Posts by Mikel

    Währenddessen …


    Ben konnte seine Enttäuschung nicht verbergen, als Anja alleine sein Krankenzimmer betrat. Sie erzählte ihm von der Begegnung mit seiner Chefin im Treppenhaus und dass er auf Anna noch ein wenig warten müsste. Der Polizist in ihm wusste, wie wichtig Annas Aussage bei den Ermittlungen seiner Kollegen sein konnte, doch nach der vergangenen Nacht verzehrte er sich fast vor Sehnsucht nach seiner Freundin. Da half es auch nicht viel, dass Anja ihm hoch und heilig versprach, dass es Anna und dem zukünftigen Nachwuchs gut ginge.


    Die erfahrene Intensivschwester erkannte relativ schnell, wie psychisch angeschlagen der Patient war, was nach dem Erlebten der vergangenen Wochen nur verständlich war. In Gedanken suchte sie fieberhaft nach einer Idee, um den dunkelhaarigen Polizisten während der Wartezeit ein wenig aufzumuntern.
    Auf Anregung von Anja, die die Gewohnheiten und Vorlieben des jungen Mannes, seit er mit Anna befreundet war, kennengelernt hatte, durfte Ben mit Unterstützung eines Pflegers duschen und rasieren. Man hatte zwar den Patienten auf der Intensivstation so gut es ging mit Wasser und Seife gewaschen, doch das war Nichts im Vergleich zu einer Dusche mit dem eigenen Duschgel, das so vertraut roch.


    Stundenlang hätte Ben auf seinem Duschhocker sitzen bleiben können, als so angenehm empfand er den warmen Wasserstrahl. Jeder Wassertropfen, der über seine Haut rann, nahm ein wenig von dem Schmutz mit, den die Folterungen und Demütigungen von Remzi und Gabriela auf seinem Körper hinterlassen hatten. Er fühlte sich, wie ein anderer Mensch, als er zwar erschöpft, bekleidet mit einem seiner Lieblingsshirts und in Shorts in seinem Krankenbett lag. Als er anschließend zum Mittagessen neben einer Brühe, noch Kartoffelbrei und eine Hackfleischsoße bekam, lag er satt und zufrieden in seinem Bett und döste ein.
    Mit einem zufriedenen Lächeln verließ Anja das Krankenzimmer. Die Zeit drängte, denn sie hatte heute Spätdienst und musste sich beeilen, um auf ihre eigene Station zu kommen.


    Einige Zeit später …
    Vorsichtig öffnete Anna die Zimmertür. Volker, der Krankenpfleger, meinte, dass der Patient wohl schlafen würde. Zu ihrer Freude lag Ben wach im Bett und starrte die Decke an. Als er sie bemerkte, wanderte sein Blick in Richtung der Tür und ein Lächeln überzog sein Gesicht.


    „Hey, Du! … Auch schon wach?“, sagte sie und trat näher.
    „Anna!“
    Nur ihren Namen sagte er und die Art und Weise, wie er ihn aussprach sagte mehr als alle Worte. Seine Augen fingen an zu leuchten. Anna setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Liebevoll strich sie ihm über die Wangen.
    „Kann es sein, dass du jemanden brauchst, der dich ein wenig verwöhnt … verarztet und auf dich aufpasst. Ich würde mich gerne um diese Stelle bewerben.“
    Ben lächelte. „Du hast die Stelle.“
    Mit einer Hand griff er in ihr Haar und zog ihren Kopf zu sich herunter, bis sich ihre Lippen trafen. Zärtlich küsste er sie. Als sie sich voneinander lösten, wollte er wissen:
    „Wie geht es dir mein Schatz? ...Den Babys? … Was ist mit Semir? … Was ist denn überhaupt in diesem Park gestern Nacht passiert? …. Und vor allem, weißt du etwas über das Schicksal von Gabriela Kilic? “
    „Immer schön der Reihe nach!“, gab sie zurück und küsste ihn wieder. Sie richtete sich ein wenig auf und strich ihm liebevoll eine seiner widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Nach und nach zwischen vielen Küssen beantwortete Anna ihm alle Fragen, erklärte ihm was nach der Ankunft von Frau Krüger mit der SEK-Einheit passiert war. Gemeinsam betrachteten die beiden werdenden Eltern das Ultraschall-Bild von den Zwillingen. Voller Zärtlichkeit strich Ben über ihre kleine Babykugel, die sich unter ihrem engen Shirt deutlich abzeichnete. Ein wahres Glücksgefühl durchströmte Anna in diesen Minuten und sie blinzelte ein paar Tränen der Rührung weg. Für einige Atemzüge herrschte Stille im Raum und Anna betrachtete jede Regung in seinem Gesicht.
    „Wie fühlst du dich? … Ehrliche Antwort, mein Schatz!“
    Ben lauschte einen Moment in seinen Körper hinein und gab spontan zur Antwort. „Spitzenmäßig!“ Die verabreichten Schmerzmittel taten ihre Wirkung. Nach den Tagen voller Schmerz und Pein war dies für ihn ein Traumzustand und vor allem Anna war endlich an seiner Seite. Dementsprechend erwiderte er: „Ging mir noch nie besser. Sieht man das nicht!“ Dabei zog er die Zudecke ein wenig zur Seite, deutete mit einem schelmischen Grinsen auf die Schiene, die man an sein gebrochenes rechtes Bein angelegt hatte und die verschiedenen Verbände. „Und das Wichtigste: Du bist bei mir!“
    Er umschlang ihren Nacken, zog sie zu sich heran. „Wir haben es geschafft Anna! … wir haben es wirklich geschafft und sind frei!“

    Mehrmals wiederholte er diesen Satz, während seine Lippen die ihren fanden und sie sich innig küssten. Mit einem Mal löste er sich von ihr und ließ sich auf das Kopfkissen zurücksinken. Von einer Sekunde zur anderen verschwand der freudige Ausdruck auf seinem Gesicht.


    „Du hast mir eine Frage noch nicht beantwortet. … Was ist mit Semir?“, fragte Ben nach.
    „Geduld mein Schatz!“, erwiderte Anna und stand auf. Wie auf ein geheimes Zeichen öffnete sich die Zimmertür und Volker schob einen Rollstuhl ins Zimmer.
    „Soll ich Dich und Herrn Jäger begleiten?“, fragte der Krankenpfleger.
    Anna schüttelte den Kopf und bedankte sich, während Bens Blick fragend zwischen den beiden hin- und herwanderte. Erklärend für Ben fügte sie hinzu: „Wir machen einen kleinen Ausflug zur Intensivstation. Ich denke, du willst Semir sehen oder?“

    Der Tag danach ….


    Auf dem Grundstück von Gabriela Kilic in Köln Merheim waren die letzten Einheiten der Feuerwehr endgültig abgerückt. Die Kriminaltechniker und Gerichtsmediziner hatten das Gelände übernommen, versuchten alle vorhandenen Spuren und Beweise zu sichern und zu dokumentieren.


    Stück für Stück wurde der Trümmerhaufen abgetragen, der die ehemals prächtige Villa gewesen war. Darin fanden die Forensiker menschliche Überreste, deren Identifizierung mit Hilfe eines DNA-Abgleichs sich noch über Tage hinziehen würde. Hartmut wurde die Ehre zu Teil, mit den Kollegen vom LKA die Beweise in der halbzerstörten Wohnung über der Garage und dem Carport zu sichern und auszuwerten. Dank der Unterstützung von Interpol wurde die Leiche ohne Namen, die vor dem Carport gelegen war, als Dragan Kovac identifiziert. Laut Interpol galt er als Mitglied einer Söldnergruppe, der unter anderem auch Remzi Berisha als führendes Mitglied angehört hatte. Das BKA stellte die Ermittlungsakte über Remzi Berisha zur Verfügung. Was natürlich niemand ahnte, Peter Brauer hatte diese vorher gesäubert und alle verfänglichen Dokumente aus der Akte genommen und vernichtet. Trotzdem fügte sich für die Ermittler des LKAs in Düsseldorf, der Kölner Polizei und der Autobahnpolizei so langsam ein Puzzle-Teilchen ins andere.
    Die Wogen im Innenministerium glätteten sich nach einem Anruf von Johann Becker merklich und Oberstaatsanwalt van den Bergh war weiterhin für die Ermittlungen im Großraum Köln verantwortlich. Für den Staatsanwalt gab es noch so viele offene Fragen und ungeklärte Details. Hendrik van den Bergh war klar, dass die Flucht von Gabriela Kilic von langer Hand geplant worden war. Er wollte an die Hintermänner ran, die Namen der Fluchthelfer wissen, wer aus den Justizbehörden an dem Komplott gegen Ben Jäger involviert war. Die Schuldigen sollten ihre gerechte Strafe bekommen.


    Der Oberstaatsanwalt begleitete zwei Hauptkommissare des LKAs, die mit der Vernehmung des Verdächtigen, Camil Musicz, beauftragt waren, ins Krankenhaus. Der Söldner, der mittlerweile ansprechbar auf der Intensivstation lag, verweigerte jedoch ohne Rücksprache mit einem Rechtsbeistand jegliche Aussage. Der Oberstaatsanwalt stellte ihm Strafmilderung in Aussicht, wenn er bei der Aufklärung der begangenen Verbrechen maßgeblich mitwirken würde. Der Serbe beharrte auf seinem Standpunkt.
    Ohne Anwalt, keine Aussage.


    Bei Elena dagegen hatte der Staatsanwalt kein Glück. Die behandelnde Oberärztin schirmte die junge Frau ab. Frühestens am kommenden Tag wollte man Frau Krüger einen Besuch und eine erste Vernehmung im Beisein eines Arztes gestatten. So trennten sich die Wege der Ermittler und des Oberstaatsanwaltes, der sich am Tatort in Köln Merheim einen Überblick verschaffen wollte. Die Kommissare kehrten auf ihre Dienststelle in Düsseldorf zurück.


    Gleichzeitig waren Kim Krüger und Jenny auf dem Weg zur Uni-Klinik Köln. Vor allem die Sorge um Ben und Semir trieb die beiden Frauen dorthin und sie hofften, dass die Ärzte gute Nachrichten für sie hatten.


    *****


    In der Uni-Klinik war Anna nach der Morgenvisite offiziell als Patientin der Gynäkologie aus dem Krankenhaus entlassen worden. Die Frauenärztin hatte ihr empfohlen, sich auch in den kommenden Tagen weiterhin zu schonen. Ihr Körper und auch ihre Seele würden unabhängig von der Schwangerschaft noch viele Tage benötigen, um sich von den Strapazen der Entführung und Flucht zu erholen.


    Ihre Freundin Anja, die Intensivschwester, hatte bei ihrem Besuch am frühen Morgen in weiser Voraussicht, nicht nur für Anna frische Kleidung und Hygieneartikel mitgebracht, sondern auch für Ben. Anja kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, dass die junge Frau die kommenden Tage an der Seite des dunkelhaarigen Polizisten verbringen würde.


    Anna war zwischenzeitlich von ihren Kollegen darüber informiert worden, dass man Ben nach der Morgenvisite von der Intensivstation auf die normale Pflegestation verlegt hatte. Nun gab es für die junge Frau kein Halten mehr, sie wollte nur noch zu Ben. In Begleitung von Anja, die die Reisetasche auf Rollen hinter sich herzog, standen die beiden Frauen vor dem Aufzug und unterhielten sich. Gerade als mit einem Ping sich die Aufzugtür öffnete, erklang aus dem Hintergrund eine Frauenstimme, die Anna erstarren ließ.
    „Einen Moment bitte, Frau Dr. Becker! … Wir müssten dringend mit ihnen sprechen!“
    Leise seufzte Anna auf und drehte sich um. In der Durchgangstür von der gynäkologischen Abteilung zum Treppenhaus stand Kim Krüger in Begleitung von Jenny Dorn. Die Ärztin ahnte schon was kommen würde.
    „Guten Morgen!“, begrüßte sie knapp die beiden Polizistinnen. „Ich war auf dem Weg zu Ben!“, gab sie ihre Absicht kund.
    Kim Krüger nickte wissend. „Das dachte ich mir schon.“ Die Chefin der PAST wirkte dabei ein wenig verlegen in dem Moment und gleichzeitig hilflos. „Von der Pflegestation 3 kommen wir. Leider darf Herr Jäger auf ärztliche Anweisung keinen Besuch außer direkten Angehörigen empfangen. Dennoch benötigen wir dringend einige Informationen. Es geht unter anderem um den Haftbefehl gegen den Verdächtigen, Herrn Musicz.“


    Deutlich hörbar entwich Anna die Atemluft und mit einer Geste, die wie eine Kapitulation wirkte, meinte sie missmutig in Richtung ihrer Freundin: „Anja, bringst du bitte die Sachen zu Ben!“ Dabei deutete sie auf die Reisetasche. „Vielleicht kannst du auch arrangieren, dass das Beistellbett zu ihm ins Zimmer gestellt wird.“
    „Mach dir keinen Stress meine Liebe! Ich kümmere mich um alles. Mach du in Ruhe deine Aussage, damit diese Schweine, die dir und Ben das angetan haben, endgültig hinter Schloss und Riegel wandern!“ Die Intensivschwester umarmte Anna, verabschiedete sich und verschwand in der geöffneten Aufzugtür.


    Den Vorschlag von Frau Krüger die beiden Polizistinnen zu Dienststelle zu begleiten, um dort ihre Aussage zu machen, lehnte Anna kategorisch ab. Als Assistenzärztin teilte sie sich mit anderen Ärzten ein Arztzimmer auf der chirurgischen Station. Sie bot an, dass man dort in aller Ruhe ihre Aussage auf Band bzw. auf Handy aufnehmen könnte, aus welcher dann auf der Dienststelle ein schriftliches Protokoll als Nachweis erstellt werden konnte. Nach kurzem Zögern gab Kim Krüger nach und zusammen mit Jenny folgten sie der Ärztin durch das Gewirr aus Gängen und Treppenhäusern.


    Neben zwei Schreibtischen, diversen Büromöbeln und Schränken gehörte zur Einrichtung des Arztzimmers eine Sitzecke, bestehend aus einem Schlafsofa und zwei Sesseln. Während des Bereitschaftsdienstes nutzten die Assistenzärzte des Nachts das Sofa zum Schlafen. Auch die junge Ärztin hatte darauf schon manche Nacht verbracht.


    Anna ließ sich auf einem der Sessel nieder. Kim Krüger und Jenny nahmen auf dem Sofa gegenüber Platz. Zwischen ihnen befand sich ein Couchtisch aus Glas, auf der einige Mineralwasserflaschen und Trinkgläser bereitstanden. Kim Krüger hatte im Hinterkopf, was die Ärztin in den letzten Tagen durchlebt hatte. Entsprechend feinfühlig und rücksichtsvoll begann sie das Gespräch, erkundigte sich nach Annas Befinden und vergewisserte sich, ob die Zeugin sich mental stark genug für die Befragung fühlte. Jenny hielt sich im Hintergrund und nutzte ihr Handy als Aufnahmegerät.


    An Hilfe von Handyfotos identifizierte Anna die beiden Söldner, Camil Musicz und Remzi Berisha, als ihre Entführer, machte so weit wie möglich detaillierte Angaben zu den Begebenheiten an jenem Abend, zu den Verletzungen von Ben, wie sie ihn im Keller der Villa vorgefunden hatte. Bei ihren Beschreibungen wurden Kim und auch Jenny immer blasser um die Mundwinkel. Zwischendurch schloss Anna wiederholt ihre Augen und versuchte sich zu sammeln, wenn die Erinnerungen an diese schrecklichen Stunden zu Beginn ihrer Gefangenschaft sie zu überwältigen drohten. Mit einem Schlag waren alles wieder da … die Erniedrigungen durch Gabriela Kilic … die Notoperation im Keller … das Bangen um Bens Leben. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Aus ihren Augenwinkeln löste sich mehr als eine Träne, die sie mit dem Handrücken einfach wegwischte. Als Kim Krüger die Befragung abbrechen wollte, schüttelte Anna eigensinnig den Kopf. „Nein! … Nein! … Ich verstehe Sie ja! … Diese Zeugenaussage muss sein! Geben Sie mir einfach ein paar Minuten, dann habe ich mich wieder im Griff!“


    Die Ärztin schenkte sich aus der Mineralwasserflasche ein Glas Wasser ein und trank es schluckweise leer. Dabei fixierte sie ein Bild an der Wand, im dem auf einem Fotodruck der hippokratische Eid der Ärzteschaft abgebildet war. Irgendwie war dies für sie in dem Moment wie ein Fels in der Brandung, der ihr Halt gab. Nach einigen Minuten hatte sich das Gefühlschaos in ihrem Inneren wieder so weit beruhigt, so dass die Polizistin mit der Befragung fortfahren konnte. So gut es ging, beschrieb Anna die einzelnen Bewohner der Villa, nannte deren Namen und was ihr sonst in den Tagen der Gefangenschaft aufgefallen war. Sie betonte die besondere Rolle von Elena und was Ben und sie der jungen Russin zu verdanken hatte. Sie beschrieb die Flucht aus der Villa, die dramatischen Minuten im Park, die Verfolgung durch Remzi Berisha und dem verhängnisvollen Schusswechsel, bei dem der Söldner und Elena schwer verletzt wurden.


    Mit keinem Wort erwähnte die Ärztin den Besuch des Rechtsanwalts Dr. Hinrichsen. In den Tagen vor der Flucht hatte sie mit Ben darüber gesprochen und ihr Freund meinte damals: „Kannst du beweisen, dass es dieser Anwalt war? Hast du ihn gesehen?“
    Als ihr Ben erklärte, wie schnell ein Anwalt, speziell dieser Anwalt, ihre Aussage vor Gericht als haltlose Vermutung zerpflücken würde, verstand sie seinen Rat, lieber zu schweigen.
    Die Vernehmung zog sich länger hin, als die Beteiligten erwartet hatten. Um die Mittagszeit trennten sich die Wege der Frauen. Frau Krüger und Jenny fuhren zurück zur Dienststelle und Anna kannte nur noch ein Ziel: das Krankenzimmer von Ben.

    Vor dem Abendessen wurden Annas Vater und Konrad Jäger von der Oberschwester aufgefordert, das Zimmer der Patientin zu verlassen.


    Einige Zeit später lag Anna völlig frustriert in ihrem Bett und zappte gelangweilt durch das Abendprogramm in Fernsehen. Mit der Oberschwester der Frauenstation, Henriette Pfister, die von ihren Mitarbeitern den Spitznamen „der Drache“ erhalten hatte, hatte sie eine heftige Auseinandersetzung gehabt. Die Krankenschwester hatte sie dabei erwischt, wie sie während der Übergabe an die Nachtschicht sich heimlich aus der Station schleichen wollte, um Ben auf der Intensivstation zu besuchen. Das Wortgefecht, welches daraufhin zwischen den beiden Frauen entbrannte, zog die Aufmerksamkeit der ganzen gynäkologischen Station auf sich und Anna zog zum Schluss den kürzen. Der diensthabende Stationsarzt stellte sie vor die Wahl: freiwillige Bettruhe oder Beruhigungsmittel.


