe herunter: „Ach da steckst du!“ rief Sarah. „Magst du auch mitkommen, Corinna´s neues Haus anschauen, bis es um sechs Abendessen gibt? Es ist nicht weit, sagt sie und meine Mutter passt schon auf die Kinder auf!“ erklärte sie und Ben erhob sich und zahlte sein Bier, um danach der Gruppe zu folgen, die schon voraus gegangen war. Ein wenig die Beine vertreten wäre nicht schlecht-vorher war er ja nicht sonderlich weit gekommen. Als er aus der Tür trat, konnte er gerade noch die beiden Scheichs sehen, die eben in einen teuren BMW stiegen. Als sie seinen Blick spürten, drehten sie sich um und blickten ihn an und Ben überlief irgendwie ein kalter Schauer, als sie danach untereinander ein paar Worte wechselten und ihn aus eiskalten dunklen Augen stechend ansahen. Danach allerdings vergaß er seine Beobachtung wieder-er hatte wohl schon Paranoia-schließlich war er hier auf einer privaten Hochzeitsfeier und nicht im Dienst-was sollte in diesem idyllischen Örtchen schon vor sich gehen-sie waren doch nicht in der Großstadt!

  • Die kleine Gruppe lief die paar Meter zum neu gebauten Haus und das gefiel sogar Ben, denn es war sehr modern, grau mit klaren Linien und auch die Einrichtung zeugte von großem Geschmack. Der neu angelegte Garten war von einem Gartengestalter im japanischen Stil eingerichtet und voller Stolz zeigte Corinna auch das Hochbeet her, in dem bereits die ersten Salatköpfe der Ernte entgegen wuchsen. „Ich hätte nie gedacht, dass mir Gartenarbeit Spaß machen könnte-ich kannte sowas ja nicht, aber es ist ein wundervoller Ausgleich nach der Arbeit!“ sagte sie und zeigte dann auf ein freies Stück Rasen, direkt neben der edlen Terrasse. „Und hier kommen mal Sandkasten und Schaukel hin!“ sagte sie und Sarah und Ben mussten lächeln-ja Corinna hatte alle kleinen Kinder, besonders aber Mia-Sophie, die der jüngste Hochzeitsgast war, ganz verliebt angesehen und mit ihr geschäkert-die würden mit Kindern nicht mehr lange warten und das war auch gut so, denn auch Klaus und Corinna waren schon Mitte dreißig-das wurde langsam Zeit! Unter angeregtem Geplauder ging man wieder zur Hochzeitsgesellschaft zurück und eine Freundin Corinna´s nahm unbemerkt den Haustürschlüssel an sich-zu späterer Stunde würden einige Freunde das Haus ein bisschen herrichten, die Heliumflasche und hunderte Luftballons wie auch andere, ein wenig gemeine Überraschungen warteten schon, auch das war Tradition! Bald würde es Abendessen geben und so lief man zum Gasthof zurück.

    Ben ließ sich ein wenig zurück fallen und sah sich um, aber von den Scheichs war nichts mehr zu sehen. Als er neugierig um eine Ecke blickte, wurde gerade im ehemaligen Stall ein großer, uriger Raum mit viel verwittertem Holz, sehr rustikal fertig geschmückt. Die Wirtin kontrollierte gerade noch, ob genügend Getränke im Kühler waren und sagte zu Ben mit einem Lächeln, als sie ihn erblickte: „Für die Brautentführung nachher!“ und er lächelte zurück. Das war prima-dann konnte die ganze Hochzeitsgesellschaft, soweit sie wollte, da mitfeiern und nicht nur die Freunde des Bräutigams. Man brauchte kein Auto um dorthin zu gelangen, aber wieder eine weitere Tradition konnte weitergeführt werden.
    Nachdem von den Scheichs wirklich nichts mehr zu entdecken war, ging nun auch Ben nach oben und kam gerade zurecht, als die erlesene Vorspeise serviert wurde. Als Hauptgericht wurden lauter Schüsseln und Platten mit verschiedenen Fleischsorten, teils gegrillt, teils gebraten, Spätzle, Knödeln, Kroketten, Saucen, verschiedenen frischen Gemüsen und Gratins auf die Tische gestellt, so dass jeder sich das nehmen konnte, worauf er Lust hatte und auch die Vegetarier auf ihre Kosten kamen. Sarah hatte Mia-Sophie in einem Kinderhochstuhl neben sich sitzen und die mampfte-mit einem großen Lätzchen versehen, bereits zerdrücktes Gemüse, Spätzle und Sauce, was ihr die Mama mit einem Kinderlöffelchen eingab. Ben sah ein wenig nach Tim, aber der konnte, als er ihm das Fleisch klein geschnitten hatte, relativ ordentlich selber essen und auf dem weißen Hemd waren natürlich bereits seit dem Kuchenbuffett einige Flecke und die Knie der kleinen Anzughose waren vom Rumrutschen ein wenig schmutzig, aber das störte hier niemanden.

    Während des Essens wurde es ruhig im Saal und auch die Kapelle schmauste, bevor nach dem Mahl der Tanz mit dem Brautwalzer eröffnet wurde. Auch Ben und Sarah drehten ein paar Runden auf dem Parkett, während die Tante derweil auf die Kinder achtgab, aber dann wollte Tim unbedingt mit der Mama tanzen und Ben wirbelte mit seiner kleinen Tochter auch ein paarmal zu den jetzt fetzigen Klängen durch den Saal, so dass die laut lachte und gluckste. Zwischendurch wurden Sketche vorgeführt und typische Hochzeitsspiele gespielt, bei denen sich das Brautpaar wacker schlug. Der Abend schritt voran und dann wurden beide Kinder plötzlich schrecklich müde und quengelig. Tim setzte sich neben der Tanzfläche in eine Ecke und seine Augen begannen zuzufallen, während das Baby völlig überreizt zu brüllen begann. Sarah, die so etwas schon geahnt hatte und auch deshalb mit dem eigenen Auto hatte herkommen wollen, sagte zu Ben, der sich gerade angeregt mit dem Bräutigam unterhielt: „Ich habe selber auch Kopfschmerzen und weisst du was-man soll aufhören, wenn es am schönsten ist-ich fahre jetzt ins Hotel und lege mich mit den Kindern hin, du kannst gerne noch bleiben, ich sehe doch, wie du dich amüsierst und außerdem gibt es angeblich zu später Stunde noch ein Eisbuffett-du musst mir unbedingt morgen früh erzählen, wie das geschmeckt hat und ein Feuerwerk soll auch noch stattfinden, wie mir Corinna erzählt hat, aber jetzt muss ich los!“ erklärte sie, verabschiedete sich vom Brautpaar und ihrer Familie und Ben half ihr noch, die Kinder zum Auto zu bringen und anzuschnallen. Kaum hatte Sarah den Motor gestartet, fielen ihnen bereits die Augen zu. „Soll ich nicht doch mitkommen?“ fragte Ben besorgt-„wie willst du denn die schlafenden Kinder ins Zimmer bringen?“, aber Sarah lächelte ihm zu: „Ich lasse mir von der Rezeption helfen, die sind im Hotel so nett-wetten die parken danach sogar noch den Wagen-du weisst doch, wenn Tim mal schläft, ist es ihm völlig egal, wer ihn dann ins Zimmer trägt, seinen gesunden Schlaf hat er von dir geerbt!“ und da musste Ben ihr beipflichten-Tim war da wirklich unkompliziert und wenn er mal pennte, dann pennte er und so war das bei ihm ja auch. Wie oft musste ihn Sarah wecken, weil er den Wecker überhört hatte-früher hatte das meistens Semir übernommen, wenn er ihn zum Dienst abgeholt hatte, aber seitdem er mit Sarah zusammen lebte, hatte er nicht mehr verschlafen. „Ich komme dann mit dem Busshuttle nach!“ versprach ihr Ben und sah noch sinnend den Rücklichtern nach, die sich langsam entfernten.


    Als Ben nochmals um die Ecke in den Stall blickte, waren dort in der lauen Frühlingsnacht bereits hunderte Teelichter entzündet, einige Sturmlaternen verbreiteten eine heimelige Atmosphäre und dort war eine wunderbare Luft, im Gegensatz zum Saal, wo es durch die vielen tanzenden und schwitzenden Menschen ziemlich stickig war. Ein paar Freunde von Klaus, die die ganze Zeit im Anzug bei der Feier gewesen waren, zwängten sich gerade in Lederhosen und Haferlschuhe und sagten feixend zu Ben: „So der nächste Programmpunkt naht-die Brautentführung und bis wir dann wieder zurück sind, ist die Luft im Saal oben auch besser. Die Kapelle wird G´stanzerl, falls du als Preiß weisst, was das ist, spielen, es wird hier ohne Verstärker gesungen und geschunkelt, das wird zünftig!“ sagten sie lachend und richteten sich gegenseitig her. Ben ging schmunzelnd langsam zum Saal zurück und in diesem Augenblick kam Corinna, geführt von einigen jungen Männern, die mit absoluter Sicherheit nicht bei der Feier gewesen waren, soviel konnte Ben sagen, die Treppe herunter. Einer der Typen hatte auch den Brautstrauß, aber nun erkannte Ben die drei-es waren die Männer, die sich am Nachmittag mit den Scheichs unterhalten hatten. Er selber stand noch ein Stück entfernt im Halbdunkel und sie konnten ihn nicht sehen, allerdings bemerkte er, dass Corinna auch verunsichert war. „Wer seid ihr-ich kenne euch nicht-wollten nicht Klaus´ Freunde die Brautentführung machen?“ fragte sie, aber der eine der beiden jungen Männer lachte nun hämisch auf, während er schon die Tür des direkt vor der Tür geparkten Autos aufstieß: „Manches läuft eben nicht so wie geplant!“ sagte er und drängte die Braut in den Fond des Fahrzeugs, während er ihr schon die Hand auf den Mund legte, damit sie nicht schreien konnte.
    Ben blieb eine Sekunde wie angewurzelt stehen und traute seinen Augen nicht. Sein Gefühl sagte ihm dass er hier einer echten Entführung beiwohnte und ohne groß zu überlegen, zog er seine Waffe und spurtete dem Fahrzeug nach, das gerade mit quietschenden Reifen vom Hof fuhr. Verdammt, was sollte er tun? Er konnte schlecht auf die Reifen schießen, denn dann würde das Auto vielleicht schwer verunglücken und Corinna wäre tot oder verletzt, aber in diesem Augenblick sah er aus dem Augenwinkel, dass an einem der Wagen, die vor dem Gasthof standen, der Schlüssel außen an der Tür steckte. In Windeseile zog er ihn ab, sprang er hinein, startete den Motor des alten verrosteten Polos und raste ebenfalls mit quietschenden Reifen vom Hof.
    „Was war jetzt das?“ fragte der eine der Freunde des Bräutigams, die gerade aus der Scheune traten und sah verdutzt den entschwindenden Rücklichtern nach. „Verdammt-jetzt hat doch tatsächlich einer mein Auto geklaut-aber dann soll er mit der alten Rostlaube nur selig werden, die hat eh nur noch einen Monat TÜV!“ rief der Lederhosenträger erzürnt, der gerade seinen Anzug hatte ins Fahrzeug legen wollen und deshalb den Schlüssel bei dem zwanzig Jahre alten Gefährt hatte stecken lassen. Einer seiner Freunde bückte sich und hob langsam etwas auf, was achtlos auf dem Boden lag-der Brautstrauß! Und jetzt war klar, hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht!

  • Corinna wehrte sich verzweifelt und aus dem schönsten Tag in ihrem Leben wurde nun plötzlich ein regelrechter Alptraum. Sie versuchte die Entführer zu erkennen, die Stimmen waren ihr fremd, auch konnte sie im Dunkel des Wagens keine Gesichtszüge sehen und plötzlich merkte sie, wie man an ihrem Arm erst eine Stauung anlegte und dann senkte sich trotz verzweifelter Gegenwehr eine Nadel in ihre Vene und sie wusste nichts mehr und die Welt drehte sich ab sofort ein wenig langsamer. Der Fahrer hatte inzwischen mit dem PS-starken Fahrzeug ein gutes Stück zurück gelegt, der Beifahrer schoss ein Handyfoto von der benommenen, aber nicht schlafenden Braut und schickte es mit der Nachricht: „Auftrag ausgeführt!“ an die Auftraggeber und Sekunden später läutete das Telefon in der Wirtsstube und man verlangte dringend den Bräutigam zu sprechen, der natürlich an einem solchen Tag kein Handy einstecken hatte.


    Ben hatte derweil ein regelrechtes deja-vú. Seine Schwester Julia war ebenfalls an ihrem Hochzeitstag entführt worden und er und Semir hatten sie nur mit viel Mühe befreien können-ach verdammt, jetzt hatte er keinen Semir an seiner Seite, sondern musste selber zusehen, wie er die Situation löste. Er überlegte kurz, während er fluchend das Gaspedal des kleinen Gefährts durchtrat, die 110 zu wählen, aber bis er den Leuten hier in der Leitstelle erklärt hätte, wer er war, was gerade abging usw., wären die Entführer vielleicht schon über alle Berge. Außerdem hatte er keine Ahnung wo er sich befand und ob die hier in Bayern gleich sein Handy orten würden, wie das Susanne zuhause einfach und unkompliziert machte, auch wenn das nicht unbedingt legal war, wagte er zu bezweifeln und so folgte er stattdessen den Rücklichtern des Entführerfahrzeugs, ohne dabei seine Scheinwerfer einzuschalten. Er musste sowieso mit höchster Aufmerksamkeit fahren, denn die Straße war kurvig, er kannte sich nicht aus und die kleine Spur Mondlicht reichte fast nicht aus, seinen Weg auch nur notdürftig zu erhellen. Die Gegend war wie ausgestorben, kein anderes Fahrzeug war in der Nähe und man konnte auch zunächst keine Ortschaft erkennen. Einmal hatten sie eine Bahnlinie überquert und jetzt bog das Entführerfahrzeug plötzlich in einen kleinen Feldweg ein und hielt nach etwa hundert Metern an.

    Ben, der zwar immer noch einigen Abstand hatte, die Scheinwerfer aber nie aus den Augen verloren hatte, reagierte sofort, fuhr an den Fahrbahnrand und stoppte den Polo ebenfalls. Er drehte die Zündung aus und hoffte inständig, dass ihn die Typen noch nicht bemerkt hatten und vor allem, dass es Corinna gut ging. Was sollte die Entführung überhaupt? Corinna´s Eltern waren nicht begütert und hatten ganz normale Berufe, sie lebten immer noch in der kleinen Vier-Zimmer-Wohnung in Hannover, in der sie auch aufgewachsen war, also musste das Geschehen hier irgendwie mit Klaus zusammenhängen. Gut-der schien nicht ganz unvermögend, vor allem wenn man die Hütte betrachtete, die er hingestellt hatte, allerdings hatte ihnen Corinna ja erzählt, dass der Baugrund schon vorhanden gewesen, der Rohbau praktisch von den Eltern geschenkt war und sehr viel Eigenleistung in dem schönen Haus steckte. Wenn er so reich wäre, dass das keine Rolle spielte, hätte er vermutlich eine Baufirma beauftragt und nicht selber mit seinen Freunden und der Familie in jeder freien Minute auf dem Bau gewerkelt. Also fiel Geld als Motiv vermutlich schon mal weg. Außerdem konnte sich Ben des Eindrucks nicht erwehren, dass die Scheichs, die doch nicht wie zufällig erst in Landestracht in Leitheim im Schlosshotel residierten und dann sozusagen in Zivil in dem verträumten Örtchen Mündling auftauchten, da so zufällig aufgeschlagen waren. Die mussten irgendetwas mit der Sache zu tun haben und nun dachte er angestrengt nach, was Klaus denn beruflich machte, aber er konnte sich nicht erinnern, obwohl ihm das Sarah, Corinna oder sogar Klaus selber sicher schon erzählt hatten-aber das war jetzt im Augenblick nebensächlich! Nachdem das Auto da vorne still stand und auch kein Motorengeräusch mehr zu vernehmen war, stieg Ben leise aus, packte seine Waffe, um die er gerade heftig froh war, fester und schlich näher.


    Klaus sah überrascht auf. Er hatte natürlich bemerkt, dass Corinna verschwunden war und auch der kunstvoll gebundene Brautstrauß aus der Vase am Tisch weg war-das war sozusagen der Auftakt zur traditionellen Brautentführung und in Kürze würde er nach ihr zu suchen beginnen. Die Kapelle hatte auch zu spielen aufgehört und zog hinter der Bühne bereits ihre Lederhosen und Trachtenhemden an, denn zu einer Hochzeit in Bayern gehörte in diesem Zusammenhang auch zünftige Volksmusik und die Hochzeitsbands, die beides beherrschten und auch ohne Technik und Verstärker gute Musik machen konnten, waren heiß begehrt, aber sie hatten da eine sehr gute ergattert. Früher war die Braut da wirklich noch entführt worden und der Bräutigam und sein Trauzeuge hatten keine Ahnung gehabt, wo sie zu finden war und deshalb alle Lokale in den Nachbarorten abgeklappert, bis die Gesuchte entdeckt war, die dann natürlich ausgelöst werden musste, was meistens in alkoholischer Bezahlung erledigt wurde. Auf der verbliebenen Hochzeitsgesellschaft waren da oft lange langweilige Pausen entstanden, aber heutzutage sprach man das vorher schon ab, wohin die Braut gebracht werden würde und zumindest Teile der Hochzeitsgesellschaft halfen bei der Suche und das gemütliche Beisammensein in diesem Zusammenhang mit G´stanzln, zotigen Witzen, bei denen das Brautpaar und der gewünschte Kindersegen auf die Schippe genommen wurden, war oft ein weiterer Höhepunkt der Hochzeitsfeier. Er hatte den gemütlichen umgebauten Stall schon besichtigt und würde natürlich zuvor noch eine kleine Runde durch das Gasthaus drehen-nur so als Alibi, um dann seine Corinna dort zu entdecken und die Feier weiter gehen zu lassen.
    Nun war die Wirtin an seinen Tisch gekommen und hatte ihn ans Telefon gebeten und er hatte überrascht aufgesehen. Wer störte denn so seine Hochzeitsfeier? Er hatte bewusst das Handy zuhause gelassen-an so einem Tag musste man nicht erreichbar sein und mit der Familie konnte ja auch schier nichts geschehen sein, denn die waren ja alle anwesend-na ja-außer seiner dementen Oma, die im Altersheim lebte-vielleicht gab es da irgendwelche Nachrichten? Verwundert folgte er der Wirtin an die Theke, denn da war noch ein Telefon mit Kabel-in der heutigen Zeit schon fast eine Rarität- und als er nun vernahm, was sein Gegenüber zu ihm sagte, entglitten ihm die Gesichtszüge und er wurde blass. Im selben Moment stürzten seine Freunde, die die Brautentführung machen wollten, auf ihn zu und schwenkten anklagend den Brautstrauß. „Wo ist Corinna?“ rief sein Kumpel, aber darauf wusste Klaus auch keine Antwort-allerdings war ihm klar, wo sie sich morgen befinden würde, wenn er nicht mitspielte-nämlich in irgendeinem Harem in Arabien, wie ihm der Mann am anderen Ende der Leitung gerade versichert hatte.

  • Klaus überlegte nur ganz kurz, dann sagte er tonlos zu dem Mann am anderen Ende der Leitung: „Was muss ich tun, damit Corinna zu mir zurück kommt?“ und sein Gegenüber lachte leise auf und erwiderte: „Ich wusste doch, dass du vernünftig sein wirst. Ich möchte die Baupläne des netten kleinen Hubschraubers haben, dessen Prototypen ihr gerade konstruiert habt. Wenn du mir versprichst mit zu spielen und auch keine Polizei einzuschalten, bekommst du dein kleines Frauchen in Kürze zurück-sie ist dann vielleicht ein wenig benommen, aber du tust einfach so, als hätte sie ein Glas Sekt zu viel erwischt und bringst die Feier zu Ende. Aber ich warne dich-mein Arm reicht weit und wenn du nicht spurst oder sonst irgendwie versuchst, mich hinters Licht zu führen, werde ich sie mir zurück holen und dann siehst du sie nie wieder und ich liebe Sex mit blonden Frauen-vor allem, gegen ihren Willen!“ drohte er und Klaus fragte noch: „Wie soll ich ihnen die Pläne zukommen lassen?“ aber der Mann erwiderte nur: „Das erfährst du schon zu gegebener Zeit-fotografiere sie mit deinem Handy, markiere das Album mit „Corinna“ und alles Weitere geht dich nichts mehr an, wir kümmern uns darum, nur achte nicht so genau auf dein Handy, du wirst es wieder zurück bekommen und bis in einer Woche möchte ich Ergebnisse haben, sonst wirst du die Konsequenzen spüren.“ sagte er und Klaus beteuerte, sein Bestes tun zu wollen.

    Seine Freunde waren inzwischen näher gekommen und fragten, wo Corinna steckte: „ Sie hat mich gerade angerufen, ihr war kurz nicht gut, ich glaube sie hat ein wenig zu viel Sekt erwischt, sie wollte sich nur zuhause ein paar Minuten hinlegen, sie kommt gleich wieder!“ log er und so wurde der Strauß kurzerhand in die Vase zurück gesteckt und seine Freunde mischten sich noch ein wenig unters Volk, bis die Brautentführung anlaufen konnte. Klaus fühlte sich völlig hilflos und seine Gedanken rasten, aber er fürchtete sich davor, die Polizei einzuschalten, denn er wusste irgendwie, dass der Erpresser dann seine Drohung wahr machen und er Corinna nie wieder sehen würde. So viel war kein Job wert, auch wenn das, was er tun sollte, eigentlich Landesverrat war und ihn ins Gefängnis bringen würde, wenn er aufflog. Er blickte kurz um sich-oder sollte er vielleicht Ben ins Vertrauen ziehen? Der war Polizist, wirkte auch unkompliziert und vertrauenswürdig, vielleicht würde der wissen, was zu tun war, aber im selben Moment verwarf er den Gedanken wieder-er durfte Corinna´s wegen kein Risiko eingehen, sie war die Liebe seines Lebens und das hatte er schon gewusst, als er ihr auf der Piste das erste Mal begegnet war. Außerdem konnte er Ben nirgendwo entdecken, aber dann erinnerte er sich, dass sich Sarah ja verabschiedet hatte-vielleicht war er doch gleich mit ihr und den Kindern ins Hotel zurück gefahren.

