Schweres Erbe

  • Verhör

    Dieter Bonrath übernahm die erkennungsdienstliche Behandlung von Fabian Hartmann, während Semir sich schnell einen Kaffee aus der Teeküche und die Akte zu Sophie Ziegler aus seinem Büro holte. Der großgewachsene Kommissar in Uniform musste bei der Abnahme der Fingerabdrücke daran denken, dass es wohl das letzte Mal in seiner dienstlichen Laufbahn sein würde, dass er jemanden in die Kartei aufnahm, und das ließ er Fabian Hartmann auch gleich wissen. „Na, schön für Sie, dieses letzte Erlebnis hätte ich Ihnen gerne erspart“, meinte dieser nur dazu.


    Dann saßen sich Semir und Fabian Hartmann im Verhörraum gegenüber, Semir mit seinem Kaffeebecher und der geschlossenen Akte vor sich, Hartmann mit den immer noch gefesselten Händen auf dem Tisch.


    „Ich habe Sophie nicht umgebracht, das müssen Sie mir glauben“, beteuerte er gleich zu Beginn.


    „Sie kennen Sophie Ziegler von ihrem Praktikum in der Apotheke. Ihre Wohnung liegt nicht weit von der Bushaltestelle, an der Sophie zum letzten Mal gesehen wurde. Ihre Frau war Freitagnacht nicht zuhause.“ Semir trank einen großen Schluck, beobachtet von Hartmann, der nur wiederholte: „Ich habe Sie nicht umgebracht!“ Er sah dem Hauptkommissar an, verfolgte dessen Kaffeebecher mit den Augen.


    Unbeeindruckt fuhr Semir fort: „Sie haben Zugang zum Wagen von Ralf Kreisel, sowie zu dessen Tiefgarage. Der Passat hat gestern einen Unfall auf der A3 verursacht. Und in seinem Kofferraum haben wir die Leiche von Sophie Ziegler gefunden. Der Fahrer hat das Weite gesucht.“


    „Ich habe Sie wirklich nicht umgebracht!“ – „Sie wiederholen sich, Herr Hartmann. Wir haben am Unfallort ein Stück Stoff und Abdrücke von Turnschuhen der Marke Adifix gefunden“, ein weiterer Schluck Kaffee fand den Weg durch Semirs Kehle in seinen Magen. „Wollen Sie uns nicht die Arbeit ersparen, den Stoff mit Ihrer Jacke abzugleichen? Und Ihre Schuhe mit den Abdrücken? Ich stelle jetzt einfach mal die Behauptung auf, dass Sie -“


    Bonrath unterbrach das Verhör und steckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Was ist denn, Dieter?“ Bonrath streckte seinen Daumen nach oben. „Positiv, Semir. Er ist der Fahrer.“ Semir verzog seinen Mund zu einem Lächeln, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte seine Arme vor seiner Brust. „Danke, Dieter.“


    Dann wandte er sich wieder dem Verdächtigten zu und richtete sich in seinem Stuhl auf. „Herr Hartmann, ich muss mich korrigieren. Ich behaupte nicht, sondern ich kann Ihnen jetzt sogar beweisen, dass Sie den Wagen mit Sophies Leiche gefahren sind. Wir haben Ihre Fingerabdrücke und Ihr Blut im Wagen gefunden. Und – welch Zufall – Sie haben eine Wunde am Kopf, die exzellent zum Unfallhergang passt. Und nun kommen Sie, und wollen mir immer wieder erzählen-“


    „Ich habe Sie weggefahren, aber ich habe sie nicht umgebracht.“


    „Dann erzählen Sie mir doch bitte mal, was zwischen Freitag, 22:00 Uhr, und Montag, 12:00 Uhr, vorgefallen ist. Wir werden übrigens auch ein Team in Ihre Wohnung schicken, so gut können Sie gar nicht geputzt haben, dass wir nicht doch noch eine Spur von Sophie Ziegler finden werden, um zu beweisen, dass sie bei Ihnen war. Sie sollten vielleicht doch über einen Anwalt nachdenken, oder?“


    „Okay“, gab Hartmann klein bei, „ich werde Ihnen alles erzählen.“


    „Aha, jetzt kommen wir der Sache näher!“ Semir lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl zurück. „Möchten Sie vielleicht auch einen Kaffee?“


    Geständnis

    „Also, ich höre!“, forderte Semir Hartmann auf.


    „Kennen Sie Scopolamin?“ – „Scopo- was?“ – „Scopolamin. Scopolamin ist ein Wirkstoff, der in Nachtschattengewächsen, wie z.B. dem Stechapfel oder der Engelstrompete enthalten ist“, erklärte Hartmann ruhig. „Das sind Giftpflanzen“, stellte Semir fest, „wollen Sie mir etwa sagen, Sophie Ziegler wurde vergiftet?“


    Fabian Hartmann ging nicht darauf ein, sondern erklärte weiter: „Scopolamin kommt in verschiedenen Medikamenten vor, weil es eine beruhigende Wirkung auf den Verdauungstrakt hat und den Brechreiz unterdrücken kann. Tabletten gegen die Reisekrankheit können den Wirkstoff enthalten. Es wirkt pupillenerweiternd, weshalb es auch Augenärzte in Tropfenform einsetzen. Ja, Sie haben recht, Scopolamin ist giftig, aber bei geringer Dosierung durchaus nützlich, wie nahezu alle Medikamente erst bei Überdosierung eher eine ungewünschte Wirkung entfalten.“


    Er legte eine kurze Pause ein, fuhr dann aber, als von Semir keine Zwischenfrage kam, mit seinen Ausführungen fort: „Sophie hat letzte Woche ihr Praktikum bei uns in der Apotheke begonnen. Sie war sehr lernbegierig, aufmerksam und hat mich regelrecht ausgefragt. Die Zusammenarbeit mit ihr hat mir Spaß gemacht, es war anders als mit den Lehrlingen, für die der Job lediglich ein notwendiges Übel ist, um an Geld zu kommen. Sophie blieb gerne länger als nötig, half mir bei der Zubereitung von Salben und Tropfen, die wir bei uns selbst herstellen. Als ich ihr von den Wirkungen der Bestandteile erzählte, wollte sie mehr wissen und hat nicht locker gelassen. Sie müssen wissen, Herr Gerkan, zwischen der beruhigenden und der giftigen Wirkung von Scopolamin liegt noch einiges mehr. Richtig dosiert ist Scopolamin eine Droge, die einen Rausch hervorrufen kann, Halluzinationen, die einem so real vorkommen, dass man sich mit ihnen unterhalten möchte.“


    „Haben Sie Sophie Ziegler überredet, die Droge zu testen?“ – „Andersrum, Sie hat mich überredet, geradezu bequatscht, bis ich schließlich okay sagte. Ich dachte, wenn das Mädchen einmal einen Rausch gehabt hätte, würde sie sich schon wieder beruhigen. Und besser, sie hätte ihn bei mir, als auf der Straße. Ich kenne mich mit der Dosierung aus, es ist sauberes Zeug und sie könnte solange bei mir bleiben, bis die Wirkung wieder nachgelassen hat. Sie ließ nicht locker. Ja, ich habe Sophie Zugang zu Scopolamin verschafft, aber ich habe sie nicht umgebracht.“ Semir bemerkte, dass sich Tränen in Hartmanns Augen zu sammeln begannen. Er reichte ihm ein Taschentuch, welches dieser mit einem Nicken entgegen nahm.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Vergiftet

    „Kommen Sie jetzt zum letzten Freitag, bitte?“, forderte der Hauptkommissar ihn auf.


    „Meine Frau plante schon länger ihre Eltern in Stuttgart zu besuchen. Ich vereinbarte also mit Sophie, wenn sie es immer noch wissen wollte, wäre Freitag der richtige Termin dafür.“ – „Und Sophie hat zugesagt?“ – „Ja, sie wollte zu einer Geburtstagsfeier und sich dann melden. So haben wir uns verabredet und etwa um halb elf, vielleicht etwas früher war sie in meiner Wohnung. Ich habe dann den Tee zubereitet und ihr eine Tasse zu trinken gegeben. Die Dosis war genau berechnet und sollte zu einem leichten Rausch führen. Ich hatte sie vorher gefragt, ob sie andere Medikamente einnimmt oder einnehmen muss oder Alkohol getrunken hätte, denn dann hätte ich das Experiment gleich abgebrochen, weil es da tödliche Wechselwirkungen geben kann. Sie hat den Tee getrunken und dann gewartet. Nach zwanzig Minuten meinte sie, ich hätte sie angelogen, sie würde überhaupt nichts merken. Dann hat mich meine Frau aus Stuttgart angerufen, und ich ging in die Küche, um in Ruhe mit ihr zu reden, sie sollte ja auch nicht mitbekommen, dass Sophie bei mir war. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, war Sophie schon tot und lag zwischen Sofa und Tisch. Sie hatte noch mehr Tee getrunken, die Kanne war fast leer.“ – „Also hat Sophie sich selbst vergiftet?“ – „Ja, das habe ich nicht gewollt.“ Fabian Hartmann schlug seine Hände vor sein Gesicht und begann hemmungslos zu weinen.


    „Wir sind gleich durch, Herr Hartmann. Dann bekommen Sie eine Pause. Warum haben Sie nicht den Notarzt gerufen?“ Hartmann putzte sich mit dem Taschentuch die Nase und schüttelte seinen Kopf. „Sie war doch tot! Sie lag tot in meiner Wohnung! Ich war vollständig überfordert mit der Situation. Wie hätte das ausgesehen? Eine 16-jährige Drogentote bei mir in der Wohnung, ich wäre doch gleich verhaftet worden. Ich dachte, wenn man sie woanders auffinden würde, käme man gar nicht auf mich. Ich dachte an den Baggersee, dort feiern die Jugendlichen immer. Dort würde man sie sicher finden. Aber am Samstag und Sonntag ging es mir schlecht, ich hatte wirklich einen Migräneanfall und war nicht in der Lage Auto zu fahren. Außerdem haben wir selber nur einen Smart. Dann fiel mir ein, dass ich noch einen Zweitschlüssel für den Passat von Ralf Kreisel habe.“ – „Ihrem Vermieter vom letzten Jahr?“ – „Genau. Ich hatte damals versehentlich den Schlüssel eingepackt und nach dem Umzug bislang nicht geschafft, sie ihm zurückzubringen. Wir haben jetzt auch keinen Kontakt mehr. Am Sonntagabend habe ich den Wagen entliehen und Sophie hineingelegt.“ – „Hatten Sie keine Angst, dabei gesehen zu werden?“ – „Doch, aber ich hatte noch eine große Alu-Kiste herumstehen gehabt, darin lagern die Auflagen für die Balkonmöbel, die habe ich benutzt, mit Hilfe eines Kofferrollers habe ich sie zum Auto transportiert und Sophie in den Kofferraum gelegt. Die Kiste habe ich zurück in die Wohnung gebracht, um die Kissen wieder hineinzulegen. Als ich dann gerade losfahren wollte, kam meine Frau nach Hause.“


    „Also haben Sie die Entsorgung der Leiche auf Montagmorgen vertagt?“ – „Ja, genau. Meine Frau ist zur Arbeit, ich habe mich krank gemeldet und bin mit dem Passat losgefahren. Hätte ich nicht diesen Unfall gebaut, ich … womit muss ich jetzt rechnen?“ – „Drogenabgabe an Minderjährige, vielleicht fahrlässige Tötung, schwere Verkehrsgefährdung, Fahrerflucht, Widerstand gegen die Staatsgewalt – haben Sie einen Anwalt? Ich rufe Ihnen einen.“


    Semir stand auf und öffnete die Tür des Verhörraums. „Dieter! Bringst du Herrn Hartmann bitte in eine Zelle?“


    Auf dem Weg zurück in sein Büro sah Semir, dass Alex bereits wieder in der PAST war und an seinem Schreibtisch saß. Aber er blieb zunächst am Tisch der Sekretärin stehen. „Susanne?“, fragte er sie, „kannst du einen Pflichtverteidiger herbestellen? Der Fall Ziegler scheint gelöst-“, er unterbrach sich, als sein Handy klingelte.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Alarm


    „Gerkan! Gut, dass ich Sie erreiche, ich glaube, da ist jemand in meiner Wohnung!“ – „Frau Krüger, wo sind Sie? Schon im Haus oder noch auf der Straße? Wir sind quasi unterwegs. Was haben Sie gesehen?“ Jetzt kam Bewegung in den Ersten Hauptkommissar. „ALEX!“, rief er, um die Aufmerksamkeit seines Partners zu erregen.


    „Ich bin durch meine Wohnstraße gefahren auf der Suche nach einem Parkplatz, beim Blick auf das Haus meinte ich einen Schatten hinter einem der Fenster zu sehen, und aufgrund der bestehenden Drohung wollte ich nicht alleine hinein.“ - „Dann sagen Sie das Ihrem Personenschutz!“ – „Semir…“ – „Sie haben doch Personenschutz beauftragt?“ Aus dem Klang von Kim Krügers Stimme hörte Semir, dass die ehemalige Chefin der PAST sich nicht an seinen Rat gehalten hatte. Eine Diskussion darüber war zu diesem Zeitpunkt auch sinnlos.


    „Bleiben Sie wo Sie sind. Wir sind auf dem Weg!“ – „Ich bleibe in meinem Auto sitzen, danke.“ Semir beendete das Gespräch mit Kim Krüger und wiederholte seinen Ruf beim Durchqueren durch das Großraumbüro: „ALEX? Bist du taub? Los komm! Die Krüger braucht unsere Hilfe. Wo ist Ben?“ – „Schon los“, antwortete Alex und griff sich seine Jacke. Im Laufschritt verließen die beiden Polizisten die PAST. „War ja klar“, murmelte Semir und fischte sein Handy aus der Tasche, „wer morgens später kommt, kann natürlich abends früher gehen. Ich fasse es nicht.“ Sie waren noch nicht durch die Tür, da hatte Semir schon Bens Nummer angewählt. Es klingelte zwei oder drei Mal, dann wurde der Anruf vom Empfänger abgebrochen. „Du fährst!“, bestimmte Semir, „ich versuche weiter Ben zu erreichen.“


    Der morgendliche Disput hatte den ganzen Tag über zwischen Semir und Ben gestanden und für Missstimmung gesorgt, obwohl beide wussten, dass ihre Freundschaft dieses aushielt und nicht darunter leiden würde. Aber keiner von ihnen wollte den ersten Schritt unternehmen. Am nächsten Tag würden sie sicher gemeinsam darüber lachen. Mit dieser Gewissheit im Hinterkopf hatte sich Ben von Alex direkt in der Stadt absetzen lassen, um Semir für heute aus dem Weg zu gehen.


    Nun blickte Ben auf das Display seines Handys. Semir. „Nein, mein Freund, so einfach mache ich es dir heute nicht“, murmelte er. Erst ließ er seinen Frust und seine Wut an ihm aus und dann meinte er, mit einem Telefonat wäre alles aus der Welt zu schaffen? Nein, Nein, da müsste er schon persönlich vorbeikommen.


    Jetzt klingelte auch noch sein Festnetztelefon. Es fiel Ben schwer, nicht gleich ranzugehen, aber er wollte Semir noch etwas zappeln lassen. Er musste grinsen, dann sprang sein Anrufbeantworter an, und Semirs aufgeregte Stimme war zu hören. „Ben! Beeil dich. Das ist ein Notfall. Die-“ Ben sprang zum Hörer. „Semir, was ist passiert!“ – „Die Krüger hat einen ungebetenen Gast in ihrer Wohnung. Alex und ich sind schon auf dem Weg.“ – „Krüger? Jemand von Torres‘ Leuten? Wir treffen uns dort!“ – „Komm in den Tulpenweg, die Straße ist von ihrem Haus aus nicht zu sehen.“ – „Okay, bin auf dem Weg. Und Semir, das mit dem Dienstwagen tut mir leid.“ – „Jetzt lass doch mal den Wagen, der ist mir doch ganz egal.“


    Semir atmete hörbar aus, steckte sein Handy in seine Jackentasche und musste sich am Griff über der Beifahrertür festhalten, während Alex gerade einen rasanten Spurwechsel vollführte. „Ben kommt.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Krügers Wohnung

    Wie verabredet saß Kim Krüger in ihrem Auto und erwartete Semir und Alex. „Sind Sie sicher?“, fragte Semir und ging zum Kofferraum. Dort bewahrten Alex und er ein Satz schusssichere Westen auf. „Ja, ich sah den Vorhang sich bewegen, und bin mir sicher, heute Morgen kein Fenster aufgelassen zu haben. Da muss jemand in der Wohnung sein.“ Sie rüsteten sich mit den Westen auf, luden ihre Waffen noch einmal nach und waren gerade bereit zum Aufbruch, als Ben mit quietschenden Reifen in seinem Privatwagen hinter ihnen zum Stehen kam. Auch er war in Kürze einsatzbereit.


    Der Eindringling kauerte hinter dem Wohnzimmerfenster und spähte die Straße hinunter. Kim Krüger war überfällig, wie ihm ein kurzer Blick auf seine Uhr verriet. Sie hätte bereits vor einer knappen Stunde hier eintreffen sollen. Er ärgerte sich jetzt darüber, dass er sich für das zu spritzende Gift entschieden hatte, aber er wollte sicher gehen, dass sie es war, der er es verabreichte. Die Tropfen, die ihm stattdessen angeboten worden waren, hätte er in wenigen Sekunden im Kühlschrank in eine Getränkeflasche füllen können, wäre damit aber das Risiko eingegangen, dass nicht nur Kim Krüger selbst, sondern auch ein unbeteiligter Gast zu Schaden kommen könnte, dem Kim Krüger einen Schluck zum Trinken anbieten wollte. Und das wollte er wenn möglich vermeiden.


    So musste er in Krügers Wohnung auf ihre Heimkehr warten. Vielleicht war sie noch einkaufen? Oder hatte eine Freundin getroffen? Oder konnte nicht pünktlich aus dem Büro? Er musste sich in Geduld üben. Seine Zeit würde schon kommen. Eine Bewegung vor dem Fenster ließ ihn zusammenzucken und aufmerksam lenkte er seinen Blick auf den Weg vor der Haustür. Polizei? Mist! Zwei Männer näherten sich der Tür. Er musste schnell aus dieser Wohnung raus. Sie kamen in geduckter Haltung auf das Haus zu.


    Ben und Semir hatten sich noch am Wagen von Kim und Alex getrennt. Sie wollten die Wohnung durch das Treppenhaus, ihre Kollegen vom Garten aus betreten. Kim hatte eine von außen zu öffnende Terrassentür, das kam ihnen jetzt sehr gelegen. Gleichzeitig stürmten sie mit gezogenen Pistolen die Wohnung der Krüger und trafen sich im Flur.


    Nur einen Augenblick vorher war ihre Zielperson durch den Flur ins Nebenzimmer gerannt und hatte über die dort befindliche Treppe den oberen Schlafraum erreicht, dessen Fenster auf das Dach der benachbarten Garagen führte. Durch den Luftzug, der durch das gleichzeitige Öffnen von Wohnungs- und Terrassentür entstanden war, klapperte das offene Fenster im Obergeschoss, das Geräusch zog sofort Semirs Aufmerksamkeit auf sich. Zwei Stufen auf einmal nehmend erklomm er schnell das obere Stockwerk der Wohnung, langsamer gefolgt von Alex, während Ben und Kim die untere Etage checkten und schnell zu dem Ergebnis kamen, dass die Wohnung verlassen war.


    Semir erreichte das offene Fenster nach zwei Schritten und sah eine Gestalt gerade den Rand des Garagendaches erreichen, wo sie gerade in die Knie ging, um sich anschließend am Dach hängend auf den Asphalt herabzulassen. „Alex! Ben! Er ist raus über die Garagen“, rief er noch und hatte sich schon auf das Fensterbrett geschwungen, um es dem Fliehenden gleich zu tun. Auch er überquerte im Laufschritt die Garagen und sprang auf den Garagenhof. Er blickte sich schnell um, es gab nur eine Richtung, in die ihr Gegner verschwunden sein konnte, die andere war eine Sackgasse. Die Zeit war zu knapp gewesen, als dass er sich in einer der Garagen hätte verstecken können, das Geräusch des Schwingtores hätte Semir gehört. Er rannte los.
    Alex machte kehrt und verließ mit Ben das Haus durch die Terrassentür, um Semir von der anderen Seite zu Hilfe zu eilen oder dem Fliehenden den Weg abzuschneiden. Während Alex das Auto holte, steuerte Ben seine Schritte in Richtung der Garagenhöfe.


    Semir kam an eine Querstraße und sprang plötzlich entsetzt zurück, beinahe hatte ihn ein schwarzer Jaguar erwischt, der mit hoher Geschwindigkeit auf die Hauptstraße zusteuerte. Das musste er sein, vermutete Semir und merkte sich das Kennzeichen. Er hörte Ben aus der Querstraße rufen: „Das war er! Wo bleibt Alex mit dem Wagen?“


    Als hätte er die Frage gehört, brachte Alex just in diesem Moment den Mercedes neben ihnen zum Stehen. Ben und er waren gerade eingestiegen, da griff Semir schon zum Funkgerät und setzte sich mit der Zentrale in Verbindung. „Zentrale für Cobra 11! Wir verfolgen einen schwarzen Jaguar mit dem amtlichen Kennzeichen K – AK 381 auf der Kölner Straße in Richtung B264. Bitte um Verstärkung und einen Streifenwagen und die Spusi zur Wohnung von Kim Krüger.“ Er wandte sich Alex zu. „Alex, gib Gas!“


    Sie nahmen die Verfolgung auf und ließen eine durch den Eingriff in ihre Privatsphäre verstörte Kim Krüger zurück, die nun alleine in ihrer Wohnung auf das Eintreffen der Streife und der Spurensicherung wartete.

  • Bad

    Sie sahen den Jaguar etwa 100m vor ihnen nach links auf die Bundesstraße abbiegen. Die Ampel schaltete in dem Moment auf Rot, als er in die Kreuzung einfuhr. Alex hatte Probleme, ihm zu folgen, weil der Querverkehr einsetzte und er einigen PKW ausweichen musste, quietschende Reifen vereinigten sich mit mehrstimmigem Hupen zu einem Klangkonzert, das Semir jedoch nicht davon abbrachte, sich weiter auf den Flüchtigen zu konzentrieren. „Lass ihn nicht entkommen, Alex! Das könnte auch unser Mörder sein, ich wäre dir sehr dankbar, wenn wir ihn vor Umsetzung seiner Pläne erwischen könnten.“


    Kurz danach bog der Jaguar auf die A1 in Richtung Süden und wurde von seinem Fahrer auf der mäßig befahrenen Autobahn beschleunigt. Aber Alex gelang es durch einige geschickte Fahrmanöver den Abstand zu reduzieren. Einige Minuten später hatten sie ihn eingeholt. Der Verfolgte wurde langsam nervös, er trat das Gaspedal noch stärker durch. Er wechselte in hohem Tempo auf die rechte Spur und schnitt dabei die Fahrerin eines roten Golfs.


    Diese war gerade vom Verkehr um sie herum leicht abgelenkt, weil ihre kleine Tochter in ihrer Sitzschale begonnen hatte zu schreien und jetzt auch noch anfing zu spucken. Sie hatte sich nur kurz umgedreht, um beruhigend auf das 6-monatige Mädchen einzureden. „Mäuschen, wir halten gleich an und dann mache ich dich wieder sauber und frisch, ein paar Minuten nur noch.“ Sie bereute es, heute den Kindersitz nicht auf den Beifahrersitz geschnallt zu haben, da hätte sie leicht mal eine Hand für die Kleine frei gehabt, um sie zu beruhigen. Aber sie hatte vorher den Sohn des Nachbarn noch beim Fußballtraining abgesetzt und dem wird auf der Rücksitzbank immer übel. Und so weit war der Weg nach Bad Münstereifel ja auch nicht.


    Als sie nun ihren Blick wieder nach vorne richtete, erschrak sie vor dem schwarzen Auto, welches nur Zentimeter an ihrem Golf vorbeischrammte und verriss das Lenkrad, ihr Auto kam ins Schleudern und drehte sich mehrmals um sich selbst. Alex konnte dem roten Golf gerade noch ausweichen, die Blicke von Semir und der völlig panischen Mutter trafen sich für einen Bruchteil einer Sekunde. Er sah auch den Kindersitz auf der Rücksitzbank, dann schoss der Wagen schon unkontrollierbar über die Böschung hinaus, und rollte unausweichlich auf den dort befindlichen Teich zu.


    Semir reagierte sofort. „Alex! Lass mich aussteigen. Ihr schnappt sie euch! Und ruf RTW und Sascha!“ Alex bremste scharf und kam rutschend auf der Standspur zum Stehen. Semir hatte den Wagen kaum verlassen, die Tür noch nicht zugeschlagen, da gab Alex bereits wieder Gas und versuchte, den sich rasch entfernenden Jaguar einzuholen.


    Auch ein LKW-Fahrer hatte den Unfall beobachtet und sich sofort entschlossen zu helfen. Da sein Gefährt einen langen Bremsweg hatte, hatte Semir vor ihm den Golf erreicht, von dem noch die Fahrerkabine aus dem Wasser schaute, der aber auf dem schlammigen Untergrund ständig weiter nach hinten ins Wasser rutschte. Noch im Laufen hatte Semir seine Jacke ausgezogen und die Waffe gezogen und ließ beides auf dem Rasen fallen. Er stand schon bis zur Brust im Wasser und riss die Fahrertür auf, als der stämmige LKW-Fahrer die Böschung hinuntereilte.


    „Was ist? Kommen Sie raus!“, forderte Semir die Fahrerin auf, die sich am Lenkrad nach vorne zog, als könnte sie so den Rückwärts-Abwärtstrend des Fahrzeugs aufhalten. Die Rücksitzbank war schon fast im Wasser verschwunden. Semir blickte auf das Kleinkind, welches starr vor Schreck in seinem Sitz saß, und dessen Kopf gerade noch aus dem Wasser ragte. Wieder ging ein Ruck durch den Wagen. „Retten Sie mein Kind!“ Blanke Panik sprach aus den Worten der Fahrerin. „Steigen Sie aus, ich hole ihr Kind!“ – „Ich kann nicht, ich bin gelähmt.“ Semir öffnete die hintere Tür und bemerkte den Rollstuhl, der hinter dem Fahrersitz untergebracht war. Der Wagen rutschte erneut ein Stück tiefer ins Wasser, welches nun plötzlich das Kind vollständig bedeckte. Die Fahrerin geriet noch mehr in Panik, da griffen aber schon kräftigen Hände zu und zogen die Frau von ihrem Sitz. „Nein!“, wehrte diese sich und schlug mit ihren Armen um sich, „Mein Kind!“ – „wird gerade gerettet, bleiben Sie ruhig“, vervollständigte der stämmige LKW-Fahrer den Ruf der Frau. Semir musste schnell handeln, und in das Fond des Golfs tauchen. Zum Glück kannte er sich mir diesen Kindersitzen aus und fand auch blind das Gurtschloss. So erreichte er mit dem Baby bereits nach weniger als einer viertel Minute wieder die Wasseroberfläche. Es schrie augenblicklich wie am Spieß.


    Während Semir das kleine Mädchen aus dem Auto rettete und nun aus dem Teich ans Ufer trug, kümmerte sich der LKW-Fahrer um dessen Mutter, die er behutsam auf den Rasen am Ufer absetzte, wo sie jetzt überglücklich ihr weinendes Baby in ihre Arme schließen konnte.


    „Ist sie in Ordnung?“ Angesicht ihrer Situation sicher eine berechtigte Frage, die sich allerdings durch das Schreien ihrer Tochter selbst beantworten sollte. Der LKW-Fahrer und Semir schauten sich leicht amüsiert an und hatten denselben Gedanken, den Semir in die passenden Worte fasste: „Wer genug Luft hat, so zu schreien, dem kann es so schlecht nicht gehen.“ Und tatsächlich ließ sich die Kleine in den Armen ihrer Mutter zusehends beruhigen.


    Der rote Golf war mittlerweile bis über das Dach in dem Teich verschwunden. "Vielen Dank für Ihre Hilfe! Das ist heutzutage nicht selbstverständlich“, Semir reichte dem LKW-Fahrer seine Hand, „ich heiße übrigens Semir.“ Der stämmige Fahrer schlug ein. „Für mich schon. Rainer!“


    Semir zog sich seine vor der Rettungsaktion abgelegte Jacke wieder an, befestigte seine Waffe in seinem Holster. „Wir sollten sehen, dass wir hoch zur Straße kommen. Meine Kollegen haben schon einen Abschleppwagen und einen Rettungswagen gerufen, die müssten jeden Moment eintreffen.“ – „Rettungswagen? Aber wir sind doch gar nicht verletzt.“ – „Aber das wussten wir vor 5 Minuten noch nicht, und bei diesem Wasser sollten Sie sich und insbesondere ihre Tochter einmal untersuchen lassen. Wollen Sie noch jemanden anrufen? Ihren Ehemann vielleicht?“ – „Das mache ich nachher in Ruhe, er kann von München aus sowieso nichts machen.“ – „Ich trage Sie am besten nach oben zur Straße“, schlug Rainer vor und ging schon neben der Frau in die Knie. Diese blickte zwischen ihm und ihrem Kind hin und her. Die Kleine hatte sich wieder beruhigt. „Und meine Tochter?“ – „Geben Sie mir“, bot sich Semir an und nahm ihr vorsichtig das kleine Mädchen ab. „Na du?“, flüsterte er, „du kommst ja gleich wieder zu deiner Mama.“ Ihm fiel auf, wie nass und kalt das Kleinkind war, und er schloss seine Jacke um den kleinen Körper. Rainer nahm die Frau auf seine Arme und begann die Böschung zur Straße hinauf zu steigen, auf der in dem Moment ein Rettungswagen und eine Polizeistreife zum Stehen kamen.


    Semir und Rainer übergaben Mutter und Kind den Sanitätern, die sie sogleich zudeckten und untersuchten, während Semir Sascha entdeckte, der mit ausgebreiteten Armen auf ihn zukam. „Semir! Hätte ich mir ja denken können, dass du dahinter steckst. Wo ist der Wagen, den ich bergen soll? Und“, er rümpfte seine Nase, „was riecht denn hier so streng?“ – „Gülle, Sascha, in dem Teich laufen drei Gräben zusammen. Und genau in dem steckt das Objekt deiner Begierde.“ – „Das Auto ist …?“ – „Genau. Du hast doch eine Winde an deinem LKW, oder?“ Sascha nickte. „Ach ja, und der Rollstuhl ist besonders wichtig, den braucht die Frau in dem RTW, den holst du bitte zuerst raus.“ Sascha sah auf den Teich, der mit seiner unbewegten Wasseroberfläche keinen Hinweis auf das versunkene Auto gab, und lenkte seinen Blick zurück auf Semir. Doch dessen Blick veranlasste ihn nur zu der Äußerung: „Ich mach mich dann mal an die Arbeit.“ Er wandte sich zurück zu seinem LKW. „Ach, und Sascha?“ – Der stoppte, drehte seinen Kopf, und Semir meinte nur grinsend: „Lass dich nicht aufhalten!“ Er erntete als Antwort nur eine eindeutig Handbewegung von Sascha.


    Semir ging auf Rainers Angebot ein, ihn in seinem LKW zur PAST mitzunehmen. Alex Mercedes stand auf dem Parkplatz und auf dem Weg in die Dienststelle kamen ihm seine Kollegen entgegen. Semir winkte noch kurz Rainer zu, der in dem Moment den Hof verließ. „Hey Semir!“, begrüßte ihn Ben, „du siehst irgendwie“, er schaute dem LKW hinterher, „mitgenommen aus.“ – „Bin ich ja auch. Und ihr? Habt ihr ihn?“ Alex senkte leicht betreten den Kopf. „Nein, er ist uns entwischt. Wir haben Platz verloren, als wir dich rausgelassen haben, und der Jaguar hat auch einige Pferdchen unter der Haube. Und, das muss man ihm lassen, er wusste damit umzugehen.“ – „Was zum Kennzeichen?“ – „Es war ein gestohlener Leihwagen“ – „Mist!“, fluchte Semir. „Apropos Mist, wonach riecht es hier eigentlich?“ - „Jetzt fang du nicht auch noch an! Was ist mit der Krüger, zieht sie in eine Schutzwohnung?“ – „Nein, aber sie hat jetzt einem Personenschutz zugestimmt, Kollegen in der Wohnung und vor dem Haus“, erklärte Alex. „Hoffentlich reicht das, ich mach mich vom Acker, wir sehen uns morgen.“ - „Willst du nicht auch über Polizeischutz nachdenken, Semir?“


    „Und du? Alex, ich werde meine Familie schützen, aber wieder unterkriechen?“ – „Vielleicht sollten wir zusammen bleiben, bis wir ihn haben? Alex und ich könnten bei euch übernachten, dann kann immer einer von uns wach bleiben“, schlug Ben vor. Semir wollte schon dankend ablehnen, aber so dumm war der Gedanke gar nicht. So könnte aus seiner eigenen Wohnung eine Schutzwohnung werden. „Ben, das …wenn es euch nichts ausmacht, die Idee klingt nicht schlecht. Aber lasst mich erst mal Andrea alleine erklären, was geschehen ist. Gebt mir zwei Stunden, okay?“


    Alex und Ben nickten und schauten Semir hinterher, wir er in seinem BMW den Hof der PAST verließ.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Zusammenfassung

    Auch der vierbeinige Ben rümpfte seine Nase, als Semir mit seinen immer noch klammen Klamotten seine Wohnung betrat, allerdings tat er es mehr aus Interesse an dem ländlichen Wohlgeruch denn aus Ekel vor dem stattgefundenen Bad in der Gülle. So herzte Semir den Hund ausführlich, bevor er sich seiner Jacke und seinen Stiefeln entledigte und auf Socken durch den Flur schlich. Ayda und Lilly waren schon in ihren Betten, aus dem Wohnzimmer drangen gedämpfte TV-Stimmen an sein Ohr. Im Fernsehen lief eine der unzähligen amerikanischen Krimiserien, die Nicht-Stammzuschauer nicht auseinander zu halten vermochten. Er beugte sich über die Lehne des in der Mitte des Raumes stehenden Sofas, auf dem Andrea lag, wie ihm schon die über die Seite ragenden Füße verraten hatten. Andreas Blick war zwar auf den Bildschirm gerichtet, ihre Augen allerdings geschlossen. Semir strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht und gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. „Hi, ich bin wieder da“, begrüßte er sie leise. –„Hm“, Andrea kam langsam zu sich, dann fing auch sie an zu schnüffeln und schlug blitzschnell die Augen auf. Sie fuhr sich mit einer Hand zur Nase und drückte die Nasenflügel zusammen. „Hast du einen ganzen Kuhstall mitgebracht?“ Augenblicklich hatte sie sich aufgerichtet und drehte sich zu ihrem Mann um. „Wo kommst du her? Hast du gebadet?“, entrüstete sie sich, „und wenn ja, wo drin?“


    Semir hob abwehrend beide Hände und ging zwei Schritte zurück. „Ich bin schon wieder weg.“ Er beugte sich noch kurz zu Ben hinunter und kraulte dem Hund hinter den Ohren, der seine Nase gar nicht von der Jeans seines Herrchens lösen konnte. „Nicht wahr, Ben, du magst den Geruch, oder? Aber leider ist deine Meinung hier nicht mehrheitsfähig.“ – „Geh Duschen und pack die Sachen gleich in die Maschine!“, kam Andreas Aufforderung hinter der Couch hervor. „Ich glaube, hier ist keine Diskussion angebracht“, beendete Semir seinen Dialog mit Ben und ging ins Badezimmer.


    Nachdem er ausgiebig geduscht und die Waschmaschine angestellt hatte, setzte er sich mit einem kalten Bier zu Andrea. „Was für ein Tag!“ – „Ja? Was habt ihr gemacht, außer das Landleben genossen?“ – „Wir konnten Sophies Tod klären“, begann Semir. „Und die Lösung lag in der Gülle?“, stichelte Andrea noch einmal. „Nein, in der Gülle lag nur der Golf, der von der Autobahn abgekommen war.“ – „Abgekommen?“ – „Na ja, er wurde von der Fahrbahn geschoben“, druckste Semir herum. „Von euch?“ – „Nein, Andrea, von dem Mann, den wir verfolgten, er hatte in Krügers Wohnung auf sie gewartet, und wir haben ihn dort überrascht.“ Andrea drehte sich mit einem entsetzten Gesichtsausdruck zu Semir um. „Moment! Ein Gangster bei der Krüger? Aber was hat das mit Sophie zu tun?“


    „Nichts. Wir warten noch auf die Bestätigung aus der Gerichtsmedizin, gehen aber davon aus, dass Sophie aus reiner Neugier heraus Drogen genommen hat und die Wirkung unterschätzte, die Dosis war tödlich. Ein Kollege von ihr aus der Apotheke, in der sie ihr Praktikum absolvierte, hat ihr den Zugang dazu verschafft. In seiner Wohnung ist sie wohl auch gestorben.“ – „Ist ja schrecklich“, stieß Andrea aus. „Und er hat sie in den Kofferraum gelegt, um sie an einem anderen Ort abzulegen.“ – „Puh, das hat er gestanden?“ – „Ja, er hat gestanden, und dafür wird er hoffentlich eine Zeitlang sitzen.“ - „Und was war das jetzt mit Frau Krüger?“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Eigene Schutzwohnung


    Semir wand sich und zögerte. „Andrea, ich muss dir da etwas erzählen.“ Andrea zog ihre Stirn in Falten und wartete. „Ja?“ – „Du erinnerst dich doch an Mario Torres?“ – „Den Ben im Frühjahr erschossen hat, ja, an den erinnere ich mich mit Grauen zurück. Aber der kann ja schlecht in Krügers Wohnung gewesen sein, denn er ist tot.“ – „Ja, das ist er. Und das ist auch das, was wir noch nicht verstehen. Torres hatte eine Liste mit Namen bei sich in der Wohnung und war dabei, einen nach dem anderen zu liquidieren, bis es uns gelang. ihn zu stoppen. Paulsen und Heinrich waren es im Frühjahr, am Freitag hat man Neugebauer tot aus dem Rhein gefischt und Ramm starb gestern bei einem Brand in seinem Haus.“ – „Das heißt, jemand führt die Liste fort? Und war heute bei der Krüger?“


    Andrea hielt nichts mehr auf dem Sofa. Sie sprang auf und ging schnellen Schrittes zum Fenster. „Heißt das, es könnte jeden Moment eine Granate in unsere Wohnung fliegen? Oder eine Bombe unter deinem Auto explodieren? Müssen wir wieder auf diesen Petershof, in diesen Bunker?“ Sie unterstrich ihr letztes Wort mit in der Luft ausgeführten Gänsefüßchen. „Nein Andrea, wir bleiben hier“, Semir erhob sich und schritt zu Andrea, „Ben und Alex werden gleich kommen und zu dritt werden wir die Wohnung und Umgebung sichern. Wir gehen davon aus, es mit einem Einzeltäter zu tun zu haben. Das sollte reichen.“ Andrea schüttelte ihren Kopf und ließ sich in Semirs Arm fallen. „Nicht schon wieder“, flüsterte sie. „Es wird euch nichts passieren“, versuchte Semir seine Frau zu beruhigen, „wir werden hier auf euch aufpassen.“ – „Ich würde dir gerne glauben, aber ich weiß nicht-“ Die Türklingel unterbrach sie. „Ich gehe nachsehen, das werden Ben und Alex sein.“ Semir löste sich von Andrea und ging zur Wohnungstür.


    Nur Minuten später standen Ben und Alex im Flur, und der Duft frischer Pizza schwebte durch die Räume. „Ihr habt was zu essen mitgebracht?“ – „Ben hat was zu essen mitgebracht“, stellte Alex klar. „Ja, ich dachte nach dem Tag können wir alle etwas Herzhaftes gebrauchen.“ – „Geht rein, ich hole Teller und Besteck aus der Küche.“


    Trotz der späten Stunde war die Pizza eine willkommene Mahlzeit. „Was wollen wir machen, abwechselnd Wache schieben?“, fragte Semir. „Nicht nur das. Ben und ich waren ja in den letzten Stunden nicht untätig und haben uns mit Hartmut beraten. Er hat uns diese kleinen Kameras und Mikrofone mitgegeben“, er zog mehrere schwarze Kästchen aus einer mitgebrachten Tasche, „und diesen Laptop zur Steuerung. Das läuft alles über Funk, wir werden uns gleich an die Verteilung machen“, erklärte Alex. „Zugang zu dieser Wohnung ist im Grunde nur durch die Wohnungstür möglich“, ergänzte Ben, „es sei denn unser Mann ist Fassadenkletterer. Wir werden die erste Kamera im Treppenhaus anbringen, und eine im Fahrstuhl.“ – „Vergiss das Dach nicht, Ben“, gab Semir zu bedenken, „unser Dach liegt mit dem der Nachbarhäuser auf einer Ebene, von dort auf unsere Dachterrasse zu kommen, ist nicht schwer, auch für Nicht-Kletterer.“ – „Gut, eine Kamera auf das Dach und eine auf eure Terrasse.“ – „Dann los, Klebeband habe ich in der Küche, fahr den Laptop hoch. Andrea, du“ er sah, dass Andrea vollkommen teilnahmslos auf ihre Hände starrte und nur mit ihrem Kopf schüttelte, „Andrea? Was hast du?“ Semir ging vor seiner Frau in die Hocke und nahm ihre Hände in seine. „Andrea, hey, es wird alles gut.“ – „Nein, Semir, das wird es nicht. Kameras, Mikros? Wie soll ihn das davon abhalten, vom Haus gegenüber mit einem Gewehr hierüber zu zielen? Was nützt es, wenn ihr ihn dabei filmt, wie der eine Granate in unsere Wohnung wirft, die uns womöglich alle zerreißt? Was…“ Sie ließ sich in seinen Arm nehmen. Über ihre Schulter hinweg gab Semir Ben zu verstehen, mit Alex gemeinsam mit der Installation zu beginnen. „Andrea, du hast recht. Ich sollte euch nicht in Gefahr bringen. Er will Alex und mich, Ben eventuell auch. Ich werde morgen die Wohnung verlassen, bis wir ihn haben. Dann solltet ihr hier sicher sein. Aber heute Nacht lass uns das System testen.“ Andrea nickte an seiner Schulter. Dann löste sie sich und erhob sich langsam. „Ich gehe zu Bett. Ben, danke für die Pizza.“


    Die Nacht verlief ohne besondere Ereignisse. Semir, Ben und Alex wechselten sich mit dem Betrachten des Laptops ab, aber außer einigen Tauben auf dem Dach, dem zur Frühschicht das Haus verlassenen Nachbarn und dem Zeitungsboten, erfassten die Kameras kein Lebewesen. Nach einem gemeinsamen Frühstück packte Semir eine kleine Tasche für die nächsten paar Tage. Er würde in der Zeit bei Ben wohnen. Alex und Ben bauten die Kameras wieder ab und verabschiedeten sich von Semir und seiner Familie. „Wie sehen uns gleich in der PAST, Partner?“, fragte Ben, „Kopf hoch Andrea, wir schaffen das!“


    „Andrea, ihr müsst in den nächsten Tagen besonders wachsam sein. Wenn dir auch nur eine winzige Kleinigkeit auffällt, die anders ist, als sonst, ein Vorhang, der anders hängt, ein Blumentopf, der etwas anders steht, was auch immer, dann rufst du mich an, hast du verstanden? Lieber einmal zu oft als einmal zu wenig, hörst du? Die Alternative lautet Petershof.“ – „Warum, Mama?“, wollte Ayda wissen, die das Gespräch am Tisch mitbekommen hat, „und warum zieht Papa aus?“

    Abschied

    „Papa zieht doch nicht aus, Schatz“, begann Andrea, „er muss nur in den nächsten Tagen bei Ben wohnen, weil sie viel arbeiten müssen. Und das geht hier nicht.“ – „Stimmt das, Papa?“ – „Ja, Ayda, Mama hat recht, und ich komme zwischendurch mal vorbei und besuche euch.“ – „Und wie lange musst du bei Ben bleiben?“ – „Bestimmt nicht lange, ein paar Tage, Schatz.“ - „Machst du dich jetzt fertig für die Schule, Ayda? Und schaust du bitte mal nach Lilly, nicht dass sie sich wieder hingelegt hat.“ – „Ja, Mama.“


    Als Ayda den Raum verlassen hatte, kamen Andrea und Semir wieder auf das eigentliche Thema zurück. „Wie wollt ihr jetzt vorgehen, Semir? Habt ihr schon eine Spur, einen Hinweis?“ – „Nein, noch nicht. Wir werden das gesamte Umfeld von Mario Torres erneut überprüfen, irgendjemand muss Wert auf diesen Rachefeldzug legen, den wir bislang noch nicht auf dem Schirm hatten. Nur wem könnte etwas daran gelegen sein, uns alle auszuschalten? Was hat der Typ davon? Ich hoffe nicht, dass wir warten müssen, bis wir ihn auf frischer Tat ertappen, sondern dass wir ihm zuvorkommen werden.“ – „Aber ihr müsst erst wissen, um wen es geht.“ – „So sieht es aus, Andrea“, Semir blickte auf seine Uhr, „Ich muss los.“


    Semir stand vom Tisch auf, den Andrea nun begann abzuräumen. Er machte sich auf den Weg ins Badezimmer, um dort noch einige Dinge einzupacken und sich anschließend von den Kindern zu verabschieden. Andrea wartete an der Wohnungstür. „Meldest du dich ab und zu?“ – „Na klar, und vielleicht können wir ihn schon heute oder morgen schnappen, dann rufe ich dich sofort an.“ Semir blickte einen Moment lang auf seine Stiefel, hob dann seinen Kopf und schaute Andrea ins Gesicht. „Es tut mir leid, Andrea, aber ich-“ – „Ich weiß, du musst es tun, weil es dein Job ist. Wir hatten das Thema oft genug. Pass einfach auf dich auf.“ Semir wollte gerade noch etwas erwidern, entschied sich dann aber nur zum Nicken und küsste Andrea zum Abschied. „Wir telefonieren.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Bestätigung

    Semir blieb fast den ganzen Mittwoch über im Büro und schrieb den Bericht zum Tod von Sophie Ziegler und der Vernehmung von Fabian Hartmann. Der Anruf der Gerichtsmedizin füllte letzte Lücken in der Darstellung. Der Teenager war tatsächlich an einer Überdosis Scopolamin gestorben, das Gift führte zu einer Atemlähmung. Ob sie es wirklich aus freien Stücken nahm oder doch zu der Einnahme gezwungen wurde, war nicht eindeutig festzustellen. Blieb Hartmann bei seiner Aussage, die Semir durchaus glaubwürdig erschien, war es ein bedauernswerter Unfall gewesen.


    Hätte Hartmann das Leben des Mädchens retten können, wenn er gleich einen Notarzt gerufen hätte? Aber er hatte es nicht getan, stattdessen überlegt, wie er sich der Leiche am besten entledigen konnte, lieh sich dafür ein Auto und fuhr damit auf die Autobahn. Weil er unkonzentriert war, verursachte er einen an sich leichten Verkehrsunfall und entschied sich zur Flucht. Wann wäre Sophie wohl gefunden worden, wenn dieser Unfall nicht passiert wäre? Wären die Umstände ihres Todes dann überhaupt noch aufzuklären gewesen? Semir tippte den letzten Satz in seinen Computer. Er würde am Nachmittag den Eltern von Sophie das Ergebnis der Ermittlung mitteilen. Der Richter hatte noch am Dienstagabend Fabian Hartmann bis zur Verhandlung auf freien Fuß gesetzt. Er wird sich in einigen Monaten wegen seiner Taten vor Gericht verantworten müssen. Drogenabgabe an Minderjährige, vielleicht sogar fahrlässige Tötung, schwere Verkehrsgefährdung mit Unfall, Fahrerflucht, die Liste war lang. Aber damit werden sich andere auseinandersetzen dürfen.


    Alex und Ben verbrachten den Vormittag mit der Suche nach dem gestohlenen Leihwagen, in dem der Attentäter auf Kim Krüger ihnen entkommen war. Der Diebstahl war bei der Mietwagenfirma noch gar nicht aufgefallen, als die Polizei sie telefonisch mit dem Vorfall konfrontierte, aber irgendwie muss der Täter in den Besitz der Schlüssel gekommen sein. Wie sich den Ermittlern vor Ort zeigte, hatte er leichtes Spiel, die Schlüssel der Wagen, die zurückgebracht wurden, lagen zunächst in einem offenen Korb auf dem Tresen, da brauchte er sich nur zu bedienen. Von dem Wagen allerdings fehlte bis zum Abend jede Spur. Jeder Streifenwagen hielt Ausschau nach dem Kennzeichen, aber er blieb verschwunden.


    Auch zum Tod von Thorsten Ramm erhielt Semir an diesem Tag wertvolle Informationen von der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin. Der Körper des ehemaligen Ermittlers war so verrußt, dass keine Fremd-DNA sichergestellt werden konnte, aber ein Fremdverschulden kann dennoch nicht ausgeschlossen werden, da eine hintere Eingangstür Aufbruchspuren aufwies und der Stuhl, der neben dem Erhängten aufgefunden wurde, im Grunde zu weit weg von diesem lag, als dass er Ramm als Hilfsmittel gedient haben könnte. Allerdings war nicht mehr zu klären, ob der Stuhl nicht erst von den Einsatzkräften der Feuerwehr verschoben wurde. Als Brandherd ausgemacht werden konnten mehrere mit Benzin getränkte Heuhaufen im Erd- und Dachgeschoss des Hauses.


    Was für Semir auch gegen einen Suizid sprach, war neben der Tatsache, dass Thorsten Ramm auf der Liste eines Attentäters stand und bereits das zweite Opfer dieser Liste war, die Aussage seiner Kollegen, Ramm verfügte über eine ausgeprägt gute Gesundheit, zeigte keinerlei Anzeichen für Ermüdung, Depressionen oder anderer Krankheiten, die auf eine latente Suizidgefahr hinweisen könnten. Außerdem: warum sollte jemand, der über eine Dienstwaffe verfügt, sich aufhängen, warum sein Haus, für das er Erben hat, anzünden? Nein, für Semir stand fest: Thorsten Ramm war ein Opfer von Mario Torres bzw. dessen Rächer geworden.


    Sophies Eltern nahmen die Informationen über die näheren Umstände, die zum Tod ihrer Tochter geführt hatten, ausdruckslos entgegen. Semir betrat dazu lediglich den Flur des Hauses und fasste sich kurz. „Die Gerichtsmedizin hat den Leichnam Ihrer Tochter zur Bestattung freigegeben, sie können sie noch einmal sehen, wenn Sie möchten und die Beerdigung organisieren.“ Isolde Ziegler nickte stumm. „Ich hätte es Ihnen gerne erspart, Frau Ziegler, und Ihnen Ihre Tochter lebend wieder gebracht.“ – „Sie haben getan, was Sie konnten, Herr Gerkan. Sophie war schon tot, als Sie mit der Suche begannen, Sie hätten sie nicht mehr retten können.“ Nun war es an Semir, zu nicken. Aber ein dumpfes Gefühl blieb. Er erkannte, dass Eltern zu einem großen Teil machtlos sind, wenn ihre Kinder begannen, eigene Wege zu gehen. Hoffentlich blieben ihm und Andrea ähnlich schmerzhafte Erfahrungen erspart. Dana, durch den Schicksalsschlag vor einem knappen Jahr frühzeitig der Kindheit entrissen, hatte bereits den ersten Schritt in die Welt außerhalb des Elternhauses unternommen, Semir hoffte, sie würde ihre eigene Neugier im Zaum halten können. Er schüttelte diese Gedanken von sich und gab Frau und Herrn Ziegler die Hand zu einem stummen Abschied.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Durchbruch?

    Am Donnerstag fiel einer Polizeistreife in Langenfeld der dort in einer Nebenstraße abgestellte Jaguar mit dem Nummernschild K AK 381 auf. Sie hatten zu Beginn ihrer Frühschicht, der noch keine Stunde her war, von der Fahndung nach dem Leihwagen erfahren und so das Kennzeichen noch im Gedächtnis. Nach Rücksprache mit der Autobahnpolizei veranlassten sie sogleich das Verbringen des Wagens in die KTU.


    Semir, der zusammen mit Alex die Nacht bei Ben verbracht hatte und nun mit diesen beiden gemeinsam die PAST betrat, wurde sofort von Susanne über den Fund des Leihwagens in Kenntnis gesetzt. Er rief Hartmut an und bat den Kriminaltechniker, den Wagen vorrangig zu bearbeiten. Immerhin lag der Verdacht nahe, dass ein Doppelmörder in ihm gesessen hatte. Doch Hartmut musste den Hauptkommissar ausbremsen: „Semir, versprich dir davon nicht zu viel. Das ist ein Leihwagen! Hier sind zig Fingerabdrücke, die meisten davon verwischt und nicht wirklich brauchbar, aber ich tu, was ich kann. Bis heute Mittag brauche ich aber bestimmt, ich rufe dich dann an!“


    Der Vormittag zog sich in die Länge wie Gummi. Dann stieß Alex beim Studium der Unterlagen zum Mario-Torres-Fall auf ein bisher nicht bemerktes Detail: Mario Torres war in den 80ern schon längere Zeit in Deutschland gewesen, um hier eine Firma für den Import bolivianischer Produkte aufzubauen. Er hatte damals bei einer Sandra Utzdorf gewohnt und war auch mit ihr des Öfteren in seine Heimat gereist. Was wäre, wenn …?


    „Susanne!“, rief er durch die offene Bürotür. Die Sekretärin hob ihren Kopf und stand schließlich auf, als Alex keine Anstalten machte, zu ihr zu kommen. „Was denn, Alex?“ – „Kannst du diese Sandra Utzdorf mal überprüfen? Mir scheint, sie hatte mal ein Verhältnis mit Mario Torres, in den 80er Jahren.“ – „Okay, ich werde sehen, was ich herausfinden kann.“ Erst dann erzählte er Ben und Semir, der seinen Sitzplatz auf dem niedrigen Bücherschrank eingenommen hatte, von seinem Verdacht.


    „Mario Torres war vor etwa 30 Jahren für längere Zeit in Deutschland und auch eine Zeit lang bei einer Sandra Utzdorf gemeldet. Keine Ahnung, warum wir diese Frau noch nicht überprüft haben.“ – „Vielleicht hatten wir Torres vorher aufgespürt? Da brauchten wir sie nicht mehr“, vermutete Semir. „Auf jeden Fall ist es eine Spur zu unserem Bolivianer, der wir nachgehen müssen.“ Die Zustimmung seiner Kollegen war ihm sicher.


    „Semir! Frau Krüger ist am Telefon!“, rief Susanne und hielt dabei kurz das Mikro des Telefonhörers mit einer Hand zu, „er kommt gleich, Frau Krüger. Geht es Ihnen sonst gut, haben Sie den Einbruch in Ihre Wohnung schon halbwegs verdaut? … Das kann ich verstehen. Da bleiben Sie man auch noch, bis die Sache ausgestanden ist … Semir ist jetzt hier, ich übergebe mal. Auf Wiederhören!“ Sie reichte den Hörer an Semir weiter, der nun neben ihr stand. „Frau Krüger? … Ob wir was vorbereitet haben? … Ach, die Großkontrolle am Freitag“, er sah Susanne fragend an, die eifrig nickte und einen Daumen nach oben reckte, „Natürlich, das läuft. Wir haben alles im Griff und werden in Mannschaftsstärke vor Ort sein. … Nein, zu dem Attentäter gibt es noch nichts Neues, aber wir haben vielleicht eine Spur. Und der Wagen wurde gefunden und wird gerade von Hartmut untersucht … Ja, natürlich melde ich mich, sobald es Neuigkeiten gibt. Ciao, Frau Krüger, Ciao, Ciao.“ Er gab Susanne den Telefonhörer zurück. “Die Großkontrolle!“, Semir schlug sich mit der Hand vor die Stirn, „ist wirklich alles vorbereitet?“ – „Ja, Semir. Jenny und Dieter haben alles geplant und den Transporter schon bestückt. Das läuft.“ – „Danke, Susanne.“


    Hartmut bestätigte kurze Zeit später seine bereits geäußerte Vermutung, der Jaguar würde nicht viel hergeben. Er konnte zwar ein paar brauchbare Fingerabdrücke sichern, aber keiner von ihnen war im Polizeicomputer gespeichert. Die gesicherten Faserspuren würden erst im Vergleich mit einer Gegenprobe ihren Nutzen unter Beweis stellen können. Die Polizisten müssten ihm eine Textilprobe geben und Hartmut könnte sagen, ob derjenige im Auto gesessen hat.


    Susanne trug den ganzen restlichen Nachmittag alle Daten zu Sandra Utzdorf zusammen, die sie finden konnte. Am frühen Abend präsentierte sie dem Ermittlerteam ihre Ergebnisse. Sandra Utzdorf war damals mit Mario Torres in einer gemeinsamen Wohnung gemeldet. Und sie war schwanger, als Mario Torres seinen Wohnsitz wieder nach Bolivien verlegte. Einige Wochen später kam in Düsseldorf ihr gemeinsamer Sohn auf die Welt: Andreas Utzdorf.


    Und Susanne präsentierte dem Team auch die aktuelle Meldeadresse des heute 33-jährigen.

  • Hinweise

    Sogleich machten sich die drei auf den Weg zur Wohnung von Andreas Utzdorf, die sich im Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel befand. Sie nutzten die Gelegenheit, ins Treppenhaus zu gelangen, als gerade ein Bewohner das fünfstöckige Wohnhaus verließ, und stiegen langsam die Treppe nach oben. Dann standen sie vor der Wohnungstür von Mario Torres‘ Sohn. Ben klingelte, und sie warteten. Als auch nach dem zweiten Klingeln die Tür verschlossen blieb, zog Semir sein Besteck zum Öffnen des Schlosses hervor und fragte seine Kollegen: „Nur fürs Protokoll: Haben wir einen Beschluss?“ Alex und Ben schauten ratlos an die Decke. Dann hob Ben einen Zeigefinger. „Ich habe Schreie gehört“, meinte er gleichgültig, „und du, Alex?“ – „Ich denke, es ist Gefahr im Verzug, was meinst du, Chef?“ Semir ging in die Knie und machte sich an die Arbeit. „Ich bin einfach nur neugierig. Voila!“ Er stieß die Wohnungstür auf und entsicherte seine Waffe.


    Die Wohnung machte einen sauberen Eindruck, sie war spärlich, aber edel eingerichtet, Möbel aus Stahl und Glas prägten das Bild. Ben, Alex und Semir gingen von Raum zu Raum. Wie schon vermutet, war keiner zuhause. Dann machten sie sich im Wohnzimmer auf die Suche nach Hinweisen und wurden fündig. In einer Schublade lagen zwei Reisepässe, der eine abgelaufen und entwertet, der andere aktuell gültig. Sie bewiesen, dass Andreas Utzdorf einen regen Pendelverkehr nach Bolivien unternommen hatte, La Paz und Sucre lauteten seine Hauptziele. Daneben fanden sie einen intensiven Schriftverkehr mit Mario Torres. Der Bolivianer stand mit seinem Vater in engem Kontakt. Und im Schlafzimmer stockte Alex und Semir der Atem, an der Wand hing ein großes Porträt des Drogenbosses und Massenmörders. Aber waren die gefundenen Hinweise ausreichend, um davon auszugehen, dass Andreas Utzdorf den Rachefeldzug seines Vaters fortführte? Sie müssten ihn unbedingt erwischen und befragen. Die Kommissare entschieden, ihm eine Zivilstreife vor die Tür zu stellen, die den Mann festnehmen sollte, sobald er seine Wohnung betreten wollte.


    Sie fuhren zu Ben. Semir erledigte noch einige Telefonate, zunächst mit Dieter Bonrath, der ihm versicherte, für die Großkontrolle am nächsten Tag stünde alles bereit, er hätte schon mit dem Zoll gesprochen, der sich an der Kontrolle beteiligen würde und er selbst wäre mit Jenny ab 6:30 Uhr vor Ort. Es würde die letzte Kontrolle seiner Amtszeit werden und aus diesem Grund würde er für die Verpflegung der ganzen Mannschaft sorgen. Semir bedankte sich bei seinem langjährigen Kollegen.


    Sein nächster Anruf galt Andrea, mit der er ausmachte, dass sie Dana am Nachmittag in der PAST abholen sollte, damit Semir die Kontrolle nur etwa zwei bis drei Stunden verlassen müsste, um seine Tochter aus Aachen abzuholen.


    Dann machten sich die drei Freunde noch einen netten Abend bei Ben und tranken das eine oder andere Bierchen. Insgeheim hoffte jeder von ihnen auf den Anruf der Kollegen mit der Mitteilung, Andreas Utzdorf wäre bei der Rückkehr in seine Wohnung festgenommen worden und wartete in der PAST auf seine Vernehmung.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

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  • Bescherung

    Als Semir am Freitagmittag in seinem BMW vor dem Eingang des Hotels in Aachen vorfuhr, stand Dana bereits mit ihrem Koffer davor und winkte ihn heran. Sie verabschiedete sich noch von ihrer Kollegin, griff ihr Gepäck und schritt zu ihrem Vater. Der begrüßte sie mit einer kurzen Umarmung, die von Dana halbherzig erwidert wurde, nahm ihr die Reisetasche ab und legte ihn auf den Rücksitz. „Können wir los? Bist du im Dienst?“, fragte sie mit Blick auf Semirs Waffe, die er wie immer an der Hüfte trug, und öffnete die Beifahrertür. Sie stutzte kurz, auf dem Beifahrersitz lagen ein in Geschenkpapier eingepackter Karton und ein Briefumschlag. „Was ist das?“, fragte sie, hob die Sachen hoch und setzte sich in den Wagen. „Das sind deine Geburtstagsgeschenke von Andrea und mir. Der Umschlag ist von Andrea. Schnallst du dich bitte an?“ – „Ja.“


    Dana drehte den schmalen Karton hin und her und begann vorsichtig, den Klebefilm zu lösen. „Von dir?“, fragte sie noch mal nach. „Hmm“, nickte Semir, während er auf die Hauptstraße bog. „Aber eingepackt hast du es nicht selbst, oder?“, grinste sie. Ihr Vater tat empört: „Jetzt werde nicht frech! Du kennst meine versteckten Talente noch nicht, Dana!“ Sie mussten beide lachen. So unbeschwert entging ihnen, dass seit längerer Zeit ein Mercedes Geländewagen in größerem Abstand hinter ihnen herfuhr. „Aber du hast recht, da habe ich meine Leute für.“ Dana schlug das Geschenkpapier zur Seite und begann zu strahlen. „Ein E Book Reader? Woher weißt du, dass ich mir so einen gewünscht habe?“


    Semir begann zwei vor ihm fahrende LKWs zu überholen. Der Mercedes tat es ihm gleich und setzte sich anschließend wieder hinter ihn. Im Rückspiegel verfolgte dessen Fahrer zufrieden, wie der hintere LKW-Fahrer zum Überholen ansetzte und zum Schein ein Elefantenrennen begann. Nur hatte er nicht das Ziel des Überholens, sondern wollte in Zusammenarbeit mit dem überholten LKW die Autobahn versperren. Nebeneinander herfahrend blockierten sie beide Fahrspuren und durch ein geschicktes Verteilen auf der Fahrbahn, ließen sie weder links an der Mittelleitplanke noch rechts auf der Standspur Platz für den nachfolgenden Verkehr. Dann begannen beide Trucker einvernehmlich, ihre Zugmaschinen zu verlangsamen, bis sie leicht versetzt zum Stillstand kamen.


    „Ich kann eben manchmal doch ganz gut zuhören, Dana“, antwortete Semir, mit sich zufrieden, dass sein Geschenk so gut angekommen war und dankte still Andrea für diesen Tipp, „Andrea hat mir geholfen, schon mal ein paar Bücher drauf zu laden, du kannst also gleich anfangen zu lesen.“ – „Danke Papa. Und was ist das für ein Umschlag?“ – „Mach ihn auf, dann siehst du es“, Dana drehte den Umschlag in ihren Händen, „Und Ayda und Lilly haben extra einen Kuchen gebacken für heute Nachmittag, Andrea holt dich in der PAST ab, ich muss leider noch ein paar Stunden arbeiten.“


    Die Autobahn beschrieb eine lang gezogene Rechtskurve, schon bald, war im Rückspiegel nur noch leerer, unbefahrener Asphalt zu sehen. Die Zeit war gekommen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er zog auf die linke Spur und schickte sich an, Semir zu überholen.


    Dana nickte, öffnete den Umschlag und zog eine Glückwunschkarte und einen mehrseitigen handschriftlichen Brief hervor. Die Karte enthielt die üblichen Geburtstagswünsche sowie einen Gutschein für eine Shoppingtour und einen „echten Weiberabend“. Andrea versuchte auf diesem Weg, ihr Verhältnis zu Semirs älterer Tochter zu verbessern. Auf den Brief warf Dana einen kurzen Blick und entschied dann, ihn später in Ruhe zu lesen. Gerade als sie ihn in ihre Jackentasche steckte und Semir neugierig zu ihr hinübersah, knallte der Mercedes dem BMW in die Fahrerseite.
    „Ja, ist der denn bescheuert?“, entfuhr es Semir, der sofort versuchte, nach rechts auszuweichen und seinen BMW wieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch der Geländewagen setzte nach. Dana ließ vor Schreck den Karton mit dem E Book Reader fallen, der in den Fußraum vor den Beifahrersitz rutschte. „Was will der von uns?“, schrie sie panisch. Statt ihr zu antworten, griff Semir zum Funkgerät und gab einen Notruf durch: „Cobra 1 an Zentrale, wir werden angegriffen, brauche dring..…“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Danas Sekunde

    Susanne hatte die Zentrale der PAST übernommen, weil alle Streifenwagen unterwegs waren, zum großen Teil bei der Großkontrolle oder anderweitig auf der Autobahn. Sie legte gerade ihren Telefonhörer auf die Gabel und griff zum Funkgerät. „Cobra 11 für Zentrale!“ ‚Die Jungs werden sich bestimmt freuen, wenn ich sie von der Kontrollstelle wegschicke‘, dachte sie bei sich, und wiederholte ihren Ruf, dann meldete sich Alex. „Susanne, was gibt es?“ – „Auf der A4 hat ein Autofahrer eine Blockade durch zwei LKW-Fahrer gemeldet, die keinen Wagen an sich vorbei lassen. Könnt ihr euch darum kümmern.“ – „Nichts lieber als das, Susanne, so kommen wir endlich hier weg.“


    Inzwischen hatte Andrea mit Ayda und Lilly die PAST erreicht und ging gleich zu ihrer Freundin. „Andrea, schön dich mal wieder zu sehen. Semir ist noch unterwegs.“ Sie begrüßte Semirs Frau mit einer innigen Umarmung, auf die auch Ayda und Lilly mittlerweile bestanden. Da ertönte plötzlich Semirs aufgeregte Stimme aus dem Lautsprecher. „Cobra 1 an Zentrale, wir werden angegriffen, brauche dring..…“ Anstelle des Endes des Satzes drangen nun ein lauter Knall und das Geräusch knirschenden Blechs und quietschender Reifen an die Ohren der beiden Frauen. Susanne und Andrea starrten sich einen Augenblick entsetzt an. „Semir, was ist los? Melde dich!“, versuchte Susanne. Doch er war nicht mehr zu hören. „Semir!“, entfuhr es nun auch Andrea.


    „Cobra 11? Semir braucht Hilfe, ihr müsstest auf dem Weg zur Blockade an ihm vorbei kommen.“, gab sie den Semirs Notruf mit einem Blick auf die Karte auf ihren Monitor weiter. Andrea musste sich setzen und war nur einen Moment froh, dass ihre Töchter schon in das Büro ihres Vaters gelaufen waren, um auf dem Drehstuhl Karussell zu spielen. Sie blickte fassungslos in Susannes Gesicht und schüttelte langsam ihren Kopf. Gemeinsam starrten sie auf das Funkgerät, aus dem jetzt allerdings kein Ton mehr kam. Susanne versuchte noch mehrmals, Semir anzufunken, ohne Erfolg, dann alarmierte sie die Kollegen. „Cobra 11 für Zentrale. Beeilt euch, wir haben den Kontakt zu Semir verloren."


    An diesem Autobahnabschnitt waren rechts keine Leitplanken angebracht. Stattdessen zog sich neben der Standspur ein breiter Rasenstreifen entlang, bevor die Böschung der Autobahn steil abwärts einige Meter zu einem Feldweg und dahinter liegenden Getreidefeldern führte. Auf der Böschung wuchsen vereinzelte Büsche und junge Bäume. Qualm drang durch die Ritzen der Motorhaube hervor, als der Motor des Dienstwagens erstarb. Semir schlug verbissen auf das Lenkrad: „Nein, nicht jetzt!“ Er versuchte zu starten, aber der Wagen sagte keinen Ton mehr. Sein Angreifer fuhr mit seinem Geländewagen noch 30m weiter und wendete dann. Aus dem Lautsprecher drang Susannes aufgeregte Stimme: „Semir, was ist los bei euch? Ben und Alex sind auf dem Weg. Sag doch was!“ Doch Semir blieb die Antwort im Halse stecken. Er sah den Mercedes drohend vor sich, und dann fiel es ihm plötzlich auf: Warum war die Autobahnseite hier komplett frei? Sie hatten doch gerade eben noch Autos und sogar einige LKW überholt. Doch Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, blieb ihm nicht. Der Motor seines Gegners heulte auf, dann setzte sich der schnelle Wagen in Bewegung. „Raus! Dana, wir müssen raus!“


    Er öffnete seinen Gurt und zog an seinem Türgriff. Nichts. Der Aufprall des schweren Wagens hatte die Fahrerseite des BMW so verbeult und verzogen, dass sich die Fahrertür nicht mehr öffnen ließ. „Dana, beeil dich, wir müssen deine Seite benutzen!“


    Dana stieg aus und beeilte sich, vom Wagen wegzukommen. Sie rannte die Böschung hinab auf den kleinen Feldweg zu und kauerte sich hinter einen kleinen Strauch. Hinter ihr hörte sie einen lauten Knall, als der Mercedes den Dienstwagen ihres Vaters traf und über die Böschung katapultierte. Sie schaute dem BMW hinterher, der sich mehrfach überschlug und schließlich auf dem Dach liegen blieb. Suchend drehte Dana sich um, doch von Semir war keine Spur zu sehen. „Papa?“


    Sie rappelte sich auf und lief in Richtung des Wagens. War Semir nicht rausgekommen? In Dana kam Panik auf, als oben auf der Straße dem Geländewagen ein Mann entstieg und sich ebenfalls auf den Weg die Böschung hinab zum BMW machte, um sein Werk zu vollenden. In seiner Hand war deutlich eine Waffe zu erkennen. Dana wollte schreien, doch ihr Hals war wie zugeschnürt. Was, wenn der Kerl auch auf sie schoss?
    Dann erregte etwas in einem kleinen Gebüsch auf halbem Weg die Böschung hoch, noch etwa 30m vom Wrack des BMW ihre Aufmerksamkeit. Dort lag etwas und sie schaute genau hin. Erleichterung machte sich in ihr breit. Semir muss doch noch über den Beifahrersitz aus dem Wagen entkommen oder herausgeschleudert worden sein. Mit wenigen Schritten war Dana bei ihrem Vater und ging neben ihm in die Knie. „Papa, wach auf, er ist noch da! Papa! Er wird uns erschießen! Ich habe Angst!“ Semir war nicht bewusstlos, ihm war nur einen Augenblick vor Schmerz schwarz vor Augen geworden. Er konnte seinen rechten Arm nicht bewegen, jeder Versuch wurde mit einer Schmerzattacke bestraft. „Dana“, stieß er aus, „bist du in Ordnung? Wo ist er?“ – „Bei deinem Auto. Er hat eine Pistole!“ – „Du musst mir meine Waffe geben, ich kann meinen Arm nicht bewegen.“ Semir lag auf dem Bauch und verlagerte sich jetzt so, dass er in Richtung seines Wagens blickte. Dana zog seine Waffe aus dem Holster und legte sie in Semirs linke Hand. Er entsicherte die Pistole einhändig und machte sich bereit.


    Ihr Gegner wandte sich, als er den BMW leer vorfand, suchend um und machte sich auf den Weg in Danas und Semirs Richtung. Da der Bewuchs nur spärlich war, entdeckte er die beiden nach kurzer Zeit. Dana presste sich neben Semir auf den Boden. Schon peitsche ein Schuss knapp vor ihnen in den Boden und schickte eine kleine Grassode in die Luft. „Nun mach doch was, Papa!“ Semir versuchte zu zielen und abzudrücken, aber auch seine linke Hand gehorchte ihm nicht, sie begann vor Schmerz zu zittern, ihm fiel die Pistole aus der Hand. Ein weiterer Schuss peitschte durch die Luft, verfehlte aber ebenso wie der vorherige sein Ziel. „Dana, ich kann es nicht, du musst!“ – „Was?“, entfuhr ihr entsetzt. Sie sollte schießen? Alles in ihr sträubte sich dagegen, aber hier sterben, das wollte sie auch nicht. Und ihren Vater ein zweites Mal verlieren? Nein! Sie schloss ihre zierliche Hand um den Holzgriff von Semirs Waffe, hob das schwere Eisen in die Höhe und drückte den Abzug vier-, fünfmal durch, bis sie sicher war, dass der Gegner getroffen zu Boden gegangen war.


    Semir legte seinen linken Arm auf Danas rechte Hand und drückte sie behutsam zu Boden. „Ist gut, Dana. Ich glaube das reicht.“ – „Ha- Habe ich ihn er- erschossen?“, stammelte sie. „Scht, alles wird gut. Es war notwendig, sonst hätte er uns erschossen.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Erledigt

    Ben und Alex fuhren auf der leeren, linken Fahrspur der A4 der LKW-Blockade entgegen. Von Semir keine Spur. Am Rand stand ein schwarzer Mercedes Geländewagen mit offener Fahrertür. Ben lenkte seinen Mercedes auf die Standspur und hielt an. Wo war Semir? Dann wies Alex auf die schwarzen Spuren auf dem Asphalt, die auf frischen Gummiabrieb hindeuteten und die sich auf dem Rasen vor der Böschung in tiefen Furchen fortsetzten. Die beiden Hauptkommissare machten sich auf den Weg. Instinktiv zogen und entsicherten Ben und Alex ihre Waffen. Sie atmeten erleichtert auf, als sie Dana und Semir lebendig vorfanden, als plötzlich ihr Blick den des Mannes traf, der sich wieder zu regen begann und erneut seine Waffe erhoben hatte. „Semir, Dana, runter. Er bewegt sich wieder!“


    Der Verletzte spürte, dass er getroffen war, aber er war noch nicht tot und auch nicht gewillt, die Reise ins Jenseits ohne sein Opfer anzutreten, also raffte er sich wieder auf und zielte mit seiner Waffe erneut in die Richtung, in die er vorher auf Semir und Dana geschossen hatte. Semir drückte Dana wieder zu Boden und stöhnte unter den Schmerzen auf, die diese Bewegung seinem Arm bereitete. Eine Kugel pfiff dicht über ihren Köpfen hinweg. Fast gleichzeitig schoss Alex und versenkte ein Projektil in den Oberkörper des Attentäters. Dieser ließ seine Waffe fallen und presste die Hand auf die frische Wunde in seiner Brust. Alex benötigte nur wenige Sekunden, bis er bei ihm war, die Pistole sicherstellte und sein Handy zückte, um einen Rettungswagen zu alarmieren.


    Ben kümmerte sich in der Zwischenzeit um Semir und Dana und half seinem Freund auf die Beine. „Was ist mit deinem Arm? Dana? Bist du in Ordnung?“ – „Das war in letzter Sekunde, Ben. Danke, Partner. Mein Arm ist ausgerenkt, denke ich, wird schon wieder.“ – „Dann bringe ich euch von hier weg. Alex! Ich bringe Semir zu einem Arzt, der ihm die Schulter wieder einrenkt. Der Kerl wehrt sich nicht mehr, oder? Lass Sascha kommen für den BMW und den Mercedes.“ Alex nickte. „Geht klar, ich räume mal wieder auf. Das nächste Mal bist du dran!“


    Ben half Semir und Dana die Böschung hinauf. Noch bevor sie den Mercedes erreichten, hörten sie Alex laute Stimme. Dieser stand breitbeinig mit seiner Waffe im Anschlag neben dem Verletzten und blickte dem Schwerverletzten in die braunen Augen. „Ich verhafte Sie wegen Mordes an Uwe Neugebauer und Thorsten Ramm, versuchten Mordes an Kim Krüger, Semir Gerkan und Dana Wegner, schwerer Körperverletzung, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, Sachbeschädigung…“ Ben musste schmunzeln. Als sie oben auf der Autobahn ankamen, war aus der Ferne schon die gerufene Verstärkung, sowie RTW und Notarztwagen zu hören. Semir ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, ehe einer der Sanitäter seine Schmerzen erkennen konnte. Ben schickte den Streifenwagen gleich weiter zur LKW-Blockade und wies den Notarzt und die Sanitäter kurz ein.


    Semir streckte seinen linken Arm aus und nahm das Funkgerät. Auf jede Funkdisziplin pfeifend sprach er hinein: „Susanne? Wir kommen mit Ben jetzt zur PAST.“ Statt Susanne antwortete Andrea, die ihrer Freundin in den letzten zwanzig Minuten nicht von der Seite gewichen war. „Semir! Gott sei Dank! Bist du in Ordnung? Und Dana auch?“ – „Ja, sind wir, wir kommen in die PAST, Andrea“, beruhigte Semir seine Frau. „Ist er nicht und kommen wir nicht“, berichtigte Ben, der zwischenzeitlich hinter dem Steuer Platz genommen hatte, seinen Partner, „Semir hat sich die Schulter ausgekugelt, ich bringe ihn ins Marienkrankenhaus und dann erst zur PAST.“ – „Das ist nicht nötig, Ben“, widersprach Andrea, „ich komme ins Marien und hole sie dort ab.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Der Brief

    Ben brachte Semir in die Notaufnahme und nahm mit Dana auf den Besucherstühlen auf dem Flur Platz. „Bist du wirklich ganz in Ordnung, Dana?“, wollte er von Semirs Tochter wissen, als er merkte, dass ihre Hände zitterten. Sie nickte stumm. „Ja, es geht mir gut. Letzte Woche ist meine Freundin umgebracht worden, heute beinahe Papa und ich, ich habe auf einen Menschen geschossen, doch, Ben, es geht mir gut.“ – „Schon gut“, antwortete Ben, dem der Sarkasmus in Danas Stimme natürlich nicht entgangen war, „versprich mir, dass du mit Semir in Ruhe darüber sprichst, ja? Es ist nicht gut, wenn du es in dich reinfrisst. Glaub mir, ich weiß das, und dein Vater auch“, redete Ben auf den Teenager ein. Dana nickte stumm.


    Dann fiel ihr der Brief von Andrea ein, den sie nun aus ihrer Jacke hervorzog und auseinander faltete. Konzentriert studierte sie die Zeilen, die die Frau ihres Vaters zu Papier gebracht hatte. Sie fand ja eigentlich, dass handschriftliche Briefe nicht mehr in die heutige Zeit passten, fand es aber auf der anderen Seite rührend, wie viel Zeit sich Andrea dafür genommen haben musste. Wann hatte sie selbst mehr als einen Satz mit Tinte oder Kugelschreiber zu Papier gebracht – von der letzten Klassenarbeit einmal abgesehen? Die meisten ihrer Schriften, oder „Postings“, wie es heute hieß, umfassten im Schnitt 4 Wörter und 3 Abkürzungen plus einem Smiley, für eine Zustimmung brauchte sie nur ein einziges Symbol zu setzen. Und hier hielt sie einen mehrseitigen Brief in der Hand, dazu noch von einer Frau verfasst, der sie in den letzten Monaten mit einer Ablehnung entgegengetreten war, die – objektiv betrachtet – durch nichts zu rechtfertigen war, von einer Frau, die mit ihrem Vater zusammenlebte, den sie achtete und bewunderte, von einer Frau, die jedes Recht hatte, ihm die Sorge für sie alleine zu überlassen und sich selbst nur um ihre beiden kleinen Kinder zu kümmern, so wie sie von ihr in letzter Zeit behandelt wurde, und die ihr trotzdem diesen Brief schrieb, in diesen Zeilen ihr die Hand reichte und sie in ihrer Familie willkommen hieß. Es war mehr die Geste an sich, als der genaue Inhalt der Zeilen, die sie bewegte und ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie ließ nach der Lektüre das Papier sinken und wischte sich mit einer Hand die Augen trocken.


    Ben kramte ein Taschentuch hervor und reichte es ihr. Dann legte er Dana den Arm um die Schultern und drückte das Mädchen sanft an sich. „Weine ruhig. Das war heute alles etwas zu viel für dich, Weinen befreit.“ ‚Wenn Ben wüsste, was sie gerade zum Weinen brachte‘, dachte Dana.


    So fand sie Andrea, die einige Minuten später den Gang zur Notaufnahme entlang rannte, im Schlepptau Ayda und Lilly. Ben schaute sie an und antwortete, bevor die Frage ausgesprochen war: „Semir ist noch drin, Röntgen, Einrenken, vielleicht sogar unter Narkose, das dauert.“ Jetzt blickte Dana auf. Andrea sah, dass sie den Brief gelesen hatte und ging vor ihr in die Hocke. „Andrea“, sagte Dana mit fester Stimme, „die Antwort ist: Ja!“
    Dann fiel sie Andrea in die offenen Arme. Ben stand leise auf. „Ayda, Lilly, kommt. Wir lassen die großen Mädels einen Augenblick alleine und gehen etwas trinken.“ Ohne Aufzublicken mischte sich Andrea ein. „Aber keine Cola, Ben, dafür ist es schon zu spät am Tag.“ Ben verschwand mit den Kindern in der Cafeteria.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Eine Familie

    Andrea setzte sich neben Dana, um mit ihr gemeinsam auf das Ende der Untersuchung zu warten. Sie spürte, dass der Teenager mit den Nerven völlig am Boden war, Dana knetete in einem fort ihre Hände und ließ sich von Andrea gerne in den Arm nehmen. „Es war so schrecklich, Andrea. Ich habe auf einen Menschen geschossen. Papa konnte nicht schießen, ihm fiel die Pistole aus der Hand, ich sah sie da liegen, und ich sah ihn seine Waffe auf uns richten. Und er schoss. Ich musste doch was tun, oder?“ Dabei fixierte Dana mit ihren Augen einen Punkt im Muster des Krankenhausflurs und bewegte ihren Kopf keinen Millimeter. Monoton wiederholte sie: „Ich musste doch was tun.“ – „Ja, Dana, das musstest du. Er hätte dich erschossen, er hätte Semir getötet, er hätte dir den Vater, Ayda und Lilly ihren Papa und mir den Mann genommen. Du hast vollkommen richtig reagiert. Du musstest es tun. Ich hätte es auch getan.“


    Andrea dachte an den Tag zurück, an dem sie selbst auf einen Mann geschossen hatte, der auf Semir angelegt hatte, welcher wehrlos vor ihm lag. Danach brauchte sie psychologische Unterstützung, um die Richtigkeit ihrer Tat einzusehen. Und die würde sie Dana auch zukommen lassen. Vielleicht sollte sie mit Dr. Frings sprechen, von der ihr Semir erzählt hatte, und die seit einiger Zeit im Bezirk tätig war. Sie würde es später mit Semir erörtern. „Meinst du, sie behalten Papa hier?“, unterbrach Dana ihre Gedanken. „Ist er auf eigenen Beinen ins Krankenhaus gegangen?“, lautete deren Gegenfrage. „Ja, ist er“ - „Dann nicht, dann wird er mit uns rausgehen.“


    Dana lehnte sich an Andrea an, die ihren Arm um sie legte, deren beruhigende Reaktion blieb nicht ohne Wirkung. „Ich hatte schon gedacht, ich würde wieder einen Vater verlieren, …. Was du geschrieben hast, Andrea … du hast in allem recht … es tut mir leid, ich werde es versuchen. Wann wollen wir denn los? Nächste Woche vielleicht?“


    Semir verabschiedete sich in dem Moment vom Arzt und einer Schwester, die ihm dem Arm wieder eingerenkt und bandagiert hatten. Jetzt sollte er seinem Arm noch mindestens eine Woche Ruhe gönnen. Knochenschäden am Schultergelenk konnten im Röntgenbild ausgeschlossen werden. Sein linkes Handgelenk war schwer verstaucht, ein Finger angebrochen und ebenfalls bandagiert. Er würde noch einige Zeit mächtig gehandicapt sein. Aber dieser Tag hätte auch ganz anders enden können. Hatte er es im Zeitpunkt des Anschlags noch verflucht, seine Tochter im Auto zu wissen, so hatte sich ihre Anwesenheit im Endeffekt als lebensrettend herausgestellt. Er trat auf den Flur vor dem Behandlungszimmer und blieb gerührt stehen. Das hatte er sich lange gewünscht, Andrea und Dana schienen sich endlich versöhnt zu haben. Sollten sie doch noch eine richtige Familie werden? Doch um welchen Preis?


    Semir stand einige Augenblicke schweigsam hinter Dana und legte ihr dann seine bandagierte Hand auf den Rücken. Das Mädchen blickte auf. „Papa, du bist wieder raus, war es schlimm? Kannst du mit uns nach Hause?“ – „Ja, Dana, keine Sorge, nur eine ausgekugelte Schulter und eine verstauchte Hand.“ Andrea schloss ihn in ihren Arm. „Ja, es ist vorbei“, beantwortete er ihre lautlos gestellte Frage.


    Sie gingen gemeinsam in die Cafeteria, wo Ben mit den beiden Mädchen an einem Tisch saß. Auch Alex war mittlerweile dazu gekommen. Er hatte für Dana ihre Tasche und den Karton mit dem E-Book Reader mitgebracht. „Das ist nett von dir, Alex, vielen Dank. Können wir vielleicht gleich fahren? Mir geht es nicht wirklich gut, und Ayda hat doch extra einen Kuchen gebacken.“ – „Ja, das habe ich, aber ob der auch noch zum Abendessen schmeckt?“ – „Da bin ich mir ganz sicher, Ayda“, zauberte Dana ein breites Lächeln auf das Gesicht ihrer jüngeren Schwester.

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  • Das Haus

    Andrea fuhr Semir und Dana in den Eichenweg, zu dem Haus, in dem Dana über 15 Jahre lang mit ihren Eltern gewohnt hatte, bevor sie in Brüssel zu Opfern brutaler Mädchenhändler wurden, die das Mädchen zuvor entführt hatten. Nach dem Tod von Tom und Nazan Wegner war Dana nur ein einziges Mal in ihrem Elternhaus gewesen, um ihre persönlichen Sachen aus ihrem Zimmer und einige wichtige Papiere und Fotoalben aus dem Wohnzimmerschrank zu holen.


    Verwandte hatten ihr die schwere Aufgabe abgenommen, den übrigen Inhalt der Schränke und Regale in Kartons zu verpacken und diese gemeinsam mit den meisten Möbeln in einem Mietlager einzulagern. Der Familienwagen der Wegners war auch mittlerweile verkauft worden, und der Erlös deckte die laufenden Kosten des leer stehenden Hauses.


    So erwartete Semir und Dana ein nahezu leeres Anwesen, auf dessen Einfahrt Andrea den Familienkombi jetzt lenkte. „Lasst euch nur Zeit“, meinte sie, während Semir die Beifahrertür umständlich mit seiner linken Hand öffnete und mit dem Knie aufstieß, „ich warte hier auf euch.“ Sie verband mit dem Haus keine eigene Erinnerung, war selbst nie drinnen gewesen. Dieses war Danas Abschied von ihrer Kindheit mit ihren Eltern, und ihr alleine sollte dieser Moment vorbehalten sein. Sie sollte sich viel Zeit dafür nehmen, da wollte Andrea sich nicht anhängen.


    Semir hatte hier während einer Ermittlung eine frühere Freundin, Nazan, und ihre Tochter Dana kennengelernt und am selben Tag noch erfahren, dass er ihr Vater war. Dana war knapp zehn Jahre alt und hielt bis zu dem Zeitpunkt Nazans Ehemann für ihren Vater.


    Andrea hatte es Semir damals übel genommen, sie spielte sogar mit dem Gedanken, sich von ihm zu trennen, war aber im Nachhinein froh darüber, sich zum Bleiben entschieden zu haben.


    „Nein, Andrea“, riss Danas Stimme sie aus ihren Gedanken, „Ich möchte, dass du mitkommst und wir das gemeinsam abschließen. Wir sind doch eine Familie.“


    Gerührt verließ nun auch Andrea das Auto und schloss sich Semir und Dana an, die mit ihrem Schlüssel die Haustür öffnete und aufstieß. Ihre Schritte auf dem Fliesenboden hallten in den leeren Räumen wider.


    Dana verschwand gleich über die Treppe nach oben, wo sich ihr Kinderzimmer befunden hatte. Die Jugendmöbel standen noch, auf den Regalböden hatte sich mittlerweile der Staub der vergangenen Monate gelegt, an der Wand hing noch ein großes Poster aus einer Jugendzeitschrift. Das Poster war das einzige Zeichen dafür, dass sie hier gut fünfzehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Ihre Bücher, ihre Spiele, ihre Musikanlage, all das war mittlerweile in ihrem Zimmer bei Semir und Andrea untergebracht, an den Möbeln hing ihr Herz nicht. Ihr gefielen die weißen Möbel, die Semir ihr vor ihrem Einzug gekauft hatte, wesentlich besser als diese Jugendzimmerserie aus Kiefernholz, vor vielen Jahren in einem schwedischen Möbelhaus erstanden. Dana stand etwa zehn Minuten am Fenster und schaute nachdenklich in den Garten, in dem Semir jetzt an etwa derselben Stelle saß, an den er sich damals zurückgezogen hatte, als Nazan ihm vorgeworfen hatte, die Schuld an Danas Entführung zu tragen, einem Entführungsfall, der Ben und ihn nach Istanbul geführt hatte und für Dana glücklicherweise zu einem guten Ende gebracht werden konnte.



    „Dana?“, wurde der Teenager in seinen Gedanken unterbrochen. Andrea stand in der Zimmertür, „dies war dein Zimmer?“ – „Ja, Andrea, etwas größer als bei euch, und den Blick in den Garten habe ich immer geliebt.“ Dana riss sich vom Ausblick los und drehte sich zu Andrea um. „Aber bei euch wohne ich auch gerne. Soll ich dir etwas zeigen?“ Andrea nickte. „Dann komm mit.“


    Semir saß länger im Garten, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Aber die Gedanken an die Tage vor sechs Jahren ließen ihn nicht los. Erst das Wiedersehen mit Nazan, das Kennenlernen ihrer Tochter Dana, die Erkenntnis, dass er der Vater des Mädchens ist, dann ihre Entführung, der Anschlag auf die PAST, der Kollegen das Leben kostete, der Tod von Hotte, Bonraths langjährigem Partner, die Reise nach Istanbul, die Befreiung von Dana, all das durchlebte er in dieser halben Stunde erneut. In den Jahren danach war er selten hier gewesen, eigentlich nur, um Dana zu einem gemeinsamen Ausflug abzuholen oder zurück zu bringen. Damals hatten Danas Eltern noch zur Miete in diesem Haus gewohnt, es dann aber vor einigen Jahren gekauft. In der nächsten Woche würde Semir einen Makler mit dem Verkauf beauftragen. Er erhob sich und ging auf die offene Terrassentür zu. Was die Frauen wohl machten?


    Dana tat sehr geheimnisvoll, als sie – gefolgt von Andrea – in ein Nebenzimmer ging und dort aus einer Ecke eine Holzstange mit einem Eisenhaken an einem Ende griff. Ihr Blick ging zur Decke, in dem sich eine Klappe abzeichnete, an deren Ende eine entsprechende Eisenöse war, in die sie nun den Haken hängte, um mit der Stange eine Falltür mit einer in sich zusammengeschobenen Treppe herabzuziehen. Schnell löste Dana den Sicherungshaken und ließ die Treppe auf den Fußboden gleiten. „Komm mit!“, forderte sie erneut von Andrea und stieg die Sprosse auf den Dachboden hinauf. Oben angekommen fuhr sie fort: „Ich war früher oft heimlich hier oben. Hier stand ein Schaukelstuhl von meinen Großeltern, den hatte ich mir unter das Fenster geschoben“, sie wies auf das Velux-Fenster, „und dann habe ich gelesen oder gespielt. Mensch, Berge an Bücher und Spielsachen stapelten sich hier. Ich dachte immer, Mama und Papa würden es nicht mitbekommen, aber ich glaube mittlerweile, sie haben es einfach geduldet und mich in dem Glauben gelassen, hier einen Geheimplatz für mich gefunden zu haben.“


    „Andrea? Dana?“ Semirs Stimme drang gedämpft zu ihnen hinauf. „Eigentlich schade, dass das Haus schon komplett ausgeräumt ist, hier lagen bestimmt noch einige Bücher von mir herum.“ – „Glaub‘ mir Dana, es ist besser so. Ich denke, die Erinnerungen wären mit den ganzen Sachen noch schmerzhafter.“ – „Hm, vielleicht hast du recht. Wollen wir Papa suchen lassen?“ – „Semir wäre ein schlechter Polizist, wenn ihm die ausgeklappte Treppe nicht auffiele. Ich gehe runter. Möchtest du noch bleiben? Wir warten dann unten?“


    Dana nickte, und Andrea verstand nur zu gut, dass sie noch ein wenig alleine hier oben bleiben wollte. Dann kletterte sie rückwärts die Stiege hinab und stieß in der Tür zum Flur beinahe mit Semir zusammen. „Ihr wart auf dem Dachboden?“ – „Ja, Dana braucht noch etwas Zeit. Was ist mit dir?“ – „Ich werde hier erdrückt. Lass uns rausgehen.“

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  • Bonraths Abschiedsparty

    Es gab viele Dinge, die Bonrath in seiner aktiven Laufbahn als Polizist sehr oft getan hat und in dieser Woche ganz bewusst ein allerletztes Mal erledigte. Die letzte Unfallaufnahme, die letzte Anzeige wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung, die letzte Kontrolle von Fahrzeugpapieren, der letzte Schwertransport, die letzte Festnahme, das letzte Unfallopfer, der letzte Bericht. Aber eine Sache gab es, die unternahm er an diesem Montag zum allerersten und gleichzeitig zum letzten Mal. Er nahm Abschied von seinen langjährigen und ihm ans Herz gewachsenen Kollegen der PAST. Unausweichlich war er gekommen, der letzte Tag, die letzte Stunde an seinem Schreibtisch gegenüber von Jenny, dem Schreibtisch, auf dem bis zuletzt das Bowlingfoto von Horst „Hotte“ Herzberger stand, seinem Partner für über zehn Jahre, der vor gut vier Jahren bei einem Einsatz von einer tödlichen Kugel getroffen worden war. Ja, vieles hat er erlebt in seiner über 40-jährigen Laufbahn, aber auf das, was nun kam, hatte ihn keine Lebens- oder Berufserfahrung vorbereiten können.


    Susanne hatte den ersten Dienstplan erarbeitet, in dem sein Name nicht genannt wurde. Neben der Entlassungsurkunde, die ihm Kim Krüger im Namen des Polizeipräsidenten am Montagmorgen aushändigte, der zweite schriftliche Beweis für seine dienstfreie Zeit ab Dienstag. Obwohl, kann etwas, das nicht auf einem Stück Papier steht, ein schriftlicher Beweis sein? Und doch: das Nichtvorhandenseins seines Namens zeigte ihm, er hatte ab dem Folgetag nichts mehr hier in der PAST zu tun, und auch nicht in der folgenden Woche, nicht im nächsten Monat oder Jahr. Zunächst würde es ihm vorkommen wie ein Urlaub, dann würde es ihm irgendwann bewusst werden: dieser Urlaub würde ewig dauern. Könnte er die Zeit noch „Urlaub“ nennen?


    „Und Dieter, was hast du jetzt vor? Erst mal Urlaub?“, riss Semir ihn aus seinen Gedanken. „Urlaub? Ich habe keinen Urlaub mehr, Semir. Ab jetzt habe ich immer frei. Ich werde die nächsten Wochen mit einem Freund auf eine Reise gehen, wir wollen Segeln. Sein Boot liegt an der Ostsee, dann geht es durch Dänemark Richtung Schweden, bis es uns zu kalt wird. Das hatte Hotte nach seiner Pensionierung auch vorgehabt, ich denke, die Tour wird für mich auch eine Hotte-Gedächtnisreise. Wäre das nicht auch etwas für euch, Semir?“ Semir musste lachen. „Eine Hotte-Gedächtnisreise?“ – „Nein, eine Segeltour natürlich.“ - „Für Andrea und die Kinder vielleicht, aber für mich eher nicht. Ein Fahrzeug ohne Räder? Dazu auf dem Wasser? Ach nein. Außerdem werde ich bestimmt seekrank.“ – „Was wirst du?“, mischte sich Hartmut in das Gespräch ein. „Seekrank“, wiederholte Semir. „Aber dagegen gibt es doch Brillen.“ Spätestens jetzt waren alle Augen der Kollegen am Tisch auf den Kriminaltechniker gerichtet, die gespannt auf den weiteren Verlauf der Unterhaltung warteten.


    „SEEkrank, Hartmut! Nicht SEHkrank. Da kann dir kein Optiker helfen.“ – „An die Brillen eines Optikers dachte ich jetzt auch nicht, Semir, sondern an sogenannte Anti-Brech-Brillen, das Prinzip ist Folgendes. Die Seekrankheit entsteht im Grunde doch dadurch, dass die Augen keinen Halt finden, wenn der Horizont schwankt, das Gleichgewichtsorgan im Innenohr wird durch die Schaukelei gestört. Das löst die Übelkeit und den Brechreiz aus. Anti-Brech-Brillen bestehen aus doppelwandigem Glas, in dessen Zwischenraum sich zur Hälfte eine Flüssigkeit befindet und dem Auge so eine Art künstlichen Horizont vorgaukelt. Und schon wird einem nicht mehr übel. Nicht übel, oder?“ – „ Die Brillen gaukeln, wenn die Schiffe schaukeln? Sehen aber schon etwas übel aus, diese Brillen, oder?“, zweifelte Semir, „da verzichte ich doch lieber drauf und bleibe auf der Straße.“ - „Ich bin überzeugt, von Dieters Büffet wird uns bestimmt nicht übel“, kam Ben auf den eigentlichen Anlass der Veranstaltung zurück, „ich hole mir noch was, soll ich dir etwas mitbringen, Semir?“


    Froh über den Themenwechsel nickte Semir zustimmend und lehnte sich zurück. Sein rechter Arm war noch in der Schlinge, die linke Hand bandagiert, keine guten Voraussetzungen für eine Schlacht um Schnittchen und Salate. „Danke, Ben.“


    „Du, Semir?“, wurde er von der Seite angesprochen und Jenny nahm auf dem Stuhl Platz, von dem Ben gerade aufgestanden war. „Jenny, was machst du für ein Gesicht? Der Abschied von Dieter fällt uns allen nicht leicht, aber er ist doch nicht aus der Welt und schaut bestimmt mal wieder vorbei.“


    „Das ist es nicht. Ich mache mir Gedanken, wer nach ihm kommt. Weißt du schon was?“ – „Nein, das Auswahlverfahren läuft noch, aber ich bin sicher, dass die Krüger eine gute Wahl treffen wird und wenn ihr gar nicht miteinander auskommt, finden wir auch dafür eine Lösung.“ – „Du meinst, wegmobben können wir immer noch?“ Ben war mit den Tellern zurück. „Das hast du jetzt gesagt, Ben. Wegmobben würde ich es niemals nennen, aber eine Woche Dienst mit dir könnte da schon ein kleines Wunder bewirken.“

  • Aussage

    Zwei Wochen später war Andreas Utzdorf endlich vernehmungsfähig und wollte auch aussagen. Er würde bis zu seinem Lebensende ans Bett gefesselt oder auf einen Rollstuhl angewiesen sein. Nun war für ihn die Zeit gekommen, reinen Tisch zu machen und den drei Polizisten gegenüber zu treten, deren Leben er so schwer gemacht hatte. Er hatte keine Angst mehr vor den Verwandten seines Vaters, was sollten sie mit ihm schon tun? Die Tür abschließen, so dass er verhungert? Den Strom abstellen? Das Pflegepersonal entlassen, damit niemand seinen Katheterbeutel mehr wechselt? Seinen Klingelknopf außer Reichweite legen? Das waren alles Maßnahmen, die sein Leben über kurz oder lang zu einem Ende bringen, ihn aber auch von seiner lebenslangen Qual erlösen würden. Vielleicht würde er es noch irgendwann einmal schaffen, einen Spezial-Computer zu bedienen, um mit der Außenwelt zu kommunizieren, mehr erwartete er nicht von den nächsten Jahrzehnten.


    Und so erfuhren Alex, Semir und Ben die ganze Geschichte von Andreas Utzdorf, seiner Beziehung zu Mario Torres und dessen Testament.


    Rückblick: Familienbande

    Sandra Utzdorf hatte ihrem Sohn Andreas nie verheimlicht, dass sein Vater ein reicher Südamerikaner war. Anders hätte sie ihm die große finanzielle Unterstützung, die er aus der Ferne der alleinerziehenden Mutter zukommen ließ, auch nicht erklären können. Regelmäßig zu Weihnachten und zu seinem Geburtstag im Juli ging ein nennenswerter Betrag auf sein Sparbuch ein. Obwohl er seinen Vater nur von einigen wenigen Fotos her kannte und seine Mutter ihm versicherte, ihre Beziehung zu ihm sei nur eine kurze Affäre gewesen, von der ihr außer ihrem Sohn selbst und der monatlichen, freiwilligen Unterhaltszahlung nichts Positives geblieben wäre, wurde das Verlangen in ihm immer größer, seinen Vater auch persönlich kennen zu lernen.


    Gegen den Widerstand seiner Mutter machte er sich mit achtzehn Jahren auf, das Heimatland seines Erzeugers, Bolivien, zu erkunden und dem ihm bislang unbekannten Zweig seiner Familie zu begegnen. Er zeigte sich sehr beeindruckt vom Lebensstil seiner Verwandten, Halb-Geschwister, Onkel, Tanten, Cousins. Er, dessen Familientreffen bisher problemlos in einer Telefonzelle hätten stattfinden können und nur in Ermangelung einer solchen in der näheren Umgebung an den kleinen Tisch in der Küche in Sandra Utzdorfs Wohnung verlegt wurden, fühlte sich in der Großfamilie vom ersten Moment an wohl und willkommen. Sein Vater erwies sich als großzügig, zeigte ihm das Land, er lernte eifrig Spanisch, arbeitete auf den Ländereien und kehrte erst Monate nach seinem Aufbruch nach Deutschland zurück.


    Der Kontakt zu seinem Vater intensivierte sich über die Jahre, weitere Besuche in Südamerika folgten. Andreas Utzdorf lernte bei einer großen internationalen Spedition und arbeitete mehrere Monate im Jahr in der Niederlassung in Boliviens Hauptstadt Sucre. Eine schicke Maisonette-Wohnung in Düsseldorf, ein kleines Haus in Bolivien, schicke Autos und Motorräder, alles finanziert von seinem reichen Vater, kurz: Andreas lebte ein Leben auf der Überholspur.


    Die Nachricht vom Tod seines Vaters vor fast einem halben Jahr traf ihn schwer. Als er den Brief mit den bolivianischen Briefmarken in Empfang nahm, freute er sich erst, aber die Schrift war nicht die seines Vaters, sondern seines Onkels, der ihm kurz und knapp vom Tod seines Vaters unterrichtete und ihn nach Bolivien bat, um den Nachlass des Verstorbenen zu regeln.


    Er war das älteste Kind von Mario Torres, sein Vater hatte erst fünfzehn Jahre nach seiner Geburt in Bolivien geheiratet und weitere drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, bekommen. Andreas‘ Halb-Geschwister waren noch im jugendlichen Alter, zwischen zehn und fünfzehn Jahre alt. Es war selbstverständlich, dass er sofort nach Südamerika aufbrach, um das Erbe seines Vaters anzutreten.


    Sein Onkel Alejandro, Marios jüngerer Bruder, nahm Andreas Utzdorf herzlich in Empfang und führte ihn in das Büro seines Vaters. Noch am selben Tag sollte der Anwalt von Mario Torres kommen und das Testament mit ihnen durchgehen. „Andreas, da ist etwas, was du vorher wissen solltest.“ – „Was ist das, Alejandro?“ – „Mario hatte eine Mission, die weiter geführt werden muss, wir müssen darüber sprechen“, sagte Andreas‘ Onkel mit verschwörerischem Blick, „komm wir setzen uns kurz, hier sind wir ungestört.“ Andreas‘ Neugier war geweckt und so lauschte er der Erzählung Alejandros über die ihm bisher unbekannte Seite seines Vaters.

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  • Rückblick: Schweres Erbe

    „Mario hatte Geschäfte gemacht und war an die falschen Leute geraten. So kam auch er mit dem Gesetz in Konflikt, ungewollt natürlich, du weißt, Mario kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Noch bevor er aber die Sache bei den Behörden klarstellen konnte, marschierten hier schon die Polizisten, aus Deutschland und Bolivien ein, schossen wie wild um sich und setzen unsere Häuser in Brand. Sie töteten unseren Bruder Francesco und seinen kleinen Sohn.“ – „Das war kein Blitzschlag?“ – „Nein, Mario wollte dich da raushalten. So haben wir dir erzählt, ein Unwetter hätte den Brand ausgelöst. Aber in Wirklichkeit waren es gewaltbereite Polizisten. Um ein Haar wäre auch dein Vater ihnen zum Opfer gefallen. Wir haben viel Geld dafür bezahlt, dass man seinen Tod statt Francescos Tod bescheinigt hat. Die Polizei-Behörden haben es geglaubt und sind wieder abgereist. Aber du verstehst sicher, dass wir eine solche Tat nicht ungesühnt lassen konnten. Es kostete Mario lange Monate, bis er die Namen und weitere Daten der an dem Mord unseres Bruders und Neffen Beteiligten zusammengetragen hatte. Dann reiste er nach Deutschland und begann seine Liste abzuarbeiten. Jeder sollte verstehen, dass man nicht ungestraft ein Mitglied der Familie Torres tötet. Da einer seiner Freunde in einen Unfall ausgerechnet mit einem Polizisten verwickelt war, wurde seine Anwesenheit in Deutschland bekannt, und er musste sich beeilen. Die ersten beiden, zwei aus der Ermittlungsgruppe, die ihm damals die Verbrechen anhängen wollten, waren kein Problem.“ – „Anhängen?“, unterbrach Andreas seinen Onkel, „Papa war unschuldig?“ – „Aber natürlich, Andreas, es war alles nur ein Komplott gegen ihn. Die nächsten beiden wurden ihm zum Verhängnis. Dein Vater wurde eiskalt von einem deutschen Polizisten erschossen! In den Rücken! Seine große Tat für unsere Familie ist unvollendet geblieben. Und auch ein Cousin von ihm hat den Polizeieinsatz nicht überlebt. Und unser Familienrat hat beschlossen, dass die Vollendung seiner Großtat dir obliegt und wir dein Erbe an die Bedingung knüpfen, dass du den Mord an deinem Vater sühnen wirst. Es wäre auch ganz in seinem Sinne. Ich lasse dich einen Moment alleine, nach der Testamentseröffnung erwarte ich dann deine Entscheidung.“ – „Und wenn ich mich nicht darauf einlasse“, fragte Andreas nach. „Das würde deinen Vater sehr enttäuschen. Und dein Erbe auf einen geringen Pflichtteil reduzieren. Du würdest auf etwa 50 Millionen Euro und einiges an Wertpapieren verzichten. Das ist doch wohl eine Überlegung wert, oder? Wenn du dich dafür entscheidest, geben wir dir die Akte mit allen Namen und Informationen. Ansonsten werden wir dich nie mehr wiedersehen, dir deinen Pflichtteil aushändigen und dich zum Flughafen fahren. Überleben wird von Marios Mördern trotzdem niemand. Unsere Familie ist groß und unser Arm lang.“


    Andreas überlegte. Ging er darauf ein, würde er zum Mörder von sechs Menschen werden, aber auch zu einem der reichsten Männer Boliviens. Lehnte er ab, erhielt er zwar immer noch ein kleines Bar-Vermögen, könnte dieses aber sicher nicht lange genießen, weil die Familie seines Vaters ihn als Mitwisser unverzüglich ebenfalls auf die Todesliste setzen würde, so wie sie nach Marios Tod es bereits mit dem Namen des Todesschützen getan hatte. Er würde die Testamentseröffnung abwarten und Alejandro dann seine Entscheidung mitteilen.


    Der Anwalt der Torres‘ betrat kurz nach 15:00 Uhr den großen Speisesaal, in dem sich die gesamte Familie versammelt hatte. Marios Eltern, Geschwister, seine Ehefrau, die drei Kinder, Schwager, Nichten und Neffen, alle waren da, kaum ein Platz war unbesetzt. Und es kam wie Alejandro erzählt hatte. Andreas sollte die Hälfte des beweglichen Vermögens erben, Marios Frau und Kinder die andere Hälfte. Das unbewegliche Vermögen blieb in dem bolivianischen Teil der Familie. Und Mario hatte sein Erbe an die bereits ausgesprochene Bedingung geknüpft, für den Fall, er würde vorzeitig auf nicht natürliche Art und Weise zu Tode kommen.


    Andreas sollte vorab so viel Geld erhalten, dass er planen konnte, den Rest allerdings erst nach der letzten Erfolgsmeldung. Er ging auf die Vereinbarung ein, bekam sein Geld und die von seinem Vater angelegte Akte. Auf dem Rückflug nach Deutschland studierte er die Informationen.

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  • Schlusswort

    „Und dann haben Sie angefangen, einen nach dem anderen zu liquidieren?“, fragte Semir, nachdem sie der langen Geschichte von Andreas Utzdorf ohne Unterbrechung gelauscht hatten. „Sie haben Ihrem Onkel wirklich geglaubt?“ Alex schüttelte ungläubig seinen Kopf.


    „Ja, und ich begann mit Uwe Neugebauer. Er war kein großes Problem.“


    Der leidenschaftliche Angler verbrachte oft ganze Nächte am einsamen Rheinufer. Andreas Utzdorf beobachtete ihn mehrere Wochen, angelte mit ihm zusammen und schlug dann zu, und zwar mit einem großen Stein. Mehrmals traf er ihn auf den Hinterkopf, schleuderte dann den Stein weit hinaus in die Strömung und zog den Leichnam ebenfalls hinaus ins Wasser, wo er sogleich vom Strom mitgerissen wurde und rheinabwärts trieb. Es ging leichter als er dachte. Das Anglerzeug ließ er unberührt zurück, er hinterließ keine Fingerabdrücke oder sonstige Spuren.


    Thorsten Ramm war ein schwererer Fall. Der BKA-Beamte war fast immer in Gesellschaft und unter Freunden. Und dann fuhr er auch noch drei Wochen in den Urlaub. Andreas entschied sich, ihn zuhause zu erledigen und es nach einem Selbstmord aussehen zu lassen, ein Feuer könnte jede Art von Spuren zerstören. „Dann legte ich noch einen Stuhl neben den Hängenden und steckte sein Haus in Flammen.“


    „Der nächste auf der Liste waren Sie“, er blickte Semir an, „und zum ersten Mal hatte ich Zweifel. Ein verheirateter Familienvater, drei Töchter, ein Hund…“ – „und so nahmen Sie sich erst Kim Krüger vor?“ – „Genau.“


    Nach den Unterlagen seines Vaters arbeitete Kim Krüger im Polizeipräsidium und kam in der Regel jeden Tag etwa um 17:30 Uhr nach Hause. Ausnahme bildete der Dienstag, an dem sie direkt vom Büro in ein Fitnessstudio fuhr, wo sie ungefähr zweieinhalb Stunden blieb. Auf diese Zeiten war Verlass. Sie wohnte in einem 4-Parteien-Haus und nannte dort eine geräumige Dreizimmerwohnung über zwei Ebenen mit Terrasse und kleinem Gartenanteil ihr Eigen. Es gab keinen Hund im Haus, keine Alarmanlage. Dort Einzusteigen dürfte keine allzu große Hürde sein. Auch für ihr Ende hatte sich Andreas Utzdorf etwas ganz Besonderes ausgedacht. Er packte sein Einbruchswerkzeug, seine Handschuhe und die kleine Flasche gemeinsam mit der Spritze, die er von einem Freund erhalten hatte, in seine lederne Umhängetasche und verließ seine Wohnung.


    „Dort hätten Sie mich fast erwischt. Aber ich bin Ihnen entkommen.“ – „Dabei hätten Sie fast eine junge Frau und ihr kleines Kind getötet, wussten Sie das?“ – „Bitte?“ – „Ja, der rote Golf, den sie von der Straße geschossen hatten, ist in einem Teich gelandet. Wir standen vor der Wahl, Sie zu schnappen oder der Frau zu helfen.“ – „Das wusste ich nicht. Ich wollte keine Unbeteiligten töten oder in Gefahr bringen. Ihre Familie hat Sie beschützt, Herr Gerkan, ich hätte Ihre Wohnung hochjagen können, aber ich konnte es nicht, ich wollte Sie alleine treffen, aber dann lief mir die Zeit davon.“ – „Deshalb haben Sie mich auf der Autobahn angegriffen, obwohl meine Tochter im Auto saß?“ – „Ja, ich hoffte, Sie würden aussteigen und vom Auto weggehen, dann wäre sie nicht in Gefahr. Ich wollte sie schonen, und was tut sie? Schießt mich hier in dieses Bett.“ – „Wie haben Sie das mit der Sperre auf der Autobahn gemacht?“ Bei der Frage huschte ein leises Lächeln über Andreas‘ Gesicht. „Das war ein guter Einfall, oder? So hatten wir die Autobahn für uns“, dann wurde er wieder ernst, „auch LKW-Fahrer können manchmal einen Extra-Schein gebrauchen, die beiden dachten, es wäre ein Spaß. Ich hätte sie nach getaner Arbeit angerufen, sie wären hintereinander weitergefahren und alles wäre gut gewesen.“ – „NACH GETANER ARBEIT?“ Semir konnte die Gelassenheit nicht länger aushalten, mit der Andreas Utzdorf den Anschlag auf ihn und Dana, welcher durchaus tödliche Folgen für beide hätte haben können, beschrieb. „Ich muss hier raus.“ Vor der Tür drehte er sich nochmal um, „wir reden noch!“


    Alex und Ben folgten ihm auf den Flur der Klinik. „Semir! Beruhige dich doch!“ – „Beruhigen? Ich soll mich beruhigen, während der Typ da drinnen in aller Seelenruhe und nicht ohne Stolz davon schwärmt, wie er uns ins Jenseits schicken wollte? Die Geschichte mit seiner Familie in Bolivien gut und schön, aber ich wünsche ihm, dass er hier in diesem Bett verreckt!“ - „Semir, wir verstehen dich ja, aber er wird doch seine gerechte Strafe erhalten und siecht zudem vielleicht noch 40 Jahre vor sich hin“, versuchte Alex, seinen Partner zu beruhigen, „ich frage mich ganz was anderes: Wenn Marios Bruder Andreas Utzdorf geschickt hat, die Todesliste abzuarbeiten, wer tritt denn jetzt an seine Stelle? Denn abgeschlossen hat er seine Aufgabe ja nicht.“


    Die drei Hauptkommissare schwiegen minutenlang. Dann nickte Ben und meinte leise: „Können wir jemals sicher sein, dass niemand mehr darauf wartet, uns an den Kragen zu gehen?“ – „Sicher sein, Ben“, antwortete Semir, „das können wir nie.“

    Ende


    Epilog

    Daten


    Die Folge „Für immer und ewig“, in der Semir und Andrea sich das Ja-Wort gaben, lief das erste Mal am 9. September 2004, also bin ich jetzt von einem Hochzeitstag im September ausgegangen, und zwar den 11., denn wir haben ja mittlerweile 2015. Semir und Andrea waren in meinem „Cobra-Universum“ nie geschieden, wie ihr wisst.


    Die Handlung der Folge „72 Stunden Angst“ startet an Semirs und Andreas Hochzeitstag und Dana sagt „Ich werde nämlich übermorgen schon 10“, somit ist doch klar, dass ich ihren Geburtstag auf den zweiten Tag nach dem Hochzeitstag gelegt habe. Das war übrigens 2011, somit müsste Dana eigentlich erst 14 sein. Aber da sie auch von den Machern der TV-Serie künstlich gealtert wurde, habe ich sie jetzt halt 16 werden lassen.


    Ayda ist übrigens geboren am 11.05.2006 und Lilly am 11.03.2010, sind also zurzeit 9 und 5 Jahre alt.


    Das nur mal so am Rande, es ist zwar nicht von allzu großer Bedeutung, aber ich wollte es mal aufgeschrieben haben.


    Fabian Hartmann


    Die Gerichtsverhandlung gegen Fabian Hartmann steht noch aus, wird aber demnächst stattfinden. Mit einer Verurteilung zu einer abzusitzenden Freiheitsstrafe rechnet im Grunde niemand, aber er wird sich wegen der Drogenabgabe an eine Minderjährige vor dem Richter verantworten müssen.


    Dana


    Auch Dana musste sich vor Gericht verantworten. Der Richter erkannte jedoch klar auf Notwehr und sprach sie vom Vorwurf der schweren Körperverletzung frei. Die Aussagen von Semir, Alex und Ben trugen wesentlich dazu bei. Hinzu kommen die gefundenen Projektile, die ganz klar aus der Waffe von Andreas Utzdorf stammten und in der Nähe von Semir und Dana in den Boden eingeschlagen waren. Die Kugel, die letztendlich für die Lähmung des Schützen führte, entstammt Alex‘ Waffe.


    Dana hat einige Male mit Isabel Frings, der Polizeipsychologin (sie lebte bei Fertigstellung dieser Story noch!), gesprochen und konnte so den Vorfall recht gut verarbeiten. Die Beziehung zu Andrea besserte sich ebenfalls, mittlerweile sind die Mädels im Haushalt ein eingespieltes Team geworden.


    Das Elternhaus von Dana wurde verkauft, das Geld wird für Dana auf einem Extrakonto angespart. Die nach dem Tode ihrer Eltern eingelagerten Möbel und Kartons hat sie bis heute noch nicht angeguckt.


    Bonrath


    Ja, ich habe Bonrath aus meinen Geschichten rausgeschrieben und in den wohlverdienten Ruhestand geschickt. Er befindet sich zurzeit noch irgendwo auf See und genießt das Leben ohne Blick auf Uhr der Kalender. An seine Zeit bei der Autobahnpolizei und besonders an seine Kollegen wird ihn immer ein Gruppenfoto erinnern, das in seinem Hausflur einen Platz an der Wand gefunden hat.


    Andreas Utzdorf


    Andreas Utzdorf wird später von einem Gericht wegen mehrfachen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, wird diese jedoch in einer geschlossenen Abteilung einer Anstalt verbringen, da er wegen seiner Lähmung nicht in einem herkömmlichen Gefängnis leben kann. Ob die Gefahr aus Bolivien damit wirklich gebannt ist, weiß keiner, denn wie sagte Semir in seinem Schlusswort:


    „Sicher sein, das können wir nie.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

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