    Die letzten Bilder, die sie von Ben im Kopf hatte, waren die Szenen in der Notaufnahme gewesen, seine Verzweiflung … seine seelische Not. Trotz der beruhigenden Worte von Konrad Jäger konnte sie förmlich körperlich spüren, wie sehr Ben sie gerade in kommenden Stunden der Nacht brauchen würde. Auch in ihr brannte die Sehnsucht ihrem Freund. Liebevoll strich sie über ihren leicht gewölbten Bauch, in dem die Zwillinge heranwuchsen. Auch wenn ihr Konrad Jäger immer wieder erzählt hatte, wie emotional Ben auf das erste Ultraschallbild seiner Kinder reagiert hatte, hätte sie zu gerne diesen Moment mit ihrem Freund geteilt. Für einige Minuten bereute sie ihre Entscheidung. Wie oft hatte sie sich in den Tagen der Gefangenschaft vorgestellt, wie es sein würde, das erste Mal zusammen mit Ben, das Baby am Bildschirm des Ultraschallgeräts zu sehen. Seine Fieberträume kamen ihr in den Sinn und der Tag des Erwachens. Im gleichen Augenblick wusste sie, nicht nur ihre Liebe, sondern auch das Wissen Vater zu werden, hatten Ben den Willen gegeben, diese schweren Verletzungen zu überleben.


    Sie schloss ihre Augen und seufzte auf. Morgen früh, so schwor sie sich, würde kein Arzt der Welt sie daran hindern, Ben zu besuchen.


    *****


    Stunden später auf der Intensivstation


    Die Nacht war endgültig über Köln hereingebrochen.
    Auf der Intensivstation hatte mittlerweile die Nachtschicht ihren Dienst angetreten. Die beiden Intensivbetten standen wieder an ihrem ursprünglichen Bettenplatz. Ben und Semir wurden von einem älteren Krankenpfleger namens Klaus-Jürgen versorgt. Der Grauhaarige mit der Stirnglatze war ziemlich muffig und redete bei der Versorgung seiner Patienten kaum ein Wort. Als Ben den Wunsch äußerte, dass man die Betten wieder ein wenig näher zusammenschob, erhielt er vom Pfleger eine recht schroffe Antwort.
    „Wir sind hier nicht in einem Hotel oder auf einem Wunschkonzert, sondern auf einer Intensivstation.“ Dabei zog der Pfleger seine Stirn ärgerlich zu Falten zusammen. „Händchen halten können Sie zu Hause mit ihrem Freund. Ich schlage vor, sie schlafen!“


    Er überprüfte nochmals die Infusionen und die Einstellungen der Beatmungsmaschine, löschte die große Deckenbeleuchtung und verschwand aus dem Zimmer.


    Zurück blieb ein Ben, der körperlich völlig erschöpft war, aber durch seine innere Unruhe einfach nicht in den Schlaf fand. Zu viel war in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen. Unzählige Gedanken und Fiktionen geisterten durch seinen Kopf. Was der dunkelhaarige Polizist in diesen Stunden am meisten vermisste, war ein wenig menschliche Wärme und Zuneigung. Anna, warum konnte sie nicht hier sein? Er vermisste seine Freundin so sehr. In seiner Hand hielt er das Ultraschallbild von den Zwillingen. Im schummrigen Licht der Nachtbeleuchtung betrachtete er das Bild. Doch ein Foto konnte menschliche Zuwendung und Wärme nicht ersetzen. Ben wandte seinen Kopf in Richtung von Semirs Bett. Er hätte sonst was dafür gegeben, wenn er nur Semirs Hand hätte berühren können, um so dessen Anwesenheit zu spüren. So wälzte er sich unruhig in seinem Bett hin und her und verfiel ab und an in einen Dämmerschlaf, aus dem ihn seine Alpträume wieder weckten.


    Gegen Mitternacht, als Ben beschloss nach dem Pfleger zu klingeln und um eine Schlaftablette zu bitten, flammte die große Deckenbeleuchtung auf. Geblendet vom hellen Lichtschein hielt der Dunkelhaarige seine Augenlider geschlossen. Der Vorhang, der zwischen Bens und Semirs Bett angebracht war, wurde vom Krankenpfleger ohne Kommentar zu gezogen und Ben somit der Blick auf seinen Partner verwehrt.
    ‚War etwas mit Semir?‘, durchfuhr es ihn voller Schreck. Angespannt lauschte er auf die akustischen Signale der Monitore. Doch die waren alle ruhig, nur das gleichmäßige Zischen der Beatmungsmaschine war zu hören.


    Wie gebannt lag, Ben auf der rechten Seite in seinem Bett und versuchte zu begreifen, was am Bett seines Freundes geschah. Er erwartete die Stimmen von Ärzten und Pflegekräften zu hören, stattdessen betrat jemand anderes den Raum.


    „Tut mir leid, nur Angehörige haben Zutritt. Ihre Freundin muss vor der Stationstür auf Sie warten Frau Gerkhan!“, brummte der Krankenpfleger, dessen Tonfall jegliches menschliche Mitgefühl vermissen ließ. „Und nur ein paar Minuten … Die Patienten brauchen ihre Nachtruhe! Und leise reden, der Patient im Nachbarbett schläft. … Im Übrigen, der Arzt erwartet Sie dann im Arztzimmer vorne rechts!“
    Die Schuhe des Pflegers gaben beim Laufen so ein merkwürdig klingendes quietschendes Geräusch von sich. Daran erkannte Ben, dass sich dieser aus dem Zimmer entfernte. In dem Moment, als er Andrea begrüßen wollte, erstarrte der junge Polizist förmlich unter seiner Bettdecke


    Von einem Aufschluchzen unterbrochen, sprach sie leise vor sich hin:
    „Semir! …. Oh mein Gott! … oh mein Gott, Semir! Was ist nur passiert? … Warum musst immer Du die Welt retten? … Ich kann nicht mehr! … Verstehst du Semir! … Ich halte das einfach nicht mehr aus! … Ich möchte einen Ehemann haben! … Was ist, wenn du das nicht überlebst, wie soll ich das nur den Kindern erklären? … Die brauchen keinen Helden, der die Welt rettet. Aida und Lilly brauchen ihren Vater!“ Die nächsten Worte gingen in einem Aufschluchzen unter.


    Ben hörte wie Andrea ihren Mann auf die Stirn küsste, leise vor sich hin schluchzte und dabei völlig aufgelöst vor sich hinbrabbelte. Er wollte sich bemerkbar machen, tröstende Worte an Andrea richten, doch irgendwie hatten ihn die vorwurfsvollen Worte von Semirs Frau mitten ins Herz und seine Seele getroffen … lähmten ihn wie ein Giftpfeil. Unbewusst fühlte er sich für Semirs Schicksal verantwortlich und blieb stumm.


    Klaus-Jürgen Beume, der Krankenpfleger, machte den fachlichen Teil seines Jobs als Pfleger vorbildlich, doch die zwischenmenschliche Komponente blieb bei ihm komplett auf der Strecke. Unter den Pflegekräften der Intensivstationen war er ein Einzelgänger, der bevorzugt Nachtdienste leistete, weil er dort am wenigsten mit Angehörigen Kontakt hatte. Er stand unter der Zimmertür und rollte genervt seine Augen nach oben, als er die weinende Frau seines Patienten beobachtete. Fehlte gerade noch, dass dieses heulende Weib den anderen Patienten aufweckte, dachte er bei sich. Entsprechend missmutig sprach er Andrea an:
    „Frau Gerkhan, ich denke, wir sollten ihren Mann weiterschlafen lassen. Wie gesagt, der Arzt wartet auf Sie und kann ihnen mehr zum Zustand ihres Mannes sagen. Wenn Sie mir bitte folgen würden!“


    Schniefend und schluchzend folgte Andrea dem Krankenpfleger. Das Licht erlosch und Ben war wieder allein mit sich und dem Chaos in seiner Gefühlswelt. Andreas Worte geisterten wie kleine Ungeheuer durch seinen Kopf. Ben fühlte sich in dieser Nacht inmitten dieser großen Klinik als der einsamste Mensch der Welt. Mit quälender Langsamkeit verging so Minute um Minute … Stunde um Stunde bis das Karussell in seinem Kopf endlich zum Stillstand kam und er in einen unruhigen Schlaf fiel.

    An der Schiebetür zum Intensivzimmer blieb Konrad Jäger beim Anblick seines Sohnes und des Bettnachbarn wie angewurzelt stehen. Frau Krüger hatte ihm zwar mitgeteilt, dass es bei der Befreiungsaktion von Anna und Ben Tote und Verletzte gegeben hatte und dass sich unter anderem Semir Gerkhan unter den Verletzten befand. Jedoch hatte ihm niemand mitgeteilt, wie schwer der Kollege seines Sohnes tatsächlich verletzt wurde, dass er sogar auf einer Intensivstation behandelt werden musste.
    Konrads Blick wanderte zwischen den beiden Intensivbetten, die nahe beieinanderstanden, hin und her. Während Ben friedlich in seinem Bett zu schlafen schien, führten von ihm zahlreiche Kabel und Schläuche zu den Maschinen und den Infusomaten, die hinter oder neben seinem Bett standen. Die sichtbaren Verletzungen, Bens ausgemergelten Gesichtszüge ließen Konrad nur im Ansatz erahnen, was sein Sohn in den vergangenen Tagen durchlebt hatte.


    Auch der Anblick des kleinen Türken ging dem Geschäftsmann durch und durch. Auch unter dessen Bettdecke kamen zahlreiche durchsichtige Plastikschläuche und Kabel hervor, die mit dem Maschinenpark hinter dem Intensivbett verbunden waren. Unzählige weiße Verbände bedeckten dessen sichtbare Hautpartien im Gesicht und an den Armen. Darüber hinaus ragte ein Plastikschlauch aus dessen Mund in die Höhe und im Hintergrund erklang monoton das leise Zischen der Beatmungsmaschine.


    Konrad drehte den Kopf in Richtung des Intensivpflegers, der sich mit Rüdiger vorgestellt hatte und fragte diesen: „Was ist mit Herrn Gerkhan?“
    Dieser hob bedauernd die Schulter und gab zurück: „Tut mir leid Herr Jäger! Sie wissen doch! …Schweigepflicht … Datenschutz … Ich darf ihnen keine Auskunft über diesen Patienten geben. Wegen ihres Sohnes kommt später der Oberarzt auf Sie zu. Ich lass Sie mal alleine mit den beiden Herren. … Wenn etwas ist, bitte einfach klingeln!“


    Mit diesen Worten wandte sich Rüdiger, der Krankenpfleger, in Richtung Gang und verschwand im benachbarten Zimmer, wo er eine weitere Patientin an diesem Nachmittag zu betreuen hatte.
    Mit einem leichten Seufzen blickte Konrad wieder auf die beiden Patienten. Dann entdeckte er, dass Ben mit seiner linken Hand die Rechte seines Partners umschlungen hatte. Die Erkenntnis, welche enge Verbundenheit zwischen den Freunden bestand, versetzte ihm einen leichten Stich ins Herz. Es wurde wirklich Zeit, dass er sich mit seinem Sohn aussöhnte. Seine väterlichen Gefühle wallten in ihm hoch. Er zog den Besucherstuhl neben Bens freie rechte Bettseite und ergriff seinerseits dessen Hand und umschlang diese. Minute um Minute verging, wo ihm keine Regung des schlafenden Patienten entging.


    *****


    Als Ben erwachte, bemerkte er als Erstes, dass jemand seine rechte Hand umschlang. Anna, durchfuhr es ihm im ersten Moment freudig. Doch dann kam die Erkenntnis, diese Hand war größer und fühlte sich völlig anders an. Als er die Augen öffnete, war es für Ben als befände er sich einem seiner bizarren Alpträume. Wahrscheinlich hatte er Fieber und er halluzinierte, denn er bezweifelte seine Wahrnehmung. War das wirklich sein Vater, der neben seinem Bett saß und seine Hand umschlungen hielt? Er blinzelte mehrmals skeptisch. Normalerweise würde sein alter Herr von einem Geschäftstermin zum nächsten hetzen und keine Zeit damit verschwenden, am Krankenbett seines Sohnes zu sitzen.


    Entsprechend ungläubig entfuhr es Ben: „Papa! … Du?“


    „Ja, Ben! Mein Junge …!“, antwortete Konrad Jäger, dessen Kehle auf einmal wie zugeschnürt war. Vergessen waren all die hochtrabenden Worte, die er sich zu Recht gelegt, die er seinem Sohn sagen wollte. „Es tut mir leid! … So unendlich leid, was in den letzten Tagen und Wochen geschehen ist! …. Was ich zu dir gesagt habe? … Ich …!“


    Die nächsten Worte erstarben auf Konrads Lippen, die er krampfhaft zusammenpresste. Nur noch ein blasser Strich war zu sehen. So sehr sich Bens Vater auch bemühte, er konnte nicht verhindern, dass ihm die Tränen in die Augen schossen.
    Dies entging auch Ben nicht, der mit weit aufgerissenen Augen in seinem Bett lag und seinen Vater beobachtete. Er verstand auf einmal die Welt nicht mehr. Was war geschehen? Hatte jemand seinen Vater verhext? Verschwunden war der eiskalte Geschäftsmann mit seinem Pokerface, stattdessen saß da der Mensch Konrad Jäger, emotional aufgewühlt, der darum rang, seine Fassung nicht zu verlieren. Nach einigen tiefen Atemzügen hatte sich Konrad wieder einigermaßen gefangen. Als er fortfuhr, vibrierte dennoch seine Stimme.
    „Ben, mein Junge! … Ich kann die Vergangenheit nicht rückgängig machen, sondern dich einfach nur bitten, mir zu verzeihen. Gib mir eine zweite Chance und lass mich ein besserer Großvater sein, als ich es als Vater jemals war.“


    Ben schaute seinen Vater verwundert an, der das Ultraschallbild, das ihm Anna gegeben hatte, aus der Tasche zog und es an seinem Sohn weiterreichte. Wie gebannt, starrte der Dunkelhaarige das schwarz-weis Bild an, auf dem sogar er als Laie die Umrisse eines kleinen Babys erkennen konnte. Nun übermannten Ben seine Emotionen und ihm schossen die Tränen in die Augen, als er seinen zukünftigen Nachwuchs betrachtete. Ungewollt schluchzte er leise auf und nuschelte:

    „Oh mein Gott! … oh mein Gott! … Mein Baby!“ Zärtlich strich er mit der Kuppe seines Daumens über die Oberfläche des Bildes.
    „Es sind Zwillinge, soll ich dir von Anna ausrichten und den beiden Babys geht es gut! … Herzlichen Glückwunsch mein Junge!“, murmelte Konrad, beugte sich etwas über seinen Sohn und zog diesen zu sich heran.

    So gut es ging, richtete sich Ben in seinem Bett auf und Vater und Sohn lagen sich in den Armen, völlig gefangen in ihren Emotionen und ließen sie ihren Tränen freien Lauf. Als sich die beiden voneinander lösten, ließ sich Ben wieder zurück auf sein Kopfkissen sinken und fragte sich in dem Moment wieder, was war nur mit seinem Vater geschehen? Was hatte ihn so verändert seit ihrer letzten Begegnung in der Uni-Klinik? Schneller als erwartet, bekam er darauf eine Antwort.


    Anfangs noch stockend, begann Konrad Jäger zu erzählen, was in den letzten Tagen passiert war. Seine Begegnung mit Anna in seinem Büro, die ihm die Augen geöffnet hatte … seine Ängste, die er während der Zeit der Entführung ausgestanden hatte und er begriffen hatte, wie sehr er seinen Sohn liebte.
    Ben lag einfach nur da und lauschte wie gebannt den Worten seines Vaters, der über seinen Krankenbesuch bei Anna sprach und dass er den Vater seiner Freundin kennengelernt hatte. Zum Schluss fiel ein Satz, von dem Ben glaubte, ihn niemals auf dem Mund seines Vaters zu hören.
    „Mein Junge, ich kann mir keine bessere Frau an deiner Seite als Anna Becker vorstellen. Wenn ihr heiraten möchtet, meinen Segen hast du und Anna wird mir als Schwiegertochter herzlich willkommen sein.“


    Diese Erklärung seines Vaters war Balsam auf das Seelenleben des jungen Polizisten und dennoch merkte Ben, wie sich sein Herzschlag und seine Atmung sich beschleunigten, die Emotionen in ihm hochkochten und seine Gefühlswelt sprichwörtlich Achterbahn fuhr. Mit tränenverhangenen Augen blickte er seinen Vater an. Mit seinem Daumen wischte Konrad die Tränen von den Wangen seines Sohnes und unterstrich seine Aussage nochmals. „Es ist mein voller Ernst, mein Junge. Ich bereue es zu tiefst, was in den letzten Monaten passiert ist, glaube es mir!“


    Konrad Jägers Blick wanderte zum Nachbarbett. Voller Sorge erkundigte er sich bei Ben nach dem Gesundheitszustand von Semir Gerkhan. Mit knappen Worten berichtete der Dunkelhaarige seinem Vater über Semirs Verletzungen und dessen kritischen Zustand, der zwar aktuell stabil war. Der Rest des Tages und der Nacht würde zeigen, ob Semir die Rauchgasvergiftung ohne Folgen überstehen würde. Die Sorgenfalten auf Konrads Stirn wurden tiefer.
    „Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, damit seine Frau so schnell wie möglich an seiner Seite ist. Versprochen Ben!“
    Bevor Vater und Sohn weitersprechen konnten, kam Rüdiger, der Krankenpfleger, ins Zimmer und bat Konrad Jäger dies zu verlassen, da er seine Patienten versorgen musste. Ben bat seinen Vater nochmals bei Anna vorbeizuschauen.

    Konrad Jäger saß im Wartebereich vor der Intensivstation und wartete darauf, zu seinem Sohn geführt zu werden. Auf seine Nachfrage über die Gegensprechanlage wurde ihm mitgeteilt, dass aktuell die Übergabe zwischen dem Frühdienst und dem Spätdienst stattfinde und er möchte sich bitte gedulden, bis der zuständige Pfleger ihn ans Krankenbett seines Sohnes holt.


    Die ersten Minuten war Konrad Jäger noch unruhig umhergewandert, doch zwischenzeitlich hatte er sich auf einem der Plastikstühle niedergelassen. Seinen Hinterkopf hatte er gegen die Wand hinter sich gedrückt und die Augen geschlossen. Viele Gedanken gingen ihm durch seinen Kopf. In den letzten Tagen hatte er viel nachgedacht und sich in den Stunden des Wartens auf eine Nachricht der Polizei gefragt, warum er so viele Fehler in seinem Leben begangen hatte.

    Warum war er so stur und selbstgerecht gewesen? Warum hatte er die vielen Gelegenheiten sich wirklich mit seinem Sohn Ben auszusprechen ungenutzt gelassen?
    Stattdessen hatte er auf seinem Standpunkt beharrt, nur die materiellen Dinge gesehen und so endeten alle Gesprächsversuche seines Sohnes über dessen Berufswahl in der Vergangenheit im Streit. Seine Gedanken schweiften weiter zurück in die Vergangenheit, als seine Frau noch gelebt hatte. Er hatte das Bild einer glücklichen Familie vor Augen und er fragte sich gleichzeitig, wo war die Zuneigung geblieben, die ihm sein Sohn einst als kleiner Junge entgegengebracht hatte, als er bewundernd zu seinem Vater aufschaute.
    Konrad wusste, der plötzliche Unfalltod seiner Frau hatte vieles verändert. In seiner Trauer war er ungerecht geworden, hatte Strafen ausgesprochen, wo diese nicht gerechtfertigt waren und letztendlich hatte das einen Keil zwischen ihn und Ben geschoben.