    Also nahm er wieder auf seinem Stuhl Platz und behielt die große, zweiflüglige Tür zum Saal im Auge und tatsächlich, etwa 20 Minuten später erschien dort Corinna in ihrem weißen, nun ein wenig zerdrückten Brautkleid mit Corsage und halblangem Schleier und tapste mit unsicheren Schritten auf ihn zu. Klaus sprang auf, eilte zu ihr und schloss sie voller Sorge in seine Arme und sie barg ihren Kopf an seiner Brust. „Wie geht’s dir, mein Schatz?“ wollte er liebevoll von ihr wissen und vor Erleichterung fiel ihm ein riesiger Stein vom Herzen. „Ich weiss nicht?“ murmelte Corinna mit schwerere Zunge und wirkte wirklich als wäre sie betrunken, dabei hatte sie außer ein paar Schlucken Sekt zum Anstoßen am Nachmittag nur Wasser und Saft getrunken, sie mochte nämlich keinen Alkohol und das war ebenfalls etwas, was Klaus so an ihr schätzte. Als er an ihr herunter sah und sie regelrecht mit seinen Blicken scannte, ob sie verletzt war, erstarrte er für einen Augenblick. An ihren Händen, die man anscheinend notdürftig abgewischt hatte, waren angetrocknete Blutspuren, aber als er sie nochmals eindringlich fragte, ob sie verletzt sei, während er sie schon unauffällig zur Damentoilette begleitete, schüttelte sie den Kopf und sagte mit schwerer Zunge: „Nein!“ Sie wirkte auf ihn wie eine Marionette und als sein Blick an ihrer Ellenbeuge hängen blieb, sah er dort auch den Einstich einer Injektionsnadel-ihr war mit Sicherheit etwas gespritzt worden, was sie in diesen willenlosen Zustand versetzte. „Geh da rein und wasche bitte deine Hände!“ sagte er deutlich zu ihr und ohne Widerrede verschwand sie in der offenen Türe. Als sie wieder heraus kam, hatten ihn plötzlich seine Freunde umringt und abgelenkt, einer hatte sich derweil Corinna geschnappt und nun begann die geplante Brautentführung und der Abend nahm mit Gesang und Witzen seinen Lauf, obwohl Klaus´ Herz schwer wie Blei war und er sich ab sofort vor Sorge um seine Frau, die er jetzt nicht mehr aus den Augen ließ, nicht mehr freuen konnte.

    Das Eisbuffet war der Traum-die Eisbomben wurden, besteckt mit sprühenden Wunderkerzen, in den dunklen Saal getragen- und danach gab es noch ein wundervolles, professionelles Feuerwerk draußen auf der Wiese hinterm Haus, an dem zwei Pyrotechniker den halben Tag gearbeitet hatten. Es war sehr schwierig gewesen, beim Landratsamt dafür eine Erlaubnis zu bekommen, aber nachdem der halbe Ort sich mit einer Unterschriftenliste dafür stark gemacht hatte, dass zur Feier des Tages so etwas einfach genehmigt werden sollte und sich auch kaum einer gestört fühlen würde, war es gelungen die Beamten dort zu überzeugen. Corinna wurde von Minute zu Minute wieder klarer, schwankte nicht mehr beim Laufen und als einer der sozusagen legalen Brautentführer Klaus einmal scherzhaft anstieß und ihm zuflüsterte: „Puh- deine Angetraute hat ja nen ganz schönen Zacken in der Krone!“ erwiderte er nichts darauf-was sollte er auch sagen, aber anscheinend war das die allgemeine Meinung und man ließ die augenscheinlich Betrunkene, die sich immer wieder an ihn schmiegte und der mehrmals beinahe die Augen zufielen, in Ruhe. Um Mitternacht dann musste das Brautpaar wieder auf die Tanzfläche, man drückte Corinna ihren Brautstrauß in die Hand und die Gäste machten einen großen Kreis um die Tanzfläche. Klaus hielt Corinna ganz fest und irgendwie schaffte sie es, nicht über ihre eigenen Füße zu fallen und sich gemeinsam mit ihm rundum zu drehen. Die Gäste machten den Kreis immer enger und drängten das Brautpaar Richtung Ausgang. Als Klaus ihr das zuflüsterte warf Corinna dann ihren Brautstrauß hinter sich in die Schar ihrer unverheirateten Freundinnen-diejenige die ihn fing, würde die nächste Braut werden, war die althergebrachte Meinung- und dann packten mehrere Männer Klaus und einige Frauen Corinna und trugen sie ins Freie hinaus. Obwohl es ja nicht weit zu ihrem Haus zum Laufen war, wartete dort das Brautauto bereits mit laufendem Motor und wenig später setzte sie der Fahrer dort ab.

    Mechanisch schloss Klaus die Haustür auf und hatte aus den Augenwinkeln schon die Wäscheleine mit den Babysachen und dem Storch draußen gesehen, die sich quer über den Hof spannte. Drinnen waren auch einige Überraschungen vorbereitet, wie ein prall mit weißen Luftballons gefülltes Schlafzimmer, Klarsichtfolie in Augenhöhe vor der Badezimmertür und andere Streiche, die verhindern sollten, dass sie so bald ins Bett kamen und die Ehe vollzogen, wie es in alten Zeiten Brauch gewesen war. Normalerweise hätten sie beide sich beide jetzt sicher köstlich amüsiert, gemeinsam die Luftballons platzen lassen und wären unter Gelächter miteinander im Bett gelandet, denn der gemeinsame Sex machte ihnen riesigen Spaß, auch hier passten sie perfekt zusammen, aber so dämmerte Corinna nur auf dem stylischen Wohnzimmersofa vor sich hin, bis er das Schlimmste beseitigt hatte, sie dann auszog und sie endlich aneinander geschmiegt im Bett lagen. „Geht es dir wirklich gut, mein Schatz?“ fragte Klaus nochmals besorgt und überlegte, ob er doch einen Arzt rufen sollte, aber Corinna murmelte nur etwas von „Müde!“ und war dann auch schon eingeschlafen, während er vor Kummer und Sorge kein Auge zumachte, ihren Schlaf bewachte und darauf achtete, dass sie regelmäßig atmete. Als er sie ausgezogen hatte, hatte er sie nochmals genau angesehen, ob sie irgendwo eine auch noch so kleine Verletzung hatte, aber sie war bis auf die punktförmige Einstichstelle an ihrem Arm völlig unversehrt. Als er sie fragte, wo sie gewesen war und von wem das Blut an ihren Händen stammte, ein paar kleine Tropfen hatte er auch auf ihrem Kleid entdeckt, aber die waren nicht sehr groß und man konnte sie auch als z. B. verkleckerte Himbeersauce interpretieren, hatte sie nur gemurmelt: „Ich weiss nicht!“ und dann die Augen wieder geschlossen. Der schönste Tag in ihrem gemeinsamen Leben war zu einem Alptraum mutiert und als Klaus irgendwann, als es draußen schon hell war, doch noch ein wenig eindämmerte, hoffte er, dass das alles nur ein böser Traum gewesen wäre, aber als er zwei Stunden später völlig gerädert die Augen wieder aufschlug, wusste er, dass er das Ganze leider nicht geträumt hatte.

  • Ben schlich näher an den Wagen, in dem Corinna saß, heran. Der plötzlich aufflauende Wind trieb Wolkenfetzen über den Himmel und der Mond, der ein fahles Licht in die Gegend warf, wurde immer wieder verdunkelt, so dass es abwechselnd stockfinster war und man dann doch wieder zumindest Schemen erahnen konnte. Ben versuchte, während er katzengleich näher schlich, irgendeinen Plan zu fassen. Immerhin waren die Entführer zu dritt, das hatte er sehen können, aber er war zwar alleine, doch zumindest bewaffnet, wobei er natürlich nicht wusste, ob die Typen das nicht ebenfalls waren. Vermutlich war das ein Blödsinn, was er gerade machte und er hätte die lokale Polizei verständigen sollen, aber jetzt hatte er seinen Entschluss schon gefasst und wenn Corinna etwas passierte und er nicht zumindest versucht hätte, sie zu befreien, würde er Sarah und ihrer Familie, die ihn freundlich in ihrer Mitte aufgenommen hatten, nie mehr in die Augen schauen können. Immerhin war er Polizist und im Nahkampf ausgebildet, außerdem hatte er das Überraschungsmoment auf seiner Seite und so würde er jetzt auf seine Intuition vertrauen und Corinna befreien.

    Im Wagen war alles still, niemand unterhielt sich und erst als er schon kurz vor dem Auto stand, konnte er die Köpfe der Insassen erkennen. Moment mal-da waren nur drei? Mussten das nicht vier sein, aber bevor er weiter darüber nachdenken konnte, spürte er schon den Lauf einer Waffe zwischen seinen Schulterblättern. „Na wen haben wir denn da, nimm mal sauber die Patschhändchen hoch und wirf dein Spielzeug weg!“ sagte eine spöttische Stimme, aber er würde sich nicht kampflos ergeben, so viel war sicher. Er beugte sich ein wenig nach vorne und tat so, als wolle er die Waffe auf den Boden legen, aber im gleichen Moment ließ er sie fallen, wirbelte herum, packte den Arm des Angreifers und versuchte das Überraschungsmoment auszunutzen und den mit einer oft geübten Nahkampftechnik zu entwaffnen und zu Boden zu werfen. Sein Gegner war zwar momentan überrumpelt, aber dann löste sich aus dessen Waffe ein Schuss und Ben spürte einen brennenden Schmerz an der Seite, allerdings war das vermutlich nur ein Streifschuss und so biss er die Zähne zusammen und hebelte dennoch mit fast unmenschlicher Anstrengung den Mann aus und schlug ihm die Waffe aus der Hand, dass die irgendwo ins Gebüsch rutschte. Dann ballte er die Hand zur Faust und schlug ihn mit aller Wucht, die er aufbringen konnte k.o. Sein Gegner verdrehte die Augen und erschlaffte, aber bevor Ben sich umdrehen konnte, wurde er von hinten von vier starken Händen gepackt, irgendetwas, vermutlich der Knauf seiner eigenen Waffe, schlug hart auf seinen Hinterkopf und dann wurde es dunkel um ihn.


    „Hatte ich doch richtig gesehen, dass wir verfolgt wurden!“ sagte der Fahrer zufrieden und leuchtete dem bewusstlosen Ben mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Als er in den Feldweg eingebogen war, hatte sich der Beifahrer blitzschnell aus dem Auto fallen lassen und sie hatten für ihren Verfolger sozusagen einen Hinterhalt aufgebaut. Corinna hing halb schlafend und weggetreten auf dem Rücksitz und war nur beim Knall des Schusses kurz zusammen gezuckt. „Der Typ ist ein Hochzeitsgast, der war vorhin mal unten in der Gaststube und hat uns beobachtet!“ sagte der eine der Entführer alarmiert. Sie begutachteten das Holster an seiner Seite und die Waffe und fingerten dann aus der Anzughose Geldbörse, Handy und Personalpapiere. „Mist-das ist ein Bulle!“ sagte der eine der Entführer, als er den Inhalt der Geldbörse studiert hatte-Ben Jäger-Kripo Autobahn aus NRW!“ und nun herrschte erst einmal betretenes Schweigen. „Was sollen wir tun, der hat unsere Gesichter gesehen?“ fragte nun der Anführer der drei, während sich ihr Kumpan nun stöhnend aufrappelte und sich das lädierte Kinn rieb, woraufhin er Ben, der reglos am Boden lag, aus Rache noch einen kräftigen Tritt verpasste. „Also wenn ihr vorhabt den umzubringen bin ich raus-ich will nicht wegen Polizistenmord nach Kaisheim-die vier Jahre dort haben mir genügt!“ sagte der eine der Entführer und der zweite, der jetzt wieder aufrecht stand, nickte ebenfalls mit dem Kopf. „Peter-so ne junge Frau mal für ein paar Minuten, oder meinetwegen auch ein paar Stunden festzuhalten und danach unversehrt wieder frei zu lassen, ist die eine Sache-wenn sie uns schnappen, können wir uns immer noch rausreden, dass es eine normale, traditionelle Brautentführung war und wir wollten, dass der Bräutigam sie mit ein paar Kisten Bier auslöst. Leider hat sich die Braut selber dabei schwer betrunken, aber das wäre nicht das erste Mal, dass sowas vorkommt, aber wenn wir den Typen hier umbringen, dann wandern wir lebenslänglich in den Knast!“ sagte er und der Angesprochene hatte schon nach seinem Handy gegriffen und seine Auftraggeber angerufen.

    Er schilderte dem Scheich am anderen Ende das Problem und der sagte: „Lasst die junge Frau direkt vor dem Gasthof frei, es läuft alles wie geplant, nehmt den Polizisten im Kofferraum mit und bringt ihn zu dem Versteck, das ihr für die Braut vorbereitet habt. Der Bräutigam will sie wieder zurück haben und wird die Gegenleistung bringen, die wir verlangt haben. Ich werde mir noch überlegen, was ich mit dem Polizisten mache, aber erst einmal müsst ihr eure Spuren verwischen!“ befahl er und so legten sie den immer noch bewusstlosen Ben, nachdem sie ihm ebenfalls einige Milligramm Midazolam intravenös gespritzt hatten, in der Hoffnung, er könne sich danach nicht mehr so genau erinnern und würde noch eine Weile Ruhe geben, in den Kofferraum ihres Wagens. Der eine der Männer stieg dann in den Polo und ließ ihn wenige Meter entfernt eine Böschung hinab rollen, so dass er von der Straße aus nicht zu sehen war, denn ein herrenloses abgestelltes Auto würde die Neugier einer jeden Polizeistreife erregen. Er wischte das Lenkrad, den Schalthebel und den Türgriff danach sorgfältig ab, stieg aus und kletterte zu den anderen zurück in den Wagen. Die Kleidung des Niedergeschlagenen war voller Blut-Ben´s Blut und sie bemerkten nicht, dass davon ein kleines bisschen auf das Brautkleid der Entführten gelangte und auch ihre Hände beschmutzt wurden . Allerdings legten sie jetzt Gesichtsmasken an, denn langsam begann Corinna aufzuwachen. Am Gasthof angekommen, schoben sie die Braut, die noch völlig benommen war und überhaupt nicht kapierte, was denn eigentlich passiert war, unten bei der Tür des Gasthofs hinein und befahlen ihr, nach oben in den Saal zu gehen, woraufhin die junge Frau mühsam Schritt für Schritt die Treppe hinauf wankte, ohne sich auch nur einmal um zu sehen.


    Danach fuhren die Entführer zügig zu dem vorbereiteten Versteck mitten im Wald. Sie öffneten das schwere Eisentor und legten Ben, der immer noch bewusstlos war und blutete, ins Innere der Höhle, verschlossen das Tor wieder, versteckten den Schlüssel dazu am vereinbarten Platz und fuhren dann schnell davon. Der Fahrer bog noch einmal ab und lenkte den Wagen über einen Feldweg zur Gump, einem merkwürdigen, sagenumwobenen Gewässer oben auf einer Anhöhe hier in der Nähe. Ohne ganz dicht ran zu gehen, warf er Ben´s Handy und seine Waffe hinein und lauschte, wie ein lautes Platschen ertönte, als die beiden Gegenstände auf der Wasseroberfläche aufschlugen, um dann unter zu gehen. Dann setzte er seine Kumpane jeweils zuhause ab und stellte danach sein eigenes Fahrzeug in die angemietete Garage-morgen früh würde er es gründlich sauber machen, damit keine verräterische Blutspur mehr auf eine Beteiligung seinerseits hinwies. Hoffentlich würde der Scheich die Sache mit dem Polizisten erledigen-er würde sich die Hände jedenfalls auch nicht schmutzig machen, da war er sich mit seinen Kumpanen einig!

  • Ben erwachte irgendwann mit brummendem Schädel, einem scharfen Brennen in der Seite und dem Gefühl von einem LKW überrollt worden zu sein. Er blieb erst einmal einen Augenblick auf dem Rücken liegen und versuchte heraus zu finden, wo er sich befand. Langsam kamen die Erinnerungen wieder zurück und ihm fielen die Hochzeit, die echte Brautentführung und ein wenig undeutlich, sein missglückter Befreiungsversuch wieder ein. Allerdings war eines klar-er befand sich nicht mehr an der Stelle, wo er niedergeschlagen worden war, denn da wäre weiche Wiese gewesen und so dunkel eine Nacht auch war-so stockfinster wie hier wäre es im Freien nie. Außerdem lag er ziemlich hart und unbequem und als seine Finger den Untergrund befühlten, war da eiskalter Felsen und jetzt bemerkte er auch, dass er fror wie ein Hund, dabei war es doch Mai und draußen waren die Temperaturen auch nachts äußerst angenehm.
    Eines war jedenfalls klar-er hatte ein Problem! Er tastete nach seinem Handy, aber das war weg, wie auch seine Geldbörse. Uhr trug er auch keine und so hatte er keine Ahnung wie spät es war und ob es Tag oder Nacht war. Seine Waffe war auch verschwunden, nur das leere Holster baumelte an seiner Seite, aber das war wohl klar, dass seine Entführer ihm die nicht lassen würden. Allerdings begann er sich jetzt Sorgen zu machen. Er hatte die Typen in der Gaststätte im Gespräch mit den beiden Scheichs gesehen und konnte sie zweifelsfrei identifizieren. Eigentlich war es fast ein Wunder, dass er noch am Leben war, denn er stellte ein Sicherheitsrisiko für sie da. Die Männer mussten auch aus der Region stammen, wie er dem Dialekt in dem sie sich unterhalten hatten, entnommen hatte, es dürfte also nicht sehr schwer sein, sie zu finden und fest zu nehmen. Dazu musste er aber jetzt erst einmal heraus finden, wo er sich befand und sich dann irgendwie befreien, denn leider hatte er ja mal wieder einen Alleingang gestartet und niemanden informiert-etwas, weswegen ihn Semir sicherlich fürchterlich rügen würde, wenn er es erfuhr.


    Eigentlich war es ja ein gutes Zeichen, dass man ihn eingesperrt hatte, denn vielleicht waren das einfach keine Schwerkriminellen, die ihn überwältigt hatten, sondern Bekannte von Klaus, die sich nur einen derben Spaß erlauben wollten und jetzt nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten? Allerdings sprach dagegen, dass sie bewaffnet gewesen waren und erst jetzt befühlte er seine schmerzende Seite und spürte warmes und klebriges Blut daran, das sich auch unter ihm in einer kleinen Pfütze gesammelt hatte. Allerdings schien die Blutung jetzt zu stehen und er hatte zwar Kopfschmerzen und einen Geschmack im Mund, als hätte er die Nacht durchgesoffen, was ja überhaupt nicht stimmte, aber er war nicht sonderlich schwach oder schwitzig und aus einigen Vorerfahrungen wusste er ziemlich genau, wie sich das anfühlte, wenn man viel Blut verloren hatte-aber so war das aktuell nicht. Klar tat das weh, aber es war einfach ein Streifschuss an der Flanke, der zwar oberflächlich blutete, aber sicher nicht lebensbedrohlich war. Er würde jetzt also aufstehen und herauszufinden versuchen, wo er sich befand. Er tippte auf einen Keller oder eine Höhle, denn als er lauschte war es auch völlig still, nicht einmal das Rascheln irgendwelcher Tiere wie Mäusen oder Ratten war zu vernehmen. Hoffentlich ging es Corinna gut, aber jetzt musste er zusehen, dass er von hier weg kam, dann konnte er die Kollegen informieren und sie gemeinsam mit denen befreien.


    Langsam richtete er sich auf und konnte jetzt doch ein Stöhnen nicht unterdrücken-erstens zog nun ein scharfer Schmerz durch seine Seite und die Wunde spannte, aber fast schlimmer waren die Kopfschmerzen und der Schwindel, die ihn bei der Lageänderung überfielen. Er meinte einen Augenblick er müsse kotzen und ließ sich für einen kurzen Moment wieder zurück fallen, aber dann startete er einen neuen Anlauf, diesmal ein wenig langsamer und beim zweiten Mal klappte es. Er befühlte mit den Händen seine Umgebung und anstatt nun gleich ganz aufzustehen, kroch er erst einmal auf allen Vieren herum und probierte sich zu orientieren und das war auch gut so, denn jetzt bemerkte er, dass der Höhlenboden auf einer Seite abfiel-denn inzwischen war er wegen der unbehauenen Wände und des unebenen Bodens fast sicher, dass er sich in einer Höhle befand-und als er langsam dem Gefälle folgte, war unten plötzlich eiskaltes Wasser. Er hatte einen fürchterlichen Durst und nach kurzer Überlegung formte er aus seinen Händen ein Gefäß und trank vorsichtig von dem kühlen Nass. Er würde schon nicht gleich Bauchschmerzen davon kriegen und das Wasser schmeckte wirklich sehr gut und erfrischend und es war, wie als wenn da Eiswürfel darin schwimmen würden. Gut-in diese Richtung ging es schon mal nicht weiter, aber irgendwie war Ben nun fast ein wenig beruhigt. Man konnte mehrere Wochen überleben, wenn man Wasser hatte, also hatte er Zeit und wenn er auch alleine hier nicht heraus kam-Semir würde ihn suchen und finden, da war er fast sicher!

