Kims Entscheidung

  • Eskalation


    Semir Gerkan betrat gemeinsam mit seinem Partner Alex Brandt langsam und wachsam das Dach des Bürohochhauses am Düsseldorfer Medienhafen, auf das sich Volker Krewitz und sein Bruder Harald mit ihrer Geisel geflüchtet hatten. Die beiden Hauptkommissare der Autobahnpolizei Köln waren die letzten Stockwerke durch das Treppenhaus gelaufen und atmeten schwer. Das gesamte Rheinland stöhnte seit mehreren Wochen unter einer Hitzewelle mit Temperaturen von über 30°C im Schatten und auch an diesem Montag brannte die Sonne unnachgiebig vom azurblauen Himmel auf den Asphalt der Großstadt. Die Jeans klebte Semir an den Beinen, das T-Shirt unter der schweren Weste hing klitschnass an seinem Oberkörper. Er wischte sich zum wiederholten Male den Schweiß aus seinen Augen und rieb sich die Hände nacheinander an der Hose trocken. Er wünschte sich an den Badesee zurück, an dem er mit seiner Familie den Sonntag im Schatten unter den Bäumen und im Wasser verbracht hatte.


    Auch Alex lief der Schweiß aus allen Poren, er benutzte seine T-Shirt-Ärmel, um sich das Gesicht zu trocknen. Mit seinem Partner verständigte er sich durch Handzeichen, sie teilten sich auf und gingen hinter den Dachaufbauten für die Klimaanlage in Deckung, als auch schon die ersten Schüsse in diese einschlugen.


    Wie hatte es nur soweit kommen können? Volker und Harald Krewitz hatten eine Bank überfallen und dann an einer Tankstelle an ihrer Autobahn ihre Chefin als Geisel genommen, die zufällig zu der Zeit dort zum Tanken angehalten hatte. Über Funk erfuhren Semir und Alex von der Geiselnahme und konnten die Verfolgung aufnehmen. Sie konnten schließlich das Fluchtauto bis in den Düsseldorfer Medienhafen verfolgen. Anscheinend waren die Räuber zwar brutal und zum Äußersten bereit aber nicht besonders intelligent, denn die erfahrenen Polizisten waren in der Lage gewesen, das Auto an diesem Bürogebäude zu stoppen. Dort hatte sich ein Schusswechsel entfacht zwischen den Bankräubern und den Polizisten, im Verlauf dessen Kim Krüger von Volker ins Bein geschossen wurde und ihm und seinem Bruder die Flucht mit ihrer Geisel in das Gebäude und auf dessen Dach gelang, wohin ihnen Semir und Alex gefolgt waren.


    Und nun befanden sich die Brüder mit Kim Krüger auf der einen Seite des Daches, die zwei Beamte der Autobahnpolizei auf der anderen. Beide Parteien hatten hinter Dachaufbauten Deckung gefunden. Semir lud konzentriert seine Waffe nach, in dieser Situation wollte er auf zwei volle Magazine nicht verzichten, Alex tat es ihm gleich. Die Situation schien aussichtslos, gingen sie aus der Deckung, gäben sie ein gutes Ziel ab, und das wussten auch die Brüder. Semir schaute Alex fragend an und formte mit seinen Lippen die Frage „SEK?“ Der Angesprochene zeigte auf seine Uhr und zuckte mit den Schultern. Bereits auf der Fahrt hierher hatten sie die Verstärkung gerufen, die nun auf sich warten ließ.


    Haltlos


    Kim Krüger lag neben einem Dachaufbau. Sie ebenfalls in Deckung zu bringen, hielten die Krewitz-Brüder für nicht erforderlich, sie selbst war ja durch ihre eigenen Kollegen keiner Gefahr ausgesetzt. Ihre helle Leinenhose war am Oberschenkel vom Blut durchtränkt. Kim wusste, dass Alex und Semir sich ebenfalls auf dem Dach befanden und dachte fieberhaft nach. Wenn es ihr gelang, einen der Brüder zu überwältigen und zu entwaffnen, dann könnte sie dadurch vielleicht so viel Erstaunen bei den Bankräubern hervorrufen, dass sie Alex und Semir die nötige Zeit zum Angreifen verschaffen würde. Sie hob ihren Oberkörper und drehte ihren Kopf in die Richtung, in der sie Semir und Alex vermutete. Sie konnte lediglich einen halben Ärmel und eine Stiefelspitze ausmachen, der Rest von Semirs Körper war hinter dem Dachaufbau verborgen.


    Aber Semir spürte die Bewegung seiner Chefin, es trennten sie nur wenige Meter. Er entschied sich, die Krewitz-Brüder anzusprechen. „Geben sie auf! Wenn das SEK auf das Dach stürmt, überleben Sie den Tag nicht. Jetzt hätten Sie noch die Chance, mit ein paar Jährchen Gefängnis davon zu kommen.“ Während er sprach, lugte er vorsichtig um die Ecke und blickte geradewegs in das schmerzverzerrte Gesicht von Kim Krüger. Die Chefin der Autobahnpolizei versuchte, sich mit ihm zu verständigen und einen Angriff ihrerseits auf die Bankräuber anzukündigen. Semir schüttelte energisch den Kopf, Das konnte ihre Chefin nicht ernst meinen. Auf gar keinen Fall sollte sie die Räuber angreifen. Er befürchtete auch, dass sie mit ihrer Verletzung zu schwach sein, den Kerl auch nur einen Moment lang zu überwältigen. Aber Kim besaß einen ebensolchen Dickkopf wie Semir und ließ sich von ihm nicht umstimmen. Sie sah in dieser Aktion ihre einzige Chance und streckte drei Finger nach oben. „Auf Drei“, sollte das heißen. Semir schaute schnell zu Alex hinüber, zeigte auf seine Uhr und hob ebenfalls drei Finger. Dann zählte er gleichzeitig mit seiner Chefin anhand der Finger bis drei. Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger und los!


    Während Kim Krüger sich auf Harald Krewitz warf, der vor Schreck seine Waffe fallen ließ, die Kim mit einem Fußtritt über den Rand des Daches zu befördern gelang, nutzten Alex und Semir die Verwirrung auf Seiten der Bankräuber, um unter Abgabe einiger Schüsse ihre Deckung zu verlassen und nach vorne zu stürmen. Kim verließen schnell die Kräfte, aber Semir war da schon an ihrer Seite und übernahm ihren Gegner.


    Alex gelang es, Volker Krewitz innerhalb von Sekunden zu überwältigen, ihm die Waffe abzunehmen und Handschellen anzulegen. Semir hatte mit dessen Bruder größere Schwierigkeiten. Der großgewachsene Kerl verfügte über Bärenkräfte. Die Kämpfenden bewegten sich bedrohlich auf den Rand des Daches des etwa zehnstöckigen Hauses zu.


    Als endlich das erwartete SEK das Dach betrat, konnte Alex ihnen Volker Krewitz übergeben und seinem Partner zu Hilfe eilen, der gerade einige empfindliche Schläge einstecken musste. Alex zog Harald Krewitz weg, konnte allerdings nicht verhindern, dass dieser Semir einen letzten Tritt in die Seite versetzte. Zwei SEK- Beamte erreichten Alex in dem Moment, in dem Semir versuchte, sich auf dem Dach abzustützen und aufzurappeln. Aber sein Griff ging ins Leere und er verlor das Gleichgewicht. Bevor Alex helfend zugreifen konnte, stürzte er kopfüber über die Dachkante und fiel ins Leere.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Glück


    Zwei, drei Sekunden lang herrschte vollkommene Stille auf dem Dach. Alex und Kim starrten sich entgeistert an. Sein Mund stand offen, als er zur Dachkante schlich. In der Erwartung, seinen Partner unten auf dem Beton liegen zu sehen, traute er sich kaum, über den Rand zu blicken. Ein Sturz aus dieser Höhe war nicht zu überleben.


    Kim Krüger wurde mittlerweile von zwei Rettungssanitätern, die kurz nach dem SEK den Ort des Geschehens erreicht hatten, verarztet, verfolgte allerdings atemlos jede Bewegung von Alex Brandt. Das durfte nicht wahr sein. War Gerkan wirklich vom Dach gestürzt?