    In den endlos erscheinenden Tagen und Nächten, als er zusammen mit Anna Beckers Vater auf den erlösenden Anruf der Polizei gewartete hatte, dass man ihre entführten Kinder gefunden hatte, hatte er mit Johann Becker sehr tiefsinnige Gespräche von Vater zu Vater geführt. Beide Väter hatten erkannt, dass man als Eltern seinen Kindern nicht seinen Willen aufzwingen kann.


    Auch Annas Vater wollte unbedingt, dass seine Tochter Betriebswirtschaft studiert und in den elterlichen Weinbaubetrieb mit einsteigt. Jedoch fühlte sich die junge Frau dazu berufen Medizin zu studieren, hatte sich mit ihren Eltern überworfen und es in Kauf genommen, dass ihr Vater und ihre Familie ihr jegliche finanzielle Unterstützung während des Studiums verweigerten. Die junge Frau war den ganz harten Weg gegangen und hatte ihr angestrebtes Ziel erreicht, sie war Ärztin geworden. Dies zollte Konrad Jäger allen Respekt ab. In diesen Gesprächen hatte auch er begriffen, dass sein Sohn in dem Job als Polizist seine Berufung gefunden hatte, egal ob er bei seinen Einsätzen, um anderen Menschen zu helfen, sein Leben riskierte oder nicht. Konrad hatte verstanden, Ben würde niemals ein Manager werden, der eine Firma leitete und seinen Arbeitsalltag hinter einem Schreibtisch oder in endlos erscheinenden Besprechungen verbringen würde.


    Konrad Jäger gestand sich ein, er hatte Fehler gemacht …verhängnisvolle Fehler gemacht. Da war diese letzte Begegnung mit Anna Becker in seinem Büro vor vielen Tagen … dieses Bild einer verzweifelten jungen Frau, die seinen Sohn suchte. Ihre Worte, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte: Was nutze ihm Konrad Jäger all sein Reichtum, sein Besitz, seine Macht, wenn er seinen einzigen Sohn tatsächlich verloren hätte. All das hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt, ihm die Augen geöffnet, dass diese Frau tatsächlich Ben liebte. Wie hatte er nur so blind sein können?


    Und dann war da noch der Auftritt von Julias Mann Peter an jenem denkwürdigen Nachmittag gewesen. Er, der Geschäftsmann Konrad Jäger, der sich einbildete Menschenkenntnis zu besitzen, war seinem Schwiegersohn Peter Kreuzer-Jäger in den letzten Monaten sprichwörtlich auf dem Leim gegangen, hatte jedes negative Wort über Anna, die es angeblich nur auf das Vermögen von Ben abgesehen hatte, als bare Münze abgekauft. Die wenigen Minuten in seinem Büro zeigten das wahre Gesicht von seinem Schwiegersohn, offenbarten ihm, wer die Intrigen tatsächlich spann, geldgierig und machthungrig war. Bens Vater gestand sich ein, dass er daran auch zu einem großen Teil selbst schuld war. Er hatte seinen Schwiegersohn gewähren lassen, wollte die Wahrheit nicht sehen und alles nur, weil er von dem Wunsch besessen war, einen würdigen Nachfolger für seine Firma zu finden.


    Würdiger Nachfolger … innerlich lachte er ironisch auf. Doch darum wollte sich Konrad zu einem späteren Zeitpunkt kümmern.


    Vor einer Stunde hatte er zusammen mit Johann Becker dessen Tochter Anna besucht und die Gelegenheit genutzt, sich bei der jungen Ärztin in aller Form zu entschuldigen. Zu seiner Überraschung hatte die junge Frau wahre menschliche Größe gezeigt und ihm einfach verziehen. Unbewusst war seine rechte Hand dabei in die Jackentasche gerutscht. Darin befand sich ein Ultraschallbild, welches ihm Anna in die Hand gedrückt hat, mit der Bitte es Ben zu überreichen. Voller Stolz streichelte er mit seiner Fingerkuppe darüber, in dem Wissen, dass er bald wieder Großvater werden würde. Er kam nicht dazu weiter über eine mögliche Zukunft nachzudenken, denn ein Pfleger der Intensivstation sprach ihn an und brachte ihn zu seinem Sohn.

    Ben lag erschöpft mit geschlossenen Augen in seinem Bett auf der Intensivstation. Dank der verabreichten Medikamente verspürte er nur noch bei Bewegungen einen dumpfen Schmerz in seiner linken Seite. Tausend Gedanken schwirrten durch seinen Kopf. Vor allem die Erlebnisse in den letzten Stunden musste sein Geist, seine Seele erst einmal verarbeiten …. begreifen, was geschehen war.


    Anna war wie er in Sicherheit und schlief zwei Stockwerke unter ihm selig in ihrem Bett auf der Gynäkologischen Abteilung. Sie waren frei, seiner schlimmsten Widersacherin Gabriela Kilic entkommen, die vermutlich ab sofort die Radieschen von unten betrachtete. Irgendwie kam deswegen in Ben keine Genugtuung auf, denn der Preis dafür war hoch, zu hoch gewesen. Elena, die letztendlich durch ihren Mut und selbstlosen Einsatz ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte, lag lebensgefährlich verletzt in einem Kölner Krankenhaus. Niemand konnte ihm sagen, ob die junge Frau die schwere Schussverletzung überlebt hatte.


    Wenn er die Augenlider öffnete und zum Nachbarbett blickte, sah er seinen Freund und Partner, der beatmet wurde und so still und friedlich dalag, als würde er einfach nur schlafen. Gegensätzliche Gefühle wallten bei Semirs Anblick in ihm hoch. Zum einen war da diese unendliche Dankbarkeit, dass der kleine Türke alles riskiert hatte, um ihn und Anna zu retten. Zum anderen waren da Schuldgefühle, dass sein Freund nun schwer krank neben ihm im Krankenbett auf der Intensivstation lag. Während der Visite hatte ihm der behandelnde Chefarzt mehrmals versichert, dass Semir eine gute Prognose auf eine vollständige Heilung habe, Dank der guten Erstversorgung durch die Notärztin.


    Die Chefarztvisite hatte am späten Vormittag stattgefunden.

    Der Tross aus Ärzten, Studenten und Pflegepersonal hatte vor wenigen Minuten das Intensivzimmer verlassen. Ben war sich unter deren neugierigen Blicken wie die Attraktion in einer Varieté-Show vorgekommen. Der diensthabende Oberarzt mit dem komischen Spitzbart im Gesicht referierte regelrecht vor seinen Kollegen über das Ausmaß seiner Verletzungen und Laborwerte. Ben verstand bei all dem medizinischen Kauderwelsch nur Bahnhof und hätte in dem Augenblick einiges darum gegeben, wenn Anna im Zimmer anwesend gewesen wäre und ihm die medizinischen Fakten in verständlichen Worten erklärt hätte.


    Seine betreuende Intensivschwester zog ihm den grünen Krankenhauskittel aus und zwei der Studentinnen im Hintergrund entfuhr ein spitzer Aufschrei beim Anblick von Bens Oberkörper, was denen einen Rüffel des Chefarztes einbrachte. Mehrere Ärzte aus unterschiedlichen Fachrichtungen stellten sich nacheinander kurz vor, erklärten Ben immer, welche Untersuchungen sie gerade anstellten und gaben dann ihre Meinung vor dem Rest der anwesenden Ärzteschaft kund. Auch wenn jeder der Mediziner nur das Beste für den Patienten wollte, war Ben von der Situation irgendwann überfordert.


    Der Oberarzt, der dies an der Reaktion seines Patienten erkannte, dabei die traumatischen Erlebnisse von Ben im Hinterkopf hatte, gab seinem Chef einen unmissverständlichen Hinweis. Daraufhin wandten sich der Professor und sein Gefolge seinem Bettnachbarn Semir Gerkhan zu.


    Letztendlich war es der Oberarzt, Dr. Pohl, den Ben in Gedanken als König Drosselbart bezeichnete und der plastische Chirurg, die ihm verständlicher Form die weitere Behandlung erläuterten.


    Sein Hb-Wert, was auch immer das sein mochte, dachte sich Ben, lag im kritischen Bereich um 6.0. Man würde ihm vorerst keine Blutkonserven verabreichen, sondern angesichts seiner körperlichen Verfassung dies durch Infusionen mit Eisen-Konzentrat versuchen zu kompensieren, erklärte ihm der Oberarzt weiter. Die Blutung im Bereich der linken Niere schien von selbst zum Stillstand gekommen zu sein. Auch hier wollte man einen chirurgischen Eingriff vorerst vermeiden und zog eine konservative Behandlung mittels Bettruhe vor. So ging der Oberarzt Stück für Stück mit seinem Patienten dessen Verletzungen durch und beschrieb ihm die weitere Behandlung. Bis zum kommenden Morgen wollte man ihn weiter auf der Intensivstation überwachen und bei der Morgenvisite endgültig entscheiden, ob der junge Polizist auf Normalstation verlegt werden konnte.


    Nun kam der plastische Chirurg ins Spiel, der sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte. Er untersuchte die Schusswunde am Bauch, die Brandwunden und die ehemals entzündeten Wunden am Rücken, die ihm Remzi mit der Peitsche zugefügt hatte. Kritisch beäugte der Chirurg jede tiefere Verletzung, tastete die Wundränder ab und brummte mehrmals:
    „Hmmm … Hmmm …. Naja …. Vor sich hin!“
    und trieb Ben damit am Rande der Verzweiflung. Schließlich erklärte er Ben seine Erkenntnisse und schlug dem Patienten vor, zeitnah vor allem die Brandwunden durch eine Hauttransplantation versorgen zu lassen und die Schusswunde am Bauch und die beiden großen Verletzungen an der linken Schulter nochmals operativ nachzubehandeln. Dr. Rieger wollte Ben keine Garantie geben, war sich aber sicher, dass diese Verletzungen so kaum sichtbare Narben hinterlassen würden.


    Nach dem Untersuchungsmarathon war Ben fix und fertig und wollte nur noch seine Ruhe haben. Die verständnisvolle Intensivschwester hatte nach der Visite sein Bett näher an Semirs Bett herangeschoben und so konnte Ben dessen fixierte Hand umschlingen. Auch wenn sein Freund sediert war, tat dessen körperliche Nähe dem dunkelhaarigen Polizisten unheimlich gut. Nachdem die Krankenschwester das Zimmer verlassen hatte, wandte er seinen Kopf in Richtung der kleinen Türken, redete leise mit ihm, erzählte ihm, was ihn bewegte, was er durchlebt hatte und merkte nicht, wie er vor Erschöpfung eindöste.

    Irgendwo in einer Penthouse-Wohnung in Düsseldorf


    Christian Wenzel saß am Frühstückstisch, den Alma, seine Haushälterin, heute Morgen auf der Dachterrasse gedeckt hatte. Von seinem Sitzplatz aus hatte er einen unvergleichlichen Ausblick auf die Skyline von Düsseldorf. Die Strahlen der Morgensonne verbreiteten eine angenehme Wärme. Der Wetterbericht versprach einen schönen Sommertag.


    Ein unerwarteter Besucher, Dr. Hans-Heinrich Hinrichsen, hatte ihm gegenüber Platz genommen. Normalerweise hasste Christian unangemeldete Besucher, doch ihm war auch klar, wenn der Rechtsanwalt schon zu solch früher Morgenstunde den Weg von Köln nach Düsseldorf gefahren war, hatte dies einen triftigen Grund. Nach der Begrüßung unterhielten sich die beiden Männer im Small-Talk über dies und das, warteten darauf, bis die Haushälterin das zweite Gedeck aufgelegt hatte, die Tür zur Dachterrasse schloss und im Inneren der Penthouse Wohnung verschwand. Schwach drang der Lärm des morgendlichen Berufsverkehrs an ihre Ohren, ansonsten herrschte Stille.


    „Was treibt dich zu solch früher Morgenstunde zu mir nach Düsseldorf, Heinrich?“, erkundigte sich der Christian Wenzel, während er sein Drei-Minuten-Ei köpfte und den ersten Löffel genussvoll zwischen die Lippen schob.
    „Deine verrückte Kroatin!“, entgegnete der Rechtsanwalt, der Mühe hatte seine Erregung zu verbergen. „Die raubt mir den letzten Nerv und den Schlaf!“
    „Gabriela?“, fragte Christian ein bisschen amüsiert, „Was ist mit ihr? Wir haben doch alle ihre Forderungen erfüllt. Brauer hat mir gestern Abend bestätigt, dass er sie mit einer neuen Identität und entsprechenden Papieren ausgestattet hat. Justin hat seine Schulden bezahlt. Diese neugierige Schnüfflerin von der Autobahnpolizei kann noch drei Tage in den Akten des BKAs stöbern, wird aber nicht den leisesten Hinweis finden. … Nicht den Hauch einer Spur, die in unsere Richtung führen könnte. Also wo liegt das Problem?“ Er schob sich den nächsten Löffel, gefüllt mit dem gekochten Ei in den Mund und schnalzte genießerisch mit der Zunge. „Alma ist eine Meisterin darin, das perfekte drei-Minuten-Ei zu kochen. Du solltest endlich mit dem Frühstück beginnen.“


    Dr. Hinrichsen ging nicht auf die Aufforderung ein und erwiderte mit einem scharfen Unterton: „Danke, mir ist der Appetit auf Frühstück vergangen! … Schaust du denn morgens keine Nachrichten?“

    Er hatte die Aufforderung seines Gastgebers verstanden, nippte an seinem Kaffee und begann das Toastbrot, welches vor ihm auf dem Teller lag, mit Honig zu bestreichen.
    „Nachrichten im Fernsehen? … Pfff….“, kam es ziemlich abfällig von Christian. „Das ist doch pure Zeitverschwendung und oft genug berichten die nur die halbe Wahrheit. Ich verlasse mich lieber auf meine eigenen Informationsquellen!“ und biss in sein mit Butter bestrichenes Toastbrot.
    „Dann schalte mal deinen Flatscreen an! Die Verrückte ist aufgeflogen. Ein SEK-Kommando hat vergangene Nacht die Villa in Köln, die ihr als Schlupfwinkel gedient hatte, gestürmt.“
    Christian Wenzel hielt mit dem Kauen inne und seine grauen Augen fingen an wütend zu funkeln. „Was meinst du mit aufgeflogen?“
    „Was ist an dem Wort Aufgeflogen nicht zu verstehen. Das SEK Kommando hat das Versteck in Merheim ausgehoben. …Verstanden!“ Mit einer entsprechenden Geste seiner Hände unterstrich der Rechtsanwalt seine Aussage.


    Der Geschäftsmann ließ seine Hand sinken und legte den angebissenen Toast zurück auf den Teller. Für einige Atemzüge herrschte Stille unter den beiden ungleichen Männern. Christian durchbrach das Schweigen. Er hatte sein übliches Pokerface aufgesetzt und sein Gesprächspartner versuchte vergeblich aus der Mimik etwas abzulesen.


    „Wozu zahlen wir ein kleines Vermögen an Brauer und Co, wenn wir nicht rechtzeitig gewarnt werden?“
    Mit knappen Sätzen berichtete der Hans-Heinrich Hinrichsen von den Ereignissen der vergangenen Nacht in Köln Merheim, soweit er sie den Presseberichten entnommen hatte und fügte erläuternd hinzu: „Das war ein Geheimkommando, das Staatsanwalt van den Bergh ohne Rücksprache mit seinen Vorgesetzten genehmigt hatte. Deswegen hat keiner etwas im Vorfeld gewusst.“


    Als der Rechtsanwalt verstummte, herrschte erneut Schweigen am Frühstückstisch. Mit einer Serviette tupfte sich Christian Wenzel die Lippen sauber und warf sie achtlos auf die Tischdecke. Er schob den Frühstücksteller in Richtung Mitte des Tisches. Ihm war der Appetit gründlich vergangen.


    „Und es ist sicher, dass Gabriela dabei umgekommen ist?“


    Der Rechtsanwalt nickte und zählte nochmals die Namen der Personen auf, die laut dem ersten Polizeibericht dem Feuersturm in der Villa entkommen waren. Fast schon mit einem ängstlichen Unterton fragte er sein gegenüber:

    „Was willst du unternehmen? Diese Russin und der Serbe, die im Krankenhaus liegen, haben mich mehrmals in der Villa gesehen, als ich mit der Kilic Gespräche führte. Die können eine Verbindung zwischen mir und Gabriela herstellen. Das sind lästige Zeugen!“
    „Und der entführte Polizist? …. Dieser Jäger? … Hat der dich auch gesehen?“
    „Nein! Weder er, noch diese Ärztin, haben mitbekommen, dass ich bei Gabriela zu Besuch in der Villa war und mehrmals mit ihr telefoniert hatte! Da bin ich mir sicher!“


    Der Geschäftsmann zündete sich eine Zigarillo an und inhalierte den Rauch tief in seine Lungen. Hinter seiner Stirn arbeitete es fieberhaft.


    Christian Wenzel war ein Mann, der die Öffentlichkeit und Presserummel scheute. Sein Firmengeflecht war über den ganzen Globus verstreut. Der Geschäftssitz seiner verschiedenen Holding-Gesellschaften war bevorzugt in Steueroasen, wo keine Behörde lästige Fragen stellte. Kaum jemand ahnte wie reich er tatsächlich war und in welche legalen und illegalen Geschäfte er weltweit verwickelt war. Einige der wenigen Menschen, die tiefere Einblicke in seine Geschäftsverbindungen hatten, waren Dr. Hans-Heinrich Hinrichsen und Gabriela Kilic. Die Kilic, so hoffte er insgeheim, hatte ihr Wissen mit ins Grab genommen. Und der Anwalt? … Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Dr. Hinrichsen war zu wertvoll, um ihn einfach zu beseitigen.


    Denn wenn es um Profit ging, kannte Christian Wenzel keine Hemmungen. Geld regiert die Welt und verlieh ungeahnte Macht. Sein Wahlspruch war, jeder Mensch hatte seinen Preis und wenn derjenige sich nicht mit Geld kaufen ließ, gab es noch andere Methoden, um jemanden gefügig zu machen oder wenn er im Wege stand, endgültig zu beseitigen. Wer für ihn und seine Geschäfte gefährlich wurde, hatte sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Für solche Zwecke war jemand wie Gabriela Kilic eine sehr nützliche Helferin gewesen. Der stechende Blick aus seinen blauen Augen ruhte auf dem Rechtsanwalt, der seine Nervosität zu verbergen suchte.