    Er richtete sich nun vorsichtig auf, immer in Habachtstellung, nicht dass er sich den Kopf anstieß, aber über ihm war viel Platz und auch als er seine Hände ausstreckte, konnte er keine Decke erspüren. Die Luft war ebenfalls gut und frisch, anders als in den Bergwerken im Ruhrgebiet, wo die Sauerstoffversorgung der Bergleute immer schwierig gewesen war, als die Zechen noch in Betrieb gewesen waren. Aber hier in der Gegend gab es ja auch seines Wissens keine Bergwerke, er hatte nicht einmal eine Ahnung gehabt, dass es Höhlen gab. Vorsichtig tastete er sich voran, bis er an eine Wand kam. Der folgte er einfach und sicherte zuvor jeden Schritt. Plötzlich kam er an eine Metalltür. Aufgeregt fingerte er nach der Klinke, aber so sehr er auch daran rüttelte, die Tür war verschlossen! Als er außen herum tastete, bemerkte er, dass sie passgenau in den Felsen eingemauert war. Von der Verarbeitung und der Art der Klinke würde er sagen, dass die Tür schon ziemlich alt war, aber obwohl eine dicke Schicht Rost auf der Oberfläche zu fühlen war, war sie stabil und hielt allen Aufbruchversuchen stand, obwohl er sich mit aller Macht dagegen warf. Ben spähte nun durch das Schlüsselloch, das er gespürt hatte und konnte schemenhaft erkennen, wie draußen anscheinend gerade die Morgendämmerung anbrach. Er versuchte das Schloss zu knacken, aber ohne Dietrich ging da gar nichts und irgendwann gab er es auf.
    Allerdings war es in der Höhle nun nicht mehr so stockfinster und als er jetzt wieder zurück zu dem Wasser ging, konnte er zumindest Umrisse erkennen. Als es draußen ganz Tag wurde-er schätzte, es dürfte so ungefähr fünf Uhr morgens sein, eine Zeit zu der er sich normalerweise nochmals genüsslich in seinem weichen Bett umdrehte-kam von ganz oben an der Höhlendecke ein weiches Dämmerlicht herein-dort musste sich zumindest eine Spalte im Fels befinden, durch die er vielleicht hinaus schlüpfen konnte. Aber wie sollte er dort hinauf kommen? Inzwischen konnte er auch erkennen, was sich in dem Wasser, von dem er vorhin getrunken hatte, noch befand und er traute fast seinen Augen nicht-darin war Eis, lauter Eisklötze, daher hatte das Wasser so frisch geschmeckt. Wo zum Teufel war er hier? Er setzte sich noch einen Moment auf den Boden um Kraft zu sammeln und nochmals etwas zu trinken und dann begann er seine waghalsige Klettertour.


    Sarah war mit den Kindern zu Bett gegangen. Wie sie schon vermutet hatte, hatte ihr der Nachtportier geholfen, hatte den schlafenden Tim ins Zimmer getragen und danach das Auto geparkt. Sie zog den Kindern noch schnell einen Schlafanzug an und wickelte sie beide, denn wenn Tim so tief schlief, konnte schon mal was danebengehen, wenn er auch untertags schon sauber war und dann ging sie selber noch ins Bad, um wenig später in einen tiefen Erschöpfungsschlaf zu fallen. So eine Hochzeitsfeier war zwar wunderschön, aber eben auch anstrengend und sie lächelte im Traum, als sie mit Ben über die Tanzfläche wirbelte. Der würde schon irgendwann kommen und sich leise ins Bett schleichen, zuhause ging er auch oft nach ihr schlafen, gerade am Wochenende, wenn er ausschlief, während sie mit den Kindern früh aufstand. Ihr machte es allerdings auch nichts aus und sie kam morgens gut raus, während Ben eher die Eule war und abends zu Höchstform auflief. Aber sie hatten das gut geregelt und so blickte gegen sieben, als Mia-Sophie sich regte, Sarah verwundert neben sich und stellte erst da fest, dass Ben nicht da war.

  • Sarah sah das unbenutzte Bett neben sich an und rieb sich verwundert die Augen. Warum war Ben nicht zu ihnen gekommen? Gut-eventuell hatte er den Shuttlebus verpasst und auch kein Taxi nehmen wollen. Vielleicht saß er auch noch mit irgendjemandem in einer Ecke, unterhielt sich angeregt und hatte die Zeit vergessen, oder er war bei einem der Verwandten direkt in Mündling über Nacht geblieben, zunächst einmal machte sie sich also noch keine allzu großen Sorgen, sondern wickelte Mia-Sophie und machte ihr eine Flasche, was dank Wasserkocher und Fertigmilchpulver kein Problem darstellte. Auch Tim regte sich, ging stolz aufs Klo, zeigte der Mama, dass die Schlupfwindel überhaupt nicht nass war und fragte dann, während er zur Besänftigung einen eingepackten Zwieback aß, morgens hatten die Kinder immer beide sofort Hunger, wo denn der Papa wäre. „Tim-das weiss ich auch nicht, aber das werden wir gleich feststellen!“ sagte Sarah, nahm ihr Handy, das sie über Nacht geladen hatte und wählte Ben´s Nummer. Das Handy war an, aber niemand ging ran und nach einer Weile übernahm die Mailbox und Sarah ließ das Handy verwundert sinken. Gut-wenn Ben irgendwo schlief, hörte er sein Telefon vielleicht nicht, eventuell hatte er auch den Ton ausgestellt, aber merkwürdig war das schon!

    Inzwischen ging es bereits auf acht Uhr und sie zog jetzt die Kinder und sich nach dem Waschen erst einmal an und probierte währenddessen immer wieder, ihren Mann zu erreichen. Inzwischen hatte eine große Unruhe von ihr Besitz ergriffen, aber sie mahnte sich selber dazu, jetzt nicht in Panik zu verfallen. Um acht googelte sie die Telefonnummer der Gaststätte und atmete fast ein wenig auf, als da sofort jemand ran ging. Die Wirtsleute mussten bereits wieder alles für den sonntäglichen Frühschoppen und Mittagstisch vorbereiten und waren nur ein paar Stunden im Bett gewesen. Auf ihre Frage, ob denn noch irgendwelche Gäste da seien, lachten sie auf: „Nein-nachdem das Brautpaar um Mitternacht die Feier verlassen hat, sind gegen ein Uhr die letzten Gäste gegangen.“ teilten sie ihr mit und jetzt wurde Sarah immer unruhiger. An Ben konnten sie sich gerade auch nicht erinnern, was bei der Vielzahl an Gästen auch kein Wunder war-gut vielleicht wäre es anders, wenn sie ein Bild sahen, aber schlanke, dunkelhaarige Männer mit Dreitagebart und dunklem Anzug hatte es auf der Feier mehrere gegeben.

    Langsam beschlich Sarah ein immer stärker werdendes ungutes Gefühl. Verdammt-Corinna konnte sie noch nicht anrufen-die und Klaus hatten gerade die Hochzeitsnacht hinter sich und waren vielleicht noch gar nicht so lange im Bett, aber dann versuchte sie ihre Eltern und ihre beiden Geschwister zu erreichen, die in einem anderen Hotel untergebracht waren und die heute ebenfalls wieder nach Hause fahren würden. Die waren gerade aufgestanden und teilten ihr ebenfalls mit, was die Wirtin ihr schon gesagt hatte-die Feier war nach Mitternacht zu Ende gewesen, man hatte noch in aller Ruhe ausgetrunken und dann waren die Shuttlebusse gestartet, aber alle die sie angerufen hatte, konnten sich nicht erinnern, Ben, nachdem sie die Feier verlassen hatte, was so gegen 21.30 Uhr der Fall gewesen war, noch einmal gesehen zu haben. „Wir haben gedacht, ihr wart alle müde und seid dann doch miteinander in euer Hotel gefahren!“ sagten sie und Sarah´s Sorgen wurden jetzt immer größer. Sie ging nun zunächst doch erst einmal mit den Kindern zum Frühstück, sie brauchte dringend einen Kaffee und auch etwas in den Magen und bald saß sie mit denen am Tisch, das Baby im Hochstuhl und Gott sei Dank war die Bedienung im wunderschönen Frühstücksraum mit einem Blick, der bis zu den Alpen ging, obwohl die noch über 100 km entfernt waren, sehr zuvorkommend und brachte ihr die Sachen an den Tisch, denn alleine mit zwei kleinen Kindern am Buffett war fast ein Ding der Unmöglichkeit. Immer mehr verfestigte sich Sarah´s Furcht, dass Ben irgendetwas zu gestoßen war, denn so ein wundervolles Frühstück ließ sich der normalerweise nicht entgehen. Um neun beschloss sie dann, nun doch Corinna anzurufen, auch wenn das vielleicht nicht den Regeln der Etikette entsprach, aber die war die Vertraute ihrer Kindheit und kannte sich hier aus, wer, wenn nicht sie, konnte ihr jetzt weiterhelfen?


    „Corinna! Guten Morgen und es tut mir leid, wenn ich euch jetzt schon so früh störe, aber ich weiss mir nicht anders zu helfen-Ben ist nämlich verschwunden!“ platzte sie heraus und nun war am anderen Ende erst einmal Schweigen, nachdem sich Corinna zuerst mit noch ein wenig müder Stimme gemeldet hatte. Die frischgebackene Ehefrau war vor einer Stunde aufgestanden und hatte einen Schädel auf, als wenn sie die ganze Nacht durchgesoffen hätte, dabei hätte sie schwören können, dass sie außer einem Glas Sekt direkt nach der Trauung, keinen Alkohol zu sich genommen hatte. Klaus war sehr besorgt um sie, aber sie hatte einen klassischen Filmriss und er beteuerte, dass sie bei der Brautentführung zu tief ins Glas geschaut hatte, das aber völlig egal sei, was Corinna mit großer Scham erfüllte-oh Gott-betrunken bei der eigenen Hochzeit! Hoffentlich hatte sie sich nicht daneben benommen!
    Als nun allerdings Sarah voller Sorge nach Ben fragte, huschte ein kleiner Flashback durch ihr Gehirn, sie hörte einen lauten Knall und sah Ben dann undeutlich zusammenbrechen, aber das konnte doch nicht sein? Allerdings war das schon sehr merkwürdig, dass er nicht bei Sarah war und so wandte sie sich jetzt an Klaus, der sie mit gehetztem Gesichtsausdruck und voller Sorge beobachtete und sagte zu dem: „Sarah ist am Telefon-Ben ist verschwunden!“ und nun griff eine kalte Hand nach Klaus-oh Gott, hoffentlich hatte der seine Nase nicht zu tief reingesteckt und saß jetzt in der Klemme, denn wenn jemand vor einer Entführung und Erpressung nicht zurück schreckte, dann würde der vermutlich auch einen zu neugierigen Polizisten aus dem Weg räumen. „Dann werden wir ihn eben suchen!“ sagte Klaus nun und Corinna teilte das Sarah mit. „Komm einfach mit den Kindern zu uns, wir schauen uns mal in Mündling um und rufen ein paar Leute an, wir werden schon rausfinden, wo er abgeblieben ist!“ sagte Corinna tröstend, denn sie hörte die Angst und Unruhe in Sarah´s Stimme. Nachdem sie aufgelegt hatte, wandte sie sich zu ihrem Mann: „Du wirst es nicht für möglich halten, aber ich habe heute Nacht sogar von Ben geträumt!“ berichtete sie ihm unruhig und Klaus fragte wie beiläufig: „Was hattest du denn für einen Traum?“ und als Corinna ihm den berichtete, musste er sich mit der Hand am Esstisch, vor dem er gerade stand, festhalten. Oh mein Gott-was sollte er nur tun? Aber er durfte seine Frau nicht in Gefahr bringen und so schwieg er zunächst.


    Ben hatte derweil im fahlen Licht, das die Höhle erhellte, seine Klettertour begonnen. Gott sei Dank war der Felsen rissig und von vielen Spalten durchzogen und so kam er, trotz Verletzung, gut voran. Sein Jackett hatte er ausgezogen und beiseite gelegt, um mehr Beweglichkeit zu haben. Vorsichtig sichernd hangelte er sich höher und dachte an einen Ausflug mit Semir, als sie allerdings mit Seilen ausgestattet, bouldern gegangen und dann gleich in einen spannenden Fall geraten waren. Immerhin war er schwindelfrei und sportlich und unter anderen Umständen und wenn sein Kopf und seine Seite nicht so weh getan hätten, hätte ihm die Kletterpartie vielleicht sogar Spaß gemacht. Langsam kam er dem Licht näher und konnte schon von unten erkennen, dass die Lücke oben zwar von außen ein wenig bewachsen, aber groß genug war, dass er durch passen würde. Das letzte Stück war ein Überhang, aber der Fels bot sehr viele Möglichkeiten sich fest zu halten, er würde sich dort hinüber hangeln können. Immer wieder flog eine empörte Fledermaus auf, die in dieser Höhle ihren Schlafplatz hatte. Die hingen jetzt nach anstrengender nächtlicher Jagd schlafend kopfüber von den Felsvorsprüngen, aber diese kleinen Tierchen waren ja völlig ungefährlich und Ben hätte jetzt gerne Tim so ein Exemplar gezeigt, sowas sah man ja nicht jeden Tag.


    Gerade hangelte er sich das letzte Stück Richtung Freiheit, da öffnete sich unten quietschend die Tür und nach einem erstaunten Ausruf auf Arabisch, gellte ein Schuss durch die Höhle und Ben, der sofort getroffen wurde, ließ im Schock los und segelte jetzt , während sein Lebensfilm vor ihm ablief, Richtung Höhlenboden.

  • Sarah traf mit den Kindern bei Corinna und Klaus ein. Ihre Cousine nahm sie liebevoll in Empfang und bat sie in die schöne Küche. Sie tranken gemeinsam noch eine Tasse Kaffee, während die Kinder vergnügt mit den paar übrig gebliebenen Luftballons spielten, die Klaus am Vorabend nicht mehr beseitigt hatte. „Stell dir vor Sarah-ich habe den vollen Filmriss, anscheinend habe ich mich bei der Brautentführung heftig betrunken und das ist mir voll peinlich!“ erklärte sie ihre Blässe. „Aber ich habe schon die ersten Bekannten angerufen, ob Ben nicht bei denen über Nacht geblieben ist, war bislang allerdings erfolglos-gut viele schlafen heute aus, aber die ganz christlichen gehen heute trotzdem zur Kirche, auch wenn sie die ganze Nacht weg waren, die erreiche ich erst nach zehn, wenn der Gottesdienst vorbei ist!“ erklärte sie. „Geht Ben denn nicht an sein Handy?“ wollte sie dann wissen, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Nein-es ist eingeschaltet, aber nach mehrmaligem Läuten geht die Mailbox ran, da habe ich auch schon drauf gesprochen!“ erklärte sie. „Gut vielleicht hat er es auf lautlos, hat gestern ebenfalls zu tief ins Glas geschaut und schläft jetzt irgendwo seinen Rausch aus!“ vermutete Corinna. „Aber dann wird er sich schon irgendwann melden!“ fügte sie hinzu, rief aber weiterhin einige Freunde aus dem Ort an, die gestern auf der Hochzeit gewesen waren. Allerdings stellte sich nun heraus, dass ihn zu späterer Stunde niemand mehr gesehen hatte, nur die Brautentführer erinnerten sich, dass er noch kurz bei ihnen in der Scheune gewesen war, als sie ihre Lederhosen angezogen hatten.


    Der eine der jungen Männer war ziemlich zeitig bereits von einem fürsorglichen Nachbarn verständigt worden, der am frühen Morgen schon auf der Jagd gewesen war und das unversperrte Auto hinter dem Gebüsch hatte stehen sehen. „Hör mal-deine Rostlaube steht mitten in der Pampa-räum den mal lieber weg, bevor dich die Polizei noch wegen einer Alkoholfahrt oder Umweltverschmutzung dran kriegt!“ hatte er ihm via Handy geraten und da halfen alle Beteuerungen des Polobesitzers nichts, dass er sein Auto dort nicht abgestellt hatte. Gut-langsam vermutete er tatsächlich, dass den vielleicht ein alkoholisierter Bekannter aus dem Nachbarort dazu hatte benutzen wollen, um nach Hause zu fahren, dann aber die Kurve nicht gekriegt hatte, oder alternativ von schlechtem Gewissen und Angst um seinen Führerschein geplagt worden war und dann den weiteren Heimweg zu Fuß angetreten hatte. Er war selber blöd gewesen als er den Schlüssel hatte stecken lassen. So hatte er sich von seinem Vater zum Fundort bringen lassen, festgestellt, dass der Wagen unversehrt war und anscheinend laut Spritanzeige auch nur die paar Kilometer gefahren worden war und nun stand das verrostete Schätzchen bereits wieder zuhause in der Garage.
    Der Hund des Jägers hatte derweil in der Nähe eine merkwürdige Schweißspur, wie Blut jagdlich genannt wurde, entdeckt und der betrieb nun Nachsuche. Allerdings hörte die Spur abrupt auf und nun vermutete der Jäger, dass er einen Wilderer im Revier hatte, der das illegal erlegte, oder vielleicht auch überfahrene Wild dann in seinen Kofferraum gelegt und mitgenommen hatte und eine Zornesader schwoll an seiner Stirn. Das war Wilddieberei und wurde einfach nicht geduldet. Nochmals schickte er seinen Hund los, der in dem dichten Gebüsch neben der Blutspur plötzlich aufgeregt Laut gab. Als der Jäger die Brombeerranken zur Seite bog, entdeckte er eine Pistole, eindeutig kein Jagdgewehr und nun wurde ihm ein wenig mulmig. Sollte er vielleicht die Polizei verständigen? Aber dann packte er die Waffe ein, ging nach Hause, sperrte sie mitsamt seinem Jagdgewehr vorschriftsmäßig in den Waffenschrank und besuchte nach dem Duschen erst einmal mit seiner Frau den Gottesdienst. Er hatte sich nun zusammen gereimt, wie das vermutlich abgelaufen war: Das Reh-hoffentlich nicht der kapitale Bock, auf den er seit zwei Wochen, seitdem die Bockjagd eröffnet war, ansaß-war in das Auto gelaufen, war aber nur verletzt gewesen. Um es zu erlösen, oder eben auch für einen leckeren Sonntagsbraten hatte der Fahrer, der aus irgendwelchen Gründen eine Pistole im Wagen hatte, das Tier erschossen und mitgenommen, ja genau, diese Theorie erklärte die Spuren. Warum er allerdings danach die Waffe weg geworfen hatte, war ihm nicht so klar, vielleicht war die nicht registriert, oder eben doch und der Wilddieb wollte deshalb keinen Ärger kriegen, die Waffe war auf jeden Fall erst kürzlich abgefeuert worden und lag auch noch nicht lange dort im Gebüsch. Ein echter Wildschütz hätte sicher auch ein Jagdgewehr, aber er würde jetzt einfach vermehrt seine Augen offen halten und versuchen, dem Übeltäter auf die Spur zu kommen. Auch würde er die Jagdgenossen von seinem Verdacht, dass ein Wilddieb sein Unwesen trieb, in Kenntnis setzen-gleich nach dem Gottesdienst beim Frühschoppen beim Wirt!


    Ben war derweil unten aufgeschlagen. Zu seinem Glück oder Pech-man konnte das sehen wie man wollte, fiel er aus etwa fünf Meter Höhe direkt in den flachen Eissee. Die Wassertiefe betrug nur etwa 70 Zentimeter, aber trotzdem genügte es, um seinen Sturz-Beine voran- ein wenig abzubremsen. Allerdings kam er mit denen am Grund mit voller Wucht auf, verlor sofort das Bewusstsein und die Pfütze mit den Eisbrocken darin färbte sich rot von seinem Blut. Die beiden Scheichs hatten nun wirklich keine Lust ihn auch noch aus dem Wasser zu ziehen und sich nass und schmutzig zu machen, um zu kontrollieren, ob er auch wirklich tot war. Sollte er den Sturz primär überlebt haben, würde er in Kürze seinen schweren Verletzungen erliegen, ertrinken oder erfrieren-wie er zu Tode kam, war ihnen auch egal, Hauptsache sie wurden nicht gestört und bekamen die Baupläne des Hubschraubers. Wenn man schon alles hatte, wollte man immer noch mehr haben und in ihrer Heimat zählte ein Menschenleben sowieso nichts. In spätestens einer Woche-vielleicht auch schon früher- würden sie wieder im Flieger nach Hause sitzen und ihre Flugzeugbauer dort würden diesen wunderbaren Hubschrauber, der mit allen möglichen Waffen- und Abwehrsystemen ausgestattet war, nachbauen, egal was das kostete. Der konnte nur sehr schwer geortet werden, viele neuartige Entwicklungen waren darin zu finden und gerade bei der militärisch angespannten Lage im Nahen Osten konnte der Besitz eines solchen Fluggeräts in ausreichender Stückzahl kriegsentscheidend sein!

    So verließen sie die Höhle, nahmen auch den Schlüssel mit, damit niemand Unbefugtes da rein stolperte und waren wenig später wieder in dem wunderbaren Hotel. Der Typ hatte sie nach ihrem Geschmack sowieso schon von Anfang an viel zu interessiert gemustert. Gut, dass ausgerechnet er, ein viel zu neugieriger deutscher Polizist, ein Hochzeitsgast auf der Trauung ihres Informanten sein würde, hatte ja niemand ahnen können. Es war nur gut und logisch ihn zu töten und das hatten sie soeben erledigt und so bestellten sie sich zufrieden einen Pfefferminztee und begannen eine Partie Schach zu spielen-so würde die Zeit auch vergehen!

  • Inzwischen war der Gottesdienst zu Ende und viele der männlichen Kirchenbesucher versammelten sich in der Wirtsstube, um die Neuigkeiten der Woche auszutauschen. Auch der Jäger teilte den Jagdgenossen seine Vermutung mit, dass ein Wildschütz sein Unwesen im Revier trieb, nur die Sache mit der Waffe erwähnte er nicht, denn da war er sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob das legal gewesen war, die mit zu nehmen und er wollte doch keinen Ärger mit der Polizei haben-als Jäger war man da sehr schnell seinen Jagdschein los!
    Corinna hatte wieder begonnen, weitere Hochzeitsgäste anzurufen, aber tatsächlich waren die Brautentführer in ihren Lederhosen die letzten Menschen gewesen, die Ben am Vortag gesehen hatten. Einer fragte dann Corinna auch ganz beiläufig, warum sie denn, als sie sich zuhause hingelegt hatte, den Brautstrauß im Hof abgelegt oder verloren habe und nun sah die frisch gebackene Ehefrau mit gerunzelter Stirn auf den Hörer. „Klaus-habe ich mich hingelegt? Und ich dachte, ich hätte mich erst bei der Brautentführung betrunken?“ fragte sie verwundert, aber dann schob sie den Gedanken momentan beiseite, während Klaus schon verzweifelt nach einer Ausrede suchte.