    Als Semir den Halt verloren hatte, gingen ihm zig Sachen durch den Kopf. Er schloss mit seinem Leben ab, und hätte der Fall noch länger gedauert, wäre sicher vor seinem geistigen Auge sein gesamtes bisheriges Leben abgelaufen. Aber der Sturz endete bereits nach wenigen Metern in einem Stahlkorb, in dem zwei Fensterreiniger gerade ihrer Arbeit nachgingen, welche darin bestand, die Glasfront des modernen Gebäudes zu säubern. Semir fiel ihnen direkt in die Arme, touchierte dabei mit dem linken Arm das Stahlgeländer und landete unsanft auf dem metallenen Boden. Als er seine Augen aufschlug, blickte er in die erschreckten Gesichter der Fensterputzer und etwa drei Meter hinter diesen in das erstaunte Gesicht seines Partners, der auf dem Dach lag, über die Kante blickte und nicht fassen konnte, wie viel Glück Semir gerade gehabt hatte.


    „Bin ich im Himmel?“, fragte Semir leise. „Ob Sie im Himmel gelandet sind? Wohl eher, aus dem Himmel gefallen“, lautete die schlagfertige Antwort des dunkelhäutigen Arbeiters, „und genau dorthin bringen wir Sie am besten jetzt zurück.“ Er reckte sich nach der Fernbedienung, drückte auf einen Knopf, und der Korb setzte sich in Bewegung. Auf dem Dach nahm Alex seinen Partner in Empfang, der sich auf wackeligen Beinen bis zum nächsten Dachaufbau schleppte und sich an diesem herabgleiten ließ, bis er saß.


    Semir hatte die Augen geschlossen und hielt seinen Kopf gesenkt. Er atmete kräftig aus. Alex nahm neben ihm Platz und legte ihm seine Hand auf die Schulter. Der ältere Hauptkommissar sah ihm ins Gesicht. „Das war so verdammt knapp, Alex. Ich hatte echt gedacht, das war’s.“ – „Ich auch, Semir. Was für ein Glück. Hast du dich beim Sturz verletzt?“ – „Nur gestoßen“, Semir schüttelte seinen Kopf und massierte sich seinen linken Oberarm und die Schulter. Einer der Sanitäter, die sich um Kim Krüger gekümmert hatten, trat, bevor sie diese nach unten zum Rettungswagen trugen, auf die beiden Männer zu. „Brauchen Sie uns?“, fragte er besorgt. „Nein“, antwortete Semir und blickte kurz hoch, „danke. Wohin bringen Sie unsere Kollegin?“ – „Ins Sankt-Martinus-Krankenhaus.“ – „Wir kommen gleich nach und verständigen auch ihre Angehörigen.“


    Sie verabschiedeten sich von dem Sanitäter, und nachdem auch das SEK mit den Krewitz-Brüdern abgerückt war, blieben Alex und Semir noch einige Zeit alleine auf dem Dach sitzen. Dann fand Alex, dass es Zeit wäre und stand auf. Er hielt Semir die Hand hin, der sie ergriff und sich auf die Füße ziehen ließ. Er hielt Semirs Hand noch einen Augenblick länger fest und sagte ernst: „Ich bin wirklich froh, dass das gut gegangen ist, Partner.“


    Dann drehte er sich um und ging in Richtung Dachkante „Wir sollten dann langsam nach unten. Kommst du?“ Semir blieb wie angewurzelt stehen. „Worauf wartest du, Semir?“ Alex hatte die Dachkante fast erreicht. „Ähm …Alex, ich bevorzuge dann doch das Treppenhaus“, meinte er leise und deutete zur entsprechenden Tür. Auf dem direkten Weg war heute kein Durchkommen.“ Alex grinste und kehrte lächelnd um. „Meinte ich doch auch. Komm, sehen wir nach der Krüger.“


    Als Alex und Semir das Sankt-Martinus-Krankenhaus in Düsseldorf erreichten, war die Chefin der Autobahnpolizei noch im OP. Das Projektil hatte ihren Oberschenkelmuskel durchschlagen und den Knochen touchiert. Sie wurden gebeten, nach zwei Stunden etwa wieder zu kommen, dann wäre Frau Krüger voraussichtlich wieder ansprechbar. Die Zeit vertrieben sie sich in der Cafeteria des Krankenhauses. Susanne teilte ihnen telefonisch mit, sie hätte Kim Krügers Schwester erreicht, sie wäre schon auf dem Weg in die Klinik.


    Dann konnten sie endlich zu Kim Krüger ins Krankenzimmer, die sich nach der Narkose zwar noch matt fühlte, aber auch freute, Alex und Semir zu sehen. Sie bedankte sich bei den beiden Hauptkommissaren: „Danke, dass Sie mich da rausgeholt haben. Da oben auf dem Dach dachte ich kurz, das war es jetzt.“ Während Semir nur nickte, genau das waren nämlich auch seine Gedanken gewesen, übernahm Alex die Antwort: „Es war uns eine Ehre, Chefin. Aber Sie haben selbst einen großen Teil zum Erfolg der Aktion beigetragen, hätten Sie nicht die Initiative ergriffen, hätten wir auf das SEK warten müssen.“ Dann verfinsterte sich Krügers Gesicht, und sie sah Semir genau an: „Geht es Ihnen auch wirklich gut? Das war ein ganz schöner Schreck für uns, als Sie vom Dach fielen.“ – „Ja, Chefin. Alles gut.“ - „Auf jeden Fall bin ich froh, dass die Verbrecher hinter Schloss und Riegel sind.“ – „Verbrecher? Das, Frau Krüger, waren keine Verbrecher.“ Jetzt schauten Kim und Semir ihren Kollegen mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Wie…?“, setzte Semir mit einer Frage an, doch Alex kam ihm zuvor: „Verbrecher überfallen keine Bank, Verbrecher gründen eine.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Zuhause


    Alex setzte Semir an dessen Wohnung ab. Die Sonne stand schon tief am Horizont, aber das Thermometer zeigte immer noch 27°C. Es war Semir, als liefe er gegen eine Wand, als er den klimatisierten Dienstwagen verließ und den Bürgersteig betrat. Nach mehreren Wochen hatte auch das Haus der Hitze nichts mehr entgegen zu setzen gehabt. Während es im Treppenhaus noch erträglich war, es lag ja im Inneren des Altbaus, hatte sich die Dachgeschosswohnung, in der Semir mit seiner Familie lebte, so aufgeheizt, dass tagsüber kaum mehr ein Temperaturunterschied zu draußen festzustellen war und es auch nachts kaum abkühlte.


    Andrea saß auf dem Sofa und schaute fern. Die Fenster standen sperrangelweit offen, um wenigstens jetzt am Abend für einen kleinen Luftaustausch zu sorgen. Semir trat hinter seine Frau und begrüßte sie mit einer leichten Umarmung und einem Kuss auf den Kopf. „Siehst du dahin?“, fragte er leise und deutete auf den Fernsehschirm. „Nein, ich lass mich nur berieseln.“ Sie legte den Kopf in ihren Nacken und sah ihrem Mann ins Gesicht. „Hast du was?“, fragte sie, der Semir nie irgendetwas würde vormachen können, und schaltete den Fernseher aus. Es war, als trüge er sein Inneres auf der Stirn geschrieben. „Frau Krüger ist heute angeschossen worden.“ – „Was? Wie ist das passiert? Wie geht es ihr?“, wollte Andrea wissen und drehte sich zu Semir um. „Es geht ihr gut. Aber ich brauche erst mal etwas zu trinken, dann erzähle ich es dir.“ – „Wir haben selbstgemachte Limonade im Kühlschrank, bring sie doch rein, ich habe auch noch Durst. Und mein Glas ist schon leer“ – „Minze?“, fragte Semir schon im Hinausgehen. „Aber sicher“, klang Andreas Antwort an sein Ohr.


    Zurück mit der Karaffe und einem Glas, setzte sich Semir neben Andrea auf die Couch und schenkte ihre Gläser voll. Nach dem ersten großen Schluck begann er ihr vom zurück liegenden Tag zu erzählen. Er schilderte ihr den Banküberfall und die Flucht der Krewitz-Brüder, die Geiselnahme von Kim Krüger sowie die Verfolgung der Verbrecher bis in den Düsseldorfer Medienhafen und endete schließlich mit dem Schusswechsel, der Verletzung ihrer Chefin, der Befreiungsaktion auf dem Dach des Bürohauses und der Festnahme der Bankräuber. Seinen Sturz in die Gondel der Fensterputzer ließ er aus. Im Nachhinein sollte sich Andrea keine Sorgen um ihn machen müssen, schließlich befände er sich jetzt, von einer Schulterprellung abgesehen, unversehrt neben ihr.


    „Und jetzt musst du Frau Krüger vertreten?“ – „Soweit nötig, ja. Ich werde morgen mal sehen, was anliegt. Einiges kann sicher liegenbleiben, bis sie wieder im Büro ist. Und wie war euer Tag? Was habt ihr so gemacht heute?“, wechselte er das Thema. „Ayda war mit Sophie und ihren Eltern am Baggersee, Lilly und ich waren im Freibad, aber es war viel zu voll. Wir sind nicht lange geblieben und lieber Eis essen gegangen.“ – „Das hätte mir auch besser gefallen.“ – „Und wir haben diese köstliche Limonade gemacht.“ – „Das war die beste Idee, die ihr haben konntet“, lobte Semir und nahm noch einen kräftigen Schluck von dem kühlen Getränk.


    Träume


    Nachts rächte sich, dass Semir sich nicht auch seinen Beinah-Todessturz von der Seele geredet hatte, denn er durchlebte im Traum wieder die Minuten auf dem Dach. Zwar schaffte er es im leichten Schlaf den Traum nur Augenblicke vor dem Sturz zu stoppen, aber nur um ihn nach wenigen Minuten erneut von vorne zu beginnen. Aber irgendwann entspannte sich sein Körper, er glitt über in die Tiefschlafphase und vergaß diesen „Reset“. Der Traum stoppte nicht mehr an derselben Stelle wie zuvor, sondern spulte einfach weiter.


    Er sah sich selbst erneut an der Dachkante liegen, sah den Fuß von Harald Krewitz auf sich zu schnellen, der in diesem Moment zwar von Alex zurückgerissen wurde, ihn aber trotzdem traf und über die Dachkante beförderte. Er sah sich seine Hand ausstrecken, am Dach nach Halt suchend. Und er spürte sich fallen. Noch bevor er in den Korb der Fensterputzer aufschlug, zwang der Traum ihn, schreiend aufzuwachen, und er saß schweißgebadet aufrecht im Bett und versuchte sich zu orientieren.


    Sein Schrei hatte Andrea geweckt, die sich beunruhigt zu ihm umdrehte, um sich zu vergewissern, dass mit Semir alles in Ordnung war. Der aber hatte das dünne Laken, das aufgrund der anhaltenden Hitze mittlerweile ihre Bettdecke abgelöst hatte, schon von sich geworfen, war aufgestanden und ins Bad gegangen. Dort füllte er beide Hände mit Wasser und tauchte sein Gesicht ins kühle Nass. Er betrachtete sich einige Zeit im Spiegel, wiederholte die Prozedur und trocknete sich schließlich ab.


    ‚Es gibt Tage, da altert man um Jahre‘, dachte er und ging zurück ins Schlafzimmer, wo Andrea, mittlerweile im Bett sitzend, auf ihn wartete. Sie schloss Semir wortlos in ihre Arme und flüsterte nach einer Weile: „Du hast mir gestern nicht alles erzählt, oder? Willst du es jetzt nachholen?“ Semir nickte und redete sich alles von der Seele. Er hatte gehofft, er könnte den Sturz kühl abhaken, dabei aber nicht mit seinem Unterbewusstsein gerechnet, welches sich just in dem Moment zu Wort meldete, in dem sein Körper in die totale Entspannung des Tiefschaf glitt. Nachdem er Andrea alles erzählt hatte, schloss er seine Augen und, obwohl er gedacht hatte, nicht wieder einschlafen zu können, war das nächste, das er wahrnahm, das Summen seines Weckers.


    Schnell, um Andrea nicht aufzuwecken, beendete er das nervende Geräusch und erhob sich leise. Er fühlte sich trotz der nächtlichen Unterbrechung erholt, duschte und zog sich an. Dann schlich er zurück ins Schlafzimmer. Einen Augenblick lang betrachtete er seine schlafende Frau und verfluchte im Stillen, dass kein Sonntag war. Dann aber siegte sein Pflichtbewusstsein, er gab Andrea einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und flüsterte: „Das Bad ist frei.“ – „Hmmm…“ – „Ich mache Frühstück und wecke die Kinder, schlaf nicht wieder ein.“ – „Du?“, hinderte Andrea ihn am Gehen, „werden wir nach dem Umbau wirklich zwei Badezimmer haben?“, kam verschlafen aus den Kissen. „Wenn du es möchtest“, erwiderte Semir. „Nein.“ – „Nein?“ – „Nein. Ich würde es vermissen.“ – „Was würdest du vermissen?“, fragte Semir und setzte sich an Andreas Seite auf die Bettkante. „Die paar Minuten im warmen Bett, bis du mich mit den Worten ‚das Bad ist frei‘ wieder weckst. Und du?“ Semir brauchte nicht lange zu überlegen und antwortete bestimmt: „Ich möchte zwei Badezimmer.“ Andrea blickte ihn erstaunt an. „Du bist manchmal so unromantisch“, beschwerte sie sich, „und warum?“ – „Das, mein Schatz, erkläre ich dir beim Frühstück.“


    Zwanzig Minuten später hatte jeder einen Becher Kaffee oder Kakao vor sich, ließ sich das Toastbrot mit Marmelade oder Käse schmecken. Semir blätterte kauend durch die Morgenzeitung. „Nun?“, fing Andrea an, „warum willst du unbedingt zwei Badezimmer?“


    Semir legte sein Messer auf den Tisch, schluckte den Bissen, der sich gerade in seinem Mund befand, hinunter, trank einen Schluck Kaffee und erwiderte: „Ich habe neulich Frank getroffen, du weißt, der, der den Kiosk am Bahnhof besitzt. Er und seine Frau haben auch zwei Töchter, allerdings etwas älter als unsere, ich glaube vierzehn und sechszehn. Frank sah aus, als wäre er mächtig unter die Räder gekommen. Ich habe ihn nach dem Grund gefragt, und weißt du, was er mir antwortete?“ – „Ich kann es mir denken, aber …nein, was hat er gesagt?“ – „‘Semir‘, sagte er, ‚ich habe drei Frauen zuhause und nur ein Badezimmer.‘ So, jetzt weißt du warum ich zwei Badezimmer haben möchte, wenn Ayda und Lilly anfangen, eines davon zu besetzen.“ Das konnte Andrea durchaus nachvollziehen, aber auf das morgendliche Ritual, sich im Bett noch einmal umdrehen zu können, bis Semir im Bad fertig war, wollte sie dennoch nicht verzichten. So entschloss sie sich zu ihrer Antwort: „Okay, du bekommst zwei Badezimmer, aber versprich mir, dass wir beide weiterhin nur das eine benutzen, ja?“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Vertretung


    Die Nachricht, dass Kim Krüger angeschossen worden war, hatte sich in der PAST wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Alex saß schon an seinem Schreibtisch und tippte seinen Bericht des gestrigen Einsatzes in den PC. Er schaute nur kurz auf, als Semir das gemeinsame Büro betrat. „Morgen, Semir! Fahren wir gleich?“ – „Nein, noch nicht, ich werde erst mal auf Krügers Schreibtisch schauen, ob etwas wichtiges anliegt. Wo sind Bonrath und Jenny? Schon los?“ – „Ja, zur Großkontrolle an der A3.“ – „Ach, ist das heute? Da fahren wir nachher mal vorbei. Vielleicht können sie noch Unterstützung gebrauchen.“ Semir ging zuerst in die Teeküche, dann mit dem gefüllten Kaffeebecher bewaffnet in das Büro der Chefin. Dort verschaffte er sich einen groben Überblick über die eingegangene Post und die laufenden Vorgänge, unterschrieb in Vertretung Bonraths Urlaubsantrag, zeichnete den von Susanne vorbereiteten Dienstplan mit und reichte die Krankmeldung eines der Streifenbeamten an das Präsidium weiter. Dann telefonierte Semir eine Weile mit Krügers Vorgesetztem dort, um ihm Krügers Ausfall zu erläutern, stellte anschließend ihr Telefon auf seinen eigenen Apparat um und trat dann in das Großraumbüro, wo er das Wort erhob: „Susanne? Kollegen? Kommt ihr kurz mal zusammen?“ Nachdem sich alle Beschäftigten der PAST um ihn geschart hatte, umriss er kurz die aktuelle Situation, versicherte den Kollegen, dass Kim Krüger nicht allzu schwer verletzt war, aber dennoch einige Wochen nicht ins Büro kommen und er sie in ihrer Position vertreten würde. Jeder könnte sich in dienstlichen und persönlichen Angelegenheiten jederzeit an ihn wenden. Dann schlug er noch vor, eine Sammlung zu veranstalten und der Chefin einen netten Genesungsgruß zu besorgen. Hiermit beauftragte er zugleich Susanne, die versprach, sich am Nachmittag darum zu kümmern.


    Anschließend verließ Semir mit Alex die Dienststelle, um sich bei der Großkontrolle an der A3 umzuschauen. Alex blätterte während der Fahrt rastlos in einer dieser Fernsehzeitschriften, die jeden Dienstag der Tageszeitung als kostenlose Beilage beigefügt war. Semir schaute immer wieder zu ihm rüber und wunderte sich. „Was machst du denn da? Lernst du das Programm auswendig?“, wollte er von seinem Partner wissen. „Ich bin am Rechnen.“ – „Wie bitte?“ Semir verstand nicht. „Pass auf, Semir. Diese Zeitschrift enthält neben dem Programm der wichtigsten Sender genau 25 Werbeanzeigen, davon alleine sechs für Treppenlifte und vier für Krankenfahrstühle. Ich bin mir ja auch sicher, dass zu viel Fernsehen krank und immobil macht, aber das ist doch wohl zu viel. Und genauso sicher bin ich, dass die Zimmer oder Kabinen auf den vier Kreuzfahrten und in den acht Wellnesshotels, denen sich die weiteren Anzeigen widmen, auch Fernseher haben. Diese Zeitschrift ist doch echt krank.“


    „Dann passt sie ja zum Programm. Was ist mit den letzten drei Anzeigen?“ – „Du meinst, es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Fernsehprogramm und den Anzeigen? Die letzten Annoncen betreffen Medikamente gegen Blasenschwäche oder Verstopfung und bügelfreie Hemden im Doppelpack.“ – „Natürlich besteht da ein Zusammenhang. So, wir sind da.“


    Semir steuerte den BMW auf den Rastplatz, auf dem Dieter Bonrath und Jenny Dorn mit der Kontrolle vorher von Kollegen aus dem Verkehr herausgelotster Auto- und LKW-Fahrer beschäftigt waren. Der restliche Tag und auch die nächsten zehn Tage verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Semir verbrachte viel Zeit im Büro und Andrea freute sich darüber, dass er fast jeden Tag pünktlich und ausgeglichen nach Hause kam.

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  • Pleite


    Max Kosiak betrat das Lager am Hafen, welches der Band von Ben Jäger als Probenraum diente. „Ben!“, rief er, konnte aber niemanden erblicken, „Ben?“ In diesem Moment betrat Ben Jäger aus einem Nebenzimmer den Probenraum. „Ich bin ja schon da, Max. Was gibt es denn?“ – „Schlechte Nachrichten, Ben. Deine Band ist so gut wie pleite. Wenn es euch nicht gelingt, mehr Publikum zu euren Konzerten zu bewegen, könnt ihr bald einpacken. Das letzte Konzert hat nach Abzug der Raummiete und unserer Kosten ganze 145€ eingespielt. Für fünf Personen!“


    Max hielt seine Abrechnung in die Höhe. Ben machte ein ernstes Gesicht. Er wusste wie es um die Band stand. Würde sein Vater sie nicht mit einem monatlichen Zuschuss unterstützen, sie könnten ihre Profikarrieren längst an den Nagel hängen. Klaus, der Gitarrist gab bereits vermehrt Musikunterricht, Bertus, der Schlagzeuger arbeitete noch in seinem Job als Maurer. Sie waren froh, ihre reguläre Arbeit nie ganz aufgegeben zu haben, denn wie es zurzeit schien, würde die Musik wohl doch nur ein schönes Hobby bleiben. Konrad Jäger hatte Ben zwei Jahre gegeben, wenn er bis dahin nicht von seiner Musik würde leben können, müsste er sich wieder eine andere Arbeit suchen oder doch in seine Firma einsteigen.


    Der Weg zurück zur Polizei war für Ben derzeit keine Option, nicht nach dem, was er in seinem letzten „unfreiwilligen“ Fall erlebt hatte. Eigentlich sollte er Semir nur zu Alex fahren, der verschwunden war und in der Nähe eines Landgutes in der Südeifel geortet werden konnte, weil Semir angeschlagen und nicht in der Lage war, selbst Auto zu fahren. Aber dann gerieten Alex und Semir dort in einen Hinterhalt. Bei der Befreiung seines Freundes und dessen Partners geriet Ben selbst in Lebensgefahr und blickte seinem Tod in Form eines stählernen Pistolenlaufs ins Auge.


    Nein, das wollte er auf gar keinen Fall noch einmal erleben. Mit diesem Kapitel seines Lebens hatte er abgeschlossen. Und die anderen Stellen der Polizei, im Präsidium oder im LKA reizten ihn auch nicht. Ben konnte sich bei bestem Willen keinen Job vorstellen, bei dem er 9 Stunden am Tag damit verbrachte, im Büro Akten von links nach rechts zu stapeln. Und die Firma seines Vaters? Nein! Sein Leben gehörte der Musik. Alles hatte vor gut einem Jahr so gut begonnen, sie hatten sogar eine Tour durch Clubs in Deutschland, Österreich und der Schweiz organisiert bekommen und konnten von ihren Einnahmen leben, nicht auf großem Fuß, aber leben.


    Trotzdem war Ben immer wieder auf die Zuschüsse seines Vaters angewiesen, Klaus und Bertus nahmen ihre für das Bühnenleben ruhenden Beschäftigungen wieder auf. Die Proben fanden abends statt. Ben schrieb tagsüber an neuen Songs und hoffte immer wieder auf einen Durchbruch. „…sonst sehe ich schwarz!“ – „Hää? `tschuldigung, Max, ich habe nicht zugehört.“ Ben war mit seinen Gedanken weit weg gewesen. „Das habe ich gemerkt. Ich sagte, ich habe einen Auftritt für euch klargemacht auf der Sunbeach-Bühne am Donnerstag. Nachmittags um 17:30 Uhr, open end. Zum Festpreis. Eventuell springen noch weitere Sommerkonzerte heraus, wenn ihr gut ankommt. Ansonsten sehe ich schwarz.“ Die Sunbeach-Bühne war eine Open-Air-Bühne in einem Strandbad am Rhein, ein Anziehungspunkt, gerade für die After-Work-Szene, die dort ihren Arbeitstag mit Cocktails und kleinen Snacks ausklingen ließen. „Also eigene Songs und Cover-Songs angesagter Sommerhits. Überzeugt die Jungs und Mädels dort, sonst kannst du dir einen neuen Manager suchen.“ Ben sah ihn sprachlos an, dann zwang er sich zur Frage: „Du würdest gehen?“ –„Ben, schau, ich mag euch“, erklärte Max in ruhigem, beinahe väterlichem Ton, „aber ich muss auch eine Familie ernähren. Euer Management ist ein zeitaufwendiges Hobby, doch ich muss auch Geld verdienen. Um deine Frage zu beantworten, Ben: Ja, ich würde gehen.“ – „Ist schon okay, ich verstehe dich, Max.“


    Max verließ den Probenraum von Ben Jägers Band und ließ den Musiker alleine zurück. Der saß noch einige Zeit tatenlos auf der Couch. Es dämmerte allmählich, aber er machte kein Licht an.