    „Mach dir keine Sorgen Hans-Heinrich! Ich werde mich darum kümmern, dass die beiden Zeugen zum Schweigen gebracht werden. Und auch für diesen Polizisten Jäger und der Ärztin wird es im Falle eines Falles eine Lösung geben. Warten wir deren Zeugenaussage ab! Die kommen uns nicht in die Quere!“
    „Bist du verrückt, du kannst sie doch nicht alle umbringen lassen? Die Geschichte hat schon verdammt viel Staub aufgebwirbelt! Die ist in allen lokalen Nachrichtensendern. Dieser Polizist Jäger ist nicht irgendwer, sondern der Sohn von diesem Bauunternehmer Konrad Jäger! Versuche es wie sonst auch mit Bestechung … Drohungen oder …!“


    „Seit wann besitzt du solch eine zarte Seele, mein Freund? Wer mir gefährlich werden kann, stirbt!“, unterbrach ihn Christian mit einem süffisanten Unterton, der gleichzeitig eine unausgesprochene Drohung darstellte. „Außerdem … vielleicht bin ich es ja Gabrielas Andenken fast schuldig, dass ich ihren Erzfeind über die Klinge springen lasse.“


    Dr. Hinrichsen rang sich ein Lächeln ab, denn er wusste, dass es zwecklos war, mit seinem Geschäftspartner weiter darüber zu diskutieren.

    Zurück am Buchheimer Ring …


    Der dunkle Mercedes von Kim Krüger stand am Rande des Feldweges geparkt. Völlig übermüdet und erschöpft, lehnte Kim an der Motorhaube ihres Wagens und hielt einen Becher heißen Kaffee in der Hand. Während sie pustete und vorsichtig daran schlürfte, beobachtete sie das Geschehen um sich herum und ließ die letzten Stunden dieses verhängnisvollen Einsatzes Revue passieren.


    Die ersten Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr rückten ab. Bis auf einige Glutnester war der Brand auf dem Schlupfwinkel von Gabriela Kilic gelöscht worden. Zurückgeblieben war ein gespenstischer Anblick wie auf einem Kriegsschauplatz. Von der einst so mächtigen Villa war nur noch ein riesiger qualmender Schutthaufen übrig und das Gelände darum glich einer Trümmerlandschaft, an das sich die Männer der Spurensicherung vorsichtig heranwagten. Im Hinterkopf blieb immer die Angst, dass ein weiterer Sprengsatz explodieren könnte. Die Experten der Kriminaltechnik und des Bombenkommandos, das vorsorglich auch angerückt war, waren sich einig, dass kein Mensch die Explosion im Inneren der Villa überlebt haben könnte. Somit galten Gabriela Kilic und die Kovac Brüder als verstorben. Die Leichen von Remzi Berisha und Dragan Kovac waren auf dem Weg in die Gerichtsmedizin. Die Verletzten waren alle medizinisch versorgt und auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt worden. Die Sanitätseinheit brach einen Teil ihrer Versorgungszelte ab und nur noch eine Eingreifreserve mit einer kleinen Feldküche würde vor Ort bleiben, bis auch der letzte Feuerwehrmann abgerückt war.


    Einige Übertragungswagen der lokalen Fernsehsender parkten außerhalb der polizeilichen Absperrung. Neugierige Reporter huschten mit Kameras, Mikrofonen und Notizblöcken umher und versuchten den Einsatzkräften Informationen über das Geschehen in der vergangenen Nacht zu entlocken.
    Der nächtliche Einsatz hatte für eine Menge Aufsehen und Aufregung nicht nur im Polizeipräsidium Köln, sondern auch beim Innenministerium in Düsseldorf gesorgt. Vor einer Stunde war der Oberstaatsanwalt van den Bergh am Tatort eingetroffen. Irgendwie war Kim erleichtert gewesen, als Hendrik van den Bergh es übernahm, die Vorgesetzten zu beschwichtigen und ihnen Rede und Antwort zu stehen.
    Als ein Justin von Cronau aus dem Innenministerium auf Kims Handy anrief, die Chefin wegen des Alleingangs scharf zu Recht wies und ihr dienstliche Konsequenzen androhte, fackelte er nicht lange rum. Er entriss Kim ihr Handy und blaffte zu ihrer Überraschung den Staatssekretär an: „Jetzt kommen Sie mal wieder runter? … Wenn Ihnen was nicht passt, dann wenden Sie sich an mich, denn ich habe den Einsatzbefehl gegeben. …Denn wie können Sie auf ihrem Bürostuhl in Düsseldorf beurteilen, wann Gefahr in Verzug ist und wann nicht? … Ohne das schnelle Eingreifen der SEK Einheit und dem entschlossenen Handeln der Kollegen von der Autobahnpolizei wären die Geisel Frau Dr. Becker und Herr Jäger wohl nicht mehr am Leben?“


    Am anderen Ende der Leitung herrschte für einige Atemzüge Schweigen. „Pfff …. Wir sprechen uns noch Herr Oberstaatsanwalt!“ Damit beendete der Staatssekretär das Telefongespräch.
    „So ein arrogantes A...!“, entfuhr es van den Bergh ziemlich aufgebracht. Er atmete mehrmals tief durch und hatte seine Gefühlswelt wieder im Griff. „Mach dir um den Kerl keine Sorgen! Um diesen Wichtigtuer im Innenministerium kümmere ich mich schon.“


    Dabei hatte er im Hinterkopf, diese Aussage des Staatssekretärs Johannes Becker und Konrad Jäger zukommen zu lassen. Mal schauen, wer am längeren Hebel sitzt Herr Staatssekretär, dachte er für sich. Hendrik van den Berghs beruflicher Werdegang, sein Handeln waren bisher davon geprägt gewesen, alles für seinen Aufstieg auf der Karriereleiter zu tun. Während der Ermittlungen im Fall Gabriela Kilic und Ben Jäger hatte er eine andere Fassette der Justiz kennengelernt, Vertuschung und Verschleierung von Fakten, um hochrangige Persönlichkeiten oder auch kriminelle Personen zu schützen. Besonders der gestrige Besuch beim BKA blieb ihm im Gedächtnis haften. Die Art und Weise wie Peter Brauer aufgetreten war, Zeit geschunden hatte, um ihnen die Einsicht auf die Ermittlungsakte hinauszuzögern hatte einen sehr unangenehmen Beigeschmack hinterlassen. Auf der Fahrt von Wiesbaden nach Köln hatte ihn Kim Krüger telefonisch über die Umstände und den Ausgang des Zugriffes in Köln Merheim unterrichtet. In dieser Nacht hatte er die Wahl: Weiter dieses Spiel um Intrigen und Macht mitzuspielen oder der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen, wie es Semir Gerkhan ausdrückte. Hendrik van den Bergh hatte sich entschieden.
    Der Oberstaatsanwalt streifte sich mit einer müden Geste über das Gesicht und musterte Kim danach von oben bis unten. Ihre Kleidung war verstaubt und dreckig. Sie roch nach kaltem Rauch. Die kleinen Risswunden im Gesicht und an der Hand waren von den Sanitätern gereinigt und mit Pflaster versorgt worden. „Du siehst verdammt müde und fertig aus Kim. Was hältst du davon, wenn du nach Hause fährst, dir eine Dusche gönnst und dich ein paar Stunden hinlegst.“


    Ablehnend schüttelte sie den Kopf, schaute kurz zu Boden, scharrte mit ihrer Fußspitze in der Erde hin und her, als suchte sie dort etwas und nahm wieder Blickkontakt mit Hendrik auf.

    „Nein! … Keine Chance! … Ich will erst wissen, was mit meinen Männern ist.“
    Sie drückte einem der Sanitäter, der vorbeikam, mit einem Lächeln und einem „Danke“ die leergetrunkene Kaffeetasse in die Hand. Anschließend ging ein Ruck durch ihren Körper. Kim seufzte einmal leise vor sich hin, löste sich von der Motorhaube und kramte in ihrer Jackentasche nach dem Zündschlüssel des Wagens.


    „Außerdem, die Dusche und eine Mütze voll Schlaf werden wohl aus einem anderen Grund noch ein wenig warten müssen. Schon vergessen? Wir sind um neun Uhr zur offiziellen Pressekonferenz ins Polizeipräsidium beordert worden.“ Sie schaute an sich herunter, schürzte ihre Lippen und meinte in einem ironischen Tonfall: „Ich sehe doch gar nicht ein, dass ich mich hübsch mache und rausputze, wenn unsere Herrn Vorgesetzten von der Ferne aus meinen, der Einsatz sei ein wenig überzogen gewesen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete sie die Autotür und stieg ein. Bevor Kim diese endgültig zuzog und sagte sie in Richtung des Staatsanwaltes: „Ich schlage vor, wir treffen uns fünf vor neun vor dem Eingang des Polizeipräsidiums. Bis dahin will ich noch einen Abstecher in die Uniklinik machen!“


    Im gleichen Atemzug startete sie den Motor, knallte die Autotür zu und ließ den Wagen anrollen. An der ersten Kreuzung las sie ein Hinweisschild für das Krankenhaus in Köln Merheim und änderte ihre Pläne. Sie dachte an die junge Frau, die Ben und Anna bei der Flucht geholfen hatte. Der Anblick wie sie schwer verletzt am Waldboden lag, war zum Greifen nah vor ihrem inneren Auge. Telefonisch hatte sie vom Krankenhaus keine Auskunft über den Zustand der Verletzten erhalten. Vielleicht würde ein Polizeiausweis ein bisschen mehr helfen, den Ärzten einige Informationen zu entlocken. Außerdem war da noch der schwer verletzte Entführer.


    Nachdem der zuständige Richter bereits gegen Camil Musicz einen Haftbefehl erlassen hatte, traf zusammen mit Kim Krüger eine Polizeistreife am Krankenhaus ein, die den Gefangenen bewachen sollten. Dieser Umstand erleichterte es Kim ungemein, die gewünschten Informationen über den Gesundheitszustand der Verletzten zu bekommen.


    Camil Musicz war in der Nacht operiert worden und lag noch sediert auf der Intensivstation des Krankenhauses in Köln Merheim. Das Trümmerteil, welches sich in seinen Rücken gebohrt hatte, hatte die Wirbelsäule verletzt und die darin befindlichen Nervenstränge durchtrennt. Wenn kein Wunder geschah und daran glaubten die behandelnden Ärzte nicht, würde der Serbe ab der Körpermitte abwärts für den Rest seines Lebens gelähmt bleiben. Von einer Verlegung ins Gefängnishospital rieten die behandelnden Ärzte jedoch vorerst ab.


    Elena hatte ihre Notoperation, bei der ein kleines Stück der Lunge entfernt werden musste, ebenfalls gut überstanden. Für die nächsten vierundzwanzig Stunden lag auch sie auf der Intensivstation und galt nach Angaben der Ärzte als nicht vernehmungsfähig. Die behandelnde Oberärztin, Frau Dr. Kellermann, bat Kim Krüger darum, sie in ihr Arztzimmer zu begleiten. Dort eröffnete ihr die Ärztin, dass neben der Schussverletzung Elena Olimov noch weitere schwerwiegende Verletzungen erlitten hatte. Der Körper der Patientin war übersät mit schweren Prellungen und Blutergüssen, die eindeutig die Folge von körperlichen Misshandlungen waren. Darüber hinaus gab es klare Hinweise für sexuelle Gewalt. Kim schluckte schwer als sie dies hörte und es gab ihr gleichzeitig eine gewisse Vorstellung davon, was wohl Ben Jäger und auch Anna Becker in der Gewalt ihrer Entführer durchlebt hatten. Beim Verlassen des Krankenhauses nahm sich Kim vor, persönlich darum zu kümmern, dass Elena Opferschutz bekommen würde.


    Ein Blick auf die Uhr im Display ihres Fahrzeugs mahnte sie zur Eile, wenn sie vor der Pressekonferenz etwas über das Schicksal ihrer Männer erfahren wollte. Die Auskunft, die Kim in der Uni-Klinik bekam, war alles andere als zufriedenstellend für sie. Aus verständlichen Datenschutzgründen hielten sich die Ärzte sehr bedeckt. Sie bekam lediglich die Information, dass der Zustand ihrer Mitarbeiter aktuell stabil sei und beide auf der Intensivstation versorgt werden würden. Trotz ihres energischen Drängens blieben die Ärzte standhaft und so musste sie unverrichteter Dinge wieder abziehen. Während der Fahrt durch die Innenstadt bereitete sie sich innerlich auf die bevorstehende Pressekonferenz vor.

    Es war das grelle Licht in seinen Augen, was Ben als nächstes wahrnahm und ihn fürchterlich störte. Unbewusst versuchte er es mit seiner Hand wegzuwischen. Er blinzelte den Schleier vor seinen Augen weg und erkannte den Wiener Arzt, der sich über ihn beugte und mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht meinte:
    „Sie haben uns gerade aber einen schönen Schrecken eingejagt. Und bevor sie vor Sorge vergehen, Frau Dr. Becker ist bei einer Kollegin in guten Händen. Sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind, bekommen sie eine Information, wie es ihrer Freundin und dem Baby geht. Also bitte, keine Ausflüge und Extratouren mehr.“
    „Und Semir? … Was ist mit meinem Freund?“, fragte Ben leise. Statt einer Antwort runzelte Dr. Ahmadi verwirrt die Stirn und Ben fügte hinzu: „Der Patient, der im Raum gegenüber versorgt wurde!“
    „Tut mir Leid, aber da kann ich ihnen keine Auskunft geben.“, erklärte ihm der Arzt mit einem echten Bedauern in der Stimme. „Bei all ihrer Sorge um ihren Freund und ihrer Freundin, sollten wir uns zuerst einmal auf sie konzentrieren, Herr Jäger.“ In seine Augen trat ein mitfühlender Blick, als er Bens geschundenen Oberkörper betrachtete. „Ich werde sie systematisch von oben nach unten untersuchen und sie sagen mir, wo sie Schmerzen haben.“


    Dr. Ahmadi bemühte sich so feinfühlig wie möglich Bens Körper abzutasten. Mehr als einmal konnte er fühlen, wie sein Patient unter den Berührungen zusammenzuckte, die Lippen zusammenkniff und mehr als einmal entwich dem jungen Mann ein Stöhnen. Mit einer Schere durchschnitt er den stabilen Verband um Bens Oberkörper, der am Unterbauch blutdurchtränkt war. Beim Lösen des Verbandes verkrampfte sich Ben und schrie vor Schmerzen auf. Sofort hielt der Arzt mit seiner Untersuchung inne und verabreichte seinem Patienten großzügig ein Schmerzmittel. Beruhigend redete er auf ihn ein und wartete bis das Medikament wirkte. Unweigerlich fragte sich der Arzt, wie solche Verletzungen zu Stande kommen konnten und schüttelte den Gedanken daran vor Grauen ab.


    Zum Abschluss erfolgte eine Untersuchung des Bauchraums und des Rückens mit dem Ultraschallgerät. Nachdenklich wischte Dr. Ahmadi mit einem Zellstofftuch das Gel von der Haut ab und drehte mit Unterstützung von Schwester Isolde, seinen Patienten wieder vorsichtig zurück auf den Rücken. Die Schwester deckte Ben mit einer wärmenden Decke zu.
    „Herr Jäger, ich hege den gleichen Verdacht, wie Frau Dr. Becker, dass mindestens zwei Rippen gebrochen und weitere Rippen geprellt sind. Um Gewissheit zu haben, werden wir noch ein paar Röntgenaufnahmen von ihrem gebrochenen Bein und ihrem Oberkörper anfertigen. Anschließend kommen Sie wieder zu mir in den Schockraum zurück. Ich denke bis zu diesem Zeitpunkt liegen auch ihre Laborwerte vor und wir entscheiden dann, wie wir Sie weiter behandeln.“
    Ben nickte verstehend. Dank der Infusionen und verabreichten Medikamente fühlte er sich mittlerweile ein wenig besser.


    Dr. Ahmadi war nicht entgangen, dass sein Patient zu der älteren Krankenschwester ein wenig Vertrauen gefasst hatte. Deshalb wies er Schwester Isolde an, den Patienten neben dem Assistenzarzt zu begleiten und bei ihm zu bleiben. Die verschiedenen Aufnahmen seines gebrochenen Beines und seines Oberkörpers waren für Ben eine einzigartige Tortur. Wäre nicht Schwester Isolde bei ihm gewesen, die es immer wieder schaffte, den verstörten Patienten zu beruhigen und ihm gut zuzureden, wäre er wohl endgültig ausgeflippt. Als man Ben zurück in den Schockraum schob, war er an einem Punkt angelangt, wo er sich wünschte, man ließe ihn endlich in Frieden. Er war mental durch und ihm wurde einfach alles zu viel.


    Die Schiebetür öffnete sich und neben Dr. Ahmadi stand der Oberarzt Dr. Meuschel im Schockraum. Die beiden Ärzte studierten an einem Bildschirm aufmerksam Röntgenaufnahmen und diskutierten leise miteinander. Ben erkannte in dem Oberarzt, den Arzt wieder, der scheinbar Semir mit versorgt hatte.
    „Herr Doktor! … Bitte? … Wie geht es Anna und Herrn Gerkhan?“
    Der Oberarzt trat neben die Behandlungsliege und betrachtete das ausgemergelte Gesicht des Patienten. Aus den Gesprächen mit Anna kannte Dr. Meuschel die Zusammenhänge und welche Freundschaft Ben und Semir verband. Bereitwillig gab er deswegen Auskunft.
    „Ihr Freund und hat eine Rauchgasintoxikation erlitten. Er wird beatmet und liegt auf der Intensivstation. Sein Zustand ist momentan stabil. Wir müssen einfach die nächsten Stunden abwarten, wie die Medikamente anschlagen und darauf hoffen, dass es zu keinen weiteren Komplikationen kommt. Mehr kann ich ihnen leider nicht sagen Herr Jäger.“


    Für einige Atemzüge schloss Ben die Augen. „Und Anna? … Wissen Sie was mit Frau Dr. Becker ist?“
    Dr. Ahmadi hatte seinem Chef davon berichtet, wie überschießend Ben auf Aufregungen reagierte. Also wog Dr. Meuschel gedanklich ab, ob es sinnvoll wäre, dem Patienten zu erzählen, dass seine Freundin Zwillinge erwartete. Er wählte einen diplomatischen Mittelweg.
    „Frau Dr. Becker braucht dringend Ruhe und liegt auf der gynäkologischen Abteilung und schläft. Ihr und dem Nachwuchs geht es in Anbetracht der Umstände gut. Ich denke, sobald es ihr die Frauenärztin erlaubt, wird Anna sie besuchen kommen.“


    Nach dieser Information ließ die Anspannung in Ben ein wenig nach. Jedoch hatte der Oberarzt noch eine weitere Herkulesaufgabe vor sich. Wie bringt man einem schwer traumatisierten Patienten, der gefoltert wurde, das Ausmaß seiner Verletzungen nahe. Nun war es an Dr. Meuschel für ein paar Atemzüge die Augen zu schließen. Er packte seinen ganzen Erfahrungsschatz und sein Fingerspitzengefühl aus und stellte Blickkontakt mit seinem Patienten her. Mit Bedacht wählte er seine Worte und brachte dem Patienten die Diagnosen und Laborbefunde nahe, die letztendlich eine Bestätigung von Annas Diagnosen waren, nahe.