    Sarah bekam immer mehr Angst um Ben und allmählich formte sich in ihrem Kopf der Gedanke, dass ihm wohl etwas passiert sein musste-anders war seine Abwesenheit nicht zu erklären. „Verständigen wir die Polizei!“ beschloss nun auch Corinna und Klaus, der immer mehr Angst um seine Frau bekam, hätte am liebsten protestiert, aber da hatte Corinna schon zum Hörer gegriffen, die 110 gewählt und den an Sarah weiter gereicht. Am Apparat war dann ein Mitarbeiter in der zentralen Leitstelle in Augsburg, das doch gute 60 km entfernt lag. Er hörte sich an, was Sarah ihm zu sagen hatte und man merkte dann, dass er Mühe hatte, nicht laut aufzulachen. „Gute Frau-darf ich jetzt mal kurz zusammenfassen, was sie mir gerade erzählt haben? Ihr Mann, der zudem Polizist ist, ist seit gerade mal 13 Stunden verschwunden und sie wollen deshalb eine Vermisstenanzeige aufgeben? Es tut mir leid, aber wenn sie keinen weiteren Anhaltspunkt haben, der auf ein Verbrechen hin deutet, dann können wir da erst einmal nichts unternehmen-wenn wir da jeder Anzeige nachgingen, wenn der Partner mal ein wenig versumpft ist, bräuchten wir das Fünffache an Personal! Ich kann sie noch an die Stelle, die die Rettungseinsätze koordiniert, weiter verbinden, da können sie fragen, ob letzte Nacht jemand, auf den die Beschreibung passt, in eine Klinik gebracht wurde-vielleicht rufen sie auch mal im nächstgelegenen Krankenhaus und in der lokalen Polizeidienststelle in Donauwörth an, ob da jemand in der Ausnüchterungszelle schläft, oder privat eingeliefert wurde, aber sonst sind uns aktuell die Hände gebunden, wenn sie weiter nichts haben. Melden sie sich in ein paar Tagen wieder, wenn es bis dahin keine Neuigkeiten gibt!“ belehrte er sie und auf die schüchterne Frage nach der Handyortung hatte er Mühe, nicht in lautes Gelächter auszubrechen. „Gute Frau, das dürfen wir nur mit richterlichem Beschluss, heute ist Sonntag und ich wage zu bezweifeln, dass da irgendein Richter die Genehmigung dazu gibt-vielleicht hat ihr Mann sich ja ne kleine Freundin angelacht und liegt jetzt irgendwo mit der im Bett-nein, nein, da müssen sie sich schon etwas anderes einfallen lassen, um ihre Neugier zu befriedigen, das ist eine Privatsache und für Beziehungsprobleme sind wir nicht zuständig!“ klärte er sie auf und beendete dann das Gespräch und reichte sie an die Feuerwehrnotrufzentrale weiter, die aber auch keine Meldung hatte und die Anfrage etwas belustigt bearbeitete.
    Sarah sah unglücklich auf den Hörer und fühlte sich nicht ernst genommen. Dann suchten sie und Corinna gemeinsam zuerst die Nummer des Krankenhauses heraus, aber da war in der Nacht niemand eingeliefert worden und dann riefen sie noch bei der lokalen Polizeidienststelle an, die aber weder jemanden in der Zelle, noch irgendwelche Einsätze rund um das verschlafene Mündling zu verzeichnen hatte. Die vorige Nacht war ruhig verlaufen, außer ein paar Alkoholfahrten und einer Familienstreitigkeit hatten die Streifenbeamten eine ruhige Kugel geschoben.

    Klaus hatte derweil mit Tim gespielt und Corinna trug die kleine Mia-Sophie herum. Klaus dachte die ganze Zeit darüber nach, was er denn jetzt unternehmen sollte. Er war sich fast sicher, dass Ben´s Verschwinden mit Corinna´s Entführung und seiner Arbeit zusammen hing, aber er hatte erstens eine Heidenangst um seine Frau und außerdem würde es gar nichts nutzen, wenn er sie und Sarah jetzt beunruhigte. Sarah sah auf die Uhr-inzwischen war es elf Uhr geworden und kurz entschlossen griff sie zu ihrem Handy und nachdem sie ein letztes Mal erfolglos Ben´s Nummer gewählt hatte, rief sie jemanden an, der ihr mit Sicherheit weiter helfen würde-Semir!


    Nachdem Ben in den wenigen Sekunden, als er von der Decke stürzte, an die wichtigsten Menschen in seinem Leben flashbackmäßig gedacht hatte-das waren Sarah, seine Kinder, Semir, die Kollegen und ziemlich zum Schluss sein Vater und Julia-schlug er zuerst auf der Wasseroberfläche auf und dann mit beiden Beinen auf dem Seeboden und nun verlor er vor Schmerzen das Bewusstsein. Er ging auch fast sofort unter und die Wunde an seinem Arm, wo ihn der Schuss getroffen hatte, färbte gemeinsam mit der wieder aufgebrochenen Flankenwunde das Wasser rot. Allerdings hatte das kalte Wasser auch einen Vorteil-es weckte ihn ziemlich schnell wieder auf und gerade als die beiden Scheichs die Höhle verlassen hatten, kam er voller Panik wieder zu Bewusstsein. Sein Kopf war unter Wasser und er war starr vor Angst. Gerade erlebte er fast ein deja-vú, als er damals vom Hubschrauber aus angeschossen, von der Staudammmauer gestürzt war, hatte er auch irgendwann , nachdem er schon Wasser geschluckt hatte, das Bewusstsein wiedererlangt und es war ihm irgendwie gelungen, ans Ufer zu schwimmen, wo er dann erneut bewusstlos zusammenbrach und erst wieder zu sich kam, als Hotte Herzberger´s Mund sich dem Seinen genähert hatte, um ihn zu beatmen. Da hatte er reflexartig gleich zu seiner Waffe gegriffen, um das zu verhindern, aber diesmal war kein Hotte und auch sonst niemand da, um ihm zu helfen.
    Ben wusste erst nicht wo oben und unten war, aber irgendwann kam er mehr durch Zufall mit dem Kopf über Wasser und beförderte nun hustend und keuchend das Wasser aus seinen Lungen. Es war so schlimm, dass er sich auch gleich noch erbrach, aber irgendwann schaffte er es unter Schmerzen mit den Armen aus der Pfütze zu robben und erst als er jetzt zitternd und zu Tode erschöpft halb am Ufer lag, bemerkte er etwas Schreckliches-er hatte von der Hüfte abwärts kein Gefühl mehr!

  • Semir saß gerade gemütlich mit seiner Familie beim Brunch, als sein Handy klingelte. Sie hatten lange geschlafen und beschlossen, sich heute einen faulen Tag zu machen. „Sarah was gibt’s?“ fragte er und war sofort alarmiert, denn normalerweise rief ihn eher Ben einmal an als Sarah, mit der telefonierte er meistens nur, wenn irgendetwas mit seinem Kollegen passiert war und sofort beschlich ihn ein ungutes Gefühl, das auch gleich bestätigt wurde. „Semir-Ben ist seit gestern Abend verschwunden und die örtliche Polizei nimmt das einfach nicht ernst, sie denken, er wäre absichtlich abgehauen, vielleicht sogar mit einer anderen Frau, aber du weisst, dass das nicht stimmt-sowas tut Ben nicht!“ sprudelte es aus dem Hörer und man hörte deutlich Sarah´s Angst und Sorge aus ihrer Stimme. „Nein, sowas tut Ben wirklich nicht, aber jetzt erzähl mal, was passiert ist, oder wann du ihn das letzte Mal gesehen hast!“ befahl Semir regelrecht, hatte sich vom Frühstückstisch erhoben und war zum Telefonieren auf die Terrasse getreten. Andrea´s sorgenvoller Blick hatte ihn gestreift, auch ihr war aus dem Gespräch heraus klar, dass irgendetwas mit seinem Freund und Kollegen passiert und dass der Sonntag hiermit gelaufen war.

    Sarah berichtete von der Hochzeit, wie sie sich am Abend verabschiedet hatten, als sie mit den Kindern eher ins Hotel zurück gefahren war und dass ihren bisherigen Nachforschungen zufolge, Ben danach nur noch von drei Freunden des Bräutigams gesehen worden war. Sie erwähnte, dass am Handy nur die Mailbox ranging, die örtliche Polizei sich aber weigerte, das zu orten und dass sie jetzt langsam verrückt würde vor Sorge.
    „Sarah-du hast Recht-irgendwas muss passiert sein, denn es ist nicht Ben´s Art, einfach so zu verschwinden, der hätte dir eine Nachricht hinterlassen, wenn er es noch gekonnt hätte. Jetzt bleib erst mal ruhig, ich bitte die Kollegin in der PASt jetzt einfach sein Handy zu orten und melde mich dann wieder bei dir!“ sagte er und wählte Minuten später schon Susanne´s Nummer in der Zentrale. Wenn er sich nicht täuschte, hatte die sogar Wochenenddienst und sie hatten vor längerer Zeit alle einmal einen Wisch unterschrieben, dass man ihre Handys jederzeit orten durfte, wenn Gefahr im Verzug war und so war Susanne sogar rechtlich auf der sicheren Seite. Sie versprach ihm, das sofort in die Wege zu leiten, nur würde es ein paar Minuten dauern und als er ungeduldig mit den Fingerspitzen auf einem Gartenmöbel zu trommeln begann, hörte er im Hintergrund Hartmut etwas sagen.
    „Ist Einstein auch bei dir?“ fragte er verwundert und Susanne antwortete ihm daraufhin, während ihre Finger gleichzeitig blitzschnell über die Computertastatur jagten und die Handyortung starteten-sie war schließlich multitaskingfähig, sowas lernte man mit den Jahren in der PASt: „Ja-der hat noch seinen Reiseantrag abgegeben-das hatte er am Freitag vergessen. Er ist die ganze nächste Woche auf einem bundesweiten Seminar für Kriminaltechniker in Bayern und wird dort sogar einige Neuheiten, die er entwickelt hat, vorstellen!“ erklärte sie und nun verlangte Semir seinen Kollegen sofort ans Telefon. „Hartmut-was höre ich da, du fährst nach Bayern?“ wollte er wissen und der Rotschopf bejahte. „Ich setze mich jetzt dann gemütlich in den ICE und fahre durch bis Augsburg, wo ab morgen der Kongress stattfindet, ich stehe also die ganze nächste Woche nicht zu eurer Verfügung!“ erzählte er, wurde aber von Semir unterbrochen: „Papperlapapp-du brauchst nicht mit dem Zug zu fahren-es kommt den Steuerzahler viel zu teuer, wenn zwei Beamte an einem Tag mit Zug und Auto in dieselbe Richtung reisen-ich fahre jetzt dann nämlich ebenfalls nach Bayern und dieses Augsburg liegt ungefähr da in der Nähe, wo ich hin muss-Ben ist nämlich verschwunden und ich wäre froh, wenn du mir vor Ort noch ein wenig zur Hand gehen würdest-vier Augen sehen mehr als zwei und bis morgen Vormittag, wenn der Kongress los geht, werden wir ihn ja hoffentlich gefunden haben!“ teilte er Hartmut mit und der war sofort einverstanden bei Semir mit zu fahren.
    Inzwischen war die Handyortung erfolgt und nachdem die Einwählung über zwei Sendemasten lief, deren Radius ziemlich genau zu bestimmen war, glich Susanne via Google Earth die Koordinaten ab und musste dann erst einmal trocken schlucken, während auch Hartmut gebannt auf den Bildschirm starrte. „Semir-hoffen wir mal, dass Ben nicht da ist, wo sein Handy liegt-das ist nämlich ein kleiner See, oder vielmehr ein Tümpel, neben einem riesigen Waldgebiet, wenn wir das hier richtig erkennen können!“ sagte Susanne und schickte Semir ebenfalls die Koordinaten und einen Screenshot aufs Handy. „Und das wählt sich dort seit gestern gegen Mitternacht immer wieder ein!“ fügte sie hinzu.


    „Ich muss dorthin und mir das vor Ort anschauen-ich glaube, ich rufe die Chefin privat zu Hause an, auch wenn ihr das nicht gefallen wird, aber jetzt ist es wichtig, dass wir Ben finden, alles andere ist nebensächlich!“ beschloss Semir, versprach Hartmut, dessen Koffer schon mit auf der Wache war, ihn in Kürze abzuholen und rannte regelrecht die Treppe hinauf, um auch für sich eine Reisetasche zu packen. „Andrea-ich muss nach Bayern fahren, um Ben zu suchen!“ teilte er seiner Frau noch kurz mit, bevor er Kim Krüger vom Sofa holte, die dort entspannt herum lag und ein Buch las und jetzt aufsprang um zu ihrem läutenden Handy zu hasten, das gerade am Ladekabel hing. Als sie sah, wessen Namen auf dem Display erschien, seufzte sie auf-wenn Semir sie am Sonntag zuhause anrief, verhieß das nichts Gutes und so war es auch. „Fahren sie schon los, ich weiss-ich kann sie sowieso nicht davon abhalten.“ sagte sie, als Semir ihr in kurzen Worten den Sachverhalt geschildert hatte. „Wir lassen das jetzt auch mal ganz offiziell als Dienstreise laufen und Gerkhan-bringen sie mir Jäger heil zurück-wir brauchen den noch!“ befahl sie regelrecht und als Semir aufgelegt hatte und die letzten Kleidungsstücke in die Tasche warf, umspielte sogar ein kleines Lächeln seine Lippen. Die Chefin war schon in Ordnung-manchmal jedenfalls! Ayda und Lilly sahen ihm enttäuscht nach, als er in den BMW sprang-sie hatten heute mit dem Papa spielen wollen, aber als Polizistenkinder waren sie Kummer gewöhnt und beschäftigten sich wenig später mit ihren Puppen, während Andrea langsam den Tisch abräumte. Hoffentlich war Ben nichts passiert, denn darüber würde ihr Mann nie hinwegkommen. Sie würde einen weiteren Sonntag, wie schon so viele in ihrer Ehe, alleine mit den Kindern verbringen, aber trotzdem war sie nicht sauer-immerhin ging es um Ben und der war ja schließlich auch ihr Freund!


    Wenig später stieg Hartmut zu Semir in den Wagen und bereits als sie losfuhren, referierte Hartmut über die geologischen Besonderheiten der Gegend, wo sie jetzt hinfuhren. „Stell dir vor, dieser Tümpel, oder wie man dazu sagen will, ist eine geologische Besonderheit, der durch den Meteoriteneinschlag, der das Ries vor 14,6 Millionen Jahren geschaffen hat, entstanden ist. Der liegt ganz oben am Berg, obwohl die Gegend drum herum eigentlich sehr trocken und von Wald und Wacholderheide geprägt ist. Er wird durch eine artesische Steigquelle gespeist und ist acht Meter tief!“ berichtete er stolz von seinen Recherchen, aber Semir wollte gar nicht so richtig zuhören. „Hoffen wir nur, dass Ben nicht in diesem Tümpel liegt!“ sagte er und rief dann doch noch Sarah zurück-die sollten sich dort schon einmal umschauen, denn auch wenn die A3 frei war und er mit ziemlicher Geschwindigkeit dahin fuhr-in viel weniger als vier Stunden war die Strecke fast nicht zu schaffen! „Aber passt auf, dass ihr keine Spuren verwischt!“ warnte er Sarah noch und wenig später waren sie alle miteinander-Klaus eingeschlossen, der sich zwischen die Kindersitze gezwängt hatte- unterwegs zur Gunzenheimer Gump und hofften, dass sie keine schreckliche Entdeckung machen mussten. Gott sei Dank schliefen die Kinder fast sofort im Wagen ein und jetzt war Sarah froh, dass Klaus dabei war, denn der zeigte ihr die Feldwege, die sie nehmen musste, um in die Nähe des geheimnisvollen Gewässers zu kommen, das nur wenige Kilometer von Mündling entfernt war. Mit Bauchschmerzen stiegen sie aus-einer blieb immer beim Wagen und sah nach den Kindern- und liefen einmal rund um den Weiher, der steil abfallende Uferwände hatte und in den man nur über einen Steg und eine Leiter kam. Das Wasser war klar, dunkel und geheimnisvoll, aber nirgendwo sahen sie eine Spur von Ben und Sarah wusste jetzt nicht, ob das gut oder schlecht war- nun gut, immerhin schwamm er nicht als Leiche dort an der Oberfläche und so rief sie Semir an und teilte ihm mit, dass sie nichts gefunden hatten.
    „Wir sind in guten drei Stunden bei euch, Hartmut kommt auch mit!“ sagte Semir und blieb notorisch auf der linken Spur. Heute konnte er die PS seines Dienstwagens einmal richtig ausfahren und der Rotschopf klammerte sich immer wenn es über 200 km pro Stunde ging an seinem Sitz fest und wurde blass um die Nase. Semir hätte bei jeder anderen Gelegenheit die Fahrt genossen, aber jetzt war er von Sorge um seinen besten Freund erfüllt und das wahrlich nicht zu Unrecht!


    Ben blieb erst einmal eine ganze Weile völlig erschöpft und immer noch hustend am Rand des eisigen Wassers liegen. Er schloss seine Augen, verlor immer einmal wieder das Bewusstsein und hatte keinerlei Zeitgefühl mehr. Wenn er zwischendurch ein wenig wacher wurde, überrollten ihn Schmerzwellen, denn auch wenn er von der Hüfte abwärts nichts spürte, was er nicht glauben konnte und wollte, so tat sein Rücken einfach fürchterlich weh, die beiden Schussverletzungen brannten und tobten und es lief auch immer wieder ein wenig Blut heraus, färbte sein vormals blütenweisses Hemd rot und bildete ein kleines Rinnsal zum Wasser. Als er irgendwann- inzwischen war ihm einfach nur eiskalt- an sich herunter sah, stellte er fest, dass er mit den Füßen immer noch im Wasser lag, ohne das gemerkt zu haben und robbte nun mühselig ganz heraus. Kein Wunder, dass er fror wie ein Hund. Weil er nicht wahrhaben wollte, was sein größter Alptraum war, nämlich querschnittgelähmt zu sein, überließ er sich immer wieder der gnädigen Bewusstlosigkeit, die ihn wie ein tröstender warmer Mantel umfing und betete fast dafür, nie mehr aufwachen zu müssen!

  • Es war gerade einmal kurz nach drei als Semir und Hartmut in Mündling, wo Sarah, Corinna, Klaus und die Kinder inzwischen auch wieder eingetroffen waren, ankamen. Semir hatte einen neuen Streckenrekord heraus gefahren-ein wenig über drei Stunden und Hartmut, der schon seit einer Stunde eigentlich hätte dringend zur Toilette gemusst, hatte sich nicht getraut zu fragen, ob sein Kollege mal kurz anhalten könne, zu konzentriert war Semir nach der Autobahn über die kurvigen Straßen geschossen. „Wollt ihr einen Kaffee? Kuchen ist auch noch genügend da!“ fragte Corinna, denn ihre Schwiegermutter war vorhin kurz da gewesen, um eine Auswahl vom Kuchenbuffett, wovon eine Menge übrig geblieben war, auf einer schönen Platte vorbei zu bringen und nach kurzem Überlegen stimmten Semir und Hartmut zu-man konnte ja durchaus die leckeren Sachen genießen und nebenbei Sarah und die anderen befragen.

    So saßen sie um den stylischen Esstisch, ließen sich die Köstlichkeiten schmecken und Semir war klar-Ben war hier nicht freiwillig verschwunden, der hätte sich doch den leckeren Kuchen nicht entgehen lassen! Gemeinsam gingen sie den gestrigen Tag durch und Semir fiel sofort auf, dass der Bräutigam nervöser wirkte als alle anderen. Corinna erzählte freimütig von ihrem Filmriss und Klaus bestätigte den einsilbig. War es ihm peinlich, dass sich seine frisch Angetraute betrunken hatte? Semir beschloss, den hinterher mal nochmals von Mann zu Mann zu befragen. Sarah konnte nur erzählen, dass Ben sie und die Kinder zum Wagen gebracht hatte und danach lediglich noch ein paar von Klaus Freunden den jungen Polizisten gesehen hatten, soweit sie herausgefunden hatten. „Mit denen muss ich sprechen-könntet ihr die gleich mal anrufen? Ach ja und dann möchte ich natürlich die Lokalitäten der Feier besichtigen-vielleicht entdecken Hartmut und ich etwas, was euch entgangen ist, danach würde ich nochmals zu dem Tümpel wollen, von dem das Handysignal kommt und dann sehen wir weiter!“ besprach Semir seinen Plan und irgendwie waren jetzt alle ein wenig beruhigt. Semir wirkte so zuversichtlich und entschlossen-er würde Ben finden! Was Semir ihnen nicht sagte war, dass er auch seinem Bauchgefühl folgte. Das sagte ihm, dass Ben am Leben war, ohne dass man das irgendwie beweisen konnte, aber er verließ sich auf seine Gefühle und Intuitionen-die hatten ihn in seinem Leben selten getrogen.


    Corinna hatte schon zum Telefon gegriffen und begann die drei Freunde, die Ben zuletzt gesehen hatten, anzurufen. Die lebten alle im Ort und waren mit Klaus aufgewachsen. Das war ein weiteres Detail, das Semir irritierte, warum rief der Bräutigam die nicht selber an? War der so ein Stoffel, aber eigentlich wirkte er auf den Deutschtürken gar nicht so-eher wie jemand, den ein schlechtes Gewissen drückte! Hatte der vielleicht irgendetwas mit Ben´s Verschwinden zu tun?
    Aber nun fuhren sie zunächst einmal die paar Meter zu der Gaststätte, wo die Hochzeitsfeier stattgefunden hatte. Corinna und Klaus betreuten Tim und Mia-Sophie derweil, denn man wollte die Kinder nicht schon wieder in ihre Sitze packen und herum ziehen, die Freunde des Bräutigams würden ebenfalls dorthin kommen. Tim hatte an Klaus einen Narren gefressen, der mit ihm gerade Verstecken spielte und Corinna konnte sich an dem Baby nicht satt sehen und kitzelte die bezaubernde Mia-Sophie, dass sie glucksend lachte und so konnte Sarah sich beruhigt ein wenig vom Acker machen-außerdem wäre sie dank Handy ja in wenigen Minuten zurück, wenn es notwendig wäre.

    Sarah begrüßte die drei jungen Männer, die bereits auf sie warteten und stellte Semir und Hartmut vor. „Herr Gerkhan-Semir- ist sozusagen der beste Freund der Familie und zudem noch ein Kollege meines Mannes, der ja wie ihr vielleicht wisst, ebenfalls Polizist ist und dieser Mann hier, Hartmut Freund, ist Kriminaltechniker und laut Aussage Vieler, ein Genie in seinem Fach. Ihr seid anscheinend die Letzten gewesen, die Ben gestern gesehen haben und jetzt wollte euch Semir ein paar Fragen stellen!“ tat Sarah der Form Genüge und nachdem sie sich alle mit Handschlag begrüßt hatten, die Freunde ebenfalls ihre Namen genannt hatten und man sich aufs „Du“ geeinigt hatte, begann Semir die Befragung. „Vielleicht zeigt ihr mir mal, wo ihr wart, als ihr Ben zuletzt gesehen habt!“ bat der Deutschtürke und so gingen die Drei voraus in die Scheune, die immer noch schön geschmückt war, allerdings waren die Gläser bereits wieder aufgeräumt. „Hier hatten wir uns gerade umgezogen, als Ben herein geschaut hat.“ erzählten sie. „Wann war das so ungefähr?“ fragte Semir und die Drei überlegten. „Das dürfte so zwischen halb und dreiviertel Zehn gewesen sein!“ und als Semir nun fragend guckte, übersetzte Hartmut sozusagen: „Sie meinen Viertel vor Zehn!“ dolmetschte er und Semir sah ihn erstaunt an. „Ich war hier in der Nähe in Nördlingen schon einmal ein paar Wochen in Urlaub und habe mir die geologischen Besonderheiten des Rieses angesehen-eine einmalige Gegend!“ erklärte Hartmut und Semir musste nun innerlich fast grinsend den Kopf schütteln. Für was interessierte sich Hartmut eigentlich nicht, aber das war klar-der einheimische Dialekt hier hatte schon seine Besonderheiten, da musste man sich erst einhören.


    „Wir haben ihm, während wir unsere Lederhosen angezogen haben, erzählt, dass wir in Kürze die Braut entführen würden und da mit G´stanzeln und allerlei Blödsinn zünftig gefeiert würde, danach ist er Richtung Hof abgezogen und seitdem können wir uns nicht mehr erinnern, ihn nochmals gesehen zu haben!“ berichteten sie und sie gingen die Strecke ab, ohne dass Hartmut oder Semir etwas Auffälliges entdecken konnten. „Ist euch sonst noch etwas aufgefallen, was euch komisch vorgekommen ist-egal was?“ fragte nun Semir und jetzt zögerte einer der drei. „Ich weiss ja nicht, ob das etwas damit zu tun hat, aber es waren sogar zwei merkwürdige Sachen. Erstens lag Corinna´s Brautstrauß, als wir zum Saal gingen, hier auf dem Boden und dann hat noch jemand mein Auto geklaut!“ sagte der junge Mann und jetzt sah ihn Semir mit offenem Mund an. „Habt ihr den Diebstahl der Polizei gemeldet und was sagt Corinna zu der Sache mit dem Brautstrauß, sowas geht ja nicht so leicht verloren!“ fragte er und der Bestohlene zuckte mit den Schultern. „Ich habe mein Auto ja wieder-es ist dieser verrostete Polo hier, der sowieso in vier Wochen verschrottet wird, wenn endlich mein Neuwagen geliefert wird, auf den ich schon seit drei Monaten warte-übrigens auch ein BMW. Ich hatte den Schlüssel stecken, weil ich meine Klamotten da rein legen wollte und als ich rauskam, war der einfach weg. Heute Morgen hat mich ein Jäger aus dem Dorf angerufen-der hat ihn so zwei Kilometer von hier entfernt neben der Straße hinter einem Gebüsch gefunden und dachte, ich hätte den alkoholisiert in den Acker gesetzt. Dem Auto fehlt nichts-wobei es bei dem Hobel auch schon egal gewesen wäre und wer ihn genommen hat, keine Ahnung! Ich dachte mir, vielleicht hat sich den jemand aus dem Nachbarort „ausgeliehen“, der unten in der Wirtsstube war, damit er nicht nach Hause laufen muss und hat dann doch mit ein paar Promille im Blut Angst um seinen Führerschein gekriegt und ihn dort abgestellt!“ berichtete er und Semir fragte mit offenem Mund, ob sowas hier üblich sei, woraufhin ihm ein wenig verlegen bestätigt wurde, dass das schon mal vorkam, nur normalerweise hätte man den Autobesitzer zuvor kurz gefragt-vermutlich hatte man ihn nur gerade nicht gefunden. Man wollte hier auf dem Dorf keinen Ärger mit der Polizei haben und regelte viele Sachen intern. „Hartmut-siehst du dir den Wagen nachher mal an?“ fragte Semir und der Rothaarige nickte-na klar-das hätte er sowieso gemacht, das hätte Semir nicht extra erwähnen müssen!


    „Und wie war das nun mit dem Brautstrauß?“ bohrte Semir weiter nach und nun hob ein anderer des Trios zu reden an. „Nun-als wir dann reingegangen sind, um die Braut zu entführen, lag der einfach so auf dem Boden!“ berichtete er und zeigte auf Aufforderung auf die Stelle. Semir und Hartmut musterten intensiv den aufgekiesten Hof. Direkt daneben war eine Spur, als hätte ein Wagen schnell beschleunigt und die Reifen hätten durchgedreht. „Und wo war die Braut derweil und warum hat die das mit dem Strauß nicht bemerkt?“ fragte Semir und nun berichtete das Trio, dass Klaus gerade am Telefon gewesen sei, als sie mit dem Brautstrauß nach oben gekommen waren. „Er hat gesagt, Corinna wäre nicht gut gewesen und sie hätte sich zuhause ein paar Minuten hingelegt und als sie wenig später dann wiederkam, war sie auch wirklich nicht-äh-ganz fit!“ drucksten sie herum. „Was heisst nicht ganz fit?“ fragte nun Semir und die Drei senkten den Blick zu Boden. „Na ja-sie hatte nen ganz schönen Zacken in der Krone und konnte kaum geradeaus laufen, aber sowas kann schon mal passieren!“ sagte der eine der Drei verlegen. „Auf jeden Fall verliefen dann die Brautentführung und der Rest des Abends ganz normal!“ bestätigten sie dann und jetzt meldete sich Sarah aufgeregt zu Wort: „Hört mal-das kann gar nicht sein! Ich hatte mich so gegen halb Zehn von Corinna und Klaus verabschiedet, da war sie stocknüchtern, die kann doch nicht in einer halben Stunde so zugeschlagen haben-nein da stimmt etwas nicht und vermutlich hat das auch was mit Ben´s Verschwinden zu tun!“ sagte sie und da konnten ihr Semir und Hartmut nur beipflichten.
    „Einstein-schaust du dir mal den Wagen und auch den Hof noch genauer an? Ich werde mich inzwischen mal kurz mit dem Bräutigam unterhalten!“ sagte Semir entschlossen und Hartmut war schon zum Kofferraum des BMW gelaufen und hatte seinen zugegebenermaßen ziemlich riesigen Rollkoffer heraus gewuchtet. Als er ihn öffnete, musste Semir beinahe schmunzeln-die Kleidung und persönliche Sachen nahmen darin nur den geringsten Raum ein, das Teil war prall gefüllt mit geheimnisvollen Apparaturen, Tüten und anderem Material-er hatte sich schon gewundert, dass Hartmut so viele Klamotten mitnahm, aber der konnte eben auch nicht aus seiner Haut! Semir überlegte noch kurz, ob er gleich die Wirtsleute noch befragen sollte, aber dann beschloss er, sich nun zunächst einmal Klaus vor zu nehmen-er war gespannt, was der ihm zu sagen hatte und so ließ er Hartmut erst einmal da und fuhr zusammen mit Sarah zum Brautpaar zurück.


    Ben war derweil wieder wach geworden. Seine Zähne schlugen aufeinander, er musste ständig husten und ihm war kalt, wie noch nie in seinem Leben. Das Ganze war irgendwie ein schrecklicher Alptraum und er hoffte jetzt nur, dass es Corinna und natürlich vor allem seiner Familie gut ging. Wie das Ganze zusammen hing und warum ihn die Scheichs aus dem Weg räumen wollten, erschloss sich ihm nicht, aber vermutlich würde das sowieso egal sein, denn wenn ihn jetzt nicht bald jemand fand, würde er hier nicht lange durchhalten. Allerdings war er sich angesichts seiner Lähmung gar nicht sicher, ob er unter diesen Umständen überhaupt weiter leben wollte-ein Leben im Rollstuhl als Pflegefall, vermutlich fürsorglich versorgt von Sarah, die ja immerhin in sowas Profi war, aber wollte er das? Nein, da wäre er lieber tot und so schloss er die Augen wieder und begann zu hoffen, dass es bald vorbei war. Das wollte er seiner Familie nicht antun!

  • Hartmut hatte sich zunächst den Polo genau angesehen. Obwohl der von außen ziemlich verrostet wirkte, war der Innenraum pikobello sauber. Er bat den Wagenbesitzer um seine Fingerabdrücke, die er in sein Handy einscannte, mit der Versicherung, die nicht zu vernetzen und auch seinen Klarnamen nicht einzugeben, sondern sie nach Abschluss der Ermittlungen sofort zu löschen. Gegen den jungen Mann wurde ja schließlich nicht ermittelt, sondern der war nur bereit zu helfen. Danach suchte Hartmut im Innenraum nach Spuren und fand es merkwürdig, dass tatsächlich nur sehr wenige und auch nur ausschließlich des Fahrers zu finden waren, so als ob man Fingerabdrücke abgewischt hätte. Der Fahrer beteuerte, dass er das Auto vor zwei Wochen zuletzt von innen sauber gemacht habe und Hartmut war jetzt klar, dass da jemand nicht erkannt werden wollte. Er war aber ein Fuchs und wusste, wo Leute manchmal in einem Fahrzeug hin fassten, ohne dass es ihnen bewusst war und tatsächlich fand er oben am Innenspiegel zwei verschiedene Abdrücke. Als er sie einscannte, pfiff er durch die Zähne. Der eine Abdruck war von Ben und der andere war dem Computerprogramm ebenfalls wohlbekannt-es war ein Einbrecher, der schon viele Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht hatte und erst seit wenigen Wochen wieder auf freiem Fuß war-Werner Kraus.


    Sarah und Semir kehrten also zum Haus des Brautpaars zurück. Die Kinder spielten hingebungsvoll mit den beiden freundlichen Erwachsenen und als Semir mit ernster Miene Klaus um ein Gespräch unter vier Augen bat, hängte Tim sich erst an dessen Arm und wollte ihn nicht gehen lassen. Erst das Versprechen, dass ihm Corinna ein Eis holen würde, konnte ihn davon überzeugen, sich nun doch wieder der Mama und deren Cousine zu widmen. Klaus, dessen Miene nun ebenfalls sehr ernst war, bat Semir ins Arbeitszimmer, aber bevor der auch nur einen Ton sagen konnte, begann Klaus schon zu reden. „Herr Gerkhan, ich zermartere mir seit gestern Abend den Kopf, was ich tun kann, um meine Frau zu schützen, aber mir ist jetzt aufgegangen, dass ich nicht auf die Forderungen der Menschen, die mich erpressen, eingehen kann. Ja sie haben richtig gehört-mir wurde gestern damit gedroht, dass meine Frau in einem Harem enden würde, wenn ich nicht mitspiele und militärische Geheimnisse Preis gebe, an die ich durch meine Tätigkeit im Hubschrauberbau heran komme!“ und nun berichtete er der Reihe nach von dem Anruf gestern, wie Corinna dann völlig daneben wieder zu ihm zurück gekehrt war und wie er voller Sorge nur daran gedacht hatte, sie zu schützen. „Ich hatte sogar einen kurzen Moment überlegt, ihren Kollegen, der ja jetzt in meiner Verwandtschaft ist, ins Vertrauen zu ziehen, aber da war der schon verschwunden und jetzt bin ich mir eigentlich hundertprozentig sicher, dass die Erpresser, die ein wenig gebrochenes Deutsch sprachen-es könnten also durchaus Araber sein- irgendetwas damit zu tun haben. Ich hoffe nur, dass er durch mein bisheriges Schweigen nicht zu Schaden gekommen ist, aber ich bitte sie inständig, meine Frau zu schützen. Der darf nichts passieren, ansonsten werde ich meines Lebens nicht mehr froh!“ sagte er und nun nickte Semir.

    Er befragte nun Klaus näher zu dem Hubschrauber und der bestätigte, dass er seit zwei Jahren als Konstrukteur mit an dieser Neuentwicklung arbeitete, von der der Prototyp jetzt gerade in der Flugtestphase war. „Ohne nähere Einzelheiten preis zu geben, kann man sagen, dass dieser Helikopter einen immensen Wert darstellt und sich meine Firma da gerade aus dem Nahen Osten viele Aufträge erhofft. Der Einsatz dieser Fluggeräte kann kriegsentscheidend sein, gerade in den Krisengebieten dort unten. Die Waffensysteme, die eingebaut werden können-das macht dann das Militär selber, wir fertigen nur die Halterungen- sind auf dem neuesten Stand der Technik, durch Störsender, eine Speziallackierung und auch seine Wendigkeit und Geschwindigkeit ist es fast unmöglich diesen Hubschrauber abzuschießen, also stellen die Baupläne einen riesigen Wert dar!“ erzählte er freimütig und nun wurde Semir´s Miene ernst. Dieser Fall hier hatte Dimensionen, die er nicht erwartet hatte und eigentlich müsste man jetzt die Staatssicherheit, das BKA, das Militär und noch viele andere Institutionen verständigen, aber er war sich ziemlich sicher, dass denen Ben völlig egal war-den würden sie als Baueropfer sehen, was galt schon das Leben eines einfachen Kriminalbeamten gegen die nationale Sicherheit? Die würden den Fall an sich reißen, er war dann raus und würde nach Köln zurück beordert und zum Schweigen verdammt werden. Es musste eine andere Möglichkeit geben und wenn er Ben gefunden hatte, konnten die anderen Heinis den Fall gerne haben, aber keine Sekunde eher. Es war aber auch klar-nur so ganz alleine er und Hartmut wären da ziemlich gefordert, aber vielleicht konnten sie es trotzdem schaffen-er musste jetzt gleich einmal mit seinem Kollegen reden und sie mussten einen Schlachtplan erstellen und ganz rasch Ben finden, von dem er mit unertrüglicher Sicherheit wusste, dass der noch am Leben war, aber wenn er seinem Bauchgefühl trauen konnte, wohl nicht mehr lange!


    Obwohl ihn der Bräutigam gesiezt hatte, reichte Semir ihm nun die Hand: „Ich heiße Semir und würde vorschlagen, wir duzen uns jetzt, denn du musst auch befürchten, dass du beobachtet wirst und ich möchte nicht als Polizist erkannt werden, sondern als Freund der Familie gelten. Wenn wir jetzt die Sache an die offiziellen Behörden weiter geben, sind wir raus. Ich befürchte aber, dass das Leben meines Kollegen dann keine Rolle mehr spielt-und Corinna ist denen sicher auch nicht sonderlich wichtig, im Gegensatz zu uns. Ich würde vorschlagen, wir bringen deine Frau, Sarah und die Kinder in Sicherheit und versuchen dann gemeinsam Ben zu finden und ich habe auch schon eine Idee, wie das gestern Abend wohl abgelaufen sein könnte. Wenn mein Verdacht sich bestätigt, müsste er sich noch irgendwo hier in der Nähe befinden und deshalb brauchen wir deine Ortskenntnisse und deine Mithilfe. Ich hätte die Frauen und Kinder gerne in einer Schutzwohnung untergebracht, aber dazu müssen wir sie nach Köln schicken, denn nur dort kann ich das unter der Hand organisieren. Du erzählst einfach Allen, dass Corinna krank sei und so nen merkwürdigen Ausschlag habe, dann wundert sich niemand, wenn die sich nicht blicken lässt und sobald es dunkel wird, sollen die Frauen mit den Kindern in Sarah´s Wagen aufbrechen. Ich begleite sie noch bis zur Autobahn, denn wenn wir einen Verfolger hätten, würde mir der auf diesen einsamen und kurvigen Sträßchen auffallen und dann versuchen wir Ben zu finden. Du überlegst dir bitte zunächst einmal, wo du hier in der Nähe einen Gefangenen verstecken würdest, denn eigentlich müssten die ja ein Versteck vorbereitet haben, wo sie Corinna untergebracht hätten, wenn du gestern nicht mitgespielt hättest, was sie ja nicht mit Sicherheit erwarten konnten. Ich denke dort wird jetzt Ben fest gehalten, also streng dich an! Ach ja-und lass dir mal durch den Kopf gehen, wer erstens weiss, dass du an diese speziellen Pläne rankommst und auch, wer dir so nahe kommt, dass er sich dein Handy schnappen kann!“ instruierte er Klaus und inzwischen hatte auch Hartmut schon versucht ihn zu erreichen, um ihm mitzuteilen, was er heraus gefunden hatte. Semir hatte ihn kurz weg gedrückt, ging aber nun vors Haus, rief zurück und hörte gespannt zu, was sein Kollege ihm zu berichten hatte-ja die Puzzleteile fügten sich in seinem Kopf langsam zusammen. Ben hatte vermutlich Corinna´s Entführung beobachtet, das Auto mit dem steckenden Schlüssel annektiert und war dann in die Hände der Entführer geraten. Sie konnten vielleicht noch die Stelle besichtigen, wo der Polo aufgefunden worden war, aber dann mussten sie die drei Freunde von Klaus zu Stillschweigen verdonnern und sich unauffällig verhalten, bis die Frauen und Kinder in Sicherheit waren, besprach er mit Hartmut, dem er nun kurz von seinen neuesten Erkenntnissen berichtete.

    Aber eines machte er noch, denn langsam wurde es Abend und bald würden die Frauen aufbrechen, die ja noch gar nichts von ihrem Glück wussten. So rief er die Chefin an, die gerade einen schönen Spaziergang am Rhein entlang machte. „Frau Krüger-stellen sie bitte keine detaillierten Fragen, denn ich könnte ihnen keine ehrlichen Antworten geben, aber ich bräuchte dringend für Ben´s Frau, seine Kinder und Sarah´s Cousine eine Schutzwohnung für einige Tage-können sie da was organisieren?“ fragte er und Kim seufzte auf. Oh nein-schon wieder diese Geheimnisse, aber sie wusste auch, sie konnte Semir vertrauen und so sagte sie zu, da etwas vorzubereiten. „Sarah soll zur Past kommen-Bonrath und Jenny haben Nachtdienst, die werden sie in einem Polizeikombi zu einer Schutzwohnung bringen, ich hoffe sie stecken da nicht in etwas drin, was uns alle Kopf und Kragen kosten kann!“ unkte sie und als von Semir keine Antwort kam, seufzte sie auf-sie hatte schon so ihre Befürchtungen, aber trotzdem würden sie zusammen helfen-das war sie ihm und auch Ben schuldig!

  • Aber jetzt musste er dringend ausführlich mit Hartmut sprechen und die Frauen darauf vorbereiten, dass sie in wenigen Stunden nach Köln fahren sollten. Also ging Semir wieder ins Haus und trat zu Sarah und Corinna, die gerade das Baby fütterten und sich leise unterhielten. „Sarah-Corinna, ich habe ein großes Anliegen an euch beide. Wir kommen in der Aufklärung des Falles inzwischen voran und ich hoffe, wir werden bald einen Hinweis finden, wo wir nach Ben suchen können, aber es liegt eine konkrete Drohung gegen dich-Corinna- vor, wie mir dein Mann eben erzählt hat und ich kann nicht ausschließen, dass auch du- Sarah- in Gefahr bist!“ benutzte er auch Corinna gegenüber das vertraute „Du!“ Er war der Ältere und konnte das so einfach anbieten. Die beiden Frauen sahen erschrocken auf und Corinna suchte ängstlich den Blick ihres Mannes, der dem aber auswich und schuldbewusst zu Boden blickte.
    Weil es sowieso keinen Wert hatte, Sarah irgendetwas vorzumachen-kam es von ihrem Beruf als Krankenschwester oder war es die langjährige Beziehung mit einem Polizisten-schenkte er den beiden Frauen reinen Wein ein, ließ auch Klaus von dem Telefongespräch und der Drohung erzählen und bekräftigte die akute Gefahr, in der die beiden schwebten. „Wenn da tatsächlich Araber verwickelt sein sollten-dafür sprechen die Erwähnung des Harems und der Akzent- haben die keine große Achtung vor Frauen und auch du Sarah bist blond und damit vielleicht auch in deren Beuteschema. Die werden alles versuchen, uns dazu zu bringen, die Füße still zu halten und ob die auf Kinder, die nicht ihre eigenen sind, irgendwelche Rücksichten nehmen, wage ich zu bezweifeln. Du bist es deiner Familie und auch Ben schuldig, auf dich zu achten und die Kinder aus der Schusslinie zu bringen!“ appellierte Semir nun an Sarah´s Vernunft, die zunächst den Kopf geschüttelt hatte und hier bleiben und weiter nach Ben hatte suchen wollen. Nach einiger Überlegung stimmte sie dann aber schweren Herzens zu-sie wollte auf gar keinen Fall Tim und Mia-Sophie in Gefahr bringen und sie würde Ben nie mehr in die Augen sehen können, wenn denen durch ihre Unvernunft etwas geschah. Sie war schon mehr als einmal den Anweisungen Semir´s nicht nachgekommen und hatte ihren eigenen Kopf durchgesetzt, aber sie musste ehrlicherweise gestehen, dass er immer Recht behalten hatte und nur mit viel Glück war es bisher gut ausgegangen, aber als Mutter war man für seine Kinder verantwortlich, gerade wenn der Vater verschwunden war und so würde sie jetzt einfach tun was der erfahrene türkische Polizist verlangte und mit Corinna nach Köln in die Schutzwohnung fahren. Außerdem war sie ihm dankbar, dass er ihnen einfach die Wahrheit gesagt hatte und auch Klaus hatte seine Corinna, die jetzt leise schluchzte, liebevoll in die Arme genommen. Gott sei Dank hatte Sarah das Gepäck bereits im Wagen, sie hatte im Hotel zwar noch nicht ausgecheckt, aber das konnte man vielleicht online erledigen. So packte auch Corinna noch ein paar Sachen zusammen, sie aßen etwas und packten Speisen und Getränke ein, um für die weite Fahrt und die erste Zeit in der fremden Wohnung gerüstet zu sein und warteten unter Klaus´ Schutz auf den Einbruch der Dunkelheit.


    Semir war indessen zu Hartmut und den drei engen Freunden des Bräutigams gefahren. Nachdem man ja nicht wusste, wer alles in diesen Fall verwickelt war, nahm Semir seinen rothaarigen Kollegen beiseite und brachte ihn auf den neuesten Stand. „Oh Erpressung, internationale Industriespionage, Militärgeheimnisse-dieser Fall hat ja wesentlich größere Dimensionen, als ich angenommen hatte!“ staunte er und zeigte Semir dann das Bild zu den Fingerabdrücken, die er gefunden hatte. „Dieser Werner Kraus stammt hier aus der Gegend, ist aber ein schwerer Junge und hat die letzten drei Jahre in Kaisheim, das ist ein großes Gefängnis für Mehrfachtäter und Schwerverbrecher, hier in der Nähe verbracht. Er wurde vor vier Monaten entlassen, aber vielleicht sollten wir ihm mal auf den Zahn fühlen, wie seine Fingerabdrücke in den gestohlenen Wagen gekommen sind-eventuell erzählt er uns was, denn wir können ihn deswegen ja mit Leichtigkeit wieder einwandern lassen.“ schlug er vor und hatte auch die aktuelle Meldeadresse des Gesuchten parat.

    Zuvor allerdings ließen sie sich von dem Polobesitzer noch den Ort zeigen, wo der Wagen aufgefunden worden war und als Hartmut wie zufällig ein wenig in der Gegend herum schlenderte, fand er neben einem Gebüsch, wo das Gras auffällig zerdrückt war, Blutspuren. Auch Reifenspuren waren zu sehen, die des Polo, aber auch ein anderes Profil, das sich mit den Spuren im Hof deckte und nachdem Hartmut die Beweise gesichert hatte, trat er zu Semir, der ebenfalls sorgenvoll das Blut betrachtet hatte. „Vielleicht ist es ja Tierblut!“ sagte er, aber Semir hatte irgendwie das Gefühl, dass sie soeben eine weitere Spur von Ben gefunden hatten und das ließ sein Herz schwer werden-oh Gott, hoffentlich fanden sie ihn bald!

    Sie schickten die hilfsbereiten jungen Männer nach Hause, baten sie aber Stillschweigen zu bewahren und die Drei sicherten das auch zu. Danach machten sich die beiden Polizisten auf, um noch vor Einbruch der Dunkelheit zu Werner Kraus zu fahren, der in einem Nachbarort gemeldet war. Ihr Navi führte sie zu einem etwas heruntergekommenen Mietshaus in einem Dorf, einige Kilometer weiter, aber auf ihr Läuten machte niemand auf. Eine Frau, die neugierig aus dem Parterrefenster sah und eine Zigarette nach der anderen paffte, sagte: „Wenn ihr den Werner sucht, dann habt ihr Pech-der ist heute schon vor Tau und Tag weg gefahren, er wollte jemanden besuchen, der weiter weg wohnt, hat er mir erzählt, aber wenn ihr mich fragt, hat der kalte Füße bekommen-ihr seid doch Bullen?“ fragte sie ungeniert und Semir und Hartmut wechselten einen Blick, stand ihnen das auf die Stirn geschrieben? Aber so stiegen sie unverrichteter Dinge wieder in ihren BMW und hofften, dass die ungepflegte Frau am Fenster auch die Wahrheit gesagt hatte, aber sie hatten jetzt keine Zeit in die Wohnung illegal einzusteigen und ohne die Behörden zu informieren bekamen sie auch keinen Durchsuchungsbeschluss, so viel war klar! Außerdem wurde es gerade dunkel und Semir würde nun die Frauen bis zur Autobahn begleiten, während Hartmut einige Analysen durchführen und bei Klaus warten würde, bis sein Kollege zurück kam und dann würden sie beginnen nach Ben zu suchen-Klaus überlegte sicher schon die ganze Zeit, welche möglichen Verstecke er ihnen zeigen konnte.


    Ben war in der Höhle inzwischen wieder zu sich gekommen. So sehr er sich wünschte, wieder in die tröstliche Bewusstlosigkeit ab zu tauchen, es gelang ihm nicht und so schlugen klappernd seine Zähne aufeinander, der Rücken und die beiden Schussverletzungen schmerzten wie verrückt, aber immer noch hatte er kein Gefühl in den Beinen und so sehr er versuchte, sich zu bewegen, ab der Hüfte abwärts ging einfach gar nichts. Der Husten wurde immer schlimmer und irgendwann liefen die Tränen lautlos über Ben´s Gesicht, als ihn die völlige Verzweiflung übermannte. In einem Rest seines Bewusstseins hoffte er, gefunden zu werden, aber sein Verstand wehrte sich mit aller Kraft gegen die Tatsache, querschnittgelähmt zu sein. Nein-das konnte er seiner Familie nicht antun, ihn als Pflegefall zurück zu bekommen und so wünschte er sich nur, dass es bald vorbei wäre, während die Dunkelheit langsam herein brach und die Fledermäuse unmittelbar über ihm mit ihren merkwürdigen Rufen aufbrachen, um auf Beutezug zu gehen. Sie flogen teilweise so dicht über ihn hinweg, dass er den Luftzug ihrer Flügel spüren konnte, aber keine berührte ihn-klar die hatten ja so eine Art Sonar- das ihnen auch in völliger Dunkelheit eine Ortung ermöglichte. Er aber lag alleine, verlassen, frierend und in seiner Verzweiflung einfach da und bibberte vor sich hin, während er nun um sich herum überhaupt nichts mehr erkennen konnte.

  • Sarah hatte noch telefonisch im Hotel ausgecheckt, die Schlüsselkarten versprach sie auf dem Postweg zurück zu senden und die Rechnung sofort online zu begleichen und schwindelte, dass eines der Kinder krank geworden sei und sie deshalb schon nach Hause gefahren wären. Nun hatten die Kinder bereits frische Windeln und ihre Schlafanzüge an und rieben sich auch die Augen, denn ihre normale Schlafengehzeit war eigentlich schon überschritten. So schliefen die beiden sofort ein, als sich der Wagen in Bewegung setzte und Sarah fuhr über die einsamen Sträßchen, gekonnt in einiger Entfernung und auch mit zwischenzeitlichem Überholen, verfolgt von Semir, der sie professionell beschattete. Bereits nach 15 Minuten war er sich ziemlich sicher, dass niemand dem Wagen folgte, denn die Straßen waren überwiegend wie ausgestorben. Wie ausgemacht folgte er ihnen noch bis zur Autobahn und als Sarah sich auf die A7 begeben hatte, wendete er und fuhr so schnell er konnte zurück nach Mündling. Hartmut hatte inzwischen sozusagen ein kleines Labor im Arbeitszimmer aufgebaut, allerdings konnte er natürlich keine Genanalysen machen, denn dazu brauchte man anderes Equipement, also wussten sie immer noch nicht, ob das Menschen-oder Tierblut war. Er konnte allerdings anhand des Profils die Reifenmarke feststellen und druckte eine Liste aus, auf welchen Fahrzeugen die verwendet werden konnte. Das waren allerdings ziemlich viele, ob sie das weiterbringen würde, stand in den Sternen! Nebenbei hatte Hartmut aber auch nachgedacht und als Semir knappe zwei Stunden später-es war inzwischen schon 23.30 Uhr-zurück kam, unterbreitete er ihm den Plan, den er mit Klaus gemeinsam ausgeheckt hatte.


    „Semir-wir werden uns jetzt sofort auf den Weg machen-Klaus hat schon verschiedene Ideen, wo man hier in der Nähe jemanden verstecken kann und hoffentlich finden wir Ben ziemlich schnell. Morgen allerdings wird Klaus ganz normal zur Arbeit gehen und tatsächlich versuchen, die Pläne zu fotografieren, auch wenn das ein hohes Risiko bedeutet, denn wenn er entdeckt wird, ist seine Existenz vielleicht bedroht. Allerdings ist er schon so lange in der Firma und so vertrauenswürdig, dass ihm das wohl niemand zutraut, also könnte es klappen, darum haben sich die Erpresser auch wohl ausgerechnet an ihn gewandt! Klaus kann sich auch nicht vorstellen, dass einer seiner engen Freunde der Mittelsmann ist und das Handy an sich nehmen soll, die wissen gar nicht an was er genau arbeitet. Allerdings könnte es irgendein Arbeitskollege sein, der eben nicht in die Bereiche der höchsten Geheimhaltungsstufe gelangen kann, das sind nämlich gar nicht so viele Menschen in diesem riesigen Betrieb-die meisten bekommen nur Teile der Pläne zu Gesicht und wissen auch nicht, was dann nach der Fertigstellung des Teils nachträglich noch verändert wurde, denn jedes einzelne Bauteil durchläuft oft mehrere Abteilungen. Ich schlage vor, Klaus schmuggelt morgen die Pläne tatsächlich raus, ich verändere sie so, dass es nicht auffällt und der so eventuell nachgebaute Hubschrauber auf keinen Fall flugfähig ist und dann hält er die Augen offen und versucht heraus zu finden, wer dann an sein Handy will-nur morgen darf das auf gar keinen Fall passieren!“ erklärte er und Semir, der aufmerksam zugehört hatte, nickte. Er hoffte, dass der Aufbruch der Frauen nicht bemerkt worden war und nun stellten sie Corinna´s Kleinwagen in den Hof, versteckten Semir´s BMW in der Garage und brachen in Klaus´ großem Geländewagen auf, Ben zu suchen.


    Der Vollmond schob sich immer wieder hinter Wolkenfetzen hervor und tauchte die verlassene Gegend in ein unwirkliches Licht. Nur einen guten Kilometer vom Dorf entfernt, stellte Klaus den Wagen ein wenig versteckt am Waldrand ab. „Dort oben ist die sogenannte Wichteleshöhle. Wir leben hier in einem Karstgebiet, es gibt also viele unterirdische Höhlensysteme, wobei die meisten Höhlen viel zu klein sind, um einen Menschen dort unter zu bringen, aber ich denke, so etwas könnte ein mögliches Versteck sein. Zu dieser Höhle kommt man allerdings das letzte Stück nur zu Fuß, die liegt am Hang und hat keinen Zufahrtsweg. Wir haben schon als Kinder dort immer mit Gruseln gespielt, denn es gibt wohl zu jeder Höhle mindestens eine Sage. Angeblich hat diese Höhle durch ein unterirdisches Gangsystem eine Verbindung zum Kloster Kaisheim, was ich persönlich mir nicht vorstellen kann, denn die Entfernung beträgt fast drei Kilometer. Allerdings kommt man nur ein Stück weit in den Gang hinein und dann ist dort ein massives Gitter, vermutlich, dass da niemand in dem Höhlensystem verloren gehen kann. Allerdings befindet sich ein Schloss an dem Gitter, also wenn jemand einen Schlüssel hat, kommt er durchaus dort hinein. Ich könnte mir das als mögliches Versteck vorstellen“, berichtete er und ging katzengleich durch den wundervollen, aber doch etwas gruseligen Laubwald voraus. Er hatte eine gute Taschenlampe dabei und auch ihre Handys konnte man ja zur Beleuchtung verwenden, allerdings war es, als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nicht nötig die einzuschalten, denn dank dem Vollmond konnte man zumindest Schemen erkennen.
    Zügig näherten sie sich der Höhle und überall lagen schon große Findlinge herum, die wohl beim Einschlag des riesigen Meteoriten aus dem Rieskrater gesprengt worden waren. Immer mal wieder rief ein Käuzchen und gerade Hartmut, der als Stadtkind selten nachts im Wald gewesen war und die meiste Zeit vor seinem PC verbrachte, kam sich sehr verloren vor, das war so gar nicht seine Welt und außerdem war es ganz schön anstrengend durch den Wald bergan zu stapfen. Als er auf die Uhr sah, war es wenige Minuten vor Mitternacht und der rothaarige Techniker, der auch mit einer blühenden Fantasie gesegnet war, musste schnell an etwas anderes denken, als dass nun die Geisterstunde näher kam. Als sie sich der Höhle näherten, hob Klaus plötzlich die Hand und sie verharrten und lauschten auf die merkwürdigen Geräusche, die nun plötzlich zu hören waren. Ein geheimnisvoller Singsang war zu vernehmen und allen dreien stellten sich die Nackenhaare auf. Irgendwas war hier im Gange, aber was-und hatte Ben etwas damit zu tun?


    Ben wurde derweil von immer schmerzhafteren Hustenstößen geplagt. So sehr er auch fror, trotzdem merkte er, wie er Fieber bekam und wunderte sich eigentlich, wie sein Körper doch noch dazu fähig war, irgendeine Wärme zu produzieren. Allerdings waren seine Extremitäten eiskalt und als er vorsichtig an sich herunter tastete, konnte er es fast nicht glauben, dass wirklich der untere Teil seines Körpers nicht zu ihm zu gehören schien. Er berührte seine Oberschenkel, die schlaff unter ihm lagen, kniff sogar hinein, aber er spürte sie nicht-nur eben mit der Hand- und wieder entrang ein Schluchzen sich seiner Kehle. Jetzt war es nicht mehr so stockdunkel in der Höhle, aber wenn er seinem Zeitgefühl trauen konnte, war es noch nicht die Morgendämmerung, die herein brach. Ihm fiel ein, dass in dieser Nacht Vollmond sein würde-normalerweise passte er da nicht auf und schlief wie ein Stein, aber Sarah klagte da immer über Schlafstörungen und wanderte nächtens durchs Haus. Wie spät es wohl war und suchten sie schon nach ihm? Er lauschte in sich hinein und obwohl er ja eigentlich schnell sterben wollte, um seiner Familie nicht zur Last zu fallen, blieb doch noch ein Funken Hoffnung, dass Semir ihn finden würde. Dass er nach ihm suchte war sonnenklar-dasselbe hätte er auch für seinen besten Freund getan, aber hatte er eine Chance ihn hier, in dieser Eishöhle zu finden?

  • Semir tastete nach seiner Waffe und zog sie nach kurzer Überlegung aus dem Holster. So lange bis sie wussten, wer hier sang, ging er davon aus, dass das Verbrecher sein könnten. Sie schlichen näher und die Wortfetzen, die sie verstehen konnten, deuteten darauf hin, dass hier eine schwarze Messe abgehalten wurde. Eine laute männliche Stimme dröhnte: „Darum werden wir dir Satan, nun dieses Opfer bringen, sein Blut wird uns in deinen erlauchten Kreis befördern und uns eins werden lassen mit dir!“ und eine eher noch kindlich klingende weibliche Stimme kreischte nun voller Entsetzen: „Nein-das könnt ihr nicht machen, ihr könnt ihn doch nicht einfach umbringen!“ und das war für Semir und die anderen beiden Männer das Startsignal. Semir sah Ben im Geiste auf einem Opferaltar von Satanisten getötet vor sich, das musste um jeden Preis verhindert werden und darum stürmten die drei Männer nun ohne Rücksicht auf Verluste nach vorne und Semir rief mit aller Autorität in der Stimme, die er aufbieten konnte und mit gezückter Waffe. „Sofort aufhören-Polizei!“ und nun standen sie auch schon an einem schaurigen Ort.


    Im Hintergrund erhob sich ein massiver Fels und vor dem Höhleneingang brannte ein kleines Lagerfeuer, das von einer Seite eine gespenstische Zeremonie erhellte. Fünf Fackeln waren in den Boden gerammt und mit Asche war auf den Waldboden ein Pentagramm gemalt. Fünf schwarz gekleidete Personen in langen schwarzen Umhängen mit weiß leuchtenden Gesichtern bildeten den Chor, der eben noch den monotonen Singsang von sich gegeben hatte, aber jetzt erschrocken verstummt war. In der Mitte war ein flacher Stein, der tatsächlich aussah wie ein Opferaltar und darauf kauerte ein zitterndes schwarzes kleines Katerchen und der Junge in der Mitte hatte gerade ansetzen wollen, es zu töten. Als Semir mit schneidender Stimme: „Waffe weg!“ donnerte, ließ der selbst ernannte Hexenmeister, der höchstes sechzehn war, erschrocken das Küchenmesser fallen, hob die Hände und wimmerte: „Wir haben überhaupt nichts gemacht, das war alles nur Spaß!“ und ein Mädchen, das auch nicht älter war und anscheinend diejenige gewesen war, die gerufen hatte, stürzte nun nach vorne und barg das Kätzchen in ihren Armen.
    Semir steckte nun als Erstes die Waffe weg, denn wenn eines klar war, hier waren keine gewaltbereiten Verbrecher am Werk, sondern sechs Jugendliche, die sich einen üblen Scherz erlaubten. „Was fällt euch ein-so mitten in der Nacht hier im Wald und was sollte das mit dem Kätzchen?“ fragte er und Klaus hatte nun seine helle LED-Taschenlampe angeknipst und in die Gesichter der Jugendlichen geleuchtet. „Euch kenne ich!“ rief er und erwähnte zumindest einen Teil der Namen. „Bitte nichts unseren Eltern sagen!“ heulte nun ein weiteres Mädchen. „Wir kriegen sonst mächtig Ärger, Handyverbot oder sowas!“ flehte sie. „Halten wir einmal fest-so wie ich das sehe, seid ihr alle minderjährig und neben diesem ganzen Hokuspokus wolltet ihr euch gerade der Tierquälerei schuldig machen!“ sagte Semir nun drohend und einer der Jungs gab zu, dass ihnen die kleine Katze zugelaufen war und sie die Gelegenheit hatten beim Schopf ergreifen wollen, ein Ritual durchzuführen, das sie aus dem Internet gezogen hatten. Auf dem Boden stand ein Drahtkäfig, in dem die Katze wohl hergebracht worden war und nachdem alle beteuert hatten, dass sie sofort nach Hause gehen würden-die Fahrräder lehnten gut versteckt unten an einigen Bäumen-kamen sie mit einer Ermahnung davon.
    Auf Hartmut´s Frage, verneinten sie auch, irgendwelche merkwürdigen Beobachtungen rund um die Höhle gemacht zu haben. Das Mädchen schob das Katerchen wieder in den Käfig und sagte unglücklich: „Ich darf keine Katze haben, meine Mum ist allergisch!“ und so rief Semir: „Haut ab und macht nie wieder so einen Blödsinn!“ und wie der Wind stoben die sechs Jugendlichen nun davon, nur der Käfig mit der hübschen schwarzen kleinen Katze blieb zurück. „Na du Kleiner!“ sagte Klaus und hob den Käfig hoch. „Ich glaube, jetzt hat Corinna die kleine Katze, die sie sich schon immer gewünscht hat. Wir wollten nur noch ins neue Haus einziehen und die Hochzeit hinter uns haben, bevor wir uns eine anschaffen, aber vielleicht hat das Schicksal so entschieden!“ sagte er liebevoll und das Katerchen sah ihn mit großen Augen furchtlos an, maunzte und drückte sich durch das Drahtgitter an die streichelnde Hand.
    Semir hatte derweil die hell leuchtende Taschenlampe ergriffen und war zum Höhleneingang gegangen. Nach wenigen Metern kam tatsächlich das verschlossene Metallgitter, von dem Klaus berichtet hatte, aber als ihm Hartmut, der ihm gefolgt war, nun leuchtete, hatte Semir das mit dem Dietrichsatz, den er fast immer bei sich trug, in wenigen Minuten geöffnet. Sie tasteten sich noch etwa drei Meter voran, als ein massiver Felssturz ein weiteres Vorankommen verhinderte. Eines war klar-hier ging es nicht weiter und Ben war ebenfalls nicht da! So zogen sie sich wieder zurück, Semir verschloss das Gitter wieder und nachdem sie die Fackeln und das Lagerfeuer gelöscht hatten, machten sie sich-nun mit Beleuchtung und Katzenkäfig-zurück zu Klaus´ Wagen. „Ich werde mir einen der Jungs morgen nochmals kaufen-die sollen ihren Müll noch wegräumen!“ sagte Klaus, während sie wieder ins Auto stiegen und zum nächsten möglichen Versteck fuhren. Das war eine Feldscheune, aber auch hier entdeckten sie keine Spur von Ben, wie auch an den nächsten beiden Orten, die Klaus sich überlegt hatte.


    Als es kurz nach zwei war, läutete Semir´s Telefon. „Hallo-hier spricht Jenni-Sarah, ihre Cousine und die Kinder sind wohlbehalten in der Schutzwohnung angekommen-ich soll euch liebe Grüße ausrichten und ihr sollt mir sofort Bescheid sagen, wenn ihr Ben gefunden habt-die privaten Handys sind aus, ich habe ihnen ein Prepaidhandy gegeben, damit sollen sie euch aber nicht direkt kontaktieren, sondern aus Sicherheitsgründen zuerst mich oder Susanne und wir leiten dann die Informationen weiter!“ teilte sie mit und Semir bestätigte das übliche Vorgehen.


    Das Kätzchen hatte derweil zu miauen und im Käfig zu kratzen begonnen, die drei Sucher gähnten die ganze Zeit verhalten-es war ein langer Tag gewesen und so sagte Semir nun enttäuscht: „Blasen wir die Suche für heute ab, bevor noch etwas passiert. Klaus, du musst ja morgen-ich meine heute- auch noch in die Firma und die Pläne beschaffen, wenigstens ein paar Stunden Schlaf solltest du dir gönnen und Hartmut und ich werden nachdenken, wie es weiter geht!“ überlegte er und so fuhren sie ins Haus zurück. Klaus füllte noch vom Sandhaufen hinter dem Haus, der vom Bau übrig geblieben war, eine flache Wanne, stellte sie in die Waschküche, daneben einen Korb mit einer kuscheligen Decke und dazu zwei Schalen-eine mit Wasser und die andere mit Fleisch- und Wurstresten aus dem Kühlschrank. „Was Besseres habe ich gerade noch nicht für dich!“ sagte er liebevoll zu dem kleinen Katerchen, bevor er es aus dem Käfig ließ. Der strich ihm sogar zunächst einmal um die Knöchel, wie als Zeichen der Dankbarkeit, begann dann heißhungrig zu fressen, benutzte das provisorische Katzenklo und rollte sich dann zufrieden in dem kuschligen Körbchen zusammen und nun konnte Klaus endlich auch zu Bett gehen und wie die anderen beiden, die im Gästezimmer ihr Plätzchen gefunden hatten, noch ein paar Stunden Schlaf ergattern.


    Ben hatte derweil die Fledermäuse beobachtet, die nach und nach von ihren nächtlichen Beutezügen zurück kamen und wieder kopfüber von der Decke hingen. Mal war es ein wenig heller, dann wieder dunkler, anscheinend wie der Mond gerade von Wolkenfetzen verdeckt wurde. Er hatte sogar ein paarmal um Hilfe gerufen, in der Hoffnung, irgendjemand würde ihn hören. Als er großen Durst bekam, zog er sich irgendwie unter Schmerzen mit dem Oberkörper zum Wasser und trank aus der hohlen Hand ein paar Schlucke, aber dann wurde ihm kotzübel und er hörte wieder damit auf. Wenn man irre Schmerzen hatte, waren Essen und Trinken irgendwie nebensächlich und die beiden Schusswunden pochten und sein Rücken brachte ihn schier um. Ihm wurde schwindlig und er schaffte es gerade noch, sich mit dem Kopf aus der Gefahrenzone zu bringen, bevor er wieder ohnmächtig wurde-sonst wäre er auf der Stelle ertrunken. Als er wieder zu sich kam, war es wieder heller in der Höhle, ein neuer Tag war angebrochen, für Ben ein neuer Tag voller Pein und Verzweiflung und er wurde immer schwächer und schwächer.

  • Das Haus war still geworden, auch Hartmut, der neben Semir auf dem großen Bett des Gästezimmers lag, war eingeschlummert und ein leises Schnarchen durchzog den Raum. Nur Semir kam nicht zur Ruhe. Es war einzig sein Verantwortungsbewusstsein den anderen gegenüber, dass er sozusagen noch eine kurze Nachtruhe angeordnet hatte. Er selber würde lieber Tag und Nacht weiter suchen, bis er seinen Freund und Partner gefunden hatte. Er horchte in sich hinein und ein Gefühl der Verzweiflung ergriff von ihm Besitz-irgendwie war das nicht nur seine eigene Verzweiflung, sondern er meinte Ben´s Gefühle wahrnehmen zu können, auch wenn das mit Vernunft betrachtet völliger Quatsch war. Hartmut würde ihm da sicher erklären, dass das ein Zusammenspiel von Hormonen, elektrischen Nervenimpulsen, Rezeptoren und Hirnleistungen war, was ihm dieses sogenannte Bauchgefühl bescherte und dass es wissenschaftlich nicht haltbar war, dass er jetzt mit absoluter Sicherheit wusste: Ben war noch am Leben, aber er war am Ende und brauchte dringend seine Hilfe. Ach ja und was er noch wusste-er war hier irgendwo ganz in der Nähe- und Semir war sich sicher, dass das stimmte, auch wenn das wissenschaftlich nicht belegbar war. „Halt durch Ben, ich werde dich finden, ich werde nicht eher aufhören dich zu suchen, bevor ich dich nicht gerettet habe!“ flüsterte er leise, schloss dann wieder die Augen und versuchte wenigstens ein wenig auszuruhen.
    Knappe vier Stunden später-Semir war doch ein klein wenig eingenickt-hörte er Geräusche aus dem Bad und stand leise auf, um Hartmut nicht zu wecken, der aber ebenfalls sofort die Augen aufschlug. So duschten sie kurz, zogen sich an und trafen dann in der Küche auf Klaus, der gerade ein paar Teller und Tassen auf den Tresen der offenen Küche gestellt hatte. „Corinna und ich frühstücken immer hier!“ sagte er ein wenig hilflos, während er den beiden einen Kaffee aus dem Automaten zog. „Ich muss dann gleich los, auch wenn ich Gleitzeit habe, ist der späteste Arbeitsbeginn für mich neun Uhr, aber ich fange meistens früher an, weil ich ja auch einen Feierabend will. Ich habe mir überlegt, dass ich euch meinen Vater zur Seite stelle, der ist bereits in der Freistellungsphase der Altersteilzeit und hat Zeit-ich habe ihn vorhin angerufen und ihm ein bisschen was erzählt, allerdings nicht von der Drohung gegen Corinna, sondern nur, dass Ben verschwunden ist und Corinna nen üblen Ausschlag hat, von dem man nicht weiss, ob der ansteckend ist und nicht raus kann. Außerdem hat er vielleicht auch noch Ideen, wo ihr suchen könntet, während ich arbeiten bin!“ erklärte er und Semir und Hartmut stimmten zu. Um ihre Füße strich das kleine Katerchen, das Klaus herauf gelassen hatte und bettelte um Streicheleinheiten, die sie ihm auch gedankenverloren zukommen ließen.


    Während Semir seinen Kaffee trank und lustlos in einen Marmeladentoast biss, fragte Hartmut: „ Was meint ihr-vielleicht sollte ich doch nach Augsburg zu dem Kongress fahren. Der findet in einer großen wissenschaftlichen Fortbildungseinrichtung statt-da haben sie eine bessere Ausstattung wie ich in der KTU und wenn ich frage, darf ich da vielleicht auch private Analysen machen oder kann mich zumindest mit anderen Wissenschaftlern austauschen. Ich glaube, da bin ich euch eine größere Hilfe, als wenn ich hinter euch durch den Wald marschiere-wenn ihr mich dort aussetzt bin ich sowieso verloren, ich kann mit so viel Natur einfach nichts anfangen, das ist nicht meine Welt!“ stellte er in den Raum und nach kurzer Überlegung stimmte ihm Semir zu. Hartmut´s Stärke war sein Intellekt, im Nahkampf war er eher weniger zu gebrauchen und mit Schaudern erinnerte sich Semir an ihren ersten gemeinsamen Einsatz, als Hartmut ihm als neuer Partner zur Seite gestellt worden war-nein die klassische Polizeiarbeit war beileibe nicht die Stärke seines Freundes und Kollegen. Das war mit Ben im Team völlig anders! Sie verstanden sich blind und daher kam auch ihre gute Aufklärungsquote.


    „Gut Hartmut-mach das-wann beginnt der Kongress?“ wollte er wissen. „Um zehn, ich muss allerdings irgendwie dorthin kommen, kann mich jemand zum Bahnhof fahren?“ fragte er, aber nach kurzer Überlegung schüttelte Semir den Kopf. „Es ist besser, du fährst mit dem BMW und rechne dir das als große Ehre an, dass ich dir den anvertraue. Corinna´s Wagen wäre zwar auch frei, aber das fällt auf, wenn der weg ist, falls das Haus doch beobachtet wird, dann werden die Erpresser vielleicht misstrauisch. Ich werde mich in deinem Wagen verstecken, Klaus, dann lässt du mich bei deinem Vater aussteigen und Hartmut soll zügig mit dem Polizeifahrzeug, das ja erst beim zweiten Hinsehen als solches zu erkennen ist, aus der Garage fahren und verschwinden-der war halt noch ein Hochzeitsgast, der bei euch über Nacht geblieben ist. Wir suchen dann Ben, du besorgst die Pläne und Hartmut macht seine Analysen und bleibt mit mir telefonisch in Verbindung!“ beschloss der erfahrene Polizist und wenig später führten sie ihren Plan genau so durch.

    Semir schlüpfte Minuten später vor dem Elternhaus ihres Gastgebers aus Klaus´ Geländewagen, wo er sich auf dem Beifahrersitz geduckt hatte und wurde freundlich von Klaus´ Vater empfangen, der ein ein wenig älteres Ebenbild seines attraktiven Sohnes war. „Josef!“ stellte sich der vor und Semir begrüßte ihn mit festem Handschlag, sagte seinen Namen und kletterte in den Wagen des etwa sechzigjährigen Mannes, der auch gleich aufs Gas ging. „Mein Sohn hat mir erzählt, dass Ben, der Mann von Sarah´s Cousine verschwunden ist und sie extra aus Köln angereist sind, um ihn zu suchen!“ sagte Josef und Semir bat zunächst einmal darum, dass sie sich duzten, irgendwie war das gerade sinnvoller und er hatte ein großes Vertrauen zu dem Mann, der einen ruhigen und überlegten Eindruck machte, sich Zeit für ihn nahm und zudem noch ortskundig war. Wenn ihm einer helfen konnte Ben zu finden, dann der! „Ich habe zwar keine Ahnung warum Ben hier irgendwo eingesperrt sein sollte, aber das ist nicht mein Bier-wenn ihr mich nicht einweihen wollt, um was es hier geht, ist mir das auch egal!“ teilte Josef ihm mit und Semir bewunderte den sichtlich messerscharfen Verstand des Mannes. Klar konnte man ihm nicht weismachen, Ben habe sich in alkoholisiertem Zustand verlaufen, denn dann bräuchte man eher eine Hundestaffel, um einen Vermissten aus den Wäldern zu bergen. „Josef-du hast Recht, Ben hat sich fast mit Sicherheit nicht verirrt, sondern wurde aus Gründen, die ich dir leider noch nicht mitteilen kann, entführt, aber ich verspreche dir-wenn das alles vorbei ist, sagen wir dir, um was es geht, aber jetzt müssen wir dringend meinen besten Freund suchen, ich spüre nämlich, dass der hier irgendwo ganz in der Nähe ist und es ihm nicht gut geht!“ erklärte Semir und während Josef gerade schon einen steilen Waldweg hinab holperte, nickte er mit dem Kopf. „Schön dass du mich nicht für dumm verkaufen willst, Semir-auf eine gute bayerisch-türkische Zusammenarbeit!“ sagte er schmunzelnd und schon waren sie an ihrem ersten Ziel angelangt, einem Tunnel unter der Eisenbahnlinie der zwei stabile Gitter auf beiden Seiten hatte, so dass zwar das Wild, aber kein Mensch durchkam, aber es war niemand darin, wie sie bereits beim Hineinsehen erkennen konnten und so setzten sie ihre Suche fort.
    Inzwischen zog das Wetter zu, die Sonne verschwand hinter den Wolken und Josef sagte nach einem Blick nach oben: „Es wird Regen geben, spätestens heute Abend!“ und Semir nickte, aber das würde ihn nicht von der Suche abhalten. Sie waren inzwischen an einer weiteren Karsthöhle angekommen und bahnten sich einen Weg durchs Gestrüpp vor dem Eingang. Etwa zwei Meter konnten sie nach innen vordringen, aber dann wurden die Wände zu schmal für einen Mann und es roch nur noch intensiv nach Fuchs, so dass sie enttäuscht wieder umdrehten. „Solche Höhlen haben wir hier in den Wäldern rings herum eine ganze Menge, viele davon einsturzgefährdet!“ erzählte Josef und Semir sagte, während er wieder ins Auto kletterte: „Dann klappern wir sie einfach systematisch nacheinander ab!“ und der drahtige Nordschwabe mit dem wettergegerbten Gesicht nickte. „So war mein Plan!“ sagte er einfach und startete auch schon den Motor, um das nächste Ziel anzufahren.


    Ben war wieder bei sich und fror und schwitzte gleichzeitig. Es schien draußen Tag zu sein, denn jetzt durchzog wieder ein helleres Dämmerlicht als vorher die Höhle. Wenn er genau lauschte, konnte er sogar Vogelgezwitscher vernehmen, aber leider nichts, was an Geräusche der Zivilisation erinnerte. Wie gerne hätte er jetzt Motorenlärm, quietschende Reifen, sogar qualmende LKW-Auspuffgase gerochen und gehört, aber nichts als Stille und pure Natur war um ihn. Wieder tastete er nach unten, kniff sich in die Oberschenkel, aber er spürte nichts, seine Beine hingen wie zwei nutzlose Anhängsel an ihm und weil er nun schon wieder schrecklichen Durst hatte, zog er sich unter Schmerzen erneut ein paar Zentimeter näher zum Eiswasser und trank ein paar Schlucke aus der hohlen Hand. Wieder wurde ihm vor Schmerzen übel, aber diesmal hatte er sich dem Wasser nicht ganz so gefährlich genähert, dass er ersaufen würde, wenn er ohnmächtig wurde. Obwohl-vielleicht war das doch eine gute Alternative? Wenn er es richtig anstellte, würde er ertrinken, ohne es in der Bewusstlosigkeit mit zu bekommen-hoffte er zumindest, aber er musste jetzt erst noch ein wenig Mut sammeln, bevor er diesen letzten, endgültigen Schritt ging. Er würde es dennoch wahrscheinlich tun müssen und zwar für seine Familie und seine Freunde-lieber war er tot als ein Krüppel und so stiegen ihm die Tränen in die Augen, während er die schönen Momente in seinem Leben Revue passieren ließ. Seine wundervolle Zeit mit Semir auf der Autobahn, dann sein Kennenlernen von Sarah, ihre tiefe Liebe, mit Sarah hatte er alt werden wollen! Seine prachtvollen Kinder-Tim, der ihm so ähnlich war und ihn mit seinen fröhlichen dunklen Augen anstrahlte und Mia-Sophie, sein meist lachender Sonnenschein, die er in einer dramatischen Aktion höchstpersönlich auf die Welt geholt hatte-eigentlich wollte er sie nicht verlassen, aber er musste es tun, um ihnen die Zukunft nicht zu versauen. Der Schmerz wäre momentan schlimm, wenn seine Leiche irgendwann gefunden wurde, aber er würde verblassen, Sarah würde vielleicht wieder einen neuen Partner finden und das Leben würde weiter gehen. Bliebe er aber am Leben, würde er ihnen allen die Zukunft versauen und das wollte er auf keinen Fall und deshalb sammelte er jetzt seinen ganzen Mut für den letzten entscheidenden Schritt, während die Tränen der Verzweiflung über seine Wangen liefen.

  • Am Morgen hatte der Anführer der drei Entführer geflucht. „Verdammt, Werner, warum gehst du nicht ans Handy!“ hatte er zu sich selber gesagt. Am Vortag hatte er seinen Wagen sauber gemacht, vor allem die Blutspuren im Kofferraum waren ein Riesenaufwand gewesen zu beseitigen, aber jetzt blinkte und blitzte wieder alles. Sie hatten eigentlich ausgemacht, dass sie zumindest stichprobenartig das Haus des Brautpaars beobachten würden, damit die nicht einfach abhauten, aber weil Werner sich nicht an seinen Auftrag hielt, funktionierte das hinten und vorne nicht. Corinna´s Wagen jedoch stand in der Einfahrt, im Haus rührte sich etwas und anscheinend hatten die frisch Vermählten auch noch Besuch, der aber am Montagmorgen zügig aus der Garage fuhr und den silbernen BMW Richtung Bundesstraße lenkte. Corinna blieb zuhause-vermutlich hatte sie sich verbarrikadiert-und Klaus fuhr weisungsgemäß in seine Firma. Er saß alleine im Wagen und sein Verfolger wartete auch eine geraume Zeit, bis er ihm folgte, auf diesen verlassenen Nebenstraßen würde das sonst auffallen, wenn er zu dicht auffuhr und er wollte auf gar keinen Fall, dass der Verdacht schöpfte, sonst würde es schwer werden an das Handy heran zu kommen. Gut er sollte sowieso bis mindestens Mitte der Woche warten, hatten ihm die Scheichs aufgetragen, denn es war fast unwahrscheinlich, dass Klaus schon am ersten Tag an die Pläne heran kam. So entging es ihm, dass Klaus eben nicht alleine im Wagen gesessen hatte und dass Josef, den er auch gut kannte- immerhin stammte er aus dem Dorf- als er an dessen Haus vorbei fuhr, sich mit einem kleinen südländisch aussehenden Mann unterhielt, bemerkte er nur ganz nebenbei und maß dem keine Bedeutung zu.
    Klaus stellte seinen Wagen am Parkplatz der riesigen Firma in der Kreisstadt ab und sein Verfolger tat es ihm gleich. Kurz hintereinander stempelten sie ab, aber während Klaus sich nun in dem militärischen Bereich mit der größten Geheimhaltungsstufe begab, schlüpfte sein Verfolger in die Latzhose und begann wie jeden Tag die Mülleimer zu leeren und die Arbeitsaufträge, die vorlagen, abzuarbeiten.


    Semir und Josef steuerten den ganzen Vormittag erfolglos ein potentielles Versteck nach dem anderen an. Semir war ganz still geworden. Er fühlte deutlich, dass es Ben miserabel ging und versuchte die emotionale Verbindung nicht abreißen zu lassen und ihm virtuell Mut zuzusprechen, aber er merkte, wie die Signale, die sein Freund aussandte schwächer und schwächer wurden. Vielleicht machten sie doch das Falsche und man sollte mit Hundertschaften die riesigen Waldgebiete hier herum durchkämmen. Vielleicht riskierte er das Leben seines Freundes, weil er sich nicht an die eigentlich zuständigen Behörden wandte, die einen viel größeren Apparat hinter sich hatten? Allerdings-wie wollte er denen glaubhaft versichern, dass Ben hier irgendwo in der Nähe war und man einen riesigen Aufwand betrieb, um den zu finden. In den Augen der Staatssicherheit war der doch nur ein kleiner Fisch und konnte ruhig geopfert werden, mit sowas musste man als Polizist eben rechnen und sogar seine Suchaktion im Kleinen würde man unterbinden, um die Erpresser nicht misstrauisch zu machen-nein Ben wäre ein Bauernopfer, dem niemand außer dessen Familie und seinen Freunden nachweinte, so wäre die Denke bei diesen Typen mit denen Semir während seiner Laufbahn bei der Autobahnpolizei leider schon oft genug zu tun gehabt hatte.
    So forderte er Josef auf, schneller zu fahren und alle nur möglichen Verstecke aufzusuchen und bei jedem anderen Ort flammte neue Hoffnung auf, die sich jedes Mal aufs Neue zerschlug.


    Sie hatten zwar Wasserflaschen dabei, aber um die Mittagszeit sagte Josef: „Wenn du nichts dagegen hast, fahre ich nur schnell in Kaisheim-das ist der Ort gleich da vorne- in der Metzgerei vorbei, da können wir uns eine warme Leberkässemmel zu Mittag holen!“ Semir, der zwar nicht wusste, was eine Leberkässemmel war, stimmte zu-auch sein Magen knurrte und anscheinend war das kein großer Umweg. Wenig später betraten sie die kleine Fleischerei, die in Bayern ja Metzgerei hieß und in der es verführerisch roch und Josef bestellte das Gewünschte. Semir wollte auch nicht fragen, ob in dieser bayerischen Spezialität wohl Schweinefleisch drin war-„was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!“ dachte er und biss kurz darauf, schon wieder im Wagen sitzend, genüsslich in das Brötchen, das mit der leckeren warmen Spezialität mit Senf darauf gefüllt war. „Sowas würde Ben auch schmecken!“ erklärte Semir und nun lächelte Josef: „Nun dann müssen wir uns eben anstrengen, ihn zu finden!“ sagte er wie selbstverständlich und steuerte wenig später das nächste potentielle Versteck an.


    Semir hatte ihm unterwegs erzählt, dass sie die Handysignale aus der Gump, diesem malerischen kleinen Tümpel, an dem sie nun schon mehrfach vorbei gefahren waren, empfangen hatten und jetzt fiel Josef noch etwas ein, was allerdings die Gesichter der beiden verdüsterte. „Zu diesem Gewässer gibt es eine Sage. Klar wissenschaftlich gesehen ist es eine artesische Steigquelle, aber unseren Vorvätern war es sehr unheimlich, dass praktisch oben am Hügel, ohne eigentlichen Zulauf, so ein Gewässer, das auch über die Jahrhunderte nie versiegt ist, entstanden ist. Angeblich wurden hier beim Bau des Klosters Kaisheim die Steine dafür gebrochen und einer der Steinmetze habe gotteslästerlich geflucht. Daraufhin wurde er mitten im Steinbruch eingeklemmt und das Wasser stieg und stieg und er ist jämmerlich ersoffen, ohne dass ihm jemand zu Hilfe kommen konnte. Meine Freunde des hiesigen historischen Vereins haben schon Tauchgänge gestartet, um den Wahrheitsgehalt dieser Sage zu überprüfen und zu schauen, ob nicht vielleicht doch Skelettreste auf eine Echtheit der Sage hinweisen, allerdings nichts gefunden. Nur besteht praktisch unterirdisch durchaus noch der alte Steinbruch mit vielen Spalten, in denen sich ein Körper auch durchaus verfangen könnte-soll ich sie bitten, doch einmal hinab zu steigen? Meine zwei besten Freunde, die begeisterte Taucher sind, sind auch schon berentet und würden uns sicherlich bei der Suche helfen!“ stieß er an und Semir stimmte nach kurzer Überlegung zu. Das würde allerdings bedeuten, dass Ben bereits tot war und das war eine Möglichkeit, an die er überhaupt nicht denken wollte. Wie sollte er das nur Sarah erklären, außerdem meinte er ja auch immer noch zu fühlen, dass Ben am Leben war, aber war das überhaupt irgendwie belegbar? Nein, mit Sicherheit nicht und so griff nun Josef zum Telefon und bat seine beiden Kumpels um Hilfe, die wenig später mit voller Tauchausrüstung zur Gump gefahren kamen.

    Voller Bangen beobachtete Semir, wie der eine der beiden sich in den Taucheranzug zwängte, einen starken Unterwasserscheinwerfer mitnahm und gesichert mit einer Leine unter der Wasseroberfläche verschwand. Nur wenig später erschien er wieder an der Oberfläche und hielt ein Handy nach oben, das Semir als Ben´s Mobiltelefon identifizierte-es war, wie er sagte, nur kurz unter der Oberfläche auf einem Stein gelegen. Beim zweiten Tauchgang förderte er noch Ben´s Waffe zutage, die er am Grund gefunden hatte und die Semir wie auch das Handy sofort eintütete, damit Hartmut darauf nach Fingerabdrücken suchen konnte, aber der Taucher sagte auch: „Weil das Wasser sehr kalt und klar ist und keine Algen darin wachsen, hätte ich einen Leichnam nicht übersehen können, da ist nichts!“ und jetzt atmete Semir erleichtert auf und ließ auch seine Gefühle wieder zu. Ben war noch da-wenn auch schwach- und er lebte und jetzt waren sie schon zu Viert, denn ohne Wenn und Aber und ohne nach den Hintergründen zu fragen, machte sich nun die zweite Suchmannschaft auf den Weg, die beiden Rentner waren sogar ganz vergnügt, dass sie eine Nachmittagsbeschäftigung hatten, auch wenn man sie nicht einweihte, warum ein Mann hier irgendwo gefangen sein sollte-wichtig war, dass er gefunden wurde.


    Hartmut hatte derweil bei dem Kongress die gefundene Blutprobe zu Demonstrationszwecken verwendet und seinen Kollegen die schnellste Möglichkeit einer Genanalyse, die er entwickelt hatte, vorgeführt. Als das Profil vorlag und er den DNA-Strang isoliert hatte, glich er das schnell mit seinen vorliegenden Daten ab und musste schweren Herzens erkennen, dass es sich tatsächlich um Ben´s Blut handelte, was er Semir auch telefonisch umgehend mitteilte. Die Reifenprofile brachten sie auch nicht sehr viel weiter, obwohl ein weiterer Kollege sogar mathematische Berechnungen vorstellte, wie man aus der Tiefe der Abdrücke die Anzahl der Personen im Fahrzeug berechnen konnte-gesetzt den Fall man hatte das Fahrzeugmodell, aber das brachte Hartmut aktuell nicht weiter-sie wussten ja nicht, welcher Wagen die Reifenspuren hinterlassen hatte und einweihen wollte er die fremden Kriminaltechniker nicht, nicht dass da einer auf dumme Gedanken kam! So machte er sich nach Ende des ersten Tagungstages wieder von Augsburg aus auf die fünfzigminütige Fahrt nach Nordschwaben, wo Klaus inzwischen die Pläne tatsächlich hatte abfotografieren können und nun zuhause darauf wartete, dass Hartmut sein sorgsam gehütetes Handy entgegen nahm, während die beiden Suchtrupps immer noch die Wälder durchkämmten.


    Ben hatte sozusagen mit seinem Leben abgeschlossen, zog sich nun zum Wasser, dem er vorhin hatte gerade noch entkommen können. Mit Tränen in den Augen dachte er an das Liebste in seinem Leben und ließ dann den Kopf wie vorhin einfach in die eiskalten Fluten sinken. Leider blieb die gnädige Bewusstlosigkeit aus und Ben war sogar durch das kalte Wasser extrem wach und seine Gedanken schossen messerscharf durch seinen Kopf. Er versuchte sich zu zwingen unter Wasser zu bleiben und öffnete sogar den Mund, um das kalte Wasser einzuatmen, aber in einem Überlebensreflex schoss sein Kopf wieder aus dem Wasser und er atmete stattdessen die Höhlenluft ein. „Verdammt-ich bin sogar zu blöd mich zu ertränken!“ dachte er und blieb erschöpft, frierend und nun vor lauter Kummer schon tränenlos am Rande des Gewässers liegen.

  • Obwohl jetzt zwei Suchtrupps unterwegs waren, die mehr oder minder systematisch die Wälder von Nord nach Süd durchkämmten, fanden sie nicht den kleinsten Hinweis auf Ben. Semir wurde immer frustrierter, verdammt, wo steckte sein Freund nur? Allerdings stimmte er Josef zu, der die Überlegung angestellt hatte: „Weißt du Semir-wenn wir keinen konkreten Hinweis haben und jetzt kreuz und quer durch diese riesigen Waldgebiete schießen, vergessen wir vielleicht das eine oder andere potentielle Versteck und auf dem Weg geht auch Zeit verloren. Gehen wir aber systematisch vor und er ist tatsächlich hier irgendwo, werden wir ihn über kurz oder lang finden, ich denke bis morgen Abend sind wir durch!“ gab er zu bedenken und Semir musste ihm zustimmen. „Übrigens gibt es noch eine Sage über die Harburger Karab-anscheinend hat sich das Edelfräulein aus Donauwörth, der die Wälder und Ländereien hier herum im Mittelalter gehörten, bei der Jagd verirrt und dachte, nie mehr zurück zu finden. Sie gelobte daraufhin, dass sie der Gemeinde, deren Kirchturm sie als Erstes erspähen würde, wenn Gott sie heil heraus führen würde-dazu muss man sagen, dass es hier früher ja noch Wölfe und Bären gab, da hätte sie die Nacht in der Wildnis vermutlich nicht überlebt-diese Wälder schenken würde und kurz darauf erblickte sie den Harburger Kirchturm und stand zu ihrem Wort.“ erzählte er und Semir, der auch schon gemerkt hatte, dass er hoffnungslos überfordert wäre und vermutlich ohne Navi nie mehr herausfinden würde, wenn er hier ausgesetzt würde, nickte zustimmend. Nur half dieses ganze Wissen leider seinem Freund nicht und dem ging es schlecht, das spürte Semir!

    Als am späten Vormittag Hartmut angerufen hatte, um ihm mit zu teilen, dass sie tatsächlich Ben´s Blut gefunden hatten, wuchs seine Verzweiflung-der war also auch noch verletzt-hoffentlich kamen sie noch rechtzeitig! Natürlich hatte Hartmut sofort, als er die Fingerabdrücke des Polodiebes identifiziert hatte, eine vertrauliche Mitteilung an Susanne heraus gegeben. Eine Fahndung war aktuell nicht sinnvoll, denn die örtliche Polizei würde nachfragen, oder sein Bewährungshelfer oder wer auch immer. Allerdings hatte Susanne sowohl die Fingerabdrücke als auch den Namen und das Bild des Gesuchten in ihren PC eingegeben und wenn da irgendeine Meldung auf Polizeikanälen herein kam, würde sie einen Link bekommen und Hartmut verständigen. Sie musste dazu nicht wissen, warum und weshalb, das war unwichtig, die Past-Familie hielt da einfach zusammen. Jenny hatte sich auch einmal bei Semir gemeldet und gefragt: „Habt ihr schon irgendeine Spur von Ben? Sarah ist völlig am Ende, aber ihr und Corinna und auch den Kindern geht es gut in der Schutzwohnung, es gibt keine besonderen Vorkommnisse!“ teilte sie ihm mit und Semir musste leider vermelden, dass sie bislang noch erfolglos waren.
    Hartmut begann sofort nach einem leichten Abendbrot, unterstützt von Klaus, die Daten und damit die Pläne so zu verändern, dass sie niemandem nützen würden, denn heraus zu finden, welche Daten verändert und welche korrekt waren, würde Monate dauern. Dieser Hubschrauber, der hier sozusagen virtuell konstruiert wurde, war nicht flugtüchtig, aber das so zu machen, dass ein Fachmann das nicht gleich heraus bekam, war eine Sache für sich und brachte die beiden Männer zum Schwitzen. Semir hatte darauf verzichtet, dass die beiden bei der Suche halfen, den wie ihm Josef glaubhaft versichert hatte, kannten er und seine Rentnergang die Karab, den Spielplatz ihrer Kindheit, wie ihre Westentasche, was man von Klaus nicht behaupten konnte. Es hatte bisher noch nicht zu regnen begonnen, aber es stieg dichter Nebel auf, der einen die Hand vor den Augen verschwimmen ließ. Ohne die ortskundigen Führer würde Semir hier überhaupt nichts ausrichten können, er wunderte sich fast, wie die sich überhaupt orientieren konnten.

    Plötzlich kam bei Susanne ein Link herein-der Name des gesuchten Werner Kraus war in einer Meldung über einen Verkehrsunfall erschienen. Aufgeregt öffnete Susanne, die eigentlich gerade nach Hause hatte gehen wollen, die Mitteilung auf ihrem PC und wenig später läutete das Handy des Rotschopfs, der angestrengt über den Konstruktionsplänen brütete: „Hartmut-der Typ den ihr sucht wurde das Opfer eines Verkehrsunfalls und liegt in einer Klinik ganz in eurer Nähe!“ teilte sie ihm mit und aufgeregt verständigte der Kriminaltechniker sofort Semir. „Ich muss nach Nördlingen ins Krankenhaus-vielleicht liegt dort jemand, der uns einen Hinweis auf den Verbleib Ben´s geben kann!“ teilte der daraufhin Josef mit und dieser hielt sofort an, wendete seinen Wagen und schlich langsam durch die dicke Suppe die dreißig Kilometer Richtung Nördlingen, der mittelalterlichen Stadt im Zentrum des Rieses.
    Der Rentnertrupp hatte zuhause ein kurzes Päuschen zum Brotzeit machen eingelegt, würde aber in Kürze weiter suchen. Josef hatte seinen Freunden Bescheid gegeben und Semir hatte den Eindruck, dass denen die Suche regelrecht Spaß machte-endlich war hier in der Provinz mal was los und wenn man auch momentan zum Stillschweigen verdonnert war-irgendwann würde das eine wunderbare Stammtischgeschichte geben!


    Eine halbe Stunde später kamen sie im Nördlinger Stiftungskrankenhaus an und der hilfsbereite Pförtner teilte ihnen mit, dass tatsächlich ein Werner Kraus in der Notaufnahme zu finden war. Sie fragten sich durch und als die Krankenhausmitarbeiter zunächst nicht bereit waren, eine Auskunft zu erteilen, machte sie das Vorzeigen von Semir´s Dienstausweis plötzlich gesprächig. Eine Schwester führte sie zu dem Verletzten, den es schwer er wischt hatte und der in Kürze in den OP gehen würde-er hatte sich bei dem selbst verschuldeten Frontalcrash mit einem LKW mehrere Knochen gebrochen und auch eine schwere Gehirnerschütterung, zudem war man nicht sicher, ob er nicht noch weitere innere Verletzungen hatte und so wartete man gerade auf die Auswertung des eben angefertigten CT`s, wie ihnen mitgeteilt wurde. Semir bat Josef draußen zu warten, was er jetzt vor hatte, war nichts für Laien. Ben an seiner Seite würde das verstehen, aber so schickte Semir auch die Schwester aus dem Raum und schloss die Tür. Er trat an die Liege auf der der Verletzte lag, der überall grün und blau war, dessen Arm und Bein in einer Schiene stabilisiert war und der durch seine zugeschwollenen Augen kaum etwas erkennen konnte. Anscheinend war er durch die Schmerzmittel ein wenig belämmert und so riss er verwundert die Augen auf, als Semir ihn anstieß und fragte: „ Ich bin Polizist, wo habt ihr meinen Kollegen hingebracht?“ Er brauchte einen Moment um sich zu sammeln, aber dann blickte er Semir entsetzt an. Genau deshalb war er abgehauen, damit er nicht in einen Mord verwickelt würde und hatte jetzt beim Besuch eines Freundes im Ries sein Auto zerlegt und war selber verletzt worden. Seine Kumpane mussten ihn verraten haben und er wollte doch auf keinen Fall wieder in den Bau. „Ich habe keine Ahnung wovon sie reden!“ stammelte er, aber Semir merkte sofort, dass er nicht die Wahrheit sagte. „Ich weiß, dass ihr den Polo versteckt habt und kann dich sofort wegen Autodiebstahl wieder einwandern lassen-da waren deine Fingerabdrücke drin, außerdem habt ihr die Braut entführt und betäubt, das gibt ein paar Jährchen!“ flüsterte er drohend. „Sag mir also sofort, wo ihr meinen Kollegen versteckt habt, dann überlegen wir uns vielleicht mildernde Umstände!“ lockte er, aber der Verbrecher verzog nun verächtlich den Mund, mit sowas würde er sich nicht abspeisen lassen, zumal der Typ anscheinend sogar noch Polizist war, den sie eingesperrt hatten. „Ich will nicht wieder einfahren-versprich mir, dass ich keine Anklage kriege, dann werde ich mir das überlegen!“ tönte er und fügte noch hinzu: „Und da wo dein Kollege sitzt, da ist es ziemlich kalt, eiskalt sogar, würde ich sagen, also beeil dich!“ Semir´s Gesicht veränderte sich nun und seine Hand schoss vor und packte den Verbrecher am gebrochenen Arm, was den aufheulen ließ. „Nun spuck schon aus-wo steckt mein Freund!“ knurrte er, aber in diesem Moment veränderte sich der Gesichtsausdruck des Verletzten, er sah Semir verständnislos an, als würde er in sich hinein lauschen und dann verdrehten sich plötzlich seine Augen und während am Monitor alle Alarme zu piepen begannen und nun zwei Schwestern und ein Arzt in den Schockraum rannten, kollabierte er vor Semir´s Augen und der sah fast ein bisschen fassungslos zu, wie die Medizinertruppe mit Herzdruckmassage begann. „Raus hier-wir brauchen keine neugierigen Zuschauer!“ warf der Arzt Semir regelrecht hinaus und der trat langsam und deprimiert den Rückzug an-auch wenn Werner Kraus das überleben würde, so bald wäre er nicht vernehmungsfähig.
    Fast ein wenig verzweifelt trat er zu Josef, der ihn erwartungsvoll ansah. „Er hat mir nur einen Hinweis gegeben, aber ich weiß auch nicht, was das zu bedeuten hat-jetzt kämpft das Unfallopfer gerade ums Überleben und kann uns sicher so bald nichts mehr erzählen!“ berichtete Semir, der Josef ja nicht vollständig einweihen konnte, solange der Fall nicht abgeschlossen war. „Was für einen Hinweis hat er dir gegeben?“ fragte Josef und als Semir die Worte des Schwerverletzten rekonstruierte, veränderte sich Josef´s Gesichtsausdruck. „Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin-ja das würde passen!“ rief er aufgeregt und rannte schon vor Semir los Richtung Wagen und der sauste sofort hinterher-oh Gott, hoffentlich hatte der Einheimische die richtige Eingebung-und schon waren sie, so schnell es bei dem dichten Nebel möglich war, auf dem Rückweg in die Harburger Karab.


    Ben war den halben Tag wie in Trance neben dem Wasser gelegen. Er spürte die Kälte nicht mehr und starrte nur noch blicklos vor sich hin und merkte, wie er immer schwächer wurde und das Fieber stieg. Es würde ein langsames und vermutlich qualvolles Sterben werden und Ben hatte Angst davor. Kurz bevor es finster wurde kam ihm noch ein Einfall, wie er das Ganze beschleunigen konnte-warum war ihm das nur nicht schon früher eingefallen? Er tastete mit der Hand nach einem scharfkantigen Stein und auch im Wasser trieben ein paar messerscharfe Eisstücke. So schwer es auch ging, schob er seine Anzughose nach unten und begann, während es jetzt stockfinster wurde, damit, an seiner Leiste herum zu säbeln. Er spürte keine Schmerzen und wenn es ihm gelang die Leistenschlagader zu treffen, würde er schnell verbluten und hatte es endlich hinter sich.

  • Ben hatte es sich leichter vorgestellt, aber er war sehr erschöpft und weder der Stein noch die Eisstücke waren sonderlich scharf und so ging sein Plan langsam vorwärts. Immer wieder musste er Pausen machen und zwar floss nun bereits anscheinend ein wenig Blut, denn es fühlte sich klebrig an, aber so richtig tief, wo die großen Gefäße lagen, war er noch nicht vorgedrungen. Zumindest lebte er immer noch und die große Schwäche und endgültige Kälte die dann von ihm Besitz ergreifen würde und nach der er sich jetzt sehnte, war bisher noch nicht eingetreten. Ben schloss eine Weile die Augen, um Kräfte zu sammeln für den letzten Teil seines Vorhabens und formte mit dem Mund lautlos die Worte: „Verzeiht mir!“


    Während Semir hinter Josef her zum Auto hetzte und der Ortskundige dann aufs Gas ging und so schnell fuhr, wie der Nebel es erlaubte, erzählte ihm der, was er vermutete. „In den Wäldern zwischen Gunzenheim und Mündling gibt es mehrere kleine Gewässer mit sauberem, klarem Wasser. In alten Zeiten wurden aus denen im Winter, wenn strenger Frost herrschte, große Eisklötze gebrochen und mit dem Ochsenfuhrwerk zur nächsten Höhle gebracht. Vielleicht kennst du den Ausdruck „Eiskeller“-das war die gemauerte Variante, aber wo natürliche Höhlen an Nordhängen zur Verfügung standen hat man die als Aufbewahrungsort genutzt. Unsere Ahnen mochten im Sommer auch gerne ein kühles Bier und so hatten meistens die Wirte solche Eiskeller oder Eishöhlen, wo sich das Eis oft bis in den August hinein gehalten hat. Mit der Erfindung des Kühlschranks und der Gefriertruhe war das mit einem Schlag uninteressant. Wir vom Museumsverein, der sich auch auf alte Techniken und Bräuche besinnt, haben letzten Winter wie in alten Zeiten nochmals Eis gebrochen und eingelagert-dazu gibt es spezielle Werkzeuge, die wir mustergültig restauriert haben und das war ein großes Event mit vielen neugierigen Zuschauern. Sogar ein Ochsengespann mit einem original alten Wagen haben wir aufgetrieben. Im Juli ist jetzt ein weiteres Fest geplant, wo wir sehen wollen, inwieweit sich das Eis dort gehalten hat und dann Bierfässer und Limonade damit kühlen und verkaufen. Wir hier in Nordschwaben nutzen jede Gelegenheit um zu feiern, aber ich vermute jetzt, dass sich Ben in eben dieser Eishöhle befindet, die noch dazu mit einem massiven Tor verschlossen ist. Es gibt dazu zwei Schlüssel, der eine ist bei unserem Vorstand und der zweite beim Wirt des Ortes, der sozusagen von alters her die Rechte an dieser Eishöhle hat. Dort am Stammtisch ist auch die Idee entstanden und wir mussten das alte Wasser auch erst mit Hilfe der Feuerwehr abpumpen und die Höhle säubern, bevor wir das Eis hinein gebracht haben!“ erklärte er und rief dann gleich noch seine Rentnerfreunde an, die sich leider gerade in einer ganz anderen Ecke der Karab befanden, aber versprachen, so schnell es ging zurück zu fahren und einen Schlüssel zu besorgen.
    Semir überlegte, ob er das Steuer übernehmen sollte, denn er hatte jetzt das dringende Gefühl, dass die Entdeckung seines Freundes kurz bevor stand und es wahnsinnig eilte, aber da er die Straßen hier nicht kannte, würde er auch nicht schneller als Josef voran kommen, der wie ein Rennfahrer in die Kurven ging. Warum hatte nur so eine schreckliche Unruhe von ihm Besitz ergriffen? Nahm Ben gerade wieder Kontakt mit ihm auf? Ja so musste es wohl sein und Semir flüsterte angespannt: „Halt durch-wir sind bald da!“ und kaum zwanzig Minuten später bogen sie schon in den Weg ein, der zur Eishöhle führte.


    Kaum hatte Josef den Wagen abgestellt, packte Semir die starke Taschenlampe, mit der sie schon die ganze Zeit gesucht hatten und sprang aus dem Wagen. Nach einem flüchtigen Blick auf den Boden war er sich fast sicher, dass sie hier richtig waren, denn es waren mehrere frische Reifenspuren zu sehen und wenn Hartmut da die Profile prüfen würde, wäre vermutlich eine Übereinstimmung zu finden, aber das war jetzt nebensächlich, denn Semir hatte nun das Eisentor entdeckt und rief so laut er konnte: „Ben-bist du da drin?“ und dann lauschte er. Zunächst war er sich nicht ganz sicher, denn der Schall wurde durch das massive Tor ziemlich gedämpft, aber dann meinte er ein Schluchzen zu hören und tatsächlich flüsterte eine schwache Stimme, die er eindeutig als die seines Freundes erkennen konnte: „Zu spät!“
    „Ben-wir holen dich da raus!“ rief Semir aufgeregt und prüfte, ob er das Schloss irgendwie knacken konnte, aber das war so raffiniert geschmiedet, dass das nicht so leicht gehen würde und das Tor aufzubrechen würde ebenfalls schweres Gerät oder eine Sprengladung erfordern. Nun vernahm er von drinnen erneut die Stimme seines Freundes: „Semir leb wohl und sag Sarah und den Kindern, dass ich sie geliebt habe!“ konnte er verstehen, obwohl die Stimme sehr schwach war und eine panische Angst ergriff jetzt von ihm Besitz. Das klang, als wäre Ben sich sicher, dass er hier nicht mehr lebend heraus kommen würde. Was war da drinnen los? War er vielleicht mit einer Sprengladung versehen, die losging, wenn sie die Türe öffneten oder war da eine andere Gemeinheit vorbereitet? Semir rief nochmal, aber jetzt kam keine Antwort mehr. Josef telefonierte derweil aufgeregt mit seinen Freunden und sagte zu Semir: „Der eine der beiden Schlüssel, der in der Gaststube an einem Haken war, ist nicht auffindbar, meine Freunde sind gerade zum Vorstand des Museumsvereins unterwegs, hoffentlich ist der zu Hause!“


    „Ich muss da irgendwie rein-gibt es eine zweite Öffnung und wie funktioniert die Luftversorgung da drin?“ sprudelte Semir hervor und nach einer kurzen Überlegung nickte Josef. „Ich habe keine Ahnung, ob die Öffnung groß genug für einen Mann ist, aber da drin ist eine Fledermauskinderstube und ein Winterlager, die fliegen durch ein Loch in der Decke ein und aus, das eben auch als Lüftung dient!“ erzählte er und Semir musterte schon prüfend die Gegend, wo das wohl sein könnte. Die Höhle lag an einem teilweise bewachsenen Steilhang und schon machte er sich mit der Taschenlampe zwischen den Zähnen auf den mühsamen Weg nach oben. Immer wieder rutschte er vom glitschigen Fels, den der dichte Nebel feucht gemacht hatte, ab, aber mit dem Mute der Verzweiflung gelangte er immer weiter nach oben, bis er endlich zwischen lauter Brombeerranken die Öffnung fand. Josef hatte ihm zunächst folgen wollen, dann aber aufgegeben, wenn er auch noch fit war, aber für eine solch waghalsige Kletterpartie war er in seinem Alter nicht mehr eingerichtet und wenn er stürzte, wäre das künstliche Knie, das er im letzten Jahr erhalten hatte, im Eimer. Semir brach durch die Ranken, die ihm mit ihren Dornen die Haut aufrissen und dann leuchtete er mit der Taschenlampe in die Öffnung und sah etwas, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

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