    Immer wieder überlegte er seine Situation. Diese Sommerkonzerte waren ihre letzte Chance. Ihr Repertoire gab es auch her, gut zwei Stunden Partyhits zu spielen und einige eigene Songs einzustreuen. Dann rief er Klaus und Bertus an und verabredete sich zu weiteren zwei Proben, damit am Donnerstag alles klappte.

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  • Angebot


    Das Strandbad war am Donnerstag gut gefüllt. Bei der Hitze wollten viele nach einem langen Tag in den umliegenden Büros noch den lauen Sommerabend an der frischen Luft am Wasser genießen. Die Gäste lagen in den Liegestühlen, saßen an der Bar oder in den Sitzecken, einige standen auch in der Nähe der Sunbeach-Bühne und bewegten sich zur Musik. Allerdings waren die meisten der Zuhörer nicht wegen ihrer Musik gekommen, sondern weil das Wetter so schön war und sie mit Freunden und Kollegen abhängen wollten. Das machte sich leider auch beim Applaus bemerkbar, der eher höflich als frenetisch war. In der Pause verließ Ben die Bühne, um sich an der Bar etwas zu trinken zu holen.


    Er sah, wie sich eine schlanke Frau mit langen Haaren, aus einem der Sessel erhob, zu zwei Geh-Hilfen griff und sich auf ihn zubewegte. Ben betrachtete die Frau, dann erkannte er sie und legte seinen Kopf etwas auf die Seite. Er machte drei Schritte auf seine ehemalige Chefin zu, zwang sich zu einem Lächeln und begrüßte sie mit den Worten: „Frau Krüger? Was machen Sie denn hier?“ – „Herr Jäger! Ihre Musik gefällt mir, wie geht es Ihnen?“


    Damit traf sie einen wunden Punkt bei dem Ex-Polizisten. „Geht so, es könnte besser sein. Und Sie? Sie sind verletzt!“, stellte er fest. „Ja, ich bin letzte Woche angeschossen worden, aber es verheilt gut. Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu reden. Haben Sie ein Stündchen Zeit für mich?“ – „Wir haben nur eine kurze Pause, aber nach dem Konzert, so kurz nach 21:00 Uhr, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung. Geht es um Semir? Ist mit ihm alles in Ordnung?“, fragte Ben besorgt. Er hatte sich lange nicht mehr bei seinem Freund gemeldet und deswegen kurzzeitig ein schlechtes Gewissen. „Das hoffe ich doch, schließlich vertritt er mich in der PAST. Ja, am Rande hat es auch mit ihm zu tun. Er weiß aber nicht, dass ich mit Ihnen spreche, und ich würde Sie bitten, ihm nichts von unserer Unterhaltung zu erzählen.“ – „Jetzt machen Sie mich neugierig, Frau Krüger. Ich muss wieder auf die Bühne, wir sehen uns nachher.“


    Die zweite Hälfte des Konzerts verlief etwas erfolgreicher als der Part vor der Pause. Anscheinend hatten die Gäste mittlerweile alle Neuigkeiten ausgetauscht und nun auch ein Ohr frei für die Musik. Ben Jäger und seine Band mussten sogar eine Zugabe geben und hatten nach einer kurzen Unterredung mit dem Veranstalter auch die nächsten Konzerttermine unter Dach und Fach. Seine Laune war entsprechend gut, als er zu Kim Krüger trat.


    „So, Frau Krüger, was haben Sie denn mit mir zu besprechen?“ – „Um es kurz zu machen. Ich werde die PAST verlassen.“ – „Was? Warum das denn? Ist es wegen …“ – „Nein, das hat nichts mit der Verletzung zu tun“, deutete Kim Bens fragenden Blick korrekt, „es kommt nur zeitgleich. Sagt Ihnen Uwe Theiner etwas?“ – „Uwe Theiner?“, überlegte Ben, „Nein, nie gehört. Wer soll das sein?“ – „Uwe Theiner ist Projektleiter in der Abteilung Organisation im Polizeipräsidium. Es ist geplant, die Polizei neu zu strukturieren. Wie Sie vielleicht noch wissen, gibt es in Nordrhein-Westfalen mehrere Autobahnpolizeistationen, die zurzeit jeweils über eine eigene Leitung verfügen. Jetzt ist geplant, ab dem nächsten Jahr, die Leitung aller Stationen ins Präsidium zu verlagern und zusammen zu legen.“ – „Sie wollen die PAST vom Präsidium aus leiten?“ – „So könnte es aussehen. Theiner hat mir den Posten schmackhaft gemacht, hinzu käme dann auch die Leitung der anderen Stationen. Weggehen müsste ich in jedem Fall, denn die einzelnen Stationen behielten lediglich einen Vorsteher, der den Teil der Leitungsaufgaben übernimmt, die eine Anwesenheit in der Dienststelle unbedingt erforderlich machen. Und für den Posten komme ich mit meiner Besoldung nicht in Frage.“


    „Und was habe ich mit der ganzen Sache zu tun?“, wollte Ben nun genau wissen. „Ich sähe gerne Gerkan auf dieser Stelle.“ – „Semir als Bürohengst? Das ist doch schon einmal mächtig in die Hose gegangen“, erinnerte Ben an einen kurzen Ausflug seines Partners zum LKA vor wenigen Jahren. „So viel Büroarbeit wäre es gar nicht, das meiste würde ich ja mitnehmen. Dienstplan, Urlaubspläne, die Dienstaufsicht, all das füllt sicher nicht den ganzen Tag. Und die Pläne bereitet doch jetzt auch schon Susanne so vor, dass er sie eigentlich nur noch gegenzuzeichnen bräuchte. Da käme er bestimmt noch genug auf die Straße. Es hätte für ihn auch Vorteile, die Stelle ist höherdotiert, eine Beförderung also möglich, und er bräuchte dafür nicht die Dienststelle zu wechseln.“ – „Das würde Semir bestimmt auch nicht tun. Die PAST ist seine Familie, und ich denke, er würde auf eine Beförderung verzichten, wenn er dafür woanders arbeiten müsste“, stimmte Ben seiner ehemaligen Chefin zu. „Mehr Geld, mehr Tage, an denen er pünktlich Feierabend hätte, das käme auch seiner Familie zuhause zugute.“ – „Aber was hat das mit mir zu tun? Soll ich Semir diesen Vorschlag unterbreiten, oder warum kommen Sie zu mir?“ – „Sollte es so laufen, wie ich es ausgeführt habe, ich zum Präsidium gehen, Gerkan meine Stelle übernehmen, dann hätten wir eine freie Stelle für einen Hauptkommissar.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • An der Angel


    Kim ließ Ben Zeit, diese Äußerung erst einmal sacken zu lassen. Dann war die Botschaft bei Ben angekommen. „Sie wollen, dass ich …? Frau Krüger, wollen Sie mir etwa meine alte Stelle anbieten?“ – „Nicht Ihre, Semirs.“ – „Das ist doch dasselbe. Ich weiß nicht, ob ich noch Polizist sein möchte, ich hatte eigentlich mit dem Thema abgeschlossen.“ – „Füllt die Musik Sie aus? Ich habe gehört, sie werden von Ihrem Vater unterstützt?“ Ben schwieg. Woher wusste Kim das? „Und Herr Jäger, wie lange, glauben Sie, würde es dauern, einen geeigneten Bewerber zu finden, mit dem Semir und Alex einverstanden wären?“ – „Alex? Das weiß ich nicht. Semir? Ewig“, schmunzelte Ben. „Sie wären ein tolles Dreierteam, das sage ich Ihnen.“ Ben nickte. Ja, mit Semir und Alex ließe es sich schon aushalten. „Und was das Beste wäre“, fuhr Kim Krüger fort, „Semir müsste seine und Ihre Dienstwagenschäden selbst nach oben melden.“


    „Geben Sie mir etwas Zeit, mir Ihren Vorschlag durch den Kopf gehen zu lassen?“ – „Reicht Ihnen eine Bierlänge, Herr Jäger? Nein, natürlich, 1,2 Tage Zeit hätte ich schon. Aber denken Sie daran, der Buschfunk ist sehr schnell und ich möchte, dass die PAST von den anstehenden Veränderungen von mir und nicht durch die Heizung erfährt." Sie einigten sich darauf, dass Ben Kim Krüger bis zum Abend des folgenden Tages anrufen würde und ihr seine Entscheidung mitteilen würde.


    Ben ließ sich das Angebot von Kim Krüger durch den Kopf gehen, und am nächsten Tag kam er zu einer Entscheidung. Er hatte sich auf einen Zettel das Pro und Contra einer Rückkehr zur Autobahnpolizei notiert.


    Innerlich hatte er mit dem Polizistenberuf abgeschlossen und genoss sein freies Leben ohne die ständige Gefahr für sich und seine Freunde. Doch genau diese würde bei einer Rückkehr wieder auf ihn warten. In den letzten Monaten war er immer wieder in Semirs Fälle gestolpert und in Lebensgefahr geraten. Ein Punkt, der ihm auch zu denken gab, war, dass er sich durch eine Wiederaufnahme seiner Arbeit eingestehen müsste, es als Musiker nicht geschafft zu haben. Und wer gibt schon gerne zu, versagt zu haben? Aber würde auch nur einer von den Kollegen in der PAST schadenfroh sein, denken ‚Sieh an, der Jäger muss wieder arbeiten gehen‘? Nein, Ben war sich sicher, das würde nicht passieren.


    Auf der Pro-Seite seiner Liste stand natürlich zum einen das regelmäßige Einkommen. Sicher würde Konrad Jäger seinen Sohn auch weiterhin finanziell unterstützen und für das eine oder andere Extra auf seinem Konto sorgen, seinen Lebensunterhalt aber wollte Ben schon gerne selber bestreiten. Er hatte in den letzten Monaten schon ein schlechtes Gewissen gehabt, jeden Gang in den Supermarkt eigentlich vom Geld seines Vaters bezahlt zu haben.


    Was aber am meisten wog und letztendlich seine Entscheidung maßgeblich beeinflusste, war die Vorstellung, wieder mit Semir zusammenarbeiten zu können. Die PAST war damals seine Familie und könnte es wieder werden.


    Überwog dieses Argument nicht alle Punkte, die gegen eine Rückkehr sprachen? War er nicht gerne bereit, für Semir, für Alex, für Bonrath und für Jenny vollen Einsatz zu geben und – wenn es hart auf hart käme – auch sein Leben?


    Ben riss seinen Pro-und-Contra-Zettel entschieden durch und griff zum Telefon.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Stoff zum Nachdenken


    Am nächsten Morgen bestellte sich Kim Krüger ein Taxi und ließ sich in die PAST fahren. „Guten Morgen Susanne“, begrüßte sie die Sekretärin der Kölner Autobahnpolizei. „Frau Krüger?! Sie sollten doch zuhause bleiben und sich schonen“, entrüstete die sich. „Ich muss mit Gerkan sprechen, können Sie ihn bitte in mein Büro schicken? Es ist wichtig.“ – „Mach ich. Kaffee?“ – „Gerne, Susanne.“


    Kim ging langsam an ihren Gehhilfen in ihr Büro und fand ihren Schreibtisch aufgeräumt vor. Sie nickte zufrieden. Die Vertretung schien zu klappen. Kim holte einen Umschlag aus ihrer Handtasche und zog das Schreiben des Polizeipräsidenten hervor, als Semir nach kurzem Anklopfen eintrat. „Sie wollten mich sprechen? Muss ja wichtig sein, wenn Sie dafür Ihre Genesung abbrechen.“ – „Es ist wichtig. Schließen Sie bitte die Tür und nehmen Sie Platz?“ Semir folgte dieser Aufforderung. „Was kann es so wichtiges geben, Frau Krüger? Alle Dienstwagen sind noch heil und auch sonst hält sich der Sachschaden in Grenzen.“ – „Darum geht es diesmal nicht.“ Kim machte eine Pause, weil Susanne mit dem Kaffee eintrat. Diese warf Semir noch einen fragenden Blick zu, der jedoch zuckte nur mit seinen Schultern. Als die Tür wieder ins Schloss gefallen war, kam Kim Krüger zur Sache.


    „Herr Gerkan, ich mache es kurz. Unsere PAST erhält mit den anderen Autobahnpolizeistationen eine gemeinsame Leitung, die im Präsidium in Düsseldorf angesiedelt sein wird. Ich werde die PAST in diese Richtung verlassen.“


    Semir war kurz sprachlos, zwang sich dann aber zu einer Frage: „Aber, was wird dann aus uns?“ – „Jede PAST in Nordrhein-Westfalen erhält eine Dienststellenleitung, die in der Hand eines Ersten Hauptkommisssars liegen wird, eine A12-Stelle, und die würde ich gerne Ihnen anbieten.“ – „Ich und Dienststellenleiter?“ – „Ja“, bekräftigte Kim, „Sie haben fast 20 Jahre Erfahrung, den Respekt aller hier in der PAST, die Sie auch als Chef akzeptieren würden und Sie hätten eine Beförderung in Aussicht, ohne die Dienststelle wechseln zu müssen.“ – „Hmm“ Semir wog seinen Kopf hin und her. „Und Ihre Familie hätte auch mehr von Ihnen.“ – „Aber ich gehöre doch auf die Straße, könnte gar nicht den ganzen Tag hier im Büro sitzen.“ – „Müssen Sie auch gar nicht. Die meisten Aufgaben würde ich mitnehmen und zentral in Düsseldorf erledigen. Ihnen blieben die Personalführung und Einsatzleitung hier vor Ort, Sie wären quasi eine Schnittstelle zum Präsidium. Wenn Sie es geschickt anstellen, wovon ich ausgehe, wären es maximal 3 Stunden ihrer täglichen Arbeitszeit. Bliebe also genug Zeit für Streifenfahrten und Aufklärungsarbeiten mit Alex und“, hier pausierte Kim Krüger einige Sekunden, „seinem neuen Partner.“ – „Neuer Partner?“


    „Ja, bekämen Sie die Stelle, würden Sie ja Ihre jetzige Stelle frei machen, die müsste dann ausgeschrieben werden.“ – „Das wird nicht einfach werden“, befürchtete Semir. „Nicht? Herr Gerkan, fällt Ihnen ad hoc auch nur eine Person ein, die nicht gerne mit Ihnen und Alex zusammenarbeiten würde?“ – „Eine? Dutzende!“ Kim Krüger musste schmunzeln, während Semir zur Kaffeetasse griff und einen großen Schluck nahm. Dann musste auch er lachen. „Wann wird die Sache konkret?“ – „Die Leitung wird ab dem 1.1. in Düsseldorf aufgebaut, also in etwa 4 Monaten. Sollten Sie sich für meine Stelle entscheiden, hätten Sie natürlich ein Mitspracherecht bei der Bewerber-Auswahl.“


    „Aber Ihre Stelle wird doch auch erst ausgeschrieben werden. Da könnte auch ein anderer zum Zuge kommen.“ – „Theoretisch besteht diese Gefahr, aber ich bin da ganz zuversichtlich. Wir suchen jemanden mit viel Erfahrung, und da kenne ich im ganzen Land niemanden, der Ihnen das Wasser reichen kann.“ – „Vielen Dank für diese Einschätzung.“ – „Und Sie könnten sechs Monate lang immer noch wieder zurücktreten, dann wäre alles wieder beim Alten. Überlegen Sie es sich. Die Ausschreibung wird nächste Woche veröffentlicht. Ich rechne stark mit Ihrer Bewerbung. Sie können gehen.“


    Semir verließ das Büro seiner Chefin. Er hatte genug Stoff zum Nachdenken.


    Chefin?


    „Du willst Chefin werden?“, war Andreas erste Reaktion, nachdem Semir ihr am Abend vor dem Einschlafen das Gespräch mit Kim Krüger wiedergegeben hatte. „Wenn, also nur wenn ich mich tatsächlich dazu entscheide, den Job anzunehmen, würde ich die maskuline Bezeichnung vorziehen. Ja, es klang alles eigentlich ganz vernünftig, was die Krüger da aufzählte.“ – „Dann tu es“, lautete Andreas knappe Reaktion. „Du meinst…?“ – „Ja, ich meine, das wäre doch die Chance für dich auf A12, ohne komplett eine andere Tätigkeit annehmen zu müssen.“


    ‚Für Andrea ist die Sache so einfach‘, ging Semir durch den Kopf. „Aber ich müsste einen neuen Partner für Alex finden“, gab er zu Bedenken. „Meinst du, das wird ein Problem, Semir?“ – „Nun ja, zumindest wird es nicht einfach. Alex lässt sich sehr schwer auf neue Leute ein.“ – „Was ihn natürlich grundlegend von dir unterscheidet“, antwortete Andrea mit einem ironischen Unterton, „wie viele Bewerber hast du abgelehnt, bevor du Alex akzeptiert hast? Sieben? Acht? Gib den Bewerbern eine faire Chance. Vielleicht sind einige Rohdiamanten dabei, die nur noch geschliffen werden müssen.“ Semir schwieg eine knappe Minute. „Ich hoffe du hast recht“, sagte er dann. „Heißt das, du bewirbst dich?“, fragte Andrea mit einem hoffnungsvollen Gesichtsausdruck.


    Semir gab ihr einen Kuss zur Antwort. „Ja, ich tu es!“ – „Das freut mich. Ich hoffe, es klappt. Das würde doch dann auch mehr Familienzeit bedeuten, oder?“ Semir rückte einen Stück näher an seine Frau heran. „Zeit“, flüsterte er zärtlich, „die wir sicher sinnvoll nutzen werden.“

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Bewerbungen


    Sobald die Ausschreibung in der Folgewoche veröffentlicht war, brachte Semir seine Bewerbung auf den Weg. Die laufende Vertretung von Kim Krüger während ihrer mehrwöchigen krankheitsbedingten Abwesenheit sah er als eine Art Probelauf an und hängte sich rein in die neue Aufgabe.


    Morgens fuhr er weiterhin mit Alex Streife oder widmete sich einem der aktuellen Fälle, an denen sie gerade arbeiteten. Ausklingen ließ Semir die meisten Arbeitstage mit der anfallenden Büroarbeit. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, konnte er die PAST stets pünktlich verlassen.


    Nur Alex bedauerte diese Wandlung. Er fühlte sich etwas alleine gelassen. Semir war zwar stets zur Stelle, wenn er ihn brauchte, aber die Zeit im Büro ärgerte ihn und seine Lust, alleine rauszufahren, hielt sich mächtig in Grenzen. Insgeheim wünschte er sich, Semirs Bewerbung fände keine Berücksichtigung und sein Partner käme ins Team zurück. Aber eines Tages im Oktober musste er einsehen: Er war hier nicht bei Wünsch-Dir-Was, sondern bei So-Isses. Semirs Bewerbung hatte den Zuschlag erhalten. Er würde zum 1. Januar Dienststellenleiter der PAST werden. Der Platz an der Seite von Alex war frei für einen neuen Partner.


    Und auch diese Stelle wurde landesweit ausgeschrieben. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist von vier Wochen wartete Kim Krüger noch drei Tage ab, um auch den Bewerbern die Teilnahme am Auswahlverfahren zu ermöglichen, deren Bewerbungen den Dienstweg etwas länger auskosten wollten. Dann nahm sie mit einem Schmunzeln – denn auch Bens Bewerbung war darunter – den Stapel von acht Bewerbungen und ging damit zu Semir. „Herr Gerkan? Haben Sie mal ein paar Minuten, hier einen Blick reinzuwerfen, das sind die Bewerbungen auf Ihre Stelle.“ Semir nickte, nahm ihr die Mappen ab und schlug die erste auf. Er studierte die Bewerbung, die bisherigen Einsatzbereiche des Bewerbers, bildete sich ein erstes Urteil und wandte sich der nächsten Mappe zu. So blätterte er sich durch vier Bewerbungen. Bei der fünften Mappe stutzte er beim Namen. Er schaute seine Chefin an, die erwartungsvoll an der Tür stehen geblieben war, richtete seinen Blick zurück auf das Papier, um sich noch einmal zu vergewissern, sich nicht verlesen zu haben. Nein, da stand es schwarz auf weiß: Ben Jäger.


    Semir konnte es nicht fassen. Seine Gedanken wanderten zu ihrem letzten Treffen vor einer guten Woche, und er versuchte sich zu entsinnen, ob er damals irgendwelche Anzeichen hätte feststellen müssen, die auf eine Rückkehr Bens in den Polizeidienst gedeutet hätten. Er schüttelte langsam seinen Kopf. Nein, ihm war nichts aufgefallen. Und heute las er schwarz auf weiß Bens Bewerbung auf seine eigene Stelle.


    Semirs Augen wanderten zu Alex, dann zu Kim Krüger. „Ist das Ihr Ernst?“, brachte er mühsam hervor, bevor er die Mappe an seinen Partner weiter reichte.


    Kim Krüger konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und meinte: „Und soll ich Ihnen noch was sagen? Unter den anderen Bewerbern ist keiner, der eine ernst zu nehmende Konkurrenz darstellt. Ist doch schön, wenn es mal läuft, oder?“ – „Ich kann es noch gar nicht glauben. Mit keinem Wort hat Ben erwähnt, dass er über eine Rückkehr zur PAST nachdenkt.“


    Und tatsächlich: An Erfahrung, Bewährung, Beurteilung war Ben Jäger von keinem der übrigen Bewerber übertroffen worden. So konnte Kim Krüger ruhigen Gewissens ihre eigene und Semirs Versetzung sowie den Wiedereinstieg von Ben planen und organisieren. Sie hatte keinerlei Bedenken, obwohl ein Dreierteam immer auch Konfliktpotenzial in sich birgt. Aber das wird sich einspielen, da war sich Kim sicher.


    Sie fand es nur schade, nicht selbst Zeugin der Rückkehr von Ben werden zu können, da sie selbst am 2. Januar ihren Dienst im Präsidium antreten würde. Aber ihre Dienststelle und die PAST-Familie zukünftig in guten Händen zu wissen, war beruhigend. Und aus der Ferne würde sie die Entwicklung beobachten.


    Andrea war am Abend ebenso erstaunt über die Entwicklung wie Semir. „Und du hast nichts davon gewusst? Frau Krüger muss doch schon vor Ewigkeiten mit Ben gesprochen haben. Das hat sie doch bestimmt von langer Hand geplant und ganz geschickt eingefädelt.“ – „Nein, Andrea. Ich habe gar nichts geahnt. Sie hat nichts durchsickern lassen, und Ben hat auch die ganze Zeit geschwiegen. Ich war bis heute Morgen überzeugt davon, er wäre so weit entfernt vom Polizeiberuf, wie ein Eisbär vom Südpol. Und auch noch letzte Woche hat er sich absolut nichts anmerken lassen. Und zu dem Zeitpunkt muss er sich ja längst beworben haben.“ – „Also ein abgekartetes Spiel zwischen Kim und Ben.“ – „So sieht es aus. Aber ich kann nicht behaupten, dass ich über diese Art von Verschwörung böse bin.“


    Die letzten Wochen des Jahres vergingen ereignislos. Kim Krüger packte vor Weihnachten ihre Sachen, übergab ihre laufende Arbeit an ihren Nachfolger und verließ nach einer kleinen Abschiedsfeier die PAST.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Zurück im Glück


    Am 2. Januar war Semir extra etwas früher zur Dienststelle gefahren, um Bens Dienstantritt vorzubereiten. Er hatte seinen Schreibtisch schon zwischen den Jahren geräumt und war in Kim Krügers Büro gezogen. Unter die Tür schob er als erstes einen mitgebrachten Keil aus Holz, um sie ständig offen zu halten. Denn er hatte nicht vor, sich von der übrigen PAST abzuschotten. Es reichte ihm, die Tür bei vertraulichen Gesprächen schließen zu können, ansonsten würde sie für jeden offen stehen. Sein alter Schreibtisch bei Alex im Büro war nun bereit für Ben. Schon bald würde an der Wand wieder eine Gitarre lehnen, auf der Schreibtischplatte das gewohnte Chaos herrschen, und Semir musste zugeben, dass er dieses in den Monaten der Abwesenheit von Ben Jäger ein wenig vermisst hatte.