    „So dann kommen wir zu ihrem rechten Schienbein, Herr Jäger!“ Er klopfte mit seinen Fingern leicht gegen die Gipsschiene. „Die werden sie mindestens noch drei Wochen tragen müssen.“ Er erhob sich und beugte sich leicht über Bens rechtes Schienbein und zeichnete, beginnend drei Zentimeter über dem Knöchel, ungefähr auf zehn Zentimeter Länge eine Art Strich. „Auf den Röntgenbildern kann am gut erkennen, dass sie in diesem Bereich des Schienbeinknochens einen Haarriss haben. Ihr Ausflug vergangene Nacht hat dem Bruch nicht geschadet. Ein operativer Eingriff macht keinen Sinn. Aber es wird einfach dauern, bis sich ihr Knochen wieder stabilisiert und sie das Bein wieder belasten können.“ Dr. Meuschel ließ sich wieder auf dem Rollhocker nieder. „Auf dem Ultraschallbild sieht man freie Flüssigkeit … an ihrer linken Flanke im Bereich der Niere!“ Der Arzt strich mit seinen Fingern sanft über die entsprechende Körperstelle, bei der sich unter der Haut ein dunkelblau bis ins lila hineingehende Färbung abzeichnete. „Sprich … es handelt sich dabei um Blutungen ins Gewebe. Dr. Ahmadi hat mir erklärt, wie sie zu dieser neuerlichen Verletzung gekommen sind. Aus meiner Sicht können wir erst einmal diese inneren Verletzungen konservativ, sprich mit Bettruhe behandeln.“ Als Ben bei dieser Aussage erschrocken die Augen aufriss, beschloss der Oberarzt das Gespräch abzukürzen. „Wir werden Sie für die nächsten Stunden zur Überwachung auf die Intensivstation verlegen. Kommen Sie einfach ein wenig zur Ruhe!“
    Er fügte noch ein paar beruhigende Worte hinzu und verabschiedete sich von Ben. Dr. Ahmadi trat hinzu und verabreichte dem Patienten in Abstimmung mit seinem Oberarzt nicht nur ein Schmerzmittel sondern auch eine Dosis Valium.


    Ben spürte, wie er müde und schläfrig wurde. Bereitwillig schloss er seine Augen und dämmerte weg. Er merkte nicht mehr, wie er auf die Intensivstation verlegt wurde.

    Mit einigen Zellstofftüchern wischte sie das Gleitgel von Annas Bauch und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und begann mit ihren Fingern die Tastatur zu bearbeiten, um ihren Untersuchungen in der Patientenakte zu dokumentieren.


    Anna zog den Hosenbund hoch und schob ihr T-Shirt nach unten. Anschließend richtete sie sich auf und machte Anstalten sich von der Liege zu erheben. Sie wollte nur noch zu Ben und ihm die freudige Nachricht überbringen und die Ultraschall-Bilder zeigen. Fast schien es so, als könnte die Oberärztin ihre Gedanken lesen.


    „Für die nächsten zwölf Stunden verordne ich Ihnen strickte Bettruhe. Schwester Waltraud wird sie auf ihr Zimmer begleiten, sie können sich gerne ein wenig frisch machen und anschließend sollten sie einfach nur schlafen.“


    „Aber …!“, fiel ihr Anna ins Wort.


    „Kein Aber!“, gab Dr. Weber zurück. „Nach den Strapazen der vergangenen Tage braucht ihr Körper dringend Ruhe. Entweder sie legen sich freiwillig ins Bett und schlafen oder wir verpassen ihnen einen Dosis Valium!“ Auch die Oberärztin war über das Drama der letzten Tage eingehend von ihrem Kollegen der Notaufnahme informiert worden.


    Unwillig brummte Anna vor sich hin „Hmpf! …. Kein Valium! Ich will keine Medikamente!“


    „Frau Dr. Becker, ich weiß, wir Ärzte sind die schlimmsten Patienten. Dennoch sie brauchen Ruhe und Schlaf. Ich denke, sie werden dem werdenden Vater die frohe Botschaft, dass sie Zwillinge erwarten und er einmal um das Vergnügen gebracht worden ist, noch früh genug überbringen können.“ Sie nahm nochmals auf dem Rollhocker Platz und umschlang Annas Hand. „Ich weiß, dass sie sich Sorgen um Herrn Jäger machen. Doch gerade sie sollten wissen, dass Herr Jäger bei den Kollegen, die sich um ihn kümmern, in den besten Händen ist. Dr. Ahmadi lässt ihnen ausrichten, dass Herr Jäger stabil ist und aktuell ist er beim Röntgen. Also Tabuzone für Sie!“ Dr. Weber erhob sich wieder, drückte Anna mehrere Ausdrucke von Ultraschallbildern in die Hand. „Kommen Sie! … Schwester Waltraud bringt sie jetzt auf ihr Zimmer. Denken Sie einfach an die Zukunft … an die beiden kleinen Menschen in ihrem Bauch und versuchen Sie das erlebte ein wenig zu vergessen.“


    Die Krankenschwester, die sich während der Untersuchung dezent im Hintergrund gehalten hatte, half Anna sich in den bereitstehenden Rollstuhl zu setzen.


    Die Frauenärztin reichte Anna zu Abschied die Hand. „Den Rest besprechen wir morgen früh, wenn ich wieder im Dienst bin. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich veranlassen, dass unsere Klinik-Psychologin, Frau Dr. Ulrich, sich heute Nachmittag ein wenig mit ihnen unterhält. Ich glaube, das wird ihnen gut tun.“
    Anna nickte zustimmend und wurde von Schwester Waltraud in ein Einzelzimmer geschoben. Nachdem sie sich geduscht hatte, vom Frühdienst mit einer großen Tasse Tee und ein wenig Toast mit Butter und Marmelade versorgt worden war, schloss sich die Zimmertür hinter der Krankenschwester, die sich mit den Worten verabschiedete: „Wenn etwas ist Frau Dr. Becker, läuten sie einfach!“, und auf einmal war sie alleine im Zimmer. Nur das monotone Brummen des Infusionsautomaten war zu hören. Durch die Ritzen der Jalousien drang ein wenig Tageslicht in den Raum. Tausend Gedanken schwirrten Anna durch den Kopf und ließen sie nicht zur Ruhe kommen, obwohl sie sich so unendlich müde fühlte. Der Frühdienst begann auf der Station mit seiner Arbeit. Es waren die vertrauten Geräusche des Klinikalltags, die Anna letztendlich einschlafen ließen.


    Als sie Stunden später erwachte, war sie nicht mehr alleine. Neben ihrem Bett saß jemand und hielt ihre Hand umschlungen. Anna öffnete ihre Augen und meinte völlig überrascht, als sie erkannte, wer da neben ihrem Bett saß: „Du bist da?“

    Anna konnte sich nicht mehr an die vergangenen Minuten erinnern, als sie den Schockraum, in dem Ben behandelt wurde, betreten hatte. Sie wusste nur noch, ihre Beine hatten nachgegeben und sie war zusammengebrochen. Bens entsetzter Aufschrei hallte in ihrem Kopf nach. Das nächste was sie bewusst wahrnahm, als sie wieder zu sich kam, war der Druck der Blutdruckmanschette an ihrem Oberarm und die Stimmen von Menschen. Anna öffnete die Augen und sah durch ihren verschleierten Blick in das Gesicht eines jungen Arztes, der sie mit einem wahren Sonnenscheingrinsen anschaute.


    „Wie fühlen Sie sich, Frau Dr. Becker? … Sie haben den Kollegen einen schönen Schrecken eingejagt!“


    Oh Gott, dachte Anna bei sich, warum grinst mich dieser Kerl nur so dämlich an. Ihr Blick wanderte im Raum umher und sie stellte fest, dass sie langgestreckt auf einer Liege in einem der Behandlungsräume in der Notfall-Ambulanz lag. In ihrem rechten Arm steckte eine Kanüle, über ihr hängte an einem Ständer eine Infusionsflasche und langsam tropfte über einen Kunststoffschlauch Flüssigkeit in ihren Körper. Unwillig brummte sie vor sich hin und versuchte sich aufzurichten. Mit Gewalt wurde sie von einer weiteren Person, Schwester Inge, auf die Liege zurückgedrückt.


    „Was soll das?“, protestierte Anna und wollte sich glatt die Infusionsnadel aus dem Arm ziehen. „Mir geht es gut. Ich leide höchstens unter ein wenig Schlafentzug!“ und startete den nächsten Versuch sich in die Höhe zu stemmen. Ihr Kollege, der sich redlich bemühte eine Diagnose zu stellen, sollte sie mit seinen dämlichen Fragen einfach in Ruhe lassen. Sie wollte einfach nur zu Ben und sich vergewissern, dass es ihm gut geht und er die Strapazen der Flucht ohne Schäden überstanden hatte, konnte das dieser Typ nicht verstehen. Statt der gewünschten Antworten über ihr Befinden, brummte Anna in Richtung des Arztes: „Ich will in kein Krankenbett. … Ich will zu Ben!“


    Ihre Stimme hörte sich an, wie die eines quengelnden Mädchens, das seinen Dickkopf durchsetzen will. Das Sonnenscheingrinsen verschwand langsam aus dem Gesicht des Arztes und er runzelte verärgert die Stirn, als er Anna zum dritten Mal auf die Behandlungsliege zurückdrückte und auf eine Beantwortung seiner Fragen wartete.


    Dann wurde der Arzt zur Seite geschoben und Inge erschien in Annas Blickfeld. Sie stützte sich mit ihren Handflächen seitlich an der Behandlungsliege ab und ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Ohne dass die Krankenschwester es aussprach, konnte Anna es darin ablesen: Du-hast-sie-wohl-nicht-mehr alle!
    Entsprechend energisch brummte ihre ehemalige Kollegin sie an: „Verdammt noch mal, Anna! … In deiner Verfassung bist du für niemand eine Hilfe! Im Gegenteil! … Das solltest doch du selbst am besten wissen!“ Für einen Moment herrschte Stille im Raum und die Krankenschwester fuhr fort: „Wenn du schon keine Rücksicht auf dich und deinen Körper nimmst, dann sei so vernünftig und denke an dein Baby!“


    Diese Worte wirkten wie ein Keulenschlag auf Anna. Ihre linke Hand fuhr intuitiv zu der leichten Wölbung ihres Unterbauches. Vor lauter Sorge um Ben und Semir hatte sie den kleinen Menschen, welcher in ihr heranwuchs, völlig vergessen. Schlagartig fiel die Anspannung ein wenig von ihr ab und sie begriff, was mit ihr geschehen war. In den letzten Stunden nach der Flucht aus der Villa, während sie die Verletzten mitversorgt hatte, hatte sie einfach nur noch funktioniert. Doch mittlerweile waren alle ihre Kraftreserven aufgebraucht. Sie fühlte sich nur noch müde … unendlich müde. Ihr Körper und ihr Geist glichen einer leeren und ausgebrannten Hülle, die dringend Ruhe brauchte um wieder Kraft schöpfen zu können.
    Ohne Widerspruch ließ sie die weitere Erstversorgung durch ihren Kollegen und der Krankenschwester über sich ergehen, um nur wenige Minuten später auf die gynäkologische Abteilung verlegt zu werden.


    Anna lag auf der Patientenliege im Untersuchungszimmer der gynäkologischen Abteilung. Neben ihr auf dem Rollhocker saß die Oberärztin Carina Weber, die sie aus übermüdeten Augen anblickte. Dr. Weber hatte eine lange Nacht mit einem Notkaiserschnitt und einer weiteren schwierigen Entbindung auf natürlichem Wege hinter sich. Das schulterlange Haar der Mitvierzigerin war kirschrot gefärbt und zu einem Dutt zusammengebunden. Anna konnte aus ihrer liegenden Position erkennen, dass der Haaransatz von grauen Haarsträhnen durchsetzt war. Der Schwangeren war bei der Tastuntersuchung ihrer Kollegin nicht entgangen, wie diese sie nachdenklich musterte. Unruhig rutschte sie auf der Behandlungsliege herum, während Dr. Weber das Ultraschallgerät heranzog und für seinen Einsatz bereitmachte. Annas Pulsschlag beschleunigte sich, warum sagte die Gynäkologin nichts. Die Anspannung nagte an ihrem angekratzten Nervenkostüm und in einem entsprechenden Tonfall fauchte sie die Frauenärztin an:
    „Was ist los? … Ich sehe es ihnen doch an! …. Irgendetwas stimmt nicht mit meinem Kind!“


    Anna hatte auch schon längst bei ihren eigenen Tastuntersuchungen bemerkt, dass das Wachstum ihrer Gebärmutter nicht mit dem möglichen Termin des Beginns der Schwangerschaft zusammenpasste. Während der vergangenen Tage zwischen Bens Verschwinden und ihrer Gefangenschaft hatte sie jeden Gedanken daran, dass etwas mit dem Ungeborenen sein könnte, verdrängt. Dr. Weber schob Annas Shirt nach oben und den Bund der Jogginghose nach unten.

    „Vorsicht kalt!“, kam es und schon verteilte sie das Gleitgel auf dem Unterbauch und fügte erklärend hinzu: „Ihre Angabe zur letzten Periode stimmen nicht mit dem Wachstum der Gebärmutter überein!“ Sie blickte ihrer Patientin aufmunternd in die Augen, ergriff den Schallkopf und setzte ihn auf der Haut an. „Sie sind selbst Ärztin und sollten wissen, das kann alles oder nichts bedeuten. Deshalb schauen wir uns mal den kleinen Racker da drinnen an!“


    Der Bildschirm des Ultraschallgeräts war so ausgerichtet, dass die Gynäkologin eine gute Sicht darauf hatte. Fachmännisch begann sie den Kopf des Ultraschallgerätes hin und her zu bewegen. Anna konnte nur schemenhaft etwas erkennen. Auf dem Bildschirm erschienen wabernde schwarz-weiße Bilder und Anna meinte mehr als einmal die Umrisse eines Babykopfes gesehen zu haben. Die Ärztin drehte den Bildschirm ein wenig in Annas Blickrichtung und fing an zu erklären:

    „Das ist das Köpfchen … das Herz …die Arme…!“

    Und nun erkannte sie es auch. Das Baby veranstaltete gerade eine Turnstunde in der Fruchtblase. Ein wahres Glücksgefühl durchströmte Anna und ihr Pulsschlag beschleunigte sich diesmal vor Freude. Überwältigt von ihren Gefühlen blinzelte sie die Feuchtigkeit in ihren Augenwinkeln weg.


    Als die Frauenärztin vor sich hinmurmelte: „Ohh! … Hmm … Hmm…. Was ist das denn?“, schlug das Glücksgefühl jäh in Angst um. Annas Blick war auf den Monitor fixiert. Sie merkte wie sie sich verspannte und als die Rothaarige mit einem Anflug von einem Lächeln um den Mundwinkel meinte: „Damit hätte ich nicht gerechnet!“, hätte die Schwangere sie in diesem Augenblick am liebsten gekillt. Die Sekunden bis die Frauenärztin den Bildschirm in ihrer Richtung drehte, glichen einer Ewigkeit. Wie gebannt, starrte Anna darauf und erkannte es selbst.


    „Da schlägt ein zweites Herzchen!“ Erneut setzte Dr. Weber den Schallkopf an. „Ts … ts … ts! Da hat jemand aber wirklich was dagegen, dass wir neugierig sind und versteckt sich hinter seinem Geschwisterchen vor uns. Aber soweit ich erkennen kann … geht es auch dem zweiten Baby gut!“

    Carina Weber machte noch einige Ausdrucke und Notizen und beendete die Untersuchung.

    „Herzlichen Glückwunsch, Frau Dr. Becker. Sie und ihr Freund werden Eltern von Zwillingen.“

    Während der junge Assistenzarzt, wie versteinert neben Ben stand und nicht wusste, was er zuerst tun sollte, unterstützte einer der erfahrenen Pflegekräfte Dr. Ahmadi und Schwester Inge, die neben Anna am Boden knieten. Der Arzt prüfte routiniert die Vitalfunktionen der Ohnmächtigen und dabei murmelte:

    „War wohl a‘ bisserl viel für des Maderl!“


    Ben wurde in diesem Moment, als Anna ohnmächtig wurde, von seinen Gefühlen überrollt. Jähes Entsetzen wich Panik und Angst. Das Adrenalin pulsierte nur so in seine Adern hinein. Der Überwachungsmonitor gab ein Alarmsignal nach dem anderen von sich. All das blendete der junge Polizist aus und folgte seinem ersten Impuls. Bevor der junge Assistenzarzt reagieren konnte, hatte er sich unter Aufstöhnen aufgerichtet und seine Beine von der Liege geschwungen. Den frisch gelegten Zugang, der noch nicht verklebt war, riss er sich dabei aus dem Arm und sofort bahnte sich ein Rinnsal aus Blut seinen Weg. Doch dies bemerkte der Dunkelhaarige nicht einmal. Bens Denken wurde nur noch von einer Sache beherrscht: Angst! … Angst um seine Freundin und das ungeborene Kind. Verzweifelt ächzte er:
    „Anna? … Anna, was ist mit ihr? … Sie ist schwanger!“


    Kaum hatten seine Füße den Fußboden berührt, protestierte Bens Kreislauf gegen diese hastige Bewegung und in seiner Wahrnehmung fing der Boden an zu schwanken und vor seinen Augen verschwamm alles.
    Es war Schwester Isolde, die laut dem Oberarzt ja schon fast zum Inventar der Notaufnahme gehörte, die mit ihrem entschlossenen Eingreifen, einen Sturz von Ben verhinderte. Sie fasste ihn beherzt an den Schultern an und drückte ihn energisch auf die Behandlungsliege zurück. Da sie dabei nicht gerade zimperlich vorging, konnte Ben ein schmerzhaftes Aufstöhnen nicht unterdrücken. Trotz seiner Schmerzen versuchte er sich erneut aufzurichten.


    Dr. Ahmadi, dem die Reaktion seines Patienten ebenfalls nicht entgangen war, blaffte ihn vom Boden aus auf: „Kruzzifix noamoi! ….. Reiß di zam, Bursch! … „Willst di Eadöpfen von unt auschaun? … So hilfst deim Maderl net!“


    Die Worte des Arztes bewirkten, dass Ben seine Gegenwehr aufgab und sich endgültig hinlegte. Dabei murmelte er mit von Angst geweiteten Augen vor sich hin: „Anna? … Was ist mit ihr?“


    Von einer Sekunde zur anderen wechselte der Tonfall des Notfallmediziners. Beruhigend sprach er auf seinen Patienten ein, erklärte ihm, was mit der jungen Ärztin seiner Ansicht nach geschehen war und erteilte dem jungen Assistenzarzt und den anwesenden Pflegekräften Anweisungen. Anna begann sich zu regen. Ein leises Seufzen kam aus ihren Mund.


    In Richtung Ben meinte der Wiener Arzt: „Schauen’s! Dr. Becker zeigt schon wieder Lebensgeister. Glaub‘n S‘ mir, es wird alles wieder gut!“


    Als das angeforderte Notfallteam, das sich um Anna kümmern sollte, den Behandlungsraum betrat, wurde auf dem breiten Krankenhausflur ein Pflegebett mit einem intubierten Patienten vorbeigeschoben. Trotz aller Monitore, Infusionen und Personen, die das Bett umgaben, erkannte Ben innerhalb von dem Bruchteil einer Sekunde, dass es sich bei dem offensichtlich schwer verletzten Patienten um Semir handelte. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schock. In seiner Kehle bildete sich ein Kloß, den er einfach nicht runterschlucken konnte. In seinem Kopf begann sich ein Gedankenkarussell zu drehen, … Anna … Semir … verletzt, wegen ihm … seine Gedanken überschlugen sich, ihm wurde übel. Ben bekam überhaupt nicht mehr mit, wie das Überwachungsgerät an dem er angeschlossen war, Alarm schlug, seine Freundin auf die Trage gebettet wurde und in einen weiteren Behandlungsraum geschoben wurde. Vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen und ineinander über zu fließen.

    Anfangs lauschte Ben noch aufmerksam den Worten seiner jungen Kollegin. Jennys Stimme wirkte beruhigend auf ihn und es gelang ihm, sich mehr und mehr zu entspannen. Erschöpft schloss er seine Lider und sein Zeitgefühl verlor sich. Er hatte keinen Plan, wie lange die Fahrt mit dem Rettungswagen durch die Kölner Innenstadt dauerte. Langsam driftete der Dunkelhaarige wieder in die Halbwelt zwischen Schlaf und Erwachen ab.


    Ein Rumpeln und Rütteln an der Trage, auf der er lag, riss Ben förmlich zurück in die Gegenwart. Als erstes vermisste er die warme Hand von Jenny. Ein wenig verwirrt, öffnete er blinzelnd die Augen und versuchte die Benommenheit loszuwerden. Die Beleuchtung des Ganges und die Umrisse von Menschen nahm er nur schemenhaft wahr. Ihre Stimmen drangen wie durch Watte gedämpft zu ihm durch. Ben erkannte die Stimme des Sanitäters, der ihn im Fond des RTWs begleitet hatte. Nach und nach erfasste er den Sinn der Worte. Der Mann von Rettungsdienst berichtete jemanden etwas über seine Verletzungen und seinem gesundheitlichen Zustand. Mit einem Mal kehrten die Erinnerungen zurück. Dank Semirs Hilfe hatten Anna und er zusammen mit Elena aus der Villa fliehen können und ihm wurde schlagartig klar, er befand sich im Krankenhaus. Die Liege, auf der er lag, wurde von den Sanitätern in einen Behandlungsraum geschoben.
    Mit seinen Blicken suchte er nach Anna und Jenny. In seinem Gesichtsfeld erschien ein Mann mit einem dunklen Teint, schwarzen Haaren und korrekt gestutzten Schnurrbart, der sich über ihn beugte.


    „Guten Morgen, Herr Jäger, können sie mich verstehen? … Sie befinden sich in der Uni-Klinik. Ich bin Dr. Ahmadi!“, stellte sich der Arzt vor, dem der suchende Blick und auch der Anflug von Panik seines Patienten nicht entgangen war. Möglichst beruhigend sprach er weiter auf ihn ein. „Keine Sorge, mein Team und ich werden uns um sie kümmern. Sobald sie auf der Behandlungsliege sind, werde ich sie erst einmal gründlich untersuchen. Ihre junge Kollegin, die sie während des Transports begleitet hatte, wartet übrigens draußen vor der Tür.“


    Zustimmend nickte Ben und nahm im Unterbewusstsein den leichten Wiener Akzent in der Sprache des Arztes wahr, der so gar nicht zu dessen Erscheinungsbild passte, ebenso wie die himmelblauen Augen, die ihn tiefgründig und forschend anblickten. Bevor sich Ben versah, war die Krankentrage von mehreren Menschen umringt, die ihn auf die Behandlungsliege hoben. Das Schmerzmittel, welches ihm Anna verabreicht hatte, verlor langsam seine Wirkung und er konnte ein schmerzhaftes Aufstöhnen nicht unterdrücken. Mitfühlend sprach ihn eine Krankenschwester, auf deren Namensschild Isolde stand, an.
    Ben schloss einfach wieder die Augen, während die Schwester und ein Pfleger sich um ihn kümmerten. Seine Kleidung wurde aufgeschnitten, an seinem Körper herum manipuliert und obwohl die beiden Pflegekräfte sich bemühten sanft und behutsam vorzugehen, entwich seinen Lippen ab und an ein jämmerlicher Ton. Sein geschundener Körper revanchierte sich für die Strapazen der Flucht. Jede Bewegung bedeutete einfach nur Schmerz. Unbewusst nahm er die Geräusche um sich herum wahr, die Sanitäter, die dem Notfallmediziner ihre letzten Informationen über die verabreichten Medikamente zukommen ließen, Anweisungen an das medizinische Personal durch den Wiener Arzt, das Surren des Elektromotors, als die Schiebetür zum Schockraum sich automatisch öffnete.


    Der ältere Sanitäter entdeckte Anna an der Zugangstür und meinte: „Dr. Ahmadi, ich denke ihre Kollegin, Frau Dr. Becker, wird ihnen mehr über den Zustand von Herrn Jäger berichten können.“


    Bei diesen Worten öffnete Ben langsam seine Augen und blickte in Richtung der Tür und trotz der Schmerzen huschte ein glückliches Lächeln über sein Gesicht, als er seine Freundin erkannte.


    Anna betrat den Behandlungsraum. Zufrieden registrierte sie, dass Ben bereits auf die Behandlungsliege umgebettet und verkabelt worden war. Mit einem geübten Blick erfasste sie die Vitalparameter ihres Freundes. Ein Assistenzarzt, den sie nicht kannte, bereitete gerade eine Blutabnahme vor. Neben den Sanitäter, die ihren Monitor und sonstige Ausrüstungsgegenstände auf der Transportliege zusammengepackt hatten, um den Behandlungsraum zu verlassen, stand Dr. Ahmadi, den die junge Ärztin wegen seiner fachlichen Fähigkeiten sehr schätzte. Mit müden Schritten schlurfte Anna auf den dunkelhäutigen Arzt zu. Sie ignorierte auch weiterhin die Warnsignale ihres Körpers, das Schwindelgefühl in ihrem Kopf, ihr Herzschlag, der sich beschleunigte und der kalte Schweiß, der aus allen Poren zu strömen schien. Stattdessen fixierte sie einen imaginären Punkt an der Wand hinter dem Notfallmediziner. Routiniert, wie sie es in ihrem Studium gelernt hatte, gab sie ihrem verantwortlichen Kollegen einen Überblick, in welchem Zustand sie Ben in der Villa vorgefunden hatte, ihre gestellten Diagnosen, die vorgenommenen medizinischen Eingriffe, als ihre Stimme auf einmal leiser und leiser wurde. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen und sie merkte nur noch wie ihre Beine nachgaben und sich die Dunkelheit wie ein Schleier über sie herabsenkte.


    Was in der darauffolgenden Minute geschah, ereignete sich fast zeitgleich.


    Inge, die das Unglück vorausgesehen hatte und der widerspenstigen Ärztin gefolgt war konnte den Sturz von Anna gerade noch abfangen. Sanft ließ die Krankenschwester Anna auf den Linoleumboden gleiten.
    „Jessasmarantjosef!“, entfuhr es Dr. Ahmadi voller Überraschung, „Was schaut ihr alles so deppat drein! … Los! …!“ In Richtung der offenen Zugangstür brüllte er: „Wir brauchen hier drinnen noch ein weiteres Notfallteam!“

    Schaukelnd setzte sich der Rettungswagen langsam in Bewegung. Nachdem der RTW die asphaltierte Straße erreichte, stellte Anna überrascht fest, dass die junge Frau am Steuer zwar noch einige praktische Erfahrungen im Rettungsdienst sammeln musste, aber über ihr fahrerisches Können gab es keine Zweifel. Geschickt lenkte sie den Rettungswagen durch die Kölner Innenstadt. Das Martinshorn hallte, das Blaulicht flackerte und die anderen Verkehrsteilnehmer räumten den beiden Rettungswagen vorbildlich Vorfahrt ein. Anna hatte den Begleitsitz runtergeklappt und darauf Platz genommen, von dort konnte sie den zweiten Rettungswagen, in dem Ben transportiert wurde, beobachten.


    Beruhigend redete sie auf ihren Patienten ein. Geschickt lenkte sie das Gespräch auf Andrea und die Kinder, den zukünftigen Hauskauf und versprach unter anderem dem Türken, seine Frau zu informieren.


    Unmittelbar vor der Severinsbrücke ächzte Semir: „Oh Gott Anna! … mir wird auf einmal so komisch!“


    Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, verdrehte er die Augen nach oben und fing an zu krampfen. Seine Muskeln versteiften sich und seine Arme und Beine fingen an unkontrolliert zu zucken. Speichel lief ihn aus den Mundwinkeln. Anna schnallte sich ab und schnellte in die Höhe. Die Ärztin in ihr übernahm ihr Handeln.


    „Verdammt, der Anfall löst sich nicht. Schnell! … 10 mg Diazepam!“, befahl sie dem anwesenden Sanitäter. In Richtung der Fahrerin rief sie: „Anhalten! … Wir gehen auf Nummer sicher und intubieren!“


    Anna nannte Matze Spiegel eine Reihe von Medikamenten. Die beiden arbeiteten Hand in Hand und erst als sie ihren Patienten stabilisiert hatten, setzte der RTW seine Fahrt zur Uni-Klinik fort. Über die Leitstelle wurde die Notaufnahme der Uni-Klinik über den kritischen Zustand des Patienten informiert. An der Zufahrtsrampe wurde der RTW bereits von Dr. Uwe Meuschel und seinem Team der Notaufnahme erwartet. Auf dem Weg zum Schockraum informierte Anna ihren Kollegen über die aufgetretenen Komplikationen, die Medikamente, die während des Transports verabreicht geworden sind und ihre Diagnose Giftgasintoxikation und ein beginnendes Lungenödem.


    Als sich die Schiebetür des Schockraumes, in dem Semir behandelt wurde, hinter ihr schloss, fiel ein wenig die Anspannung von der dunkelhaarigen Ärztin ab. Anna wusste, dass Semir beim Oberarzt, ihren Kollegen und Kolleginnen in den besten Händen war. Mit ihrem Rücken lehnte sie sich gegen die kalte Metalltür und atmete mehrmals tief durch. Erschöpft strich sie sich mit ihrer Hand über das Gesicht und rieb sich mit den Fingerkuppen über ihre brennenden Augen. Ihre nächste Sorge galt Ben. Wie hatte er den Transport überstanden?


    „Anna!“, rief eine Frauenstimme erfreut ihren Namen, „Ich konnte es gar nicht glauben, als es vorhin hieß, man hat euch gefunden….!“


    Der Redeschwall verstummte abrupt und Anna öffnete die Augen und blickte in die besorgte Miene von Inge, eine Krankenschwester in ihrem Alter. „Du siehst aus, wie eine wandelnde Leiche!“, stellte diese mit einem trockenen Kommentar fest. Sie umfasste die Oberarme der Ärztin. „Komme mit, trinke erst einmal ein Glas Wasser und setze dich einen Moment hin, bevor du mir auf dem Gang noch umkippst!“


    „Geht schon wieder! Das war eine lange Nacht und mir fehlt nur ein bisschen Schlaf!“, wiegelte die Ärztin ab.


    Sie streifte die Hände ihrer ehemaligen Kollegin ab und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. Obwohl ihr noch ein wenig schwindlig war, löste sie sich von der stützenden Tür und setzte sich in Richtung Behandlungsraum Nummer zwei in Bewegung.

    „Ben liegt da drinnen. Der braucht mich!“, erklärte die Ärztin eigensinnig und stapfte unsicher auf die geschlossene Tür zu.
    „Mensch Anna! Nimm doch Vernunft an! … In dem Zustand bist du für niemanden eine Hilfe!“ Inge folgte der Dunkelhaarigen und brummte vor sich hin: „Noch genauso dickköpfig wie früher als Krankenschwester!“


    ****
    Einige Minuten vorher ….
    Der andere Rettungswagen, in dem Ben transportiert worden war, hatte seine Fahrt während der Notfallbehandlung von Semir nicht unterbrochen, sondern war weiter in Richtung Uni Klinik gefahren.
    Die beiden Sanitäter schoben den dunkelhaarigen Polizisten auf der Rollliege an der Anmeldung vorbei in Richtung des vorbereiteten Behandlungsraumes. Dort erwartete den Patienten ein Notfallteam, welches von Doktor Raza Ahmadi geleitet wurde. Der Arzt, dessen Eltern zu Beginn der neunziger Jahre wegen ihres christlichen Glaubens in Pakistan verfolgt worden waren, war damals als Kleinkind mit seinen Geschwistern und Eltern nach Europa geflüchtet. In Wien hatte die Familie eine neue Heimat gefunden. Raza war dort zur Schule gegangen und hatte an der dortigen Universität Medizin studiert. Seit fünf Jahren wohnte und arbeitete er mittlerweile der Liebe wegen in Köln. Jedoch war der Wiener Dialekt in seiner Sprache erhalten geblieben und seine Original Wiener Sprüche sorgten des Öfteren in der Notaufnahme für Heiterkeitsausbrüche.


    Dr. Raza Ahmadi kannte Anna Becker persönlich, die während ihres Studiums einige Wochen in der Notaufnahme mit ihm zusammen gearbeitet hatte. Ihr Schicksal hatte ihn tief betroffen gemacht. Darüber hinaus war die Entführung der jungen Ärztin, das Verschwinden ihres Freundes und der Diebstahl der Notfallausrüstung mit den entsprechenden polizeilichen Ermittlungen tagelang Gesprächsthema Nummer eins nicht nur unter dem Personal der Notaufnahme gewesen.


    Gewissenhaft hatte der dunkelhäutige Arzt zusammen mit einer jungen Kollegin während der Wartezeit auf die Ankunft des ersten RTWs den Angaben seines Oberarztes über seinen zukünftigen Patienten gelauscht und nun folgte er dem Rettungsteam in den Schockraum zwei. Dr. Meuschel eilte unterdessen mit seinem Team zur Rampe, nachdem er über die Leitstelle über die Komplikationen auf dem Transport informiert wurde.

    Im zweiten RTW am Buchheimer Ring


    Als Ben das nächste Mal erwachte und seine Sinne ihre Arbeit aufnahmen, hatte sich alles verändert. Zuerst nahm er ein gleichmäßiges Piepen war, das er nach einer Weile als seinen Herzschlag identifizierte. Er lauschte in seinen Körper hinein und stellte überrascht fest, dass ihn keine Schmerzen quälten. Scheinbar hatte er einige Zeit geschlafen. Zumindest hatte er den Eindruck sich ein bisschen erholt zu haben.
    Ihm wurde bewusst, er lag nicht mehr auf dem Waldboden. Krankenhaus, war der nächste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss. Ein Krankenhausbett? Nein, das fühlte sich komplett anders an. Seine Finger gingen auf Wanderschaft und ertasteten den Untergrund. Er lag auf der Krankentrage eines Rettungswagens, war seine Schlussfolgerung. Zu dem gleichmäßigen Piepen gesellten sich weitere Geräusche. Das Sirenengeheul eines Einsatzfahrzeuges, das sich entfernte, ein heiseres Husten und eine männliche Stimme, die einen beruhigenden Tonfall hatte. Ben riss seine Augen auf und ließ seinen Blick umherschweifen. Tatsächlich er befand sich in einem Rettungswagen, dessen Hecktüren weit geöffnet waren. Er blickte an sich herunter. Sein gebrochenes Bein war fachmännisch geschient worden. In seinem rechten Arm steckte ein Zugang, über dessen Nadel gleichmäßig eine Infusionsflüssigkeit in seine Adern floss. Auf seinem Zeigefinger steckte ein Oximeter.


    Sein Blick wanderte nach draußen. Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt. Der Himmel leuchtete in allen Rottönen. Am Horizont kündigte die aufgehende Sonne, die einem glühenden Feuerball glich, den neuen Tag an. Ihre ersten Strahlen erhellten die Umgebung. Der Platz oder sollte er besser sagen die Straße mit der angrenzenden Wiese, waren überfüllt mit Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr, des Technischen Hilfswerkes, des Rettungsdienstes und seinen Kollegen von der Polizei. Die Blaulichter flackerten und spiegelten sich am Waldrand wieder. Es wimmelte von Einsatzkräften. Er richtete seinen Oberkörper etwas auf und suchte mit seinen Blicken nach Anna. Wo war sie nur abgeblieben? Er konnte sie nicht sehen und spürte auch nicht ihre Nähe. Mit einem Schlag überflutete ihn die Angst, seiner Freundin könnte etwas geschehen sein, sein Denken und seine Atmung wurde hektischer, sein Herzschlag beschleunigte sich. In seinen Fingern und Händen fing es an zu kribbeln. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Panik kam in ihm auf. Sein Blick verschwamm, die ganze Welt um ihn herum verschwamm und tauchte ein in diesen Strudel der Angst. Der Gedanke, Anna zu finden, übernahm sein komplettes Denken. Ben versuchte sich aufzurichten und die Infusion aus dem Arm zu reißen. Ein paar energische Hände umschlangen seine Schultern und drückten ihn zurück auf die Liege. „Herr Jäger! Beruhigen Sie sich! Sie sind in Sicherheit!“, sprach ihn eine männliche Stimme in einem beruhigenden Tonfall an. „Schauen sie mich an. Sie atmen zu schnell. Langsamer!“ Der Schatten, der sich über ihn gebeugt hatte, bekam langsam eine Kontur und er blickte in die blauen Augen eines Rettungssanitäters. „Sehr gut!“, meinte dieser, als er erkannte, dass sich Bens Blick klärte und seine hektische Atmung beruhigte. Der junge Mann, dessen schulterlange Haare zu einem Zopf zusammengebunden waren, musterte seinen Patienten durch seine schwarze Hornbrille.


    „Wie fühlen Sie sich Herr Jäger? Haben Sie noch Schmerzen?“ – „Alles gut!“ - „Wir klären momentan über die Leitstelle ab, in welches Krankenhaus wir sie einliefern sollen. In dieser Ecke von Köln sind heute Nacht alle Notaufnahmen überlastet.“


    „Wo ist Anna? - Ich gehe in kein Krankenhaus, solange ich nicht weiß, was mit meiner Freundin ist und wo sie ist!“, protestierte Ben und versuchte sich erneut gegen den Widerstand des Rettungssanitäters aufzurichten. Dieser rollte genervt seine Augen.


    „Okay, okay … Da draußen sitzt eine Polizistin. Vielleicht weiß ihre Kollegin ja, wo ihre Anna ist.“, lenkte der Sanitäter ein wenig ein. „Sie bleiben liegen und ich hole die junge Frau her! Verstanden!“


    Wenige Minuten später erschien Jenny in Bens Sichtfeld. Sie klopfte sich mit den Händen den Staub aus ihrer Kleidung und kletterte über die seitliche Schiebetür in den RTW.
    „Hey!“, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln im Gesicht, „kaum bist du wach und schon machst du Stress Großer!“ Sie klappte den Begleitsitz neben der Liege runter, setzte sich und umschlang die Linke ihres Kollegen. „Du siehst eindeutig besser aus, als noch vor einer Stunde.“
    „Hey!“, gab er mit dem Gefühl der Erleichterung zurück, weil er einen vertrauten Menschen neben sich wusste. „Weißt du wo Anna und Semir sind?“
    „Anna geht es gut. Scheinbar herrscht in diesem Teil vom Großraum Köln wegen mehrerer Großeinsätze ein akuter Mangel an Notärzten. Deine Freundin hilft die Verletzten zu versorgen. Ärztin aus Leidenschaft, sage ich da nur, also kein Grund zur Sorge!“


    Er sah den Schatten der über Jennys Gesicht huschte und wie sie krampfhaft versuchte Ruhe auszustrahlen.


    „Und Semir? Wo ist Semir? Ist ihm was passiert.“, bohrte er weiter nach. Ben konnte förmlich spüren, dass seine junge Kollegin ihm etwas verschwieg. Das Piepsen des Monitors wurde hektischer. Jenny seufzte resignierend auf und nuschelte: „Anna versorgt momentan Semir im RTW nebenan.“
    Entsetzt fuhr Ben in die Höhe, schrie vor Schmerz auf und griff sich an seine linke Seite. Sowohl Jenny, als auch der Sanitäter drückten den Verletzten zurück auf die Liege. Es dauerte einen Moment, bis der Dunkelhaarige sich und den Schmerz wieder unter Kontrolle hatte.
    „Wurde er angeschossen?“, presste er undeutlich hervor. „Ist er schwer verletzt?“
    „Oh, verdammt Ben! Beruhige dich doch!“, herrschte ihn Jenny an. „Nein, Semir wurde nicht angeschossen. Er hat nur bei der Explosion des Hauses etwas viel Rauch eingeatmet und hustet nun wie ein Weltmeister. … Nichts Schlimmes!“


    Langsam entspannte sich der verletzte Polizist. Allmählich sickerte in sein Bewusstsein ein, dass Anna und er, die Menschen, die ihm wichtig waren, in Sicherheit waren. Er atmete mehrmals tief durch.
    „Bitte, erzähle mir was in der letzten Stunde passiert war. Seit ich im Park umgekippt bin, kann ich mich nur noch an Bruchstücke erinnern.“


    Jenny nahm kurz Blickkontakt mit dem Sanitäter, Andi Bauer, auf, der am Heck des Wagens stand und zustimmend nickte. Der Sanitäter verschloss die Hecktüren des RTWs und meinte in Richtung von der jungen Polizistin, „Wir fahren gleich los zur Uniklinik. Wenn sie möchten, können Sie mit mir im hinteren Bereich Herrn Jäger begleiten.“


    Die Abfahrt zog sich noch einige Minuten hin. Peinlichst drauf bedacht, ihren verletzten Kollegen nicht wieder aufzuregen, berichtete Jenny ihm von der Rettungsaktion der Chefin und der Explosion der Villa.

    Binnen weniger Sekunden hatte Anna den Schock beim Anblick des Türken verdaut, begann professionell ihren Patienten zu untersuchen und erteilte dem Sanitäter und der Rettungsassistentin Anweisungen.
    Zwischendrin erklärte sie ihrem Freund, dass Ben im nächsten Rettungswagen lag, sein Zustand soweit stabil sei und er so schnell wie möglich in eine Klinik transportiert werden würde. Daraufhin richtete sich Semir auf und griff nach den Elektroden, um diese von der Brust zu lösen.


    „Das trifft sich doch gut, dann kann ich ihm einen Besuch abstatten!“, murmelte er unter der Sauerstoffmaske.
    „Vergiss es Semir! Du bleibst mal schön liegen und machst zusammen mit Ben einen Ausflug ins Krankenhaus.“ Energisch drückte die Ärztin ihn an den Schultern zurück auf die Liege.
    „Krankenhaus? …. Spinnst du jetzt Anna? … Wegen so ein bisschen Rauch, lege ich mich doch nicht in ein Krankenhausbett. …. Andrea und die Kinder warten auf mich …. Ich will in die Türkei fliegen …!“ Seine Rede wurde immer wieder von Hustenattacken unterbrochen und er litt unter Atemnot.
    „Männer! Seid ihr denn alle gleich? Du hustest wie ein Weltmeister, deine Lunge pfeift aus dem letzten Loch, dass es einen Angst werden kann. An den Armen und im Gesicht hast du leichte Verbrennungen erlitten, deine Rippen haben was abgekriegt!“ Dabei tastete sie seinen rechten Rippenbogen ab und der Türke konnte ein schmerzvolles Aufstöhnen nicht mehr unterdrücken. „Das muss geröntgt werden … die Wunden versorgt werden! Kapiert?“, blaffte sie ihn an und erreichtet damit die gewünschte Wirkung. Der Türke gab seinen Widerstand auf.


    Anna wollte ihren Patienten nicht beunruhigen, der auch eindeutig unter einem Schock stand. Sie verschwieg ihm, dass seine Fingerkuppen eine bläuliche Verfärbung angenommen hatten, er leichte Verbrennungen und Rußablagerungen in den Nasenlöchern hatte. Alles Anzeichen, die Anna auf das Äußerste beunruhigten. Sie gab dem Sanitäter die Anweisung ihr Hydroxycobalamin aufzuziehen und verabreichte es ihrem Patienten. Zurück blieb die bittere Erkenntnis, mehr konnte sie im Moment nicht für Semir tun.


    „Sorgen Sie dafür, dass er liegen bleibt, ich bin gleich wieder da.“, wies sie Matze Keller an.


    Über die Seitentür verließ sie den RTW und wandte sich der Rettungsassistentin zu. „Wie sieht es aus Frau Richter? Hat die Leitstelle ein Bett auf einer Intensivstation für uns frei?“ Die junge Frau schüttelte resignierend den Kopf. „Die Notaufnahmen und Intensivstationen im näheren Umkreis haben alle einen Aufnahmestopp wegen Überlastung.“


    „Geben Sie mir ihr Handy!“, forderte Anna energisch die Rettungsassistentin auf. „Dann helfen wir uns eben selbst!“


    Die Telefonnummer des Bereitschaftsarztes in der Notaufnahme der Uni-Klinik Köln kannte sie im Schlaf auswendig. Schon nach dem dritten Klingelzeichen ging am anderen Ende der Leitung jemand ran und meldete sich.
    „Dr. Uwe Meuschel, Uni-Klinik Notaufnahme!“
    „Anna Becker hier!“
    „Anna, bist du das wirklich oder eine Halluzination?“
    Innerlich atmete Anna auf, als die Stimme des erfahrenen Oberarztes am Ende der Leitung vernahm.
    „Uwe, ja ich bin es wirklich. Nur bin ich nicht gerade zum Scherzen aufgelegt! … Ich erzähle dir alles später. Hör mir gut zu!“ Sie blickte über die Schulter ins Innere des RTWs nach ihrem Patienten, der ruhig da lag und entfernte sich einige Meter vom Rettungswagen. „Ich habe hier einen Patienten mit Rauchgasinhalation mit dem begründeten Verdacht, dass auch Giftgase eingeatmet wurden, dazu Verbrennungen ersten Grades im Gesicht und an den Armen.“
    Nacheinander rasselte die junge Ärztin ihre Untersuchungsergebnisse telefonisch runter, nannte die verabreichten Medikamente und kündigte ebenso die Einlieferung von Ben an.
    Ernst und konzentriert lauschte Uwe Meuschel am anderen Ende der Leitung den Angaben seiner Kollegin und machte sich Notizen. Der Oberarzt gab Anna noch einige Ratschläge zur Behandlung ihres Patienten mit der Rauchgasvergiftung, falls es zu Komplikationen während des Transports in die Klinik kommen sollte und verabschiedete sich mit den Worten: „Keine Sorge, wenn ihr in einer halben Stunde hier ankommt, ist ein Intensivbett frei und die Behandlungsräume in der Notaufnahme sind für die beiden Patienten vorbereitet.“


    Ohne große Worte wurde das Gespräch beendet und Anna drückte Maritta Weber ihr Handy in die Hand.
    „Danke! Informieren Sie bitte über Funk die Leitstelle, dass wir die Uni-Klinik anfahren und dann nichts wie los.“

    Zurück im Park bei Ben und Anna …
    Äste brachen, das Stampfen, wenn Menschen über den Boden rennen, ein hektisches Stimmengewirr brach aus und rissen ihn zurück in die Realität. Eine dunkle Bassstimme hob sich hervor und meinte ein wenig außer Atem: „Dr. Dietrich, Notarzt. Wir waren auf dem Weg zu einem Großbrand, als wir von der Leitstelle hierher umgeleitet wurden….Verdammt, was ist denn heute Nacht nur los? ... Ist inmitten von Köln der dritte Weltkrieg ausgebrochen?“


    Ben wurde zum stillen Zuhörer, wie die angekommenen Rettungskräfte zusammen mit Anna und dem Notarzt mit vereinten Kräften alles taten, um Elena das Leben zu retten. Der verletzte Polizist konnte nicht abschätzen, wieviel Zeit verstrichen war, bis ein leises gleichmäßiges Piep … piep … piep erklang.


    „Wir müssen los!“, brummte die Bassstimme, „Kommen sie klar Frau Kollegin? Den Ulmer Koffer aus dem RTW kann ich ihnen für die Erstversorgung der anderen Patienten da lassen. Ich werde dafür Sorge tragen, dass Sie so schnell wie möglich Unterstützung bekommen!“, verabschiedete sich Dr. Dietrich. „Los geht’s Jungs. Jede Minute zählt!“ Dann rückte das Rettungsteam mit Elena ab.


    Die Wärme einer Hand strich ihm sanft über seine Wange. „Ben … Ben! … Schau mich an!“, forderte Anna ihn auf, die Augen zu öffnen. Sie kniete neben ihm. Er fühlte etwas Kaltes an seinem linken Arm dem ein kleiner Einstich folgte.

    „Ben! … Ich lege dir einen Zugang und dir anschließend zuerst etwas gegen die Schmerzen! … Hörst du mich!“
    Der Verletzte nickte und merkte, wie sich eine wohlige Wärme in ihm ausbreitete und der Schmerz langsam schwand.

    „Gleich geht es dir besser!“

    Er beobachtete sie einfach stumm, wie sie den Zugang fertig verklebte und einen Infusionsschlauch daran anschloss. Jenny hatte seinen Körper auf Annas Anweisung hin, in eine Rettungsfolie gehüllt. Danach bettete sie seinen Kopf auf ihren Schoss und hielt einen Infusionsbeutel in die Höhe. Anna umschlang seine rechte Hand und strich ihm über die Stirn.

    „Scht! … Nicht sprechen! …Spar dir deine Kräfte! Gleich kommt ein weiterer RTW und bringt dich ins Krankenhaus!“

    Über ihr Gesicht huschte ein glückliches Lächeln.
    „Nicht ohne dich, mein Schatz!“, hauchte Ben. - „Ich bleib bei dir! Keine Angst!“ – „Das ist gut … das ist gut!“, murmelte er vor sich hin und schloss erschöpft die Augen. Er gab sich der Wirkung des Schmerzmittels hin, das ihn einlullte und langsam schwanden ihm die Sinne. Wie aus weiter Ferne drang eine aufgeregte Männerstimme zu ihm durch.


    „Frau Dr. Becker … schnell … wir brauchen Sie! Dort hinten gibt es einen schwer Verletzten und zwei meiner Kollegen, die ebenfalls ärztliche Hilfe benötigen.“


    ****
    Nach und nach trafen weitere Rettungskräfte, Feuerwehr und Polizeikräfte am Buchheimer Ring ein. Die Verletzten wurden geborgen und zur Erstversorgung durch medizinisches Personal auf eine Wiese am Waldrand gebracht. Dort hatte eine Einheit der alarmierten Sanitätsbereitschaft Zelte für die Erstversorgung aufgebaut. Das Flammenmeer breitete sich über den Waldboden des Parks aus und zwang den Einsatzkräften der Feuerwehr das Äußerste ab.


    Semir erlangte das Bewusstsein wieder, während ihn Marius Peucker, auf seinen Schultern tragend, durch die kleine Zufahrtsstraße im Wald zurück auf den Buchheimer Ring brachte. Vorsichtig ließ der SEK Beamte den Türken zurück auf den Boden gleiten.


    „Können Sie alleine stehen?“, erkundigte er sich fürsorglich.
    Leicht benommen wollte Semir nicken, als ihn ein heftiger Hustenanfall überfiel und den Atem raubte. In seinem Kopf hämmerte es und ihm war schwindlig. Die rechte Hand in die Uniform des SEK Einsatzleiters geklammert, versuchte er sein Gleichgewicht zu finden. Seine Beine waren weich wie Pudding.
    „Ich sehe schon, das wird nichts!“, meinte Marius und ergriff Semirs rechte Hand, legte sie um seine Schulter und umfasste mit der anderen die Flanke des Autobahnpolizisten, was diesem ein Aufstöhnen entlockte.
    Semir krächzte ein heißeres „Danke!“, als sie den düsteren Waldweg hinter sich gelassen hatten.

    Die Einsatzfahrzeuge der SEK Beamten und der Autobahnpolizei waren zwischenzeitlich entfernt worden, um der Feuerwehr eine Zufahrt zum Grundstück von Gabriela Kilic zu ermöglichen. Am Rande des Waldes hielt Marius Peucker einen Moment an und sondierte mit seinen Blicken die Lage. Auf dem ersten Blick herrschte auf den angrenzenden Wiesen und der Hauptstraße das Chaos. Die flackernden Blaulichter der Einsatzfahrzeuge verliehen dem Ganzen eine gespenstische Szenerie. Zwischendrin rannten Menschen aufgeregt umher. Links von ihm parkten am Straßenrand drei Rettungswagen und ein Notarztwagen. Direkt daneben hatte eine Sanitätseinheit ein großes Zelt zur Erstversorgung der Verletzten aufgebaut. Eine Batterie von Scheinwerfern flammte auf und leuchtete den Platz fast taghell aus.

    „Ich schlage vor, wir gehen erst einmal zu den Sanis rüber!“, meinte er über die Schulter blickend zu seinen Männern, die ja ebenfalls einige Blessuren davongetragen hatten.


    Auf halber Strecke kam ihm einer der Sanitäter entgegen. Der Typ war nicht viel größer als der Autobahnpolizist, jedoch genauso lang wie breit. Bei jedem seiner Schritte wabbelte der ausladende Bauch des Mannes unter seinem leuchtend weißen T-Shirt. In einer Hand trug er eine Taschenlampe und mit der ruderte er in der Luft herum, als würde er sie benötigen, um auf dem unebenen Untergrund sein Gleichgewicht zu halten. Im Lichtkegel der Taschenlampe musterte er mit einem kritischen Blick durch seine randlose Brille die angekommene Gruppe Männer. Die SEK Beamten schickte er zum Versorgungszelt weiter. Der Mittvierziger wurde bei der Untersuchung von Semir immer ernster. Er stellte ihm verschiedene Fragen wie zu seinen Personalien und wie er zu seinen Verletzungen gekommen war, die der Türke unter heftigen Hustenattacken, krächzend und zeitlich etwas verzögert beantwortete. Dann drehte sich der Sanitäter um und brüllte in Richtung des ersten Rettungswagens:

    „Matze, das ist was für euch. Ich schick dir auch sofort einen Arzt.“ Anschließend wandte er sich wieder Marius Peucker und dem Verletzten zu. „Bringen Sie Herrn Gerkhan rüber zum RTW. Der Arzt kommt sofort!“


    Der angesprochene Sanitäter warf seine Zigarette, an der er gerade zweimal gezogen hatte, ins Gras und trat die Kippe aus. Während er auf Marius und Semir zuging, rief er seiner Kollegin zu: „Maritta, kannst die Ausrüstung gleich im Wagen lassen. Wir haben schon einen Patienten, den wir im RTW versorgen.“


    Bevor Semir sich versah, lag er auf der Trage im Rettungswagen. Die Rettungsassistentin hatte seinen Oberkörper entblößt und darauf Elektroden geklebt. Über eine Maske bekam er Sauerstoff verabreicht. Gefühlvoll wusch man ihm die Augen aus, als der Wagen kurz schaukelte und eine weitere Person ihn über die seitliche Schiebetür betrat. „Dr. Becker, was haben wir?" Vor Überraschung verstummte Anna eine Sekunde. "Semir?“

    In der Nähe des Carports
    Langsam erhoben sich die Männer des SEK Kommandos vom Boden und torkelten mehr als das sie liefen aus der Deckung des Carports hervor. Wild vor sich hin hustend, nach Atem ringend, standen die Männer fassungslos da und starrten wie gebannt auf die Stelle, wo bis vor wenigen Minuten einmal eine imposante Villa gestanden war. Die Polizisten rieben sich mit ihren Handflächen und Fingern ihre brennenden Augen.
    Eine riesige Wolke aus Grautönen, die aus einem Gemisch von Qualm und Staub bestand, zeichnete bizarre Muster in den Nachthimmel. Die Stichflammen, die aus dem Schutthaufen wie Fontänen in die Höhe züngelten, verstärkten noch diesen Effekt, in dem sie mit unterschiedlichen Rot- und Gelbtönen ein wenig Farbe ins Spiel brachten.


    Einige der Sträucher und eine der Tannen, die nahe an der Terrasse gestanden hatten, hatten ebenfalls Feuer gefangen. Gleich einer lodernden Fackel leuchtete die Tanne das umliegende Gelände gespenstisch aus. Ein leichter Wind fachte den Funkenflug noch an und die Flammen sprangen auf das nächste Nadelgehölz über. Eine weitere heftige Explosion erschütterte das zerstörte Gebäude und ein Feuerball stieg aus den Trümmern auf, gefolgt von einer dunklen Rauchsäule. Geistesgegenwärtig warfen sich die SEK-Kräfte auf den Boden, um sich Minuten später wieder zu erheben. In den Ohren der Einsatzkräfte pfiff und rauschte es nur noch.


    „Was zur Hölle war das?“, krächzte der SEK-Einsatzleiter in Richtung seiner Männer. „Räumt das Gelände! Bringt die Verletzten in Sicherheit! … Und haltet euch von dem Trümmerhaufen fern. Weiß der Teufel, wieviel Bomben und Sprengfallen noch darin versteckt sind und hochgehen!“, befahl Marius Peucker seinen Leuten.


    Sein Blick schweifte suchend umher, während er gleichzeitig die Lage sondierte. „Wo ist der Autobahnpolizist?“, fragte er einen seinen Leute, Patrick Nagel, der direkt neben ihm stand. Dieser zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung!“, murmelte dieser und der Rest seiner Worte erstarb in einem Hustenanfall.
    „Marius!“, brüllte ein weiterer Beamte, „dort drüben! Beim Haus … bei dem brennenden Fahrzeug … Richtung Außenmauer! … Da liegt jemand!“


    Marius Peucker zögerte nicht und handelte blitzschnell, ohne an seine eigene Sicherheit zu denken. So schnell es sein körperlicher Zustand erlaubte, rannte er zu dem bewusstlosen Mann vor der Mauer hin, den er im Feuerschein des brennenden Fahrzeugs als den vermissten Türken identifizierte. Die Hitze, die das brennende Fahrzeug und das Haus ausstrahlten, war unbeschreiblich. Der beißende Qualm brannte in den Lungen des SEK Einsatzleiters. Entschlossen kniete er hinter dem Bewusstlosen nieder, griff unter dessen Achseln hindurch dessen linken Unterarm und zog ihn so schnell es ging aus dem Gefahrenbereich. Patrick Nagel kam ihm entgegen und half ihm beim Tragen des bewusstlosen Kommissars. Die restlichen drei Männer des SEK Kommandos hatten gewartet. Humpelnd und fluchend, laut vor sich hin hustend, traten die Einsatzkräfte über die Zufahrt gemeinsam den Rückzug vor den Urgewalten des Feuers an, das sich mehr und mehr über das dürre Gras am Boden ausbreitete und weitere Büsche und Bäume in Brand setzte.
    Auf der anderen Seite der zerstörten Villa war die Lage nicht viel besser.


    Kim Krüger und Linus Walther erhoben sich langsam vom Waldboden und klopften den Staub aus ihrer Kleidung. Die Staubwolke lichtete sich langsam. Der Regen aus Gesteinsbrocken und umherfliegenden Trümmerteilen hörte auf. Dank des Schutzes des SEK Beamten war Kim bis auf einige Kratzer im Gesicht gut wie unverletzt geblieben. Einige blaue Flecken und Prellungen würden Linus Walther in den nächsten Tagen an den selbstlosen Einsatz erinnern. Den beiden bot sich der gleiche Anblick, wie Marius Peucker und seinen Männern.


    Die imposante Villa war verschwunden, zurückgeblieben war ein Bild der Zerstörung. Im Schein des Feuers zeichneten sich die Umrisse von menschlichen Gestalten ab, die sich stöhnend vor Schmerz im Gras bewegten. Einer der beiden SEK Beamten war von einem herabgestürzten Ast, der durch die Wucht der Explosion vom Baumstamm abgebrochen war, eingeklemmt worden. Sein Kamerad lag nur einige Meter entfernt und versuchte sich unter Ächzen und Stöhnen langsam aufzurichten. Auch ihn hatten herabstürzende Trümmerteile, trotz der Schutzkleidung verletzt. Seine Linke presste er auf eine stark blutende Wunde am rechten Oberarm, während er langsam auf Kim und ihren Beschützer zu humpelte. Am schlimmsten hatte es jedoch den Söldner Camil Musicz erwischt. Aus seinem Rücken ragte ein zersplittertes Holzstück, das vorher zum Gebälk der Villa gehört hatte. Als Kim Krüger bedächtig in Richtung des Söldners schritt, wurde ihr bewusst, wäre ihr Vorrücken in Richtung der Villa nicht durch das Auftauchen dieses Mannes unterbrochen worden, wären sie und die SEK Beamten in eine tödliche Falle gelaufen.

    Wie durch Watte gedämpft, bekam Ben alles mit, was um ihn herum geschah. Er lauschte den Anweisungen seiner Freundin und spürte wie Jenny seinen Herzschlag und die Atmung prüfte. Vorsichtig lupfte seine Kollegin den Saum seines T-Shirts und ein kalter Lufthauch drang auf seine nackte Haut. Ihre warmen Finger glitten sanft über seinen Oberkörper bis ihre Fingerkuppe auf eine warme und klebrige Flüssigkeit stießen.


    „Ich spüre keine offenen Verletzungen. Bis auf …!“ Sie verstummte und knipste ihre Taschenlampe an. Im Schein des Lichtkegels fand sie ihre Vermutung bestätigt. „Der Verband ist auf der linken Bauchhälfte von dunkelrotem Blut durchtränkt. Es ist nach unten durchgesickert. Kann ich irgendetwas tun Anna, um die Blutung zu stoppen?“


    „Lass gut sein Jenny!“, gab Anna mit einem besorgten Unterton zurück, „ich vermute, dass die Verletzung nur oberflächlich aufgebrochen ist. Der Verband sollte genügend Druck auf die Wunde ausüben, um die Blutung zum Stillstand zu bringen. Bitte bringe Ben in eine stabile Seitenlage und dann komm rüber zu mir. Ich brauche dich dringend bei Elena. Wo bleibt denn nur der verdammte Notarzt?“


    Ben stöhnt gequält auf, als Jenny ihn an der Schulter anfasste und versuchte ihn in eine stabile Seitenlage zu drehen. Mühselig schaffte er es seine Augenlider zu öffnen und blickte im Lichtschein der Taschenlampe in die besorgten Augen seiner Kollegin. Der Dunkelhaarige umfasste das Handgelenk der Polizistin und ächzte:
    „Nicht Jenny! … Nicht, ich bin wach! … Hilf lieber Anna!“
    Der Dunkelhaarige biss die Zähne zusammen und verfluchte seine körperliche Schwäche, die ihn zur Hilflosigkeit verdammte. Eisern versuchte er mit seinen letzten Energiereserven dagegen anzukämpfen. Mühsam richtete er sich über seine rechte Seite ein wenig auf und stützte sich auf den rechten Unterarm und schaute in Richtung seiner Freundin.
    „Mir geht es so weit gut! … Ich brauch einfach nur ein Bett und eine Mütze voll Schlaf!“, kommentierte er seinen Zustand.


    Die junge Polizistin erhob sich und ließ ihren Blick kurz in die Runde schweifen. „Ich glaube Hilfe naht!“ Sie deutete mit ihrer Taschenlampe in Richtung des Tores, wo sich flackerndes Blaulicht in den Wipfeln der Bäume widerspiegelte und sich der Hall von Sirenen deutlich hörbar annäherte.
    „Jenny! … In dem schwarzen Koffer befinden sich noch einige Kompressen. Gib Sie mir! … Danach musst du den Rettungskräften entgegengehen! Wir brauchen hier dringend den Notarzt mit voller Ausrüstung! … Führe sie hierher! ... Beeile dich!“


    Erleichtert ließ sich Ben zurück auf den feuchten Boden sinken, als Sekunden später eine Explosion den Boden unter ihn erschütterte, gefolgt von einer zweiten weit aus gewaltigeren Detonation, der kurz Zeit später noch eine Dritte folgte. Der Waldboden unter ihm schien zu beben.


    Sowohl Jenny, als auch Anna schrien im Duett erschrocken auf. „Oh mein Gott …. Oh mein Gott!“
    Was die beiden Frauen sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Fassungslos starrten sie in Richtung der Villa, um sich nur Sekundenbruchteile später auf den Boden zu werfen. Die Druckwelle der Explosion erreichte die kleine Gruppe im Park. Kleine Gesteinsbrocken und Trümmerteile regnete es von oben durch den Blätterwald der Bäume auf den Boden herab. Schützend legte Ben seine Arme und Hände über seinen Kopf. Rauchgeruch und Staubpartikel drangen in seine Nase und reizten seine Schleimhäute. Nur mühsam gelang es ihm, den aufkommenden Hustenreiz zu unterdrücken. Eine Welle aus Schmerz durchflutete seinen Körper. Auch wenn der dunkelhaarige Polizist sich felsenfest vornahm, nicht wieder schlapp zu machen, verfiel Ben für wenige Minuten wieder in eine Art Dämmerzustand.


    *****


    Wenige Minuten vorher in der Villa …
    Gabriela war regelrecht ins Obergeschoß geflüchtet. Der versprochene Anruf von Remzi, dass er die Flüchtigen gestellt hatte, blieb aus. Unruhig lief sie im ersten Stock von einem Schlafzimmer ins Nächste, die in Richtung des Parks lagen. Durch die Fenster scannte sie regelrecht die Umgebung, in der Hoffnung, dass ihr Söldnerfreund mit den Gefangenen auftauchen würde. Stattdessen erkannte sie die Schattenrisse von heranrückenden SEK-Beamten. Dies ließ nur eine Schlussfolgerung für sie zu: Remzi war entweder getötet worden oder schwer verletzt. Am Nachthimmel erkannte sie die flackernden Blaulichter von weiteren sich nähernden Einsatzkräften. Mit einem Schlag wurde der Kroatin klar, sie saß in der Falle und bei ihr brannten sprichwörtlich alle Sicherungen durch. Ein fast schon unmenschlicher Schrei entrang sich ihrer Kehle.


    Camil, der ihr gefolgt war, weil er glaubte, von hier aus eine bessere Schussposition zu haben, sah in ein vom Wahnsinn verzerrtes Gesicht. Die Worte, die sie vor sich hin stammelte, waren kaum verständlich. „Kommt nur! … Kommt nur ihr Drecksschweine! … Ihr kriegt mich nicht! … Niemand wird mich kriegen! … Ihr werdet alle mit mir untergehen! …. Alle!“


    Das Lachen, welches aus ihrer Kehle kam, hatte nichts mehr Menschliches an sich und jagte einem Schauer über den Rücken. Ihr Blick war wie gebannt nach draußen gerichtet.
    Dann erblickte er die Fernzünder in ihren Händen und ihre Absicht war klar. Doch er wollte so nicht enden und ergriff die Flucht.

    Einige Minuten vorher im Park der Villa
    Instinktiv warf sich die junge Ärztin schützend über Elena. Die Wucht der Explosion hat den Waldboden erbeben lassen. Das Knacken eines morschen Astes, der unter dem Gewicht eines Menschen brach, erregte ihre Aufmerksamkeit. Es raschelte seitlich von ihr aus Richtung der Mauer. Täuschte sie sich? Nein! In dem Gebüsch seitlich von ihr bewegten sich die Schatten von mehreren Menschen. Ein Lichtkegel schimmerte zwischen den dicht belaubten Sträuchern hindurch.


    Langsam drehte sie ihren Kopf in Richtung ihres Freundes. Bewegungslos lag er im hohen Gras neben ihr.
    „Ben! … Ben! … Wach doch auf!“, wisperte sie und stupste ihn leicht an der Schulter. „Da kommt jemand auf uns zu!“ Ihre Bemühungen wurden energischer. „Scheiße! Das ist der falsche Moment um ohnmächtig zu sein!“, entfuhr es ihr verzweifelt, als ein leises Stöhnen die einzige Antwort von ihm war.


    Sie tastete den Boden nach ihrer kleinen Taschenlampe ab, die sie vor Schreck hatte fallen lassen und knipste die Lampe aus. Anna war angesichts der aussichtslosen Situation kurz davor einen Heulkrampf zu bekommen. Reiß, dich zusammen. Das ist absolut das Letzte, was dir jetzt passieren sollte. In Panik geraten! Behalte einen kühlen Kopf. Wer auch immer da durchs Unterholz schlich, konnte auch ein Freund sein. Semir hatte ihr im Badezimmer von dem implantierten GPS-Sender erzählt. Eisern presste sie ihre Hand auf die Schusswunde von Elena und entschied sich dafür, sich so ruhig wie möglich zu verhalten.
    Jenny, die hinter Kim Krüger sich vorsichtig durch das verfilzte Gebüsch und das hohe Gras bewegte, entfuhr ein Entsetzensschrei, als sie die blutverschmierten Gestalten vor einem riesigen Holunderbusch im Lichtkegel der Lampen entdeckte. Der Regisseur eines Horrorfilmes hätte die Szene, die sich vor ihren Augen bot, nicht besser darstellen können. Anna Becker, deren Hände, Arme und Kleidung blutverschmiert waren, kniete vor einer bewusstlosen Frau auf dem Boden. Die Ärztin drückte mit einer Kompresse, die sie in der flachen Hand hielt, verzweifelt auf eine blutende Wunde am Rücken. Auf der anderen Seite lag im hohen Gras eine weitere Gestalt, die offensichtlich ohne Bewusstsein war.


    Bei näherem Hinschauen stellte Jenny fest, diese dunklen Haare, die Gestalt, die ihr vertraut vorkam, dass es sich bei dem Mann um ihren Freund und Kollegen Ben Jäger handelte.
    „Oh mein Gott!“, entfuhr es ihr voller Entsetzen. Unwillkürlich schossen ihr bei seinem Anblick die Tränen in die Augen. „Ben! … Ben!“, rief sie mit tränenerstickter Stimme. „Anna was ist mit ihm?“
    Ohne auf ihre eigene Sicherheit zu achten, rannte die junge Kommissarin, dicht gefolgt von Kim, auf den ohnmächtigen Mann zu. Vor ihm fiel sie auf die Knie, umfasste seinen Kopf mit ihren Händen, streichelte sanft über seine eingefallenen Wangen und bettete ihn auf ihren Schoß. Ihre Chefin hatte sich neben sie niedergekniet und leuchtete mit ihrer Taschenlampe die Szene aus. Täuschte sich Jenny, oder schimmerten da tatsächlich die Augenwinkel von Kim Krüger feucht.


    Linus Walther, der voranschritt, überblickte als erster die komplette Situation vor seinen Augen auf der kleinen Lichtung im Park. Beim Briefing auf der PAST hatte Frau Krüger ihnen Fotos der Entführten und der mutmaßlichen Verdächtigen gezeigt. Er stieß eine leise Verwünschung aus, als die beiden Frauen losstürmten und sich damit unbewusst mitten in Gefahr begeben hatten. Der Beamte hatte eine weitere Person, die verdeckt durch das hohe Gras auf dem Boden lag, entdeckt. Die Absicht des Mannes, der eine Waffe in der Hand hielt, schien eindeutig zu sein.
    „Polizei! … Waffe fallen lassen! … Sofort fallen lassen oder ich schieße!“, schickte er einen scharfen Warnruf in Richtung von Remzi Berisha, der den Abzug seiner Waffe durchziehen wollte. Der Serbe ließ sich nicht beeindrucken und hob mit letzter Kraft die Waffe an. Sein Blick war starr auf Annas Rücken fixiert. Er hatte nur noch ein Ziel vor Augen, bevor er aus dem Leben schied, diese Frau erschießen.
    Linus Walther blieb keine Wahl und er feuerte seinerseits den entscheidenden Rettungsschuss ab. Die Kugel traf den Serben in den Oberkörper, der sich für den Bruchteil von Sekunden aufbäumte und anschließend regungslos in sich zusammensank. Die Waffe entfiel der Hand des Getroffenen. Einer der Beamten rannte zu Remzi hin, kickte die Waffe endgültig außer dessen Reichweite und prüfte an der Halsschlagader, ob der Söldner noch lebte. „Exitus!“ war alles, was er sagte. Die übrigen SEK-Beamten sicherten das Gelände.


    Grenzenlose Erleichterung spiegelte sich auf Annas Gesicht wieder. Sie unterdrückte ein Aufschluchzen. „Ich kann …!“, stammelte die Ärztin und rang um ihre Fassung, konnte ihre Gefühle und Emotionen nicht in Worte fassen.
    „Schon gut! … Schon gut!“, gab Kim ebenso bewegt zurück. „Ich verstehe sie. … Wir hatten in den vergangenen Tagen die Hoffnung schon fast aufgegeben, sie und Herrn Jäger jemals lebend wieder zu finden!“
    „Wir brauchen dringend einen Notarzt und Rettungswagen für Elena, sonst stirbt sie mir unter den Händen weg!“, unterbrach Anna die Chefin.
    Die Aussage der Ärztin holte auch Kim wieder in die Realität zurück. „Sie haben Recht! … Was ist mit Ben?“
    „Wenn nicht eine seiner Verletzungen nicht wieder aufgebrochen ist, befindet er sich nicht in akuter Lebensgefahr!“, beruhigte sie Kim und Jenny.
    Die Chefin fischte daraufhin ihr Handy aus der Hosentasche und erkundigte sich nach dem Eintreffen der Rettungsfahrzeuge und dem angeforderten Notarzt. „Was noch fünfzehn Minuten? Hier liegt eine Frau im Sterben!“ Sie fing an, mit der Person in der Rettungsleitstelle über die Dringlichkeit des Notfalls zu diskutieren. Zum Schluss fauchte sie ins Telefon, „Es ist mir egal, ob es Massenkarambolage auf der A661 gegeben hat und die anderen verfügbaren Rettungskräfte der Gegend bei einem Großbrand in einem Mehrfamilienhaus in Hohlweide im Einsatz sind. Wir haben hier einige Schwerverletzte!“ Sie lauschte auf den Schusswechsel nahe der Villa. „Die dringend ärztliche Hilfe benötigen. Also machen sie ihren Job. Wenn die nächsten fünf Minuten hier kein Notarzt auftaucht, komme ich höchstpersönlich bei ihnen auf der Leitstelle vorbei und reiß ihnen den A.rsch auf! Es geht um Menschenleben und nicht irgendwelche Zahlen und Statistiken!“


    Ihr Blick richtete sich auf die am Boden liegenden Verletzten und Anna bestätigte es durch Kopfnicken. Im Schein der Taschenlampe erkannte Kim, wie sich der Brustkorb von Ben Jäger zaghaft hob und senkte. Sie betrachtete das ausgezehrte Gesicht ihres Kommissars. Erinnerungen wurden in ihr wach, furchtbare Erinnerungen an diesen einen Tag im Wald, die sie aus ihrem Bewusstsein lange Zeit verbannt hatte. Seine Augenlider begannen zu flattern und unvermittelt öffnete er die Augen und starrte etwas ungläubig auf Kim.
    „Chefin?“, hauchte er und versuchte sich aufzurichten. Schmerzhaft verzog er sein Gesicht und ließ sich stöhnend zurücksinken. Dabei bemerkte er, auf wessen Oberschenkel er lag. „Jenny? …Ihr seid da? … Ihr habt uns gefunden?“
    Kim wusste einfach nicht was sie darauf antworten sollte. Jennys Tränen tropften auf Bens Wangen hinunter. Sie strahlte und schluchzte in einem. Ben suchte Kontakt zu Kims Hand, die nach wie vor neben ihm im Gras kniete.
    „Tut mir ... leid Chefin, dass sie wegen mir ein wenig Stress hatten ... habe wohl wieder ein bisschen Mist gebaut. … Aber ich hätte nicht gedacht, dass ich mich jemals so freuen würde ... ihr Gesicht zu sehen!“
    Da fing auch Kim an mit ihrem Handrücken, die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln zu wischen. „Und ich hätte nie … gedacht, dass ich mich so freue, einen von ihren dummen Sprüchen zu hören.“
    Die Mimik des jungen Beamten verkrampfte sich wieder vor Schmerzen und leise stöhnte er vor sich hin. Jenny strich ihm beruhigend über die Stirn. Seine Kräfte verließen ihn erneut, er sackte in sich zusammen und schloss erschöpft die Augen.


    Kleine Äste zerbrachen unter dem Gewicht des SEK-Beamten, als er neben Kim Krüger trat und in die Hocke ging. Sanft klopfte er ihr auf die Schulter.
    „Frau Krüger, wir müssen weiter! Ich schlage vor, wir lassen Frau Dorn zum Schutz der Verletzten zurück! Der Einsatzleiter hat den Zugriff befohlen. Wir sollen die Kerle, die sich in der Villa verschanzt haben, von hinten in die Zange nehmen und denen einen möglichen Fluchtweg versperren. Ich denke, sie wollen mit dabei sein!“


    Kim nickte zustimmend. Linus wisperte etwas in sein Funksprechgerät und gab das Zeichen zum Aufbruch. Geduckt, den Schatten der Bäume ausnutzend, näherten sie sich der hell erleuchteten Terrasse an der Hinterfront der Villa an. Geschickt verteilten sich die drei SEK-Beamten. Kim blieb in der Nähe von Linus. Das Feuergefