Schweres Erbe

  • In Eile


    September in Köln. Die Sommerferien waren vorbei und auf den Straßen im Revier der Autobahnpolizei der Alltag eingekehrt. Mit ihm kam auch der dichte nachmittägliche Berufsverkehr zurück, freitags noch verstärkt durch die Wochenendpendler, die es eilig hatten, zu ihren Familien nach Hause zu gelangen. Die Folge war stockender Verkehr, auf welche Hauptstraße rund um die Rheinmetropole man auch blickte. Als sich mehrere Auffahrunfälle, allesamt zum Glück nur mit Blechschäden, ereigneten, war für die Beamten der PAST an einen pünktlichen Feierabend nicht mehr zu denken. Ben Jäger und Alex Brandt unterstützten ihre Kollegen Jenny Dorn und Dieter Bonrath bei der Aufnahme der Unfälle, andere Streifenbeamten leiteten den Verkehr über eine freie Spur an den Unglücksstellen vorbei. Sie stellten sich allesamt auf einen langen Arbeitstag ein. Nur einen trieb es beizeiten zurück zur Dienststelle:


    Semir Gerkan stellte seinen BMW auf den Parkplatz vor der PAST ab und betrat kurz darauf schnellen Schrittes das Gebäude. Er war in Eile. Denn er hatte heute noch etwas Besonderes vor. Susanne, die Sekretärin der Autobahnpolizei und das Herz der Dienststelle, begrüßte ihn mit den Worten: „Mensch Semir, wo bleibst du denn? Andrea hat schon zweimal angerufen, ist dein Handy ausgeschaltet?“ Semir kramte sein Mobiltelefon aus seiner Jackentasche und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Akku leer, Mist. Ich weiß, ich bin spät dran. Wo sind …“ Er schaute sich um. „In der Küche“, half ihm Susanne auf die Sprünge, „und jetzt mach, dass du loskommst!“


    Semir war schon in der Küche der Dienststelle verschwunden, auf deren Arbeitsplatte eine Vase mit einem großen Blumenstrauß stand. Er nahm den Strauß an sich, ließ ihn einige Sekunden über der Spüle abtropfen, griff sich dann kurzerhand ein herumliegendes Geschirrtuch, mit dem er die Blumenstiele umwickelte und ging in Richtung Ausgang. „Dir einen schönen Feierabend! Ach, und Susanne, ruf doch Andrea an und sag ihr, ich sei unterwegs.“ – „Mach ich, und euch einen schönen Abend. Und ein schönes Wochenende!“


    Semirs Vorfreude auf den Abend war geteilter Natur. Klassik zählte nicht gerade zu seinen bevorzugten Musikrichtungen. Zwar kannte er die Namen der Komponisten, die heute Abend auf dem Programm standen, und wollte Andreas Worten, er würde gewiss nahezu jedes der gespielten Stücke kennen, wenn er es erst einmal hörte, gerne Glauben schenken, sah aber trotzdem dem etwa zweieinhalbstündigen Konzert mit gemischten Gefühlen entgegen.


    Aber es war ihr Hochzeitstag und er war erleichtert, diesen überhaupt heute mit Andrea feiern zu können, denn ihre gerade überwundene Trennung hätte beinahe zur Scheidung geführt. Andrea hatte sich dieses Konzert zur Feier des Tages gewünscht, und er hatte sich gefügt und die Karten besorgt. Der zweite Teil des Abends versprach dann schon eher nach seinem Geschmack zu verlaufen. Er hatte einen Tisch bei einem guten Italiener reserviert und am nächsten Tag dienstfrei.


    Zuhause wurde Semir stürmisch von Ben, dem neuesten, vierbeinigen Familienmitglied, begrüßt. Trotz der Eile ging er kurz in die Hocke und herzte den noch jungen Hund, so viel Zeit musste sein.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

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  • Hochzeitstag


    „Ich bin da!“, rief er in die Wohnung hinein und legte seinen Schlüssel auf die Ablage im Flur und sein Handy auf die Ladestation. Nachdem vor einiger Zeit die kleinere Nachbarwohnung frei geworden war, ist sie mit Semirs Dreizimmer-Wohnung, die nach dem Einzug von Andrea und den Kindern für die Familie etwas eng geworden war, zusammengelegt worden. Dafür wurden Wände eingerissen und eine neue Küche installiert, die jetzt das Zentrum der neu entstandenen Fünf-Zimmer-Wohnung bildete. Ayda und Lilly bekamen jeweils ein eigenes Kinderzimmer und Andrea einen eigenen Stellplatz in der Tiefgarage. Das gewonnene Extrazimmer, das eigentlich als Arbeits- und Gästezimmer vorgesehen war, hatte allerdings vor einigen Monaten Dana, Semirs 15-jährige Tochter aus einer früheren Beziehung, bezogen.


    „Das wird auch Zeit, es ist schon zwanzig vor Acht!“, Andrea trat aus dem Wohnzimmer in den Flur und betrachtete Ben, der Semir nicht von der Seite wich. „Treulose Tomate“, schmunzelte sie, denn sobald Semir zuhause war, waren sie und die Kinder bei dem schwarzen Mischlingshund abgemeldet. Lag es an seiner tieferen Stimmlage oder daran, dass er aufgrund seiner Krankschreibung die ersten Wochen tagsüber alleine mit Ben war, gemeinsam mit ihm die Welpenschule besucht und ihm die Grundregeln des Zusammenlebens von Mensch und Hund beigebracht hatte? Während eines zum Glück sehr kurzen Aufenthalts in einer Schutzwohnung, auf dem sogenannten Petershof, hatten sich Ayda und Lilly in die dort geborenen achtwöchigen Welpen verliebt und ihre Eltern zu überreden gewusst, dass ein solches Wollknäuel genau das wäre, was ihnen noch zum absoluten Familienglück fehlte. Der Vermieter ihrer Wohnung war glücklicherweise mit einer Tierhaltung einverstanden gewesen, selbstverständlich vorbehaltlich späterer Beschwerden durch Nachbarn oder Beschädigungen durch den Hund, welche Semir aber meinte durch eine konsequente Erziehung des Vierbeiners umgehen zu können. Und auch die tägliche Betreuung ließ sich besser organisieren als zunächst gedacht. Entweder konnten Andrea oder Semir ihn mit zur Arbeit nehmen, und ein mehrstündiges Alleinsein in der Wohnung hatten sie auch schon erfolgreich getestet, so dass der Hund bald den halben Tag, den Andrea arbeitete, oder auch länger zuhause die Wohnung hüten konnte.


    Im Hintergrund waren die Stimmen von Ayda und Lilly, sowie von Nadine, der Tochter ihrer Nachbarn, die sie wieder einmal zum Aufpassen gewinnen konnten, zu hören. Ab und an übernahm Dana das Aufpassen auf ihre kleinen Geschwister, aber der Teenager war gerade zu einem Berufspraktikum in Aachen. Andrea trug eines ihrer schicken Abendkleider und hatte ihre Haare hochgesteckt. Sie küssten sich zur Begrüßung, dann musterte Andrea ihren Mann von oben nach unten. „In Jeans gehe ich aber nicht mit dir los, beeil dich, ich rufe uns in der Zwischenzeit ein Taxi.“ – „Du siehst umwerfend aus. Hier – „, er überreichte ihr den Blumenstrauß, „zu unserem Hochzeitstag.“ Andrea nahm den Strauß entgegen und eilte in die Küche, um eine Vase aus dem Schrank zu holen.


    Im Schlafzimmer hing schon der schwarze Anzug am Schrank. Semir atmete deutlich hörbar aus. „Warum muss es denn unbedingt ein Sinfoniekonzert sein?“, fragte er laut durch die angelehnte Tür. „Weil es zum Anlass passt, weil Claudia es uns empfohlen hat und weil ich es so möchte“, drang Andreas Antwort zu ihm ins Schlafzimmer. Besonders dem letzten Argument hatte er nichts entgegen zu setzen. Er würde das Konzert schon irgendwie rumkriegen.


    Semir zog sich rasch aus, ging noch für eine Katzenwäsche ins Bad und schlüpfte dann schnell in Hose, Hemd und Jackett. Fünf Minuten später, als bereits der Taxifahrer an der Tür klingelte, war er startklar. Sie verabschiedeten sich von Nadine und ihren Kindern, baten die Nachbarstochter, später mit Ben noch kurz vor die Tür zu gehen und gingen schnellen Schrittes durch das Treppenhaus hinunter auf die Straße, wo das Taxi bereits mit laufendem Motor auf seine Fahrgäste wartete.


    „Zur Philharmonie“, sagte Andrea zum Fahrer. Der schaute sie fragend im Rückspiegel an. „Das sind doch keine 800m, sind Sie sicher?“ – „Wir haben’s eilig“, war das einzige, was Semir darauf entgegnete. Es war einige Minuten vor Acht. Enttäuscht über die kurze Strecke führte der Fahrer seinen Auftrag aus und ließ Semir und Andrea vor der Philharmonie aussteigen. Das großzügig bemessene Trinkgeld besänftigte ihn wieder. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Soll ich Sie nachher hier wieder abholen?“, fragte er zum Abschied, doch Semir winkte ab. „Sind doch keine 800m, die laufen wir.“


    Im Konzertsaal kündigte die Klingel gerade den baldigen Beginn des Konzerts an, das Licht wurde schon gedimmt, als Andrea und Semir noch einige Menschen im Publikum bitten mussten, sich kurz zu erheben, um sie zu ihren Plätzen durchzulassen. „Gerade noch rechtzeitig, die Musiker stimmen schon“, raunte Andrea ihrem Mann zu. „Wieso, hattest du noch Zeit, sie zu zählen?“

  • Wassermusik und Leichenschmaus


    Andrea und Semir nahmen ihre reservierten Plätze ein. Bevor das Licht im Saal ganz verlöschte, ertappte sich Semir dabei, die anderen Gäste zu mustern und zu versuchen, die Menschen hinter den Fassaden ihrer Gesichter zu ergründen. Dann aber lehnte auch er sich zurück, entspannte sich zunehmend und genoss das klassische Konzert. Er war ja zuerst von Andreas Idee nicht sehr angetan gewesen, nun aber war er dankbar über die Musikauswahl. Er suchte und fand Andreas Hand, die er zärtlich drückte. „Alles okay?“, fragte sie leise und Semir flüsterte zurück: „Ja, alles gut.“


    „Gut! Alles Routine, Herr Schmidt!“ Der Einsatzleiter trat an die Wasserkante heran, sein Kollege stand in Wathosen hüfttief im Hafenbecken, er hatte sich die schräge Betonrampe hinunter getastet, die zum Slippen von Motorbooten vorgesehen war. Nun aber diente sie der Bergung einer Wasserleiche. „Das ist schon der siebte Tote, den wir in diesem Jahr aus dem Rhein ziehen, der Kleidung nach zu urteilen wohl wieder ein Angler“, fuhr der Beamte der Wasserschutzpolizei Köln fort. Schmidt nickte. Hinter ihm spuckten nun mehrere Wagen der Feuerwehr, des THW und der Polizei ihre Einsatzkräfte aus. Auch ein Gerichtsmediziner war mittlerweile vor Ort eingetroffen. Ein Schlauchboot wurde bereitgelegt, von dem aus in den nächsten Stunden das Hafenbecken gründlich nach Spuren abgesucht werden würde. Ein Feuerwehrmann baute inzwischen das Stativ für den Flutlichtstrahler auf, befestigte diesen am Stativkopf und schaltete das Licht ein, welches sogleich die Wasseroberfläche erhellte und die weißen Motorboote erstrahlen ließ.


    Das Licht ließ Andrea und Semir langsam aus der Traumzeit eines klassischen Konzerts zurück in die Realität auftauchen. Gemeinsam mit den anderen Besuchern der Philharmonie erhoben sie sich und ließen sich zum Ausgang leiten. Zum Glück hatten sie keine Garderobe abgegeben, so blieb ihnen die Schlange an der Ausgabe erspart. Der Weg führte sie zu ihrem Stammitaliener, bei dem Semir einen ruhigen Tisch reserviert hatte, den Alfonso feierlich eingedeckt hatte. Mehrere Gläser, das beste Geschirr und Besteck zierte neben einer Vase mit eigens bestellten roten Rosen die blütenweiße Tischdecke.


    Die weiße Plane, die auf der Betonschräge ausgebreitet worden war, diente als Unterlage, auf die der geborgene Leichnam gebettet wurde. Er trug Jeans, ein kariertes Hemd, eine beigefarbene Weste und Watstiefel, die ihm fast bis zur Hüfte reichten und am Gürtel befestigt waren. Der eingetroffene Gerichtsmediziner begann mit seiner ersten groben Untersuchung und zog dem Mann die Beinlinge aus, die sich mit Wasser gefüllt hatten. Um keine Spuren zu verlieren, leerte er die wasserdichten Anglerstiefel in einer großen Plastikschüssel aus.


    Semir schenkte Andrea und sich selbst noch ein Glas Rotwein ein und kam in der Unterhaltung zu einem Punkt, der ihm momentan sehr wichtig war und ihm daher sehr am Herzen lag.


    „Andrea, ich wollte dir noch für deine Bemühungen danken, Dana in unsere Familie aufzunehmen. Ich weiß, es ist schwer, aber ich bin mir sicher, dass euer Verhältnis sich in Zukunft bessern wird. Wir müssen einfach noch abwarten.“
    „Ich weiß, Semir, aber sie macht es mir auch nicht gerade leicht. Ich meine, sie hat einen schweren Schicksalsschlag erlitten, aber ein wenig könnte sie auch auf mich zugehen, findest du nicht?“ – „Du hast wie immer recht. Lass uns nach ihrer Rückkehr mal mit ihr über die Situation reden. Der heutige Abend gehört nur uns!“ Dann stieß er mit ihr auf ihren 11. Hochzeitstag an.


    Mit einem metallenen Klang wurde der Zinksarg neben der geborgenen Leiche auf den Beton abgelegt und der Körper des geborgenen Anglers hineingehoben. Der Mediziner leerte den Tascheninhalt des Anglers aus und verpackte ihn in eine Plastiktüte: Ein Korken mit mehreren Angelhaken, etwas Schnur, ein Messer und einige Münzen Kleingeld.


    Semir ließ einige Münzen als Trinkgeld auf den Tisch fallen, nachdem er die Rechnung mit seiner Karte beglichen hatte. Dann erhoben sich Andrea und Semir, verließen das Restaurant und schlenderten durch die laue Nacht nach Hause. Als sie an der Salzgasse vorbeikamen, mussten sie wie jedes Mal an dieser Stelle an den Vorfall im vergangenen Jahr denken, als Sascha, ein gemeinsamer Freund von ihnen, von einer Gruppe Menschenhändler zusammengeschlagen worden war. Nur dem reinen Glück war zu verdanken, dass sich Sascha heute wieder bester Gesundheit erfreute und schon wenige Monate nach dem Überfall die Arbeit in seiner Autowerkstatt wieder aufnehmen konnte. Auch Semir war damals niedergeschlagen worden, kam aber mit einer mittelschweren Gehirnerschütterung davon. Andrea verstärkte ihren Händedruck und beschleunigte ihren Schritt, bis sie in die Straße einbogen, in der sich ihre Wohnung befand. „Ich glaube, ich werde nie wieder diesen Weg gehen, ohne an Sascha zu denken, dabei ist es jetzt schon über ein Jahr her“, meinte sie zu Semir, der nur nickte. Ihm ging es genauso. Wenige Minuten später schloss er ihre Wohnungstür hinter ihnen.


    Der Gerichtsmediziner schlug die Autotür hinter dem Metallsarg ins Schloss und ging nach vorne zur Fahrertür. Nachdem er Einsatzleiter Schmidt noch einen Abschiedsgruß zugerufen hatte, fuhr er den Leichnam des Anglers in die Gerichtsmedizin. Da in seinen Kleidungsstücken kein Hinweis auf seine Identität zu finden war, nahm er als erstes die Fingerabdrücke und DNA-Proben des Toten für einen späteren Abgleich.. Daneben wurden auch DNA-Proben entnommen. Die Fingerabdrücke gab er gleich zur Überprüfung. Er rechnete nicht damit, vor Samstagmittag ein Ergebnis zu erhalten und verschob die eigentliche Ermittlung der Todesursache des Anglers auf den Samstag.

  • Vermisst


    Nadine senkte ihr Buch auf ihren Schoß und hob ihren Kopf, als sie den Schlüssel im Schloss hörte. Der Familienhund der Gerkans hatte schon vorher seinen Korb verlassen, sich gestreckt und wartete schwanzwedelnd direkt vor der Wohnungstür. Kurz darauf betraten Andrea und Semir vergnügt den Flur. „Hallo Nadine, wie war es?“, begrüßte Andrea ihre Babysitterin, als sie durch die Türöffnung des Wohnzimmers blickte, „Alles ruhig?“, während Semir noch seine Anzugsjacke an die Garderobe hängte, den Hund streichelte und zusah, dass er aus seinen unbequemen Anzugschuhen kam.


    „Ja, alles bestens. Sie sind eingeschlafen und haben sich seitdem nicht mehr gerührt.“ Semir trat nun ebenfalls ins Wohnzimmer, dicht an seinem Bein Ben, dem die Begrüßung wie immer zu kurz erschien. Doch Semir brauchte nur seinen Arm in Richtung Korb auszustrecken, und der Hund folgte der Richtung und trottete in Richtung seiner Decke, nicht ohne sich auf halben Weg noch einmal umzusehen, um zu erkunden, ob sein Herrchen es wirklich ernst meinte. Dann aber vollendete er seinen Weg und rollte sich in seinem Korb zusammen.


    Plötzlich stand Nadine auf und kramte ihr Handy aus ihrer Jeans, dessen Vibrationsalarm sie erschreckt hatte. Sie sah auf das Display und stutzte. „Ja? Hier Nadine Vogt. Sophie? … Ach, Frau Ziegler, Sie sind es, guten Abend …“, der Klang ihrer Stimme ließ jetzt auch Andrea und Semir aufmerksam werden, „nein, Sophie ist nicht bei mir, ich habe sie seit letzter Woche nicht mehr gesehen, … nein, ich war auch nicht auf Marcels Party, ich hatte heute Abend einen Babysitter-Job bei den Eltern on Dana Wegner, … und sie war nicht im Bus? … und haben Sie schon die Polizei…?“ Bei ihrer letzten Frage schaute Nadine Semir direkt an, der nun näher kam, „ich schalte Sie mal eben auf laut, Danas Vater ist Polizist und kann vielleicht helfen.“


    Nadine schaltete die Freisprecheinrichtung des Handys ein, und nun ergriff Semir das Wort. „Frau Ziegler? Mein Name ist Semir Gerkan, der Vater von Dana Wegner, ich arbeite bei der Kripo, was ist passiert?“ Jetzt erfuhren Semir, Nadine und Andrea, was Frau Ziegler bewogen hatte, Nadine um 20 Minuten nach Mitternacht noch anzurufen.


    „Wir hatten Sophie erlaubt, heute bis 22:00 auf Marcels Geburtstagsfeier zu bleiben. Dann sollte sie mit dem Bus nach Hause fahren. Mein Mann wollte sie hier an der Haltestelle abholen, aber sie war nicht im Bus. Und auch nicht im nächsten. Aber die Party hat sie pünktlich verlassen, dort haben wir vor einer guten Stunde angerufen. Also bin ich jetzt dabei, alle Mitschüler und Freunde zu fragen.“ – „Frau Ziegler, hat ihre Tochter ein Handy?“ – „Ja, aber das muss ausgeschaltet sein. Da geht gleich die Mailbox ran. Bestimmt hat sie den Akku leergespielt.“


    „Und Sophie ist sonst immer zuverlässig, gerade wenn es um Pünktlichkeit geht?“ – „Ja, total“ – „Sie ist nie später nach Hause gekommen, als vereinbart?“


    Semir spulte die Standardfragen herunter, die die Polizei in einem Vermisstenfall beantwortet haben wollte. „Nein, höchstens mal ein paar Minuten, oder sie hat vorher angerufen und gefragt. Wir können uns in dieser Beziehung voll und ganz auf Sophie verlassen.“ – „In diesem Fall sollten wir die Polizei einschalten, können Sie mir Ihre Tochter beschreiben? Was hatte sie heute Abend an, zum Beispiel?“ – „Sie meinen …“ – „Frau Ziegler, wenn wir Ihre Tochter suchen sollen, brauchen wir eine genaue Beschreibung. Haben Sie ein aktuelles Foto Ihrer Tochter, das sie mir schicken können?“ – „Ja, das habe ich“ – „Auf dieses Handy? Ist das möglich?“ – „Ja, Herr Gerkan.“ – „Und was hatte sie heute an?“ – „Ich weiß nicht … meinen Sie, es könnte ihr etwas zugestoßen sein?“


    Semir schloss für einen Moment seine Augen, zog zischend die Luft ein und aus und fuhr in ruhigem Tonfall fort: „Frau Zieger, konzentrieren Sie sich bitte. Fangen wir bei der Jacke an. Sie trug doch eine Jacke?“ – „Ja, einen roten Anorak.“ – „Jeans?“ – „Nein, Sophie trug fast nie Jeans, sie hatte eine schwarze Leggings und einen schwarzen Rock an, dazu eine bunte Bluse. Und schwarze kurze Stiefel.“ – „Gut, Frau Ziegler. Ich werde die Beschreibung an meine Kollegen im Innenstadtrevier weitergeben, dann halten bald alle Streifenwagen Ausschau nach Ihrer Tochter. Noch etwas. Mit welchem Bus wäre Sophie nach Hause gekommen?“ – „Mit dem 136er“ – „Und von wo nach wo?“, hakte Semir nach. „Vom Neumarkt bis zur Kitschburger Straße, wir wohnen in der Mommsenstraße. Um 22:19 oder um 22:34 Uhr hätte sie da sein müssen, aber sie kam nicht.“

  • Klassisches Ende


    „Okay, Frau Ziegler. Ich sage Ihnen jetzt genau, was wir machen. Sie bleiben bitte zuhause und falls Sophie nach Hause kommt, dann rufen Sie mich bitte sofort an. Ich gebe Ihnen gleich meine Handynummer. Dann spreche ich mit meinen Kollegen und gebe ihnen das Foto und die Beschreibung. Anschließend werde ich versuchen, den Weg Ihrer Tochter nachzuvollziehen und auch den Busfahrer zu befragen. Wir werden Ihre Tochter finden, Frau Ziegler. Haben Sie etwas zu schreiben da?“ Semir diktierte der aufgelösten Mutter seine Handynummer, „Haben Sie?“ – „Ja, Herr Gerkan, danke für ihre Hilfe. Es reicht doch, wenn ich zuhause bleibe? Mein Mann kann weiter zur Bushaltestelle gehen? Vielleicht kommt Sophie ja doch noch?“ – „Das ist kein Problem, aber er sollte erreichbar sein. Ich melde mich später noch mal. Bis dann!“


    Semir gab Nadine ihr Handy zurück. „Macht deine Freundin das öfters, dass sie nicht nach Hause kommt, sich verspätet oder bei anderen übernachtet?“, fragte er die Jugendliche. „Sophie ist nicht meine Freundin. Wir gehen zusammen in eine Klasse, das war es dann aber auch schon. Aber sie ist eigentlich nicht der Typ, der nicht nach Hause fährt. Ihre Eltern passen da wohl auch sehr drauf auf.“ – „Nicht deine Freundin? Warum hat ihre Mutter dann bei dir angerufen?“ – „Ich glaube, sie wird die ganze Klassenliste durchtelefonieren. Ich stehe ganz unten auf der Liste, sie ist ja alphabetisch. Wir haben bei uns unten auch eine Liste liegen.“ – „Warst du auch zu dieser Geburtstagsparty eingeladen, Nadine? Und Dana? Bei diesem Marcel?“ – „Ja, aber da hatte ich schon bei Ihnen zugesagt und Dana ist ja gerade in Aachen und – ehrlich gesagt – so richtig große Lust hatte ich auch nicht“, antwortete Nadine. „Warum das denn nicht?“ – „Ach, die ganze Cliquenwirtschaft dort gefällt mir nicht, wenn man nicht in der Clique ist, steht man blöde rum.“ – „Du gehörst nicht zur Clique?“ – „Herr Gerkan, ich habe gute Freunde, ich brauche keine Clique.“ Diese Aussage ließ Semir stutzen. Der Unterschied von Freunden und Clique war ihm so nicht bewusst. „Die Clique sind keine Freunde?“ Nadine lachte auf. „Naja, mit der Clique kann man alles unternehmen, mit Freunden auch über alles reden, das ist der Unterschied.“


    „Wärst du hingegangen, wenn du nicht bei uns eingehütet hättest?“, fragte nun Andrea. „Ja, ich glaube schon, aber sicher nur kurz.“ – „Kannst du mir die Adresse von diesem Marcel geben? Wie heißt er weiter?“ – „Retzow, Marcel Retzow, er wohnt direkt am Neumarkt, die genaue Anschrift weiß ich nicht, aber es ist direkt über diesem Teppich- und Tapetengeschäft.“ – „Gut. Nadine, ich glaube du kannst dann jetzt nach Hause. Ach!“, Semir schlug sich mit der Hand an die Stirn, „du bekommst ja noch Geld. Andrea, hast du noch Geld?“


    Andrea suchte aus ihrer Handtasche ihr Portemonnaie und gab Nadine ihren Lohn für den Abend. Die Nachbarstochter bedankte sich und wandte sich zum Gehen. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Kann ich morgen nachfragen, was Sie rausgefunden haben?“ – „Natürlich, Nadine. Wollen wir hoffen, dass Sophie von sich aus den Weg nach Hause findet.“


    Als Andrea und Semir alleine waren, zuckte er entschuldigend mit seinen Schultern. „Ich hätte mir den Ausklang unseres Hochzeitstages etwas anders vorgestellt. Aber du siehst ein, dass ich dem nachgehen muss?“ – „Natürlich, Semir. Wenn ich mir vorstelle, was die Eltern jetzt durchmachen … Sieh zu, dass du Sophie nach Hause holst. Unser Abend hat klassisch begonnen, warum sollte er nicht auch klassisch enden?“

  • Marcel


    Semir verabschiedete sich von Andrea und machte sich auf die Suche nach der vermissten Jugendlichen. Auf dem Weg zu seinem Auto überlegte er sich einen Plan. Zunächst wollte er Marcel aufsuchen und fragen, ob Sophie auf der Geburtstagsparty etwas gesagt hatte. Anschließend, falls er dort keinen Hinweis auf einen möglichen Aufenthaltsort erhielte, stünde ein Besuch bei seinen Kollegen im Innenstadtrevier auf dem Programm.


    Marcels Geburtstagsfeier war noch in vollem Gang, als Semir vor dem Geschäft am Neumarkt seinem BMW entstieg. Marcel war 18 geworden, seine Eltern nicht zuhause, das nutzte der junge Mann aus, mit seinen Freunden und Mitschülern eine große Party zu feiern, auf der auch der Alkohol in nicht geringen Mengen seinen Weg durch die Kehlen der Anwesenden fand. Musik drang bis auf den Gehsteig hinaus.


    Semir bahnte sich seinen Weg zur offen stehenden Wohnungstür durch ein Spalier halbwüchsiger Jugendlicher, die ihn bereits im Treppenhaus mit den Worten begrüßten: „Was wollen Sie denn hier? Jemanden abholen?“ Einer fragte laut in Richtung Wohnung: „Hat einer von euch seinen Vater hergerufen oder ein Taxi bestellt?“ Vereinzelte Stimmen waren zu hören: „Nein“ – „Ich lass mich doch nicht von meinem Alten abholen“ – „Gib ihm ein Bier und komm wieder rein, Marcel!“, gefolgt von vielstimmigem Gelächter, das Ganze untermalt von lauter Hip-Hop oder Rap-Musik, da kannte sich Semir nicht so genau aus. „Ich lass doch nicht jeden in die Wohnung meiner Eltern. Wer sind Sie und was wollen Sie?“, fragte der großgewachsene Schwarzhaarige.


    Semir kramte seinen Ausweis hervor. „Gerkan, Kriminalpolizei“, den korrekten Anhang „Autobahn“ verkniff er sich, dieser Ausdruck entlockte schon stocknüchternen Menschen hämische Bemerkungen, „sind Sie Marcel Retzow? Kann ich kurz reinkommen?“ – „Polizei? Hat sich die olle Schnepfe von unten wieder mal wegen der Musik beschwert?“ – „Ich würde es ihr nicht verübeln, aber deshalb bin ich nicht hier. Machen Sie sie trotzdem einen Moment lang aus, ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.“ – „Und wenn nicht?“, fragte Marcel von oben herab, trat aber einen Schritt zur Seite und ließ Semir vorbei. „Joscha, mach‘ mal die Musik leise, wir haben die Polizei im Haus.“
    Im Wohnzimmer scharten sich sieben oder acht Jugendliche um Semir. Polizei, noch dazu Kriminalpolizei kannten sie alle bislang nur aus dem Fernsehen. „Es geht um Sophie Ziegler“ – „Welche Sophie?“ – „Mensch Markus, das war doch die süße Blondine, mit der du getanzt hast.“ – „Ach, die hieß Sophie?“ Die jungen Männer redeten wirr durcheinander. Semir zog sein Handy aus der Tasche und zeigte ihnen das Foto des Mädchens.


    Auf der Party hatten sich mehrere Freundeskreise getroffen, die sich untereinander nicht alle kannten. Aber jetzt wussten alle, wen er meinte, und Semir bekam endlich nützliche Informationen. „Sophie ist schon vor zehn Uhr gegangen, sie wollte zum Bus und nach Hause, um keinen Ärger mit ihren Eltern zu bekommen.“ – „Ist sie alleine gegangen?“, fragte Semir. „Nein, mit Tina. Die beiden hängen ja immer zusammen.“ – „Hatte sie was getrunken?“ – „Sie war nicht betrunken, wenn Sie das meinen, aber das eine oder andere Gläschen hatte sie wohl schon intus.“ – „Wissen Sie, ob Tina und Sophie den gleichen Heimweg hatten, wohnen beide auf derselben Ecke?“ – „Das weiß ich nicht, aber sie sind gemeinsam gegangen, soviel kann ich Ihnen sagen.“


    Semir ließ sich noch die Personalien der letzten Partygäste geben, verabschiedete sich und verließ die Wohnung am Neumarkt.

  • Innenstadtrevier


    Vom Neumarkt aus war es nicht weit zum Innenstadtrevier der Kölner Polizei. Semir stellte den BMW auf den Dienstparkplatz und betrat das Revier. „Jensen! Mit dir habe ich heute Nacht nicht gerechnet. Du hast heute Nachtdienst?“ Jens Jensen, der Angesprochene, hob seinen Kopf in Richtung Tür und erkannte Semir, mit dem er schon öfters zu tun gehabt hatte.