    Dann war es soweit. Die Tür zur PAST schwang auf und Ben Jäger betrat seine ehemalige Wirkungsstätte. Nur heute kam er nicht zu Besuch, heute kam er, um zu bleiben.


    Susanne König hatte extra ihren Neujahrsurlaub unterbrochen, um ihn im Büro willkommen zu heißen. Jenny Dorn und Dieter Bonrath waren noch nicht auf Streife, sondern wollten diesen Moment miterleben. Auch Alex war schon in der PAST und trat nun aus dem kleinen Büro, welches er zukünftig mit Ben teilen würde zu den Kollegen. Alle haben diesen Tag herbeigesehnt, seit Bens Rückkehr beschlossene Sache war. Ben blickte von einem zum anderen, die ganze PAST-Familie war anwesend. Er war gerührt und wusste gar nicht, was er sagen sollte. Auf diesen Empfang war er nicht vorbereitet. Susanne brach als erste das Schweigen und ging auf Ben zu. „Wenn alle sprachlos sind, dann fang eben ich an. Herzlich Willkommen, Ben, ich freue mich, dass du wieder bei uns bist.“ Sie nahm Ben in den Arm und reichte ihn dann an Jenny weiter. So wurde er von jedem herzlich begrüßt. Semir war der letzte in der Reihe. „Nicht dass du auf die Idee kommst, es hätte ohne dich nun gar nicht funktioniert. Aber ehrlich, Ben, ich habe dich hier vermisst! Wir alle haben dich vermisst.“ Die Partner von einst und jetzt nahmen sich in den Arm.


    Alex stand etwas betreten daneben. Er kannte Ben, der in den letzten Monaten immer mal wieder in ihre Fälle gestolpert war und konnte sich eine Zusammenarbeit und Partnerschaft mit ihm gut vorstellen. Ganz so herzlich allerdings, wie er es bei den anderen beobachten konnte, war ihr Verhältnis nicht, noch nicht. So gab er Ben nur freundschaftlich die Hand und schlug ihm auf die Schulter. „Willkommen im Team, Ben.“ – „So“, meldete sich jetzt Susanne, „ehe die Begrüßung hier ausartet, können wir zusammen in den Sozialraum gehen. Ich habe extra für heute eine Torte gebacken, und der Kaffee dürfte auch schon fertig sein.“


    Nachdem die Begrüßungsrunde abgeschlossen und die Torte verspeist war, ging Ben mit Semir in dessen Büro, um die Antrittsformalitäten zu erledigen. „Chef! - Ich glaube, daran werde ich mich erst noch gewöhnen müssen, Semir.“ – „Die größte Änderung wird sein, dass du zukünftig mir die geschrotteten Dienstwagen zu melden hast und nicht mehr der Krüger. Du wirst dir noch die alten Zeiten zurück wünschen, Ben.“ – „Schwer vorstellbar. Und du wirst Bürohengst?“ – „Das hättest du wohl gerne. Ich werde meiner Dienstaufsichtspflicht schön auf der Autobahn nachkommen, darauf kannst du dich verlassen.“ Semir holte einen Karton aus seinem Schreibtisch, legte ihn vor sich auf den Schreibtisch und klappte den Deckel auf.


    „Deine Dienstwaffe“, begann er und reichte sie Ben, „dein Dienstausweis“, auch die Karte wechselte den Besitzer, „und einen Stapel Papier. Die darfst du jetzt alle brav unterschreiben. Dann gehörst du auch ganz offiziell wieder zu uns.“ Ben nahm die Papiere und den gereichten Kugelschreiber, überflog die Formulare und begann zu unterschreiben. Er blickte auf. „D - BD 2408? Heißt das, ich bekomme meinen alten Dienstwagen?“ – „Ja, das hast du Dieter zu verdanken, er hat alle Hebel in Bewegung gesetzt und sich sehr darum gekümmert, dass der Wagen zu uns zurück kommt. Er hat das ganze Jahr unfallfrei überstanden, man glaubt es kaum, das war aber auch nicht bei uns, sondern im Präsidium. Alex fährt den Neuen weiter, und du wieder deinen Alten. So kann ich auch meinen BMW behalten. Bist du fertig? Dann zeig ich dir jetzt dein Büro.“


    Beim letzten Satz mussten Semir und Ben lachen, denn das Büro bräuchte er Ben eigentlich nicht zu zeigen. Und sie lachten auch noch, als sie das Großraumbüro durchquerten und zu Alex in das kleine Zimmer traten. Auf dem Tisch hatte Alex einen Stapel mit den Akten der laufenden Fälle gelegt, damit sich Ben langsam einlesen konnte. So verbrachte er die nächsten beiden Stunden mit dem Durchblättern der Papiere. Semir kam gegen Mittag, um ihn und Alex zum Essen und einer ersten Erkundungsfahrt durch das alte Revier abzuholen.


    Ben saß mittlerweile auf seinem alten Schreibtischstuhl, stieß sich mit den Händen am Tisch ab und drehte sich einmal um sich selbst. „Und Semir“, meinte er zu seinem neuen Vorgesetzten, der in der offenen Bürotür stand, „weißt du, was das schönste an meinem Job hier ist?“ Er ließ den Stuhl ein weiteres Mal kreisen.


    „Dass der Stuhl sich dreht?“, vermutete Semir mit einem breiten Grinsen. „Nein. Dass es mir so vorkommt, als wäre ich nie weg gewesen.“


    Ende


    Epilog


    Viele Fragen sind hier nicht offen geblieben, denke ich.


    Aber da ich diese Geschichte bereits im letzten Jahr geschrieben und anschließend erst „VerBrandt“ beendet habe, möchte ich doch noch etwas zu den Nebenschauplätzen mitteilen, die nun in dieser Geschichte nicht weitererzählt wurden, da sie zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung noch ganz tief in meinem Kopf schlummerten.


    Da wäre zum einen der geplante Umbau der Wohnung von Semir und Andrea, der ja in „VerBrandt“ thematisiert wurde. Wie von ihnen gewünscht wurde dieser im Herbst (also während Semir sich auf die Stelle des PAST-Vorstehers bewarb) durchgeführt. Aus ihrer 3-Zimmer- und der benachbarten 2-Zimmer-Wohnung wurde in einem mehrwöchigen Kraftakt eine geräumige 5-Zimmer-Wohnung geschaffen, in der nun jedes Familienmitglied viel Platz für sich hat. Die Größe der Küche hat sich verdoppelt, das zweite Badezimmer ist nicht nur erhalten worden, es ist jetzt auch durch Verlegung der Tür und einer Leichtbauwand direkt vom Schlafzimmer von Semir und Andrea zu betreten.


    Ein weiterer Punkt wäre Sascha, der ja nun in dieser Geschichte und auch in der folgenden gar nicht erwähnt wird. Er hat nach einer mehrmonatlichen Pause seine Arbeit in seiner Werkstatt wieder aufgenommen. Seine körperlichen Verletzungen sind verheilt, aber seelisch haben er und Claudia den nächtlichen Überfall noch nicht ganz überwunden. Claudia traut sich im Dunkeln kaum noch aus der Wohnung und bekommt schon Schweißausbrüche, wenn sich ihnen von hinten Menschen nähern oder ihnen entgegen kommen, auch wenn deren Absichten absolut harmlos sein mögen. Sie hofft, dass sich ihre Angst mit der Zeit und der Unterstützung – auch durch die PAST-Familie, die sie bekommt, legen und sich hoffentlich nicht auf ihre Kinder übertragen wird.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

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