    „Wonach sieht es denn wohl aus, Semir? Bist du unter die Nachtschwärmer gegangen? Oder ist das deine neue Dienstkleidung?“ Dabei musterte er Semirs Anzug, den er immer noch trug. Semir schmunzelte, sagte dann aber: „Nein, Jens, die Sache ist ernst. Eine Klassenkameradin unserer Nachbarin wird seit einigen Stunden von ihren Eltern vermisst. Ich dachte, du könntest schon mal euren Streifen das Foto schicken, damit sie ihre Augen nach ihr offen halten. Vor allem hier in der Innenstadt, sie war bis um kurz nach 22:00 Uhr am Neumarkt auf einer Geburtstagsfeier. Sie heißt Sophie Ziegler, ist sechzehn Jahre alt, blond und bekleidet mit einer roten Jacke, einer bunten Bluse, schwarzem Rock und schwarzer Leggings sowie Stiefeln.“


    „Das kann ich gerne tun. Wir brauchen aber eine Vermisstenanzeige.“ – „Die Eltern wollten bis morgen warten. Vielleicht übernachtet sie ja doch bei einer Freundin oder einem Freund oder kommt doch noch heute Nacht nach Hause. Ich wollte mich nur vorab mal umhören.“ – „Kann ich verstehen, ist deine Tochter nicht auch in dem Alter?“ – „Dana? Ja.“ Semir nickte nachdenklich, „sie wird Sonntag sechzehn.“


    Dana, Semirs Tochter aus einer früheren Beziehung, wohnte seit dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter und ihres Stiefvaters ebenfalls bei Andrea und Semir. „Was macht Dana denn jetzt?“, fragte Jensen interessiert, während er das Foto von Semirs Handy an die Streifenwagen verteilte und die Beschreibung in die Tastatur tippte, „geht es ihr gut?“ – „Wie man’s nimmt. Sie macht seit einer Woche ein Praktikum in einem Hotel in Aachen, das ihr Alex‘ Freundin vermitteln konnte, vorgestern war sie noch begeistert, mal sehen, wie das nach den zwei Wochen aussieht.“ – „Ist sie denn schon fertig mit der Schule?“ – „Nächstes Jahr, wenn sie nicht noch weiter zur Schule gehen will. Habt ihr Kontakt zur Buszentrale?“, kam Semir zum Fall zurück.“ – „Ich kann dir eine Telefonnummer geben, Semir. Aber persönlich kenne ich dort keinen.“ Jensen zog aus seiner Schreibtischschublade ein dickes Notizbuch hervor. „Hier“, er drehte das Buch so, dass Semir die Telefonnummer lesen und in sein Handy eingeben konnte. Er lauschte dem Klingelzeichen und anschließend dem Beschäftigten in der Buszentrale.


    „Guten Abend. Mein Name ist Semir Gerkan von der Polizei. Ich rufe in einer Vermisstenangelegenheit an und müsste mit einigen Ihrer Busfahrer sprechen … Linie 136, 22:07 Uhr ab Neumarkt und die folgenden zwei Busse … Ja, okay, ich werde da sein, Sie haben mir sehr geholfen … Ach, noch eine Frage, haben Sie Videoüberwachung in den Bussen? Das ist gut, ich muss die Aufzeichnungen der Linie 136 sehen, ich komme vorbei.“


    Auf den fragenden Blick des Revierleiters erläuterte er: „Die Busfahrer sind alle bis um 2:30 Uhr, 2:45 Uhr und 3:00 Uhr im Dienst und kommen dann zur Zentrale, ich werde sie dort befragen und mir vorher dort die Videoaufzeichnungen ansehen.“ – „Ich hoffe, du hast Erfolg, Semir“, sprach Jensen dem Hauptkommissar Mut zu, „sag Bescheid, wie es gelaufen ist. Viel Glück!“ – „Danke, Jens, bis später.“

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  • Bus


    In der Buszentrale erhielt Semir Einblick in die Aufnahmen der Überwachungskamera der Linie 136, die direkt vom Bus in die Leitstelle übermittelt wurden, und schaute sich die in Frage kommenden Busfahrten ab der Haltestelle am Neumarkt an. Der Leiter der Buszentrale hatte auch bereits die Fahrer der in Frage kommenden Fahrzeuge informiert, die zusagten, nach ihrem nahenden Schichtende in der Zentrale vorbeizuschauen, so dass Semir dort auf sie warten konnte.


    Noch während er die Filme anschaute, traf der erste Fahrer ein. Er hatte eine ruhige Nacht gehabt, aber am Neumarkt war dann doch eine ganze Reihe Passagiere zugestiegen. An einzelne Personen konnte er sich nicht erinnern. Die Überwachungskamera zeigte kein Mädchen, welches Sophie Ziegler ähnelte. Semir bedankte sich, und der Fahrer brach auf in seinen Feierabend.


    Der nächste Fahrer konnte sich an die beiden Mädchen erinnern, die um 22:22 Uhr am Neumarkt in seinen Bus stiegen, weil er mit ihnen eine längere Diskussion über die Fahrkarte hatte, denn die Monatskarte des einen Mädchen war abgelaufen, und sie hatte die neue Karte nicht dabei. Aber die Angelegenheit konnte geklärt werden, sie würde die gültige Karte innerhalb von 10 Tagen in der Zentrale vorlegen, und müsste dann nur eine geringe Bearbeitungsgebühr entrichten und nicht die Strafe für die Schwarzfahrt. Der Film bestätigte die Angaben des Busfahrers.


    Sie ließen den Film etwa 15 Minuten laufen. Die zwei Mädchen saßen schweigsam im Bus und schauten von Zeit zu Zeit auf ihre Smartphones. Dann erhob sich Sophie und stieg an einer Haltestelle aus. „Ist das die Kitschburger Straße?“, fragte Semir, der sich an die Worte von Sophies Mutter erinnerte. „Nein“, antwortete der Fahrer, „das ist die Theresienstraße, 2 Stationen vorher.“ Tina schaute nur kurz auf, als Sophie aufstand, dann widmete sie sich wieder ihrem Smartphone. „Hm. Ich brauche die Aufzeichnungen. Danke, Sie haben uns sehr geholfen“, bedankte sich Semir bei dem Busfahrer.


    Der mittlerweile eingetroffene dritte Fahrer wurde gleich nach Hause geschickt. „Halt!“, hielt Semir ihn zurück, „ist Ihnen an der Haltestelle Theresienstraße um 22:47 Uhr etwas aufgefallen?“ Vielleicht hat Sophie die Fahrt nur unterbrochen, um mit dem nächsten Bus weiterzufahren? „Nein, ich erinnere mich an nichts Besonderes, dort steigen auch nachts kaum Personen zu. Aber schauen wir doch auch mal meinen Film an.“ Sie setzten sich wieder an den Monitor. Aber leider war von Sophie nichts zu sehen. Ihre Spur verlor sich an der Theresienstraße um 22:32 Uhr, mittlerweile vor etwa fünf Stunden.


    Während der Leiter der Buszentrale die Filme der Überwachungskameras für Semir auf eine DVD brannte, meldete sich dieser zunächst bei Sophies Eltern, und als diese ihm mitteilten, von ihrer Tochter noch nichts gehört zu haben, bat er sie, doch eine offizielle Vermisstenanzeige beim Innenstadtrevier aufzugeben. Dort kündigte er anschließend die Anzeige an und teilte Jens Jensen den letzten Ort mit, an dem Sophie gesehen worden war.


    Die Theresienstraße lag im Tiefschlaf. Semir konnte sich im Vorbeifahren nicht vorstellen, was Sophie hier gesucht haben könnte. Er müsste von Tür zu Tür gehen und auch die Nebenstraßen in die Suche einbeziehen. Das wäre eine Aufgabe für viele Streifenbeamte. Er beschloss aber, sich den Ort am nächsten Tag noch einmal bei Licht zu betrachten und jetzt nach Hause zu fahren. Es war mittlerweile schon fast 4:00 Uhr.

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  • Nadine


    Von Ben kam nur ein leises „Wuff“, als Semir in den frühen Morgenstunden seine Wohnungstür aufschloss, der junge Hund hatte längst sein Herrchen erkannt und begrüßte ihn schwanzwedelnd im Flur. Semir ging in die Hocke und streichelte ihn.


    Er entledigte sich seiner Schuhe und ging noch kurz ins Bad, bevor er endlich seinen Anzug ausziehen konnte und sich neben die tiefschlafende Andrea ins Bett kuschelte. An ein schnelles Einschlafen war allerdings nicht zu denken. Zu sehr wurden seine Gedanken von der aktuellen Suche beschäftigt. Sophie Ziegler wurde mittlerweile seit etwa sechs Stunden vermisst. Wo mochte sie nur sein? Was machten bloß ihre Eltern durch? Zu gern würde er ihnen helfen, aber er hatte heute Nacht alles getan, was zu diesem Zeitpunkt möglich war. Jetzt lag die Angelegenheit in der Hand des zuständigen Innenstadtreviers. Semir hatte zu Jensen und dessen Team vollstes Vertrauen, er hatte schon früher gut mit den Kollegen zusammengearbeitet und dabei nur positive Erfahrungen gesammelt.


    Aber Semir würde die Suche auch selbst weiterhin im Auge behalten und sich am nächsten Tag nach dem Stand der Ermittlungen erkundigen, dazu war seine Neugierde zu groß. Außerdem handelte es sich um eine Klassenkameradin von Nadine und Dana. Nur ganz allmählich legte sich seine Anspannung, Semir ließ sich in einen tiefen, traumlosen Schlaf ziehen.


    Es war bereits taghell im Schlafzimmer, als er die Augen aufschlug. Semir blinzelte über Andreas verlassenes Bett hinweg auf den Radiowecker: 11:00 Uhr. Er hatte länger geschlafen, als er zu hoffen gewagt hatte. Nachdem er in der Küche die Kaffeemaschine angestellt und den Zettel von Ayda überflogen hatte, auf den das Mädchen „Sind mit Ben zum Hundeverein“ geschrieben hatte, er über das umgedrehte „VV“ geschmunzelt hatte, das sie unter dem Namen „Ben“ gemalt hatte, um deutlich zu machen, dass es sich hierbei um den Hund und nicht um den zweibeinigen Freund der Familie handelte, duschte er kurz und zog sich an.


    Mit dem Kaffeebecher in der Hand, wählte er die Telefonnummer des Innenstadtreviers und erfuhr vom diensthabenden Vorsteher – Jens Jensen hatte nach seiner Nachtschicht frei und erst wieder Montagnachmittag Dienst -, dass das Ehepaar Ziegler am frühen Morgen seine Tochter Sophie als vermisst gemeldet hatte. Bislang fehlte aber jede Spur von dem Mädchen. Seitdem sie an der Theresienstraße den Bus verlassen hatte, war sie wie vom Erdboden verschluckt. Warum war sie bloß nicht nach Hause gefahren, so wie sie es mit ihren Eltern vereinbart hatte? Ob ihre Freundin, die mit ihr im Bus gesessen hatte, mehr wusste? Er muss mit ihr sprechen. Und die Eltern von Sophie würde er auch aufsuchen. Semir hatte sich gerade eine Scheibe Toast belegt, als es an der Tür klingelte.


    Nadine, ihre Nachbarin und Babysitterin von gestern stand davor. „Hallo Herr Gerkan, ich möchte nicht stören“, begann sie. „Du störst doch nicht“, nahm Semir ihr diese Sorge, „du willst bestimmt wissen, ob Sophie aufgetaucht ist, komm doch rein, ich bin gerade beim Frühstücken.“ Als sie gemeinsam am Küchentisch saßen, fragte Nadine: „Und? Ist Sophie nach Hause gekommen?“ – „Nein, Nadine. Das ist sie nicht. Sie war auf der Feier bei Marcel, hat sie aber rechtzeitig mit ihrer Freundin Tina verlassen, kennst du die?“ - „Tina geht auch in unsere Klasse.“ – „Sie haben die Party zusammen verlassen, saßen gemeinsam im Bus – ich habe die Aufnahmen der Überwachungskameras gesehen -, dann stieg Sophie aus, und zwar zwei Stationen vor ihrer eigentlichen Haltestelle. Tina schien das gar nicht zu wundern. Weißt du, was Sophie dort gewollt haben könnte? Hat sie vielleicht einen Freund?“ – „Nein, Herr Gerkan, wie ich Ihnen ja gestern schon erzählte, wir sind lediglich Klassenkameradinnen, ich habe gar keinen näheren Kontakt zu ihr. Von einem Freund weiß ich nichts.“ – „Und Tina? Kennst du die näher?“


    „Nein, Tina ist die beste Freundin von Sophie, aber mit ihr kann ich noch weniger anfangen. Das Toastbrot, das sie gerade essen, hat vermutlich einen höheren IQ als Tina, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Semir musste trotz des ernsten Themas lachen. „Kannst du mir trotzdem ihre Adresse geben, ich muss ihr einige Fragen stellen. Und ich hoffe, dass sie mir trotz der eingeschränkten Intelligenz, die du ihr bescheinigst, mehr Antworten geben kann, als mein Toastbrot.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Tina


    Mit Tinas Adresse in der Jackentasche machte sich Semir zunächst wieder auf zur Theresienstraße. Immer wieder versuchte er sich vorzustellen, was ein 16-jähriges Mädchen wohl bewogen haben könnte, dort nachts nach 22:00 Uhr den Bus zu verlassen, statt die nächsten zwei Stationen weiter zu fahren, wo ihr Vater wie verabredet an der Bushaltestelle auf sie wartete. Er sah nur Wohnhäuser um sich herum, ob Sophie hier jemanden kannte? Er würde ihre Eltern fragen, vielleicht gab es auch noch ein „analoges Adressbuch“ mit ihren Kontakten in ihrem Zimmer? Obwohl Semirs Hoffnung, was diesen Punkt anging, sehr gering war. Die Ortung ihres Handys hatte bislang nichts ergeben, das hatte der Beamte des Innenstadtreviers ihm noch mitgeteilt, als er am Morgen mit ihm telefoniert hatte. Hier in der Theresienstraße war zumindest nichts Auffälliges zu entdecken. Also setzte Semir seinen Weg fort und stand schon kurz darauf vor der Wohnungstür von Tina, Nadines Äußerung nach Sophies engste Freundin.


    Tina wohnte mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Nähe der Bushaltestelle Hohenlind, welches die Endstation der Linie 136 war. Da die Eingangstür offen stand, stieg Semir direkt in den zweiten Stock und klingelte an der Wohnungstür.


    „Machst du mal die Tür auf, Tina?“ – „Ich bin gerade im Chat, Geh selbst!“ – „Tina! Mir brennt das Essen an, wenn ich gehe, geh jetzt zur Tür!“ Semir konnte den Dialog durch die geschlossene Wohnungstür laut und deutlich verstehen. Dann hörte er näherkommende Schritte, den Schlüssel im Schloss, und kurz darauf stand ihm ein blondes Mädchen in Danas Alter gegenüber, welches auf ihn herabblickte. „Ja?“, fragte sie gelangweilt, „Was wollen Sie? Zu meiner Mutter? Mama! Besuch für dich!“ Sie hatte sich schon umgedreht und wollte ihn gerade vor der Tür stehend ihrer Mutter überlassen, aber Semirs Frage ließ sie in der Bewegung verharren. „Bist du Tina?“


    Tina drehte sich um und nickte. „Dann will ich zu dir.“ – „Das wüsste ich aber“, kam abweisend von dem Mädchen. „Es geht um Sophie. Können wir uns kurz unterhalten?" Semir stand immer noch im Treppenhaus, Tina einige Schritte von der Wohnungstür im Flur. „Sophie?“, fragte sie nun. „Drinnen?“ Tina winkte ihn hinein. Tinas Mutter kam neugierig aus der Küche, noch ein Geschirrhandtuch in ihrer Hand. „Wer sind Sie? Was wollen Sie von meiner Tochter?“


    Semir schloss die Wohnungstür hinter sich und zog seinen Ausweis aus der Hosentasche. „Mein Name ist Gerkan, ich suche Sophie Ziegler, sie wird seit gestern Nacht vermisst. Und ihre Tochter ist eine der letzten, die sie vor ihrem Verschwinden gesehen hat.“ – „Polizei?“ – „Ja, du bist mit Sophie im Bus gefahren. Weißt du, warum sie früher ausgestiegen ist, als geplant, nämlich an der Theresienstraße?“ – „Nein, keine Ahnung.“ – „Hat dich das nicht gewundert? Ihr ward auf dem Heimweg und sie fährt nicht nach Hause, sondern steigt vorher aus? Habt ihr euch nicht unterhalten?“ – „Nö. Sie hatte noch was vor, hat während der Fahrt gechattet und ist dann aufgestanden und ausgestiegen, sagte, sie hätte noch einen Termin und wollte mit dem nächsten oder übernächsten Bus weiterfahren.“ – „Kennt sie dort jemanden?“ – „Keine Ahnung. Gemeinsame Freunde wohnen dort jedenfalls nicht.“ – „Hattest du nach der Busfahrt noch Kontakt zu Sophie? Im Chat vielleicht?“ – „Nein, ich habe ihr heute Morgen geschrieben, aber es kam keine Antwort, und“, sie holte ihr Handy aus der Hosentasche, „sie ist auch nicht online gewesen, seit gestern Abend.“


    Nun mischte sich Tinas Mutter ein. „Was, wenn Sophies Termin gar nicht in der Nähe dieser Bushaltestelle lag, sondern sie zurück gefahren ist in die Innenstadt?“ Daran hatte Semir noch nicht gedacht, mit Bus und Bahn hätte Sophie mittlerweile fast jeden Winkel Deutschlands erreichen können. Er musste unbedingt mit ihren Eltern sprechen.

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  • Sophies Eltern

    „Guten Tag, Frau Ziegler, ich bin Semir Gerkan, wir haben heute Nacht telefoniert, kann ich kurz reinkommen?“ – „Aber sicher, kommen Sie!“ Isolde Ziegler, eine Frau von Anfang vierzig, trat einen Schritt zur Seite und ließ Semir in den geräumigen Flur ihres Einfamilienhauses eintreten. „Sophie ist noch nicht wieder gekommen und hat sich auch nicht gemeldet, vermute ich?“, fragte Semir, nachdem er am Esstisch Platz genommen hatte. „Nein, dann hätte ich Sie sofort angerufen wie ausgemacht. Konnten Sie denn schon etwas herausfinden?“


    „Nicht viel. Wir wissen jetzt, dass sie auf Marcels Party war, diese mit ihrer Freundin gemeinsam verlassen und den Bus in diese Richtung genommen hat. Aber sie ist 2 Stationen früher ausgestiegen, an der Theresienstraße, von da an verliert sich ihre Spur.“ – „Warum sollte sie das getan haben? Das ergibt für mich keinen Sinn. Sie wusste doch, dass wir hier auf sie warten.“


    „Kennen Sie jemanden, der dort wohnt, jemand aus Sophies Klasse vielleicht, oder aus der Familie?“ – „Familie auf keinen Fall, wie sind die einzigen hier in Köln, meine Schwester wohnt mit ihren Kindern im Sauerland, und mein Mann hat keine Geschwister. Und Mitschüler? Wir können die Klassenliste noch einmal durchgehen.“ Die Liste lag seit ihrem nächtlichen Telefonmarathon noch immer auf der Anrichte im Flur. Sie reichte sie Semir, der kurz die Adressenspalte durchging, die meisten Straßennamen kannte er, die übrigen Adressen schlug er schnell im Stadtplan auf seinem Handy nach. Wirklich in Frage kam nur eine Anschrift. Aber die Hoffnung zerschlug sich, als Isolde Ziegler ihn darüber aufklärte, dass Max Hansen gerade ein Austauschjahr in den USA verbrachte und seine Eltern das „schulkindfreie“ Jahr dazu nutzten, sich den langgehegten Traum einer mehrwöchigen Reise durch Australien und Neuseeland zu erfüllen. Dort wäre bestimmt niemand anzutreffen.


    „Ist Sophie schon mal länger weggeblieben? Hat sie einen Freund? Vielleicht einen, den Sie noch nicht kennengelernt haben? Oder haben Sie sich gestritten?“ Semir fielen einige Fragen ein, um die Beweggründe eines 16-jährigen Mädchens, nachts nicht nach Hause zu kommen, zu erforschen. „Sie können mir glauben, dass ich mir genau diese Fragen auch schon gestellt habe, immer wieder, die ganze Nacht. Aber ich kann Ihnen keine Antwort darauf geben. Sie hat sich auf heute gefreut, wir wollten gemeinsam shoppen gehen.“ – „Auf jeden Fall weiß die Polizei Bescheid, die Streifenwagen halten Ausschau nach ihr. Wir können jetzt eigentlich nur noch abwarten, so schwer es Ihnen auch fallen mag.“


    Damit erhob sich Semir und ging in Richtung Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. „Eine Frage habe ich noch. Wo macht Sophie eigentlich ihr Schülerpraktikum?“ Isolde Ziegler sah ihn erstaunt an. „In der Apotheke am Dom. Wieso?“ – „Danke Frau Ziegler, wir müssen das Umfeld von Sophie befragen, und dazu gehören Mitschüler, Lehrer und jetzt eben auch Arbeitskollegen.“
    „Sie glauben doch nicht, dass jemand Sophie etwas angetan hat?“ Semir antwortete erst nur mit einem Schulterzucken, entschied sich dann aber, ihnen Mut zuzusprechen. „Frau Ziegler, in Deutschland werden jährlich 50000 Kinder als vermisst gemeldet, über 98% tauchen spätestens nach wenigen Tagen wieder auf.“ – „Aber es bleiben auch immer wieder welche verschwunden?“ – „Ja, das stimmt. Aber daran sollten Sie jetzt nicht denken. Sophie ist in einem Alter, in dem Kinder beginnen, Geheimnisse zu haben und Freunde, von denen sie ihren Eltern nicht erzählen wollen, weil Sie glauben, sie erhielten nicht deren Zustimmung. Sie können mir glauben, ich spreche da aus eigener Erfahrung. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sophie wieder heimkommt? Sollte Sie nicht bis Montag hier oder an ihrem Praktikumsplatz erscheinen, werde ich mit ihren Arbeitskollegen reden, vielleicht haben die ja eine Vermutung.“ Semir reichte Herrn und Frau Ziegler die Hand zum Abschied. „Vielen Dank, Herr Gerkan. Wie wissen es sehr zu schätzen, dass Sie sich so bemühen“, sagte Herr Ziegler zum Abschied, und seine Frau ergänzte: „Bitte bringen Sie uns unsere Tochter zurück!“ – „Ich werde nichts unversucht lassen, das kann ich Ihnen versichern.“


    Gerichtsmedizin

    Die Fingerabdrücke und DNA-Proben des Toten, der am Freitagabend aus dem kleinen Motorboothafen gezogen worden war, wurden am Samstag untersucht und mit den Dateien im Polizeicomputer abgeglichen.


    Dann machte der Gerichtsmediziner sich auf die Suche nach der Todesursache, denn, obwohl Ertrinken als Ursache für das Ableben bei einer Wasserleiche naheliegt, musste man hier ganz sicher gehen. Nach seinen Untersuchungen kam er zu dem Schluss, dass der Angler bereits tot gewesen sein musste, bevor er dem Wasser übergeben wurde, erschlagen von einem stumpfen Gegenstand am Hinterkopf, vielleicht einem glatten Stein. Er konnte kein eingeatmetes Wasser in der Lunge feststellen, damit schied Ertrinken als Todesursache aus. Und so schrieb er es in seinen Bericht. Unfall, Totschlag oder Mord, das herauszufinden war nun Aufgabe der Kriminalpolizei.


    Inzwischen waren die Computer der KTU zu einem Ergebnis gekommen. Der Tote war aus Polizeisicht kein Unbekannter, doch sie fanden ihn nicht etwa in ihrer Verbrecherkartei, sondern in der Datei ihrer eigenen Beschäftigten. Der Tote war ein Kollege von ihnen: Uwe Neugebauer, Mitarbeiter des BKA.


    Sowohl die KTU also auch die Gerichtsmedizin schickten ihre Ergebnisse an die Kriminalpolizei Köln, wo die Akte jedoch bis zum Montag liegen blieb, weil die Beamten im Wochenende waren und die anwesende Bereitschaft die Wichtigkeit nicht korrekt einschätzte. So würde die Familie des Uwe Neugebauers erst am Montag von seinem Ableben erfahren.

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  • Dana


    „Hallo Dana, wir wünschen Dir Alles Gute zu Deinem Geburtstag!“, um die Worte ihres Vaters am Telefon zu unterstützen, stimmten Ayda und Lilly ein Geburtstagsständchen an. Dana hatte Geburtstag und verbrachte den Tag bei ihrer Großmutter, der Mutter von Nazan, in Aachen, wo sie ein Schüler-Praktikum in einem großen Hotel absolvierte. „Danke, das ist lieb von euch. Schön dass ihr anruft.“ Nach einer lockeren Plauderei winkte Semir seine Kinder aus dem Wohnzimmer.


    „Du Dana, ich muss noch etwas anderes mit dir besprechen. Du kennst doch Sophie Ziegler? Seid ihr näher befreundet?“ – „Warum fragst du? Sophie geht in meine Klasse.“ – „Was weißt du über sie und ihre Kontakte? Kennst du sie näher?“ – „Papa, was willst du mit Sophie? Gut, wir haben nach der Schule öfters zusammen abgehangen, eine geraucht oder so.“ – „Okay, das habe ich jetzt mal nicht gehört. Wer war sonst noch so dabei?“ – „Sag mir doch erst einmal, worum es überhaupt geht? Ist etwas mit Sophie?“


    „Sophie ist seit Freitagnacht verschwunden, sie ist von einer Party nicht nach Hause gekommen. Ihre Mutter hat begonnen, die Telefonliste eurer Klasse durchzutelefonieren und hat Nadine erreicht, als sie noch bei uns war. Andrea und ich waren aus und Nadine hat eingehütet. Jetzt brauchen wir Ansatzpunkte, wo wir mit der Suche fortfahren können.“ – „Warum kümmerst du dich darum? Ist das dein Fall?“ – „Ich schaue mich nur etwas um, also, kannst du mir nun Namen nennen? Bei Tina war ich gestern schon, aber ohne Erfolg.“ – „Da kann ich dir auch nicht weiterhelfen, außer Tina und Sophie kenne ich die Clique ja kaum. Aber, Papa?“ – „Ja, Dana?“ – „Sie kann doch nicht wirklich verschwunden sein. Bestimmt hat sie sich nur verquatscht und bei einer Freundin übernachtet. Sie wird schon wiederkommen. Meinst du, sie ist entführt worden?“ – „Ich weiß es nicht, Dana. Ich weiß nur, dass sie jetzt zwei Nächte nicht zuhause war und ihre Eltern sich große Sorgen machen.“ – „Jeder potenzielle Entführer würde Sophie doch spätestens nach zwei Tagen freiwillig wieder zurückbringen.“


    Nachdem es ruhig blieb in der Leitung, ergänzte sie „Sorry, Papa. Das war jetzt taktlos von mir. Ich habe es nicht so gemeint. Ich hoffe wirklich, ihr ist nichts zugestoßen.“ – „Das hoffe ich auch. Lass uns das Thema wechseln. Wie gefällt dir dein Praktikum?“
    „Gut. Die letzten Tage war ich im Frühstücksservice und an der Rezeption, das hat mir besser gefallen, als bei den Zimmermädchen zuvor. Und ab Montag bin ich dann im Event-Management.“ – „Event-Management? Wie das klingt! Was macht das Event-Management?“ – „Veranstaltungen planen, Papa! Eine große Softwarefirma veranstaltet im Herbst im Hotel ihre Hausmesse für etwa 700 Leute, da ist so einiges zu tun für uns.“ – „Klingt ja mächtig interessant, für mich wäre das nichts. Wie geht es deiner Großmutter?“


    Semir hatte Danas Großmutter auf der Beerdigung von Nazan und Tom Wegner, Danas Eltern, kennengelernt und freute sich, dass Dana den Kontakt weiter aufrecht hielt, war sie doch die einzige Person, die ihr aus ihrem „früheren Leben“, wie sie es nannte, geblieben war. „Gut soweit, sie hat vorgeschlagen das Haus zu verkaufen. Es steht ja auch seitdem leer.“
    Das Haus. Semir hatte in den letzten Monaten vermieden, das Gesprächsthema auf das Haus zu lenken, in dem Dana aufgewachsen war und das ihre Eltern vor einigen Jahren gekauft hatten, nachdem sie vorher dort zur Miete gewohnt hatten. Er meinte, es würde sie noch zu sehr schmerzen, sich an ihre Kindheit dort zu erinnern. Nun kam sie von sich aus auf dieses Thema zu sprechen. „Und ich glaube, das ist eine gute Idee. Es wäre auch ein Abschluss für mich.“ – „Da sollten wir uns am Wochenende drüber unterhalten. Du solltest dir mit der Entscheidung Zeit lassen.“ – „Okay, apropos Wochenende. Kannst du mich am Freitag in Aachen abholen?“ – „Das kann ich dir noch nicht versprechen, Dana, aber ich versuche es.“ – „Danke, der Zug ist Freitags immer so voll und die Bahn hat auch wieder Streiks angekündigt.“ – „Ich organisiere was, entweder komme ich selbst oder ich schicke jemanden, okay?“ – „Klingt nach einem Plan.“


    Semir wünschte seiner Ältesten noch einen schönen Tag, ließ viele Grüße an die Großmutter ausrichten und beendete das Gespräch.

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  • Düsseldorf

    Mit seinen Gedanken noch bei dem vermissten Mädchen und die letzten Worte seiner Mutter im Ohr, „Bitte bringen Sie uns unsere Tochter zurück“, fuhr Semir am Montagmorgen direkt nach dem Frühstück ins Präsidium nach Düsseldorf zur Monatsbesprechung der Autobahnpolizei-Dienststellen. Kim Krüger, die seit Jahresbeginn die Gesamtleitung inne hat, hat diese Treffen ins Leben gerufen, sie war der Meinung, dass ein gemeinsamer Erfahrungsaustausch zwischen den Dienststellen nur von Vorteil sei, um das kollegiale Miteinander der verschiedenen Dienststellen zu fördern. Sie nahm das Treffen auch regelmäßig zum Anlass, die aktuellen Verluste in der Fahrzeugflotte, hervorgerufen vor allem durch eine ganz bestimmte PAST, anzuprangern.


    Auch an diesem Montag hatte Semir seiner Dienstvorgesetzten einiges zu beichten. Er selbst hatte zwar keinen einzigen Schaden zu verantworten, auch die Streifenwagen „seiner PAST“ waren in den letzten Wochen unbeschädigt geblieben. Aber Ben hatte es gleich mehrfach geschafft, „geräuschvoll anzuecken“. Obwohl diese recht bürokratischen Treffen nun wirklich nicht zu seinen Lieblingstätigkeiten zählten, freute er sich auf das Wiedersehen mit seinen Kollegen und auf einen ruhigen Montagvormittag.


    Kim Krüger hatte zwei aktuelle Themen auf der Tagesordnung, die sie kurz umriss, zum einen eine geplante Großkontrolle, die Freitag am Rastplatz Frechen an der A4, in beide Fahrtrichtungen durchgeführt werden soll und viele Beamte binden würde und zum anderen die Begleitung eines Schwertransports für die Nacht von Samstag auf Sonntag. Vier Tieflader mit Überlänge und Überbreite mussten durch ganz Nordrhein-Westfalen begleitet werden. Im Grunde gehörte beides zur Routine der Autobahnpolizei, lediglich die Dienstpläne müssten diesen Sondereinsätzen entsprechend angepasst werden. Semir würde es am Nachmittag mit Susanne und der PAST-Besatzung besprechen.


    Die Besprechung war um 11:30 Uhr zu Ende. Als Semir bei einem befreundeten Kollegen noch auf einen kurzen Plausch stehen blieb, fiel sein Blick auf dessen Monitor, auf dem eben das Foto eines Mannes aufgeblendet war. „Oh, der sieht nicht gut aus!“, entfuhr ihm. „Kein Wunder, der lag auch tagelang im Rhein“, entgegnete sein Kollege. „Ein Unfall? Hast du damit zu tun?“, fragte Semir. „Nein, kein Unfall, der Mann ist wohl erschlagen worden, bevor er ins Wasser geworfen wurde. Er war übrigens ein Kollege.“ – „Bitte? Ein Kollege? Kanntest du ihn? Wer war er?“ – „Er hieß Uwe Neugebauer. Ich kannte ihn nicht, er war beim BKA. Ist jetzt Sache der Mordkommission.“ – „Uwe Neugebauer?“ Irgendetwas regte sich in seinem Hinterkopf bei dem Namen, aber er kam nicht drauf. Neugebauer? „Kaffee?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. „Was?“ – „Möchtest du noch einen Becher Kaffee, Semir?“ – „Nein, ich muss los. Wir sehen uns!“


    Semir verabschiedete sich von seinem Kollegen und verließ das Präsidium. Ihm ging der Name des Toten aus dem Rhein nicht aus dem Kopf, Neugebauer, Neugebauer, dann fiel endlich der Groschen. „Uwe Neugebauer, natürlich, ich Idiot!“, er griff sich das Funkgerät. „Zentrale für Cobra 1“ – „Zentrale hört, Semir, was gibt es?“ – „Susanne“, bat er die Sekretärin der PAST, „tu mir doch bitte den Gefallen und such mir die Akte zum Mario-Torres-Fall vom Frühjahr raus und stell mir alles zusammen, was du über Uwe Neugebauer finden kannst, der Name kommt in der Akte vor. Uwe Neugebauer ist am Freitagabend tot aus dem Rhein gefischt worden.“

    Unfall

    Dieter Bonrath und Jenny Dorn genossen den ruhigen Montagmorgen auf der A3 und wollten gerade eine Raststätte zu einem zweiten Frühstück anfahren, als vor ihnen das Ende eines Staus in Sicht und der Verkehr beinahe völlig zum Stillstand kam. Dieter schaltete das Blaulicht des Streifenwagens ein und bestand darauf, dass die dahin kriechenden Autos eine Rettungsgasse bildeten, durch die sie in gemäßigtem Tempo fuhren, bis sich den beiden Beamten der Auslöser für den Stau präsentierte.


    Der Fahrer eines VW Passats hatte den Abstand zu einem eben von ihm überholten Audi A3 überschätzt, ihn beim Wiedereinscheren touchiert und war daraufhin ins Schleudern gekommen. Er hatte bei einem Tempo von 160 km/h die Kontrolle über sein Auto verloren und war gegen die Leitplanke geschleudert, wurde zurück auf die Fahrbahn katapultiert und kam schließlich quer auf der linken Fahrspur zum Stehen. Der Fahrer des Audis konnte seinen Wagen relativ sicher auf die Standspur lenken und dort anhalten. Zum Glück waren keine weiteren Autos in den Unfall verwickelt.


    Jenny und Dieter stoppten ihren Streifenwagen mittig zwischen den beiden Fahrstreifen und stiegen aus. Sie gingen zunächst zum Audi. Dessen Fahrer saß noch völlig benommen hinter seinem Lenkrad. Er konnte es wohl noch gar nicht fassen, dass der Unfall so glimpflich verlaufen war. „Sind Sie verletzt? Brauchen Sie einen Arzt?“


    „Er ist einfach abgehauen“, war das einzige, was der Audifahrer ihnen antwortete. Jenny blickte zum Passat hinüber, dessen Fahrertür offen stand und den Blick in das leere Innere des Wagens gestattete. „Wer? Der Fahrer des Passats?“ – „Ja, er ist ausgestiegen, über die andere Fahrbahn gerannt und dann hinter der Böschung verschwunden.“ Dieter rief in der Zentrale an und meldete Susanne den Unfall, bat sie, den Abschleppdienst zu schicken und Alex und Ben Bescheid zu sagen, es läge der Verdacht einer Fahrerflucht vor. Er gab ihr auch das Kennzeichen des verwaisten VW Passats durch. Susanne wollte den Halter ermitteln und sich dann wieder melden.


    Während Jenny sich weiter mit dem Audi-Fahrer unterhielt, den Schaden an seinem Wagen mit einer kleinen Kamera festhielt, seine Papiere überprüfte und sich eine Beschreibung des Unfallgegners geben ließ, ging Dieter zu dem Passat hinüber und schaute hinein. Er holte ein Paar Einweghandschuhe aus der Tasche seiner Uniformjacke hervor, öffnete das Handschuhfach, fand allerdings nichts außer einem Ladekabel, einigen CDs und älteren Straßenkarten. Auch an den anderen üblichen Verstecken, über der Sonnenblende, in den Ablagen der Mittelkonsole und unter den Fußmatten war nichts zu finden, das auf die Identität des Fahrers hindeutete. Er würde den Wagen in die KTU überführen lassen, dachte er bei sich. Eher im Vorbeigehen drückte er den Knopf am Kofferraum und öffnete diesen. Beim Blick in diesen zuckte er zurück und erschrak. Nun war er über 40 Jahre bei der Polizei, hatte in wenigen Tagen seinen aktiven Dienst hinter sich und würde sich dann in seine wohlverdiente Pension verabschieden. Aber an einen solchen Anblick hatte er sich in den ganzen Jahren nicht gewöhnen können: Im Kofferraum des Passats lag die Leiche einer jungen Frau.

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  • Sascha

    Dieter rief Jenny zu sich, zog dann sein Handy hervor und drückte eine Kurzwahlnummer. „Alex? Beeilt euch, zur Fahrerflucht ist jetzt auch noch ein Leichenfund gekommen … Wie, schon 12 km Stau? Dann beeilt euch einfach noch mehr.“ Nachdem er bei Susanne auch noch die Spurensicherung und einen Leichenwagen angefordert hatte, begann er die Jacke der toten Frau zu durchsuchen. Er fand ein Portemonnaie mit Personal- und Schülerausweis und legte es auf den Körper. Da würden sich Ben und Alex gleich drum kümmern. Dieter Bonrath verglich das Passbild der Ausweise mit dem Antlitz der Toten und nickte zu seiner eigenen Bestätigung. Ohne Zweifel! Die Identität des Mädchens stand fest.


    Auf der Standspur bahnte sich ein großer Abschleppwagen mit gelben Warnleuchten seinen Weg zur Unfallstelle, und hielt in Höhe des Streifenwagens an. Jenny ging ihm entgegen. Der Fahrer kurbelte die Scheibe hinab und beugte sich zu Jenny hinab: „Guten Morgen, Jenny! Soll ich beide Wagen abschleppen?“ – „Hi Sascha, nein, erstmal nur den Audi, der Fahrer sitzt drin. Der Passat muss zur KTU gebracht werden, aber erst, wenn die Spurensicherung durch ist.“


    Der Abschleppwagen fuhr neben den Audi. Jetzt stieg der Fahrer aus und ging vorne um seinen Wagen herum zum Unfallfahrer, der mittlerweile rauchend neben seinem demolierten Audi stand. „Morgen!“, begrüßte er ihn und streckte seine Hand aus, „Sascha Mirnov, vom Autohof Mirnov. Pech gehabt?“ – „Wie man’s nimmt“, entgegnete der Audi-Fahrer und ergriff Saschas Hand, „bin geschnitten worden. Keine Chance. Jürgen Maier mein Name.“


    „Ich werde Ihnen erklären, was wir machen, Herr Maier. Ich lade ihren Audi auf und nehme Sie mit zum Autohof. Dort machen wir den Papierkram, Sie bekommen einen Leihwagen, der Audi geht in die Werkstatt und in ein paar Tagen können Sie ihn wieder eintauschen. Oder haben Sie eine Wunsch-Werkstatt? Sind sie in einem Automobil-Club oder anderweitig versichert? Wir rechnen mit jeder Versicherung ab und übernehmen den ganzen Schreibkram.“ – „Ich möchte eigentlich nur weg hier. Ich komme aus Kiel, ist das denn ein Problem wegen Leihwagen und Werkstatt?“ - „Aus Kiel? Die Heimat des THW, wie schön. Ich bin Handballfan, müssen Sie wissen. Für mich existieren keine Probleme, Herr Maier, wir besprechen das alles unterwegs.“


    Während Sascha sich an die Arbeit machte, den Audi mit Hilfe seines Krans auf die Ladefläche des Abschleppwagens zu heben, ging Jürgen Maier zu Jenny und Dieter, die sich im Gespräch mit den Fahrern am Stauanfang befanden, denen sie kurz die Ursache für die Vollsperrung erklären mussten. Sobald Sascha den Audi von der Standspur entfernt hätte, würden sie den Verkehr um den Passat herumleiten. Sie baten die Autofahrer um Geduld. „Brauchen Sie mich noch?“, fragte Maier, „oder kann ich gleich mitfahren?“ Dieter drehte sich zu ihm um. „Ihre Daten haben wir?“, Maier nickte, „Dann können Sie los. Ihre Aussage können Sie auch bei einer Polizeidienststelle ihres Wohnorts zu Protokoll geben. Wir melden uns. Gute Heimfahrt.“ Mit diesen Worten entließ der hochgewachsene Kommissar der Autobahnpolizei den Unfallbeteiligten und wartete auf Ben und Alex.


    Alex und Ben

    „Wohin ist der Unfallfahrer geflohen?“, fragte Ben, nachdem Bonrath ihm den Unfallhergang dargelegt hatte, und Dieter wies auf die gegenüber liegende Böschung. „Da drüben zwischen den Büschen soll er die Böschung überquert haben“, antwortete dieser. „War schon jemand dort? Dieter?“- „Nein, Ben. Wer denn auch? Jenny und ich sind alleine hier in diesem Chaos und hatten mit Absperrung und Umleitung des Verkehrs genug zu tun. Sascha war auch schon da und hat den beteiligten Audi und seinen Fahrer mitgenommen.“ – „Schon gut, Dieter. Hast es ja in einigen Tagen hinter dir“, versuchte Alex den hochgewachsenen Uniformierten zu beschwichtigen und deutete damit die bevorstehende Pensionierung des Kommissars in Uniform an, „aber wir brauchen noch seine Aussage und die Spuren am Auto, oder Ben? – Ben?“ Alex wandte sich nach seinem Partner um, der aber nicht mehr neben ihm stand, sondern bereits seinen Weg auf die andere Seite der Autobahn angetreten hatte.


    Bens Gedanken waren: Ein Autofahrer, der mit einer Leiche im Kofferraum einen Unfall baut, welcher sicher eine Folge seines Mangels an Konzentration und seiner Nervosität war, sucht, da sein Wagen nicht mehr fahrbereit ist, sein Heil in der Flucht, lässt dabei die Leiche im Kofferraum zurück, klar, er hätte sie sich ja nicht über die Schultern werfen können, ein solcher Flüchtige hinterlässt bestimmt Spuren, verliert etwas bei der Überquerung der Böschung. Jetzt zur Mittagszeit, war die Autobahn nicht ganz so stark befahren, so dass Ben keine Mühe hatte, in einer Lücke über die Fahrbahn zu spurten und über die Leitplanke zu steigen.


    Auch vor Semir staute sich der Verkehr. Im Radio war von einem Auffahrunfall als Ursache die Rede. Er setzte sein Blaulicht ein, um an den wartenden Autos vorbei zu fahren, bis er Dieter, Jenny und Alex erreichte. „Hi Alex, gut dass ich euch hier treffe, wir haben einiges zu besprechen, wenn ihr wieder in der PAST seid. Was ist hier passiert?“ – „Ein Unfall, eine Fahrerflucht und eine Leiche im Kofferraum“, setzte Dieter seinen Chef kurz und bündig über den Unfall und den Leichenfund in Kenntnis. „Leiche?“ Semir wurde ganz anders, als er sich dem mit offenem Kofferraum dastehenden Passat näherte. „Ja“, erläuterte Alex, „weiblich, 16 Jahre, schwarzer Rock, rote Jacke, wir haben Ausweispapiere gefunden. Das Mädchen hieß-„ Semir rutschte zunehmend das Herz in die Magengegend. Sollte hier auf der Autobahn jede Hoffnung, die er am Wochenende versucht hatte, am Glimmen zu halten, zum Erlöschen kommen? „Sophie Ziegler? Aus der Mommsenstraße?“ – „Woher weißt du?“ – „Erkläre ich euch nachher. Etwas zur Todesursache?“ – „Nein, der Unfall war es nicht, keine äußerlichen Verletzungen, wir müssen auf das Gutachten der Mediziner warten. Die müssten eigentlich gleich hier sein.“ – „Was sagt das Kennzeichen?“ – „Der Wagen gehört einem Ralf Kreisel aus Köln.“


    Jetzt bemerkte Semir die Abwesenheit von Ben. „Wo ist eigentlich Ben?“ – „Der schaut sich dort drüben um, wo der Fahrer verschwunden ist. Jemand muss es ihren Eltern sagen, Semir.“ – „Das übernehme ich“, bestimmte Semir, „ihr kommt dann ins Büro, wenn ihr hier fertig seid.“ Damit setzte sich Semir zurück in seinen BMW und ließ einen verwunderten Alex an der Unfallstelle zurück. Dass er sich so darum bemühte die Todesnachricht zu überbringen, wunderte ihn, war das doch der unbeliebteste Teil ihres Jobs. „War das eben Semir?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Ben blickte den sich entfernenden Rücklichter hinterher. „Ja“, sagte Alex leise, „und er kannte die Tote.“ – „Echt?“ – „Ja, er sagte uns ihren Namen, bevor wir ihm die Papiere gezeigt haben. Und er war so … hmm … merkwürdig.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Todesnachricht

    Isolde Ziegler goss sich gerade einen Tee auf, als sie durch das Küchenfenster den silberfarbenen BMW erblickte, der auf ihre Auffahrt bog und dem keine Minute später der Polizist entstieg, der bereits am Wochenende bei ihnen gewesen war und der ihr versprochen hatte, ihnen Sophie, ihr einziges Kind, zurückzubringen. Nein, wenn sie ehrlich war, war es kein Versprechen, aber er hatte ihnen zugesagt, alles in seiner Macht stehende zu unternehmen, ihre geliebte Tochter wieder nach Hause zu holen, die mittlerweile seit 60 Stunden unauffindbar war. Aber er kam alleine. Sie beobachtete ihn auf seinem Weg zur Haustür und meinte, seine Körpersprache deutlich lesen zu können, so als stünde sie für sie deutlich erkennbar vor ihrem Auge geschrieben. Die Worte, die sie in ihren Gedanken las, verhießen nichts Gutes. Jede Zuversicht, die Danas Vater am Samstag noch ausgestrahlt hatte und die er versucht hatte, auf sie und ihren Mann zu übertragen, war verschwunden. Kurz dachte Isolde Ziegler daran, ihr Haus durch die Gartentür zu verlassen, überzeugt davon, dass eine Nachricht, die ihr nicht überbracht werden konnte, auch nicht wahr sein durfte. Aber sie machte sich nichts vor. Das würde nicht funktionieren, sie konnte dem Folgenden nicht ausweichen.


    „Verflixt!“, fluchte sie plötzlich, als sie merkte, dass das heiße Wasser auf die Arbeitsplatte floss. Schnell stellte sie den Wasserkocher auf die Seite und warf einen Lappen auf die heiße Wasserpfütze, bevor sie in den Hausflur schritt, um Semir die Tür zu öffnen. Er lächelte nicht zur Begrüßung, sondern blieb ernst. „Guten Tag, Frau Ziegler, darf ich einen Moment hereinkommen?“, begann er leise, „ich …“ – „Sie kommt nicht wieder, oder?“, fiel ihm Sophies Mutter ins Wort, die merkte, wie sich ein heiß-kalter Schauer den Weg ihren Rücken hinunter bahnte und sie zu zittern begann. Sie schaute Semir eindringlich ins Gesicht, so als hoffte sie auf ein positives Zeichen, ein Aufflackern in seinen braunen Augen. Doch Semirs Blick blieb gesenkt, als er bedauernd mit dem Kopf schüttelte.


    „Nein, Frau Ziegler. Es tut mir sehr leid. Wir haben Sophie gefunden. Lassen Sie mich kurz rein?“ – „Ja, entschuldigen Sie.“ Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ Semir eintreten. Hinter ihm schloss sie die Haustür. „Hatte sie einen Unfall?“, ihre Stimme fing an zu zittern. „Ist ihr Mann zu Hause?“ Isolde Ziegler bejahte. „Ich rufe ihn.“ Semir hatte genug Erfahrung, um zu erkennen, dass sie im Begriff stand, ihre Fassung zu verlieren. Die Nachricht, dass ihre Tochter tot war, nie mehr nach Hause kommen würde, begann langsam ihr Bewusstsein zu erreichen. Lange würde sie nicht mehr standhalten. „Harald!“, rief sie in den hinteren Bereich des Hauses, „kommst du mal!“


    Harald Ziegler, dem man die nahezu schlaflosen letzten Tage noch deutlicher ansah als seiner Frau, gesellte sich zu ihnen und nahm Frau Ziegler wortlos in seinen Arm. „Sie ist tot, Harald“, stammelte sie, „Sophie ist tot!“ - „Sie haben Sophie gefunden?“, fragte Harald Ziegler und setzte, nachdem Semir stumm genickt hatte, nach: „Können wir sie sehen? Wo ist sie? Was ist passiert? Hat sie gelitten?“ – „Können wir uns kurz setzen?“, fragte der erfahrene Polizist, „dann erzähle ich es Ihnen.“ – „Ja, gehen wir ins Wohnzimmer.“


    Das Ehepaar Ziegler nahm auf dem Sofa Platz, Semir setzte sich vorsichtig auf einen Sessel, nahm dabei nur das vordere Drittel der Sitzfläche ein. Dieses würde keine gemütliche Plauderrunde werden, soviel stand für alle fest. „Frau Ziegler, Herr Ziegler, wir haben Ihre Tochter heute nach einem Unfall auf der Autobahn leblos im Kofferraum eines Unfallbeteiligten gefunden. Die näheren Umstände sind noch nicht geklärt. Die Gerichtsmediziner versuchen zur Stunde die Todesursache festzustellen. Kennen Sie einen Ralf Kreisel?“ Harald Ziegler wog seinen Kopf überlegend hin und her, schüttelte dann aber entschieden seinen Kopf. „Nein, der Name sagt mir gar nichts. Dir, Schatz?“ – „Nein“, kam leise von Isolde Ziegler, „wer soll das sein?“


    Dass die Eltern der toten Sophie nach einer solchen Nachricht so lange ihre Fassung wahren konnten, wunderte Semir, Andrea und er würden wahnsinnig werden, hätte ihnen jemand die Nachricht überbracht, einer ihrer Töchter wäre etwas zugestoßen, und das nicht erst nach Minuten, sondern auf der Stelle. Aber er kannte dieses Phänomen bereits, oft dringt die Tragweite einer Schreckensnachricht nur langsam zum Kern des Bewusstseins vor.


    „Auf Ralf Kreisel ist der Wagen zugelassen, in dem wir Sophie gefunden haben. Der Fahrer ist geflohen, daher wissen wir noch nicht, ob Fahrer und Halter identisch sind.“ – „Wo ist Sophie jetzt? Wir wollen sie noch einmal sehen.“ – „Sie ist in der Gerichtsmedizin. Ich lass es Sie sofort wissen, wenn Sie zu ihr können. Kann ich irgendetwas für Sie tun, jemanden benachrichtigen vielleicht?“ – „Nein. Ich glaube, meine Frau und ich wollen jetzt alleine sein.“ Semir legte noch seine Visitenkarte auf den Tisch. „Noch mal mein Beileid. Es tut mir wirklich leid, ihre Tochter nicht schon Freitagnacht oder Samstag gefunden zu haben. Ich finde alleine raus.“


    Er wandte sich zum Gehen und ließ das Ehepaar Ziegler in seinem Schmerz allein.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Dienststelle


    Als Semir in die PAST zurückkehrte, waren Alex und Ben sowie Bonrath und Jenny bereits an ihren Arbeitsplätzen. Er ging zielstrebig in sein Büro, griff sich die Akte von Mario Torres, die Susanne ihm auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, und blätterte sie fast bis zum Ende durch. Was er suchte, fand er schließlich auf einer der letzten Seiten: die Namensliste, die sie im Frühjahr in einer von Mario Torres‘ Wohnungen gefunden hatten. Sieben Namen standen darauf, zwei waren durchgestrichen: Walter Paulsen und Klaus Heinrich. Die anderen fünf Namen lauteten: Kim Krüger, Alexander Brandt, Semir Gerkan, Thorsten Ramm und – Uwe Neugebauer. In Gedanken strich Semir auch diesen Namen durch.


    Alle diese Personen waren vor nunmehr fast zwei Jahren an der Jagd nach Mario Torres, einem bolivianischen Drogenboss, beteiligt gewesen, der damals in Südamerika gestellt werden konnte und bei dem Versuch der Verhaftung vermeintlich ums Leben gekommen war. Vor einem halben Jahr war er wieder in Deutschland aufgetaucht und hatte begonnen, grausam Rache zu üben. Walter Paulsen war in seiner Wohnung erstochen worden, Klaus Heinrich mitsamt seiner Frau und seinem Sohn erschossen, was einer Hinrichtung nahekam. Bevor er seinen Racheplan vollenden konnte, gelang es Alex, Semir und Ben, ihm auf die Schliche zu kommen. In einem abschließenden Gefecht wurde Mario Torres von Ben Jäger erschossen. ‚Ben‘, überlegte Semir, ‚musste er Ben jetzt nicht auch auf diese Liste setzen?‘ Wenn jemand gekommen war, die Rache von Mario Torres fortzusetzen, würde er dann nicht auch seinem Mörder nachstellen? Er musste dringend mit seinen Partnern sprechen. Und Kim Krüger musste er über die Feststellung in Kenntnis setzen, außerdem Thorsten Ramm ausfindig machen und warnen. Sie sollten jetzt alle zusammen arbeiten.


    Er schaute kurz in seinen Computer. Thorsten Ramm arbeitete noch immer beim BKA. Dann wusste er wahrscheinlich bereits vom Tod seines Kollegen Uwe Neugebauer und war bereits vorgewarnt. Semir wählte trotzdem seine Telefonnummer. Nachdem er es gefühlte 20 Mal hatte klingeln lassen, gab er auf. Der Anruf bei Ramms Vorgesetzten brachte ich auf den aktuellen Stand der Dinge: Thorsten Ramm hatte noch bis übermorgen Urlaub. Semir ließ sich seine Privatadresse geben und beschloss nach Feierabend dort vorbei fahren, um mit dem BKA-Beamten zu sprechen. Dann nahm er die Akte und ging rüber zu Ben und Alex ins Büro, die ihre Arbeit unterbrachen, als ihr Chef durch die Tür schritt.


    „Was war denn das heute Mittag?“, entrüstete sich Ben gespielt, „so schnell weg und freiwillig selbst die Todesnachricht überbringen, das kennen wir ja gar nicht von dir. Oder,“, sein Tonfall wurde ernst, „kanntest du das Mädchen oder seine Eltern?“
    Semir nickte. „Nicht persönlich bzw. erst seit Samstag. Sophie Ziegler war eine Mitschülerin von Nadine, ihr wisst schon, der Tochter unserer Nachbarn, und Dana. Sie wurde seit Freitagabend vermisst. Andrea und ich waren gerade von dem Konzert nach Hause gekommen, Nadine hatte auf Ayda und Lilly aufgepasst, als Sophies Mutter, Isolde Ziegler, sie anrief und fragte, ob sie ihre Tochter gesehen hätte oder wüsste, wo sie sein könnte. Ich habe noch in der Nacht begonnen, nach ihr zu suchen, sie war mit Erlaubnis ihrer Eltern auf einer Feier, dort zur ausgemachten Zeit aufgebrochen, in den Bus gestiegen, aber nicht bis nach Hause gefahren, sondern schon vorher ausgestiegen. Jens Jensen vom Innenstadtrevier hat mich unterstützt, aber unsere Nachforschungen waren erfolglos. Wir fanden keine heiße Spur.“ – „Dann verstehe ich, dass du heute gleich wusstest, wer die Tote war und die Nachricht persönlich überbringen wolltest“, antwortete Ben.


    „Schon was aus der KTU oder der Gerichtsmedizin?“, wollte Semir wissen.„Als du kurz an der Unfallstelle warst, habe ich versucht, den Weg des Unfallfahrers nachzuvollziehen. Auf der anderen Seite der Böschung waren frische Fußspuren, die KTU hat einen Abdruck genommen, es handelt sich um Sportschuhe der Firma Adifix in Größe 45, ein gängiges Modell, nichts Besonderes, allerdings weist die Sohle des rechten Schuhs eine kleine Macke auf, so als wäre der Besitzer mit seinem Schuh in eine Glasscherbe getreten und habe diese wieder aus der Sohle gezogen, so hinterlässt der Schuh einen individuellen Abdruck. Wir müssen also nur diesen Schuh und seinen Besitzer finden, dann haben wir den Autofahrer. Wir haben auch einen Stofffetzen gefunden, die KTU ist aber noch dran, die Fasern zu untersuchen, und es ist auch nicht klar, ob er von unserem Fahrer stammt. DNA konnten wir keine entdecken. Die Gerichtsmedizin hat uns ihren Bericht so schnell wie möglich versprochen, was das heißt, weißt du. Bislang noch nichts zur Todesursache, nur so viel: es waren keine Spuren äußerlicher Gewalteinwirkung zu entdecken, keine Hämatome, Stich- oder Schussverletzungen, und das Mädchen ist auch nicht sexuell missbraucht worden. Keine Abwehrspuren, keine fremde DNA unter den Fingernägeln. Wir müssen uns also noch gedulden.“


    „Etwas zum Auto?“, fragte Semir. „Es ist zugelassen auf einen Ralf Kreisel, das wusstest du ja schon. Da der Wagen mit einem Schlüssel gestartet wurde, dachten wir, es wäre das Beste, direkt bei dem Besitzer vorbei zu schauen. Dass er der Fahrer ist, schließen wir aufgrund der Zeugenaussagen aus. Die Augenzeugen beschreiben den geflüchteten Fahrer als jung und sportlich. Ralf Kreisel dagegen ist fast achtzig Jahre alt.“ – „Das mache ich selbst“, beschloss Semir, „wo wohnt er?“ – „In Lindenthal.“ Ben reichte Semir einen Zettel mit der Anschrift. „In Lindenthal, sagtest du?“, hakte Semir nach – „Ja, wieso?“ – „In Lindenthal verlor sich die Spur von Sophie Ziegler. Ich werde mal mit diesem Ralf Kreisel sprechen und mir die Umgebung näher ansehen. Sonst noch was zu dem Fall?“ – „Nein. Was gab es sonst in Düsseldorf? Krüger noch bei Laune?“


    „Ja, die Krüger war in Hochform. Freitag ab Mittag bis Mitternacht Großkontrolle am Rastplatz Frechen, jeder verfügbare Beamte muss vor Ort sein, und in der Nacht von Samstag auf Sonntag muss ein Schwertransport durch NRW geleitet werden, wir übernehmen die Strecke von Krefeld bis Euskirchen, das bedeutet eine weitere Extraschicht für zwei Wagen, denn die übrige Besetzung darf da nicht drunter leiden. Der Transport fährt etwa 35 km/h, hat Überlänge und Überbreite und kann nur von PKWs überholt werden, für unsere Strecke werden 4-5 Stunden veranschlagt.“ – „Wir auch? Beide Nächte?“, fragte Ben. „Freitag auf jeden Fall, Samstag mal sehen. Moment. Susanne!“, rief er in das Großraumbüro, „kannst du mal eben mit dem Dienstplan für diese Woche kommen?“


    Susanne griff sich die rote Mappe mit den Dienstplänen und trat zu ihren Kollegen. Nach einer längeren Beratung stand fest, dass Ben und Alex mit Bonrath, Jenny und weiteren 4 Kollegen von der Streife an der Großkontrolle am Freitag teilnehmen werden, und diese 4 Kollegen auch die Nacht von Samstag auf Sonntag mit der Begleitung des Schwertransports beschäftigt sein würden. Ben und Dieter würden in der Nacht im Revier bleiben und Bereitschaft haben. Semir würde ebenfalls bei der Großkontrolle aushelfen, kündigte allerdings schon an, seine Tochter zwischendurch aus Aachen abholen zu wollen. Mit der Bitte, diese Schichten im Plan zu vermerken, schickte Semir Susanne zurück an ihren Schreibtisch.


    „Gut, nachdem wir das geklärt haben, habe ich noch eine schlechte Nachricht für euch“, kam Semir jetzt zu dem Punkt, der ihm auf dem Herzen lag. „Schlimmer als die zwei Zusatzschichten?“, fragte Ben. „Ja, viel schlimmer als zwei Zusatzschichten, Ben.“
    Semir ging zur Tür und schloss sie. Dann zog er sich einen Stuhl heran und nahm Platz. „Du machst es spannend, was ist denn los, Semir?“ – „Am Freitag wurde aus dem Rhein eine Leiche geborgen.“ – „Schrecklich. Aber wieso betrifft uns das? Das ist doch Sache der Wasserschutzpolizei.“ – „Ja, Alex, grundsätzlich ja. Aber es handelt sich um Uwe Neugebauer.“ – „Uwe Neugebauer? Müssten wir den kennen?“ – „Du vielleicht nicht, aber Alex sicher.“ Semir schaute Alex in dessen ratloses Gesicht, schlug Torres‘ Liste in der Akte auf der und erklärte seinen Kollegen die Zusammenhänge. „Uwe Neugebauer stand auf der Liste von Mario Torres“, schloss er seine Ausführungen, „und deshalb betrifft es uns. Ich glaube nicht, dass Neugebauer einfach so ins Wasser gefallen ist. Da ist nachgeholfen worden, da bin ich mir ganz sicher.“


    „Dann solltet ihr auf der Hut sein, eure Namen stehen auch auf der Liste, wissen die Krüger und dieser Thorsten Ramm schon Bescheid?“, fragte Ben. „Nein, den Ramm werde ich gleich versuchen zuhause anzutreffen, er hat noch Urlaub. Und die Krüger rufe ich auch an“, antwortete Semir, „aber auch du solltest vorsichtig sein, Ben“ – „Ich? Wieso?“ – „Na ja, wenn wirklich jemand Torres‘ Liste weiter abarbeiten will, warum sollte er ausgerechnet vor der Person, die die tödlichen Schüsse auf ihn abgegeben hat, haltmachen?“ Alex räusperte sich: „Hm, was ich auch sehr bedenklich finde, ist die Vielseitigkeit. Paulsen wurde erstochen, Heinrich erschossen, Neugebauer erschlagen, was kommt als nächstes? Worauf müssen wir uns einstellen?“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Ramm


    Semir machte bald Feierabend und lenkte seinen Wagen zu Thorsten Ramms Adresse. Als er in dessen Wohnstraße einbog, fielen ihm sofort die in der Straße abgestellten Einsatzwagen der Feuerwehr ins Auge. Auch ein Rettungswagen mit geschlossenen Türen und ein Streifenwagen standen auf dem Gehweg. Aus den zerborstenen Fenstern des Hauses mit der Nummer 14 quollen schwarze Rauchwolken. Semir beschlich ein ungutes Gefühl. Ohne die Anschrift mit seinen Unterlagen abgeglichen zu haben, war er sich sicher, dass dieses das Zuhause von Thorsten Ramm war. Er kam zu spät. Die Feuerwehr war bereits damit beschäftigt ihre Utensilien zusammenzupacken und die Schläuche zusammenzurollen.


    Semir ging zielstrebig auf seinen uniformierten Kollegen zu und wies sich aus: „Gerkan, Kripo Autobahn. Wo ist der Hausbesitzer? Thorsten Ramm?“ – „Drews, guten Abend. Das wissen wir noch nicht, die Kollegen der Feuerwehr sind noch drin, aber zumindest ist das Feuer schon gelöscht.“ – „Haben Sie die Spurensicherung gerufen?“, fragte Semir. „Nein, dazu bestand bisher kein Anlass, aber der Brandermittler wird seine Arbeit heute noch aufnehmen. Wir sperren das Grundstück noch ab und sind dann fertig hier.“


    In dem Moment trat ein Feuerwehrmann auf die Polizisten zu. „Wir haben etwas entdeckt, können Sie mal mitkommen?“ Der Uniformierte winkte ab. „Ich nicht, ich habe gerade eine Bronchitis hinter mir, ich dürfte nicht einmal hier in der Nähe des Hauses sein.“ – „Dann rufen Sie die Spurensicherung an. Ich gehe mit rein“, beschloss Semir und folgte dem Feuerwehrmann in Richtung Haus. Dieser drückte ihm am Einsatzwagen noch eine Atemmaske und eine kleine Sauerstoffflasche in die Hand. Anschließend marschierten die zwei in das ausgebrannte Haus. Semir musste seinem Begleiter vertrauen, er alleine hätte der Treppe, über die sie nun in die zweite Etage gelangten, die Stabilität nicht zugetraut. Auch hier war der Putz durch die Hitze des Feuers von der Decke gefallen, die Holzvertäfelung verkohlt. Der Feuerwehrmann zeigte Semir den Weg in ein Zimmer am Ende des Flurs, der Raum war hier ohne Zwischendecke bis in die Dachspitze offen, freiliegende Balken gaben ihm ein rustikales Aussehen. Als sie sich umschauten, schreckte Semir zurück. Da hing er! An einem Strick, der an einem der Deckenbalken befestigt war, hing ein Mann. Obwohl er schwarz verkohlt und nicht mehr erkennbar war, wäre Semir jede Wette eingegangen: Das war Thorsten Ramm! Erhängt und verbrannt im eigenen Haus.


    Semir streckte seinen Arm zur Seite aus und hinderte so den Feuerwehrmann am Näherherantreten an den Leichnam. Er zeigte nach hinten, raus hier, sollte das bedeuten. Unten nahm er seine Maske an. „Keiner betritt mehr das Haus, das ist jetzt ein Tatort und ein Fall für die Spurensicherung“, bestimmte er. Auf dem Weg zum Einsatzwagen schnappte er die Stimme einer Schaulustigen auf. „Und das ausgerechnet der nette Herr Ramm. Der hat doch Zeit seines Lebens an seinem Elternhaus gehangen.“ – „Glauben Sie mir, das tut er auch jetzt noch“, konnte sich Semir nicht verkneifen zu antworten.


    Er wartete noch auf die Kollegen der Spurensicherung und äußerte seinen Verdacht. „Im ersten Stock hängt eine Person, ich bin mir sicher, dass es sich um den Hausbesitzer handelt, Thorsten Ramm. Ich möchte, dass ihr seine Identität nachweist und jedes noch so kleine Indiz findet, welches auf Fremdverschulden hindeuten könnte, ich habe einen begründeten Verdacht, dass es kein Selbstmord war. Wenn ihr mir dann bitte euren Bericht zukommen lassen würdet?“ Dann ging Semir zu seinem BMW, um nach Hause zu fahren, aber vorher nahm er sein Telefon zur Hand und rief Kim Krüger an, um ihr vom Ableben des nächsten Mannes von Torres‘ Liste zu erzählen. Er riet der ehemaligen Dienststellenleiterin der PAST sich umgehend um Personenschutz zu bemühen und sich sofort bei ihm, Alex oder Ben zu melden, wenn ihr etwas verdächtig vorkommen sollte.


    Telefonat mit Dana

    Semir entschied sich, noch am Montagabend Dana anzurufen, um ihr vom Auffinden von Sophies Leiche zu berichten. Solch eine Nachricht sprach sich schnell rum, und er wollte sichergehen, dass sie keine Information aus zweiter oder dritter Hand, sondern die Wahrheit von ihm persönlich erfuhr. All die Hoffnung, die sie seit Freitagnacht hegten, war mit einem Schlag, mit dem Öffnen eines Kofferraumdeckels zunichte gemacht worden. Dana legte die ganze aufgestaute Frustration in ihre erste Reaktion: „Scheiße!“ – „Es tut mir sehr leid, aber ich wollte, dass du es von mir erfährst und nicht morgen aus der Zeitung.“ – „Hatte sie einen Unfall?“ Aus Danas Stimme glaubte Semir den verzweifelten Versuch herauszuhören, Sophies Tod könnte doch noch erklärbar sein, ein Unfall war irgendwie noch leichter zu fassen als ein Verbrechen. ‚Erst nach ihrem Tod‘, dachte Semir, verkniff sich diese Bemerkung als in dieser Situation zu sarkastisch aber und sagte stattdessen: „Sie lag in einem Kofferraum, als wir sie fanden, Dana. Nein, wir können nicht von einem Unfall ausgehen, wissen aber auch noch nichts Genaueres. Aber wir werden die Sache schon aufklären.“ – „Das musst du auch, Papa!“


    Semir hörte Dana am anderen Ende der Telefonleitung die Luft geräuschvoll ausstoßen, gefolgt von einem leisen Schniefen. „Das verspreche ich dir, Dana. Kannst du heute wieder zu deiner Oma gehen? Ich möchte nicht, dass du dich alleine in deinem Zimmer im Hotel verkriechst, ja? Ich hole dich am Freitag ab, ich habe mir ein paar Stunden Pause in meinen Dienstplan eingetragen, ab wann hast du frei?“ – „Mittags um eins.“ – „Ich werde da sein“, antwortete Semir bestimmt. Es trat eine Pause ein, Semir wollte schon das Telefonat beenden, da drang die Stimme seiner Tochter erneut an sein Ohr.


    „Du, Papa?“ – „Dana?“ – „Können wir am Wochenende zu meinem Elternhaus fahren? Ich möchte es noch einmal sehen, bevor es verkauft wird.“ – „Bist du dir sicher?“ – „Ja, ich habe darüber nachgedacht. Ich könnte nie in dem Haus glücklich werden. Aber ich möchte es gerne noch einmal sehen.“ – Semir nickte, wurde sich aber umgehend bewusst, dass Dana seine Kopfbewegung nicht sehen konnte und sagte stattdessen verständnisvoll: „Dann machen wir das am Wochenende.“ Semir rang Dana noch das Versprechen ab, den Abend bei ihrer Großmutter zu verbringen und legte dann auf.


    „Wie hat sie es aufgefasst?“, wollte Andrea später im Bett von ihm wissen. „Ich weiß nicht, es geht ihr nah, aber ich glaube, etwas anderes beschäftigt sie noch mehr.“ – „Das wäre?“ – „Das Haus. Der endgültige Abschied von ihrem Elternhaus steht ihr bevor. Sie will es noch einmal sehen.“ – „Du fährst mit ihr hin?“ – „Ja, am Wochenende.“


    Nach einer Pause, in der Semir und Andrea ihren eigenen Gedanken nachgingen, meinte Andrea leise: „Das Haus ist auch der Ort, an dem du erfahren hast, dass du eine dritte Tochter hast.“ Sie erhielt keine Antwort und hakte nach: „Semir?“ – „Hmm“, war die einzige Reaktion, die von ihrem Mann zu hören war. Andrea beschloss, es dabei bewenden zu lassen.


    Der Weg in das Haus wird für beide, für Dana und für Semir, kein leichter werden.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Vorwärts eingeparkt

    Der Dienstag begann mit Ärger. Die demolierte Front von Bens Dienstwagen war Semir gleich aufgefallen, obwohl Ben dieses wohl dadurch zu verbergen hoffte, dass er den Mercedes mit der Front zum Dienstgebäude und nicht wie üblich rückwärts abgestellt hatte. Doch der langjährige Polizist kannte diese Tricks, den dritten Schaden in zwei Wochen hätte auch er nicht mehr offen auf dem Parkplatz zur Schau gestellt. Zumindest musste der Mercedes ja noch fahrbereit gewesen sein, sonst stünde er nicht vor der PAST, aber beide Scheinwerfer, die Kotflügel und die Stoßstange waren zerstört und verbeult. Die ganze rechte Wagenseite war eine einzige breite Schramme. Dabei war der Wagen gerade drei Wochen alt. Seit Semir die Leitung der Dienststelle übernommen hatte, wusste er, wie viel Papierkram ein solcher Schaden mit sich brachte, auch wenn er selbst alles andere als zimperlich mit seinem „Schätzchen“ umging. Hoffentlich hatte sich der Materialeinsatz wenigstens gelohnt.


    „Ist Ben schon da?“, fragte er Susanne, die bereits seit über eine Stunde an ihrem Platz saß. „Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, Semir. Nein, Kollege Jäger lässt noch auf sich warten.“ – „Weißt du, was Ben mit seinem Wagen angestellt hat?“ – „Nein wieso? Was ist denn?“, wollte die Sekretärin wissen. „Er hat ihn vorwärts eingeparkt.“


    „Oh Ooh“, war alles, was Susanne dazu sagte. Semir sah Alex in der Teeküche sitzen und trat ein. „Morgen Alex“, begrüßte er Bens Partner, „wo bleibt Ben?“ Alex zuckte nur mit seinen Schultern und wies kurz auf die Uhr. „Ist doch erst kurz nach neun, was erwartest du?“ – „Dass er zu Dienstbeginn im Büro ist vielleicht? Und mir dann vielleicht mal erzählt, was mit dem neuen Wagen mal wieder passiert ist.“ – „Meinst du nicht, dass du da zu viel verlangst? Sascha weiß schon Bescheid und holt den Wagen noch am Vormittag ab. Aber es war diesmal wirklich nicht seine Schuld, Semir.“ – „Das will ich für ihn hoffen, ich will ihn sehen, sobald er die Güte hat, im Büro zu erscheinen.“ Damit drehte sich Semir um und wollte die Teeküche gerade verlassen, doch Alex hielt ihn zurück. „Warte Semir, was ist mit dir los? Ein kaputtes Auto stört dich sonst auch nicht? Hast du schlechte Laune? Der Tod des Mädchen geht dir nah, oder?“ – „Das auch.“ – „Setz dich einen Moment und erzähl.“ Semir zögerte, nickte dann aber, griff sich eine Kaffeetasse und schenkte sich ein.


    „Ich wollte gestern noch Thorsten Ramm aufsuchen und mit ihm über Uwe Neugebauers Tod sprechen, aber ich kam zu spät. Als ich an seiner Adresse ankam, hatte die Feuerwehr gerade einen Brand in seinem Haus gelöscht, der nahezu den gesamten Dachstuhl zerstört hat. Wir fanden Thorsten Ramm im Haus, erhängt auf dem Dachboden, vom Feuer schon reichlich verkohlt. Sollte wohl nach einem Selbstmord aussehen. Aber weißt du, was ich denke?“ – „Dass es kein Selbstmord war? Dass jemand die Geschäfte von Torres weiterführt?“ – „Ja, genau. Jemand hat die Todesliste von Mario Torres geerbt. Nach Neugebauer habe ich es schon geahnt, aber der Tod von Ramm nur wenige Tage später, lässt für mich keinen Zweifel mehr übrig. Das wäre ein zu großer Zufall. Wir müssen die Akte noch mal wälzen, vielleicht haben wir einen Namen noch nicht überprüft?“

    Ärger

    Gut gelaunt betrat Ben die PAST. Dass er sich fast eine Stunde verspätete, schien ihm nichts weiter auszumachen. Er begrüßte Susanne so fröhlich wie immer, die Sekretärin verstand es jedoch, Ben seine gute Laune prompt auszutreiben. „Semir ist stinksauer!“, zischte sie. „Wegen des Dienstwagens?“, fragte er und hob seinen Kopf. Er sah Alex und Semir in der Teeküche sitzen. „Dann gehe ich besser gleich an meinen Schreibtisch und schreibe den Bericht.“ Susanne nickte nur bedeutungsvoll, und Ben schlich sich in Richtung seines Büros. Doch er kam nicht weit. „Ben!“, polterte Semirs Stimme durch die PAST, „ich hoffe, du hast eine gute Erklärung für dein Zu-Spät-Kommen vorzubringen. Und was hast du mit deinem Wagen gemacht?“ Semir nutzte die Gelegenheit, seinem angestauten Ärger Luft zu machen. Das tote Mädchen, die beiden toten Kollegen, die sich mal wieder anbahnende Bedrohung, all das lag in seinen Worten. Seine Wut richtete sich nicht persönlich gegen Ben, dessen Verspätung war nur der entscheidende Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.


    „Was ist dir denn über die Leber gelaufen? Nun komm mal wieder runter auf den Teppich und lass hier nicht die Chefin raushängen. Du gehst auch nicht besser mit deinem Dienstwagen um“, konterte der junge Hauptkommissar. „Das ist keine Erklärung. Was habt ihr veranstaltet? Stockcar-Rennen auf der A4?“ – „Alex und ich wollten einen Sprinter kontrollieren, und der ist abgehauen. Was hätten wir tun sollen? Wir also hinterher, da stieg er plötzlich auf die Bremse und wir sind ihm raufgefahren.“ – „Und konntet ihr ihn wenigstens stellen?“ Ben schüttelte betreten seinen gesenkten Kopf. „Nein“, flüsterte er, „er ist weggefahren, unser Vorderrad war blockiert, das hat etwas gedauert.“ – „Kennzeichen habt ihr aber?“ – „Nein, ich dachte Alex hätte es sich gemerkt.“


    Semir ließ Ben stehen, holte seine Jacke aus dem Büro und warf nur noch einen Blick in Bens und Alex‘ Büro. „Anfänger! Bericht bis 15:00 Uhr, okay?“, dann setzte er noch ein „Passt auf euch auf und haltet den Rückspiegel im Auge“ hinzu. Ben schaute Alex fragend an, der ihn aber beschwichtigte, indem er seine Hand hob. Vom Tode Ramms würde er ihm gleich berichten. Semir verließ die PAST, um sich im Umfeld von Sophie Ziegler näher umzuschauen.


    „Was war denn mit dem los?“, wollte Ben nun von seinem Partner wissen. „Semir durfte gestern den Eltern von Sophie Ziegler vom Tod ihrer Tochter unterrichten, und Dana mitteilen, dass eine ihrer Mitschülerinnen tot in einem Kofferraum gefunden wurde. Und er hat Thorsten Ramm tot aufgefunden, erhängt.“ – „Der nächste von der Liste? Scheiße!“ Bens Wut auf Semir war mit einem Mal verraucht. Nach einer kurzen Pause fügte er trotzig ein kleinlautes „…aber kein Grund, mich so anzuschnauzen, als wäre ich Schuld an allem!“ an, „fahren wir `ne Runde?“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Ermittlungen

    Während Alex und Ben ihre Runde fuhren, war Semirs erstes Ziel des Tages Ralf Kreisel, auf den der VW Passat zugelassen war, in dessen Kofferraum sie Sophie Ziegler am Vortag gefunden hatten. Er entpuppte sich als 78jähriger rüstiger Rentner, dem Semir bei bestem Willen keine Beteiligung am Verschwinden, Tod und Wiederauftauchen von Sophie Ziegler zutraute. „Herr Kreisel, mein Name ist Semir Gerkan von der Kriminalpolizei. Sie besitzen einen VW Passat mit dem amtlichen Kennzeichen K – AL 75?“ – „Ja, das ist mein Wagen. Was ist passiert? Ist jemand dagegen gefahren?“ – „Nein, wo befindet sich ihr Auto?“


    Obwohl Semir wusste, dass der Wagen momentan in der KTU stand und von Hartmuts Team unter die Lupe genommen wurde, stellte er diese Frage, um aus der Reaktion des Eigentümers Rückschlüsse auf dessen Glaubwürdigkeit zu ziehen. „Der steht hier in der Tiefgarage, ich fahre ja kaum noch.“ – „Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich zu Ihrem Fahrzeug zu führen. Ich möchte mich gerne vergewissern, dass er wirklich hier ist.“ – „Ja, aber natürlich, einen Moment“.

    Ralf Kreisel nahm sein Schlüsselbund vom Haken und begleitete Semir in die Tiefgarage. Wo er seinen Passat vermutete: gähnende Leere. An der Wand hing noch sein Kennzeichen, welches diesen Platz für Kreisels Wagen reservierte. Wie angewurzelt stand der Rentner da und starrte auf den Platz, auf dem er zu Beginn der letzten Woche sein Auto abgestellt hatte. „Geklaut!“, entfuhr es ihm, „einfach geklaut, jemand hat meinen Wagen geklaut.“ -
    „Herr Kreisel, gehen wir zurück in Ihre Wohnung? Ich muss Ihnen etwas mitteilen, und dann können Sie auch gleich eine Anzeige aufgeben.“ – „Ja, das möchte ich auch. Ich kann es noch gar nicht fassen, geklaut!“

    Zurück in der Wohnung unterrichtete Semir den Rentner über den Unfall, an dem sein Auto beteiligt gewesen war. „Herr Kreisel, mit Ihrem Wagen ist gestern Vormittag ein Unfall verursacht worden. Hat außer Ihnen noch jemand Zugang zu Ihrem Auto? Haben Sie jemandem einen Schlüssel gegeben? Bitten denken Sie nach. Wenn jemanden einen Wagen stehlen will, dann hat er es überall einfacher als in Ihrer Tiefgarage.“ – „Stimmt. Da kommt man ohne Schlüssel auch gar nicht rein. Ich habe mal meinem Untermieter einen Schlüssel gegeben. Wissen Sie, seit meine Frau nicht mehr lebt, ist diese Wohnung zu groß für mich und so leer. Deshalb habe ich ein Zimmer vermietet, zumeist an Studenten oder Wochenendpendler. Aber Fabian hat mir beim Auszug doch alle Schlüssel zurückgegeben, oder hat er das vergessen? Ich weiß es nicht mehr.“ – „Die kann er auch nachgemacht haben“, für einen Augenblick musste Semir an seinen Bruder Kemal denken, der vor seinem gewaltsamen Tod einen Schlüsselservice besessen hatte, schob den Gedanken aber wieder beiseite, „Fabian, sagten Sie? Wie weiter?“ – „Fabian Hartmann. Er hat bis zum letzten Jahr hier gewohnt. Dann ist seine Frau nach Köln nachgekommen und sie haben sich eine eigene Wohnung genommen.“


    „Und haben Sie eine neue Adresse von diesem Fabian Hartmann?“ – „Nein, er ist ausgezogen, und weg war er. Die Miete verstand sich ja auch inklusive aller Nebenkosten, also bestand kein Bedarf, seine neue Adresse zu haben. Post kam nie an diese Adresse, sondern an seine Anschrift bei seiner Ehefrau. Hier wohnte er ja nur von Montag bis Freitag.“ – „Vielen Dank, Herr Kreisel. Wir werden Fabian Hartmann ausfindig machen und Ihnen Ihren Wagen wieder beschaffen, ich glaube, er ist reparabel. Noch einen schönen Tag, auf Wiedersehen.“ – „Auf Wiedersehen, Herr Gerkan.“


    Unmittelbar nach dem Besuch bei Ralf Kreisel rief Semir Susanne an und bat sie, Florian Hartmann ausfindig zu machen und Erkundungen über ihn einzuholen. Susanne teilte ihm mit, dass Hartmut in dem Passat viele Fingerabdrücke und an der Scheibe der Fahrertür frisches Blut sicherstellen konnte. Ein Abgleich mit den gespeicherten Kandidaten im Computer verlief allerdings ohne Ergebnis. Wer auch immer den Passat gefahren hat, er war vorher noch nicht bei der Polizei auffällig geworden und erkennungsdienstlich behandelt worden. Sie versprach, die Adresse von Florian Hartmann und ggf. seine polizeiliche Vorgeschichte in Erfahrung zu bringen.


    Anschließend fuhr Semir in die Apotheke, in der Sophie Ziegler ihr Praktikum absolvierte.


    Die Inhaberin der Apotheke war 59 Jahre alt, verheiratet und hatte zwei erwachsene Kinder. Das Wochenende hatte sie zuhause mit ihrer Familie und Verwandten verbracht, die zum 60. Geburtstag ihres Mannes angereist waren. Der Tod ihrer Praktikantin erschütterte sie, sie war mit Sophies Arbeit zufrieden und hatte schon überlegt, ihr für das nächste Jahr einen Ausbildungsplatz anzubieten. Sie hatte das Mädchen zuletzt am Freitagmittag gesehen, als es um 13:00 Uhr Feierabend machte.


    In der Apotheke waren noch zwei Angestellte beschäftigt, ein Laborant und eine Assistentin. Die Assistentin war seit Donnerstag im Urlaub und verbrachte diesen mit ihrer Familie in einer Ferienwohnung auf Mallorca. Das wäre zwar noch nachzuprüfen, aber Semir hatte momentan keinen Grund, den Angaben der Apothekerin keinen Glauben zu schenken.


    Dann war da noch ein Laborant beschäftigt. Und als Semir dessen Namen hörte, klingelten bei ihm alle Alarmglocken. Der Laborant, 39 Jahre und kinderlos verheiratet hieß Fabian Hartmann. Er hatte sich aber am Montagmorgen krank gemeldet und war auch noch an diesem Dienstag der Arbeit fern geblieben, so dass Semir mit ihm vor Ort nicht sprechen konnte. Er ließ sich daher die Adresse geben und verließ die Apotheke.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Fabian Hartmann

    Keine halbe Stunde später stand er vor der Wohnungstür des Laboranten und klingelte. Eine Frau von Mitte Dreißig öffnete ihm die Tür. „Ja?“, fragte Sie und bekam umgehend Semirs Ausweis vors Gesicht gehalten. „Gerkan, Kripo Autobahn. Frau Hartmann?“ Sie nickte. „Ist Ihr Mann zuhause?“ – „Fabian? Ist er zu schnell gefahren? Ja, er ist da.“ – „Ich müsste mal mit ihm sprechen. Darf ich kurz reinkommen?“ – „Natürlich.“ Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ Semir eintreten. Aus dem Wohnzimmer trat nun ein Mann in den Flur. Fabian Hartmann war blond, etwa 1,75m groß und drahtig. Er hatte die Figur eines Langstreckenläufers, wie Semir bemerkte. Und ihm entging auch nicht das Pflaster an der Schläfe des Mannes.


    „Fabian Hartmann?“, fragte er, um sicher zu gehen, den Richtigen vor sich zu haben. „Ja, das bin ich. Was wollen Sie?“ – „Sie kennen eine Sophie Ziegler?“ – „Unsere Praktikantin? Ja, aber sicher.“ – „Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“ – „Warum fragen Sie? Ist etwas mit Sophie?“, kam die Gegenfrage von Fabian.


    Semir bemerkte sehr wohl, wie er sich die Hände an der Hose rieb, ein Zeichen für Nervosität vielleicht? „Beantworten Sie erst meine Frage?“ – „Das muss am Freitag gewesen sein, sie durfte mittags gehen.“ – „Danach hatten Sie keinen Kontakt mehr zu ihr?“ – „Nein, aber worum geht es hier denn? Wenn sie Sophie suchen, sollten Sie in der Apotheke nachfragen.“ – „Dort war ich schon. Herr Hartmann, Sophie Ziegler ist tot.“


    Fabian Hartmann zog seine Oberlippe zwischen die Zähne. „Tot? Wie?“, stammelte er. „Wir haben sie gestern tot aufgefunden, im Kofferraum eines Wagens, der in einen Unfall verwickelt war. Ihre Chefin meinte, Sie hätten sich gestern krank gemeldet. So krank wirken Sie auf mich gar nicht. Hat Ihre Abwesenheit etwas mit Ihrer Kopfwunde zu tun?“ – „Nein, ich hatte einen Migräneanfall und lag zwei Tage lang im Bett. Jetzt erhole ich mich langsam davon, und morgen kann ich wohl wieder zur Arbeit. Am Kopf habe ich mich an einer Schranktür gestoßen.“ - „Eine Schranktür? Nicht zufällig die Autoscheibe eines VW Passats, zugelassen auf Ihren früheren Vermieter Ralf Kreisel, zu dem Sie vielleicht noch einen Schlüssel besitzen?“ – „Nein, ganz bestimmt nicht.“ – „Dann werden Sie sicher nichts dagegen haben, mich auf die Dienststelle zu begleiten, wo wir Ihre Fingerabdrücke und ihr Blut mit den im Wagen gefundenen Spuren abgleichen werden. Und sollten wir keine Übereinstimmung feststellen, sind Sie ruckzuck wieder hier in Ihrer Wohnung.“


    Die Haltung von Fabian Hartmann veränderte sich leicht, für einen Laien kaum feststellbar, doch Semir mit seinen zwanzig Jahren Diensterfahrung als Polizist sah sie. Hartmanns Mundwinkel zuckten, Semir rechnete mit allem. Doch Hartmanns Frau zerschnitt die dicke Luft, die begonnen hatte, sich zwischen die beiden Männer zu senken. „Sie wollen meinen Mann festnehmen? Fabian! Warum?“ – „Es ist nichts, Bianka, gar nichts, er kann mir nichts nachweisen, weil ich nichts getan habe.“ – „Wo waren Sie denn am Freitag zwischen 22:00 Uhr und Samstag, 03:00 Uhr?“, stellte Semir die übliche Frage nach einem Alibi. „Ich war hier zuhause, ich sagte doch, ich bekam einen Migräneanfall.“ – „Ihre Frau kann das bezeugen?“ – „Nein“, antworte Bianka Hartmann. „ich war über das Wochenende bei meinen Eltern in Stuttgart. Fabian, es stimmt doch alles, was du sagst?“ – „Mach dir keine Sorgen, Schatz, ich bin spätestens zum Abendessen wieder hier. Darf ich mir noch eine Jacke holen?“, fragte er Semir, der wortlos nickte.


    Er hielt Fabian Hartmann am Oberarm fest, als sie gemeinsam die Treppe hinabstiegen und zum BMW gingen. Aus der Nähe fiel Semir auch auf, das am Ärmel der Jacke ein Stück Stoff fehlte und Fabians Turnschuhe von der Marke Adifix stammten.


    Kurz hatte Semir noch an die Handschellen gedacht, dann aber davon abgesehen, denn es war schließlich nur eine Einladung zur Feststellung der Fingerabdrücke und DNA, um eine Beteiligung an dem Unfall auszuschließen. Diese Unvorsichtigkeit sollte sich jedoch rächen. Denn Hartmann dachte gar nicht daran, sich so einfach abführen zu lassen. Auf dem Bürgersteig holte er plötzlich aus und rammte Semir seinen Ellbogen in die Rippen, dass diesem für einen Moment die Luft wegblieb und er sich vor Schmerz zusammenkrümmte.


    Aber Semir fasste sich schnell wieder und verfolgte Hartmann über die Straße. Fabian Hartmann hatte dadurch einige Meter Vorsprung gewonnen, er wäre Semir aber auch ohne diesen davon gelaufen, so durchtrainiert wie er war. Und hätte er beim Rennen eine höhere Sorgfalt walten lassen, wäre er auch ganz sicher entkommen. Doch er schaute sich beim Überqueren einer Querstraße nicht um und wurde fast von einem herannahenden PKW auf die Haube genommen. Einzig seiner guten Reaktion hatte er zu verdanken, dass es ihm gelang auszuweichen, wodurch er jedoch ins Straucheln und Stolpern kam und auf den Asphalt fiel.


    Gerade als er sich wieder aufrichten wollte, spürte er Semirs Knie im Rücken, der ihm nun seinen rechten Arm nach hinten zog und die Handschellen zuschnappen ließ. „Aber jetzt können Sie es als eine Festnahme betrachten, Herr Hartmann! Sie stehen im dringenden Tatverdacht der Ermordung von Sophie Ziegler. Alles Weitere erkläre ich Ihnen auf der Wache.“ Er zog ihn auf die Füße. „Und jetzt Abmarsch!“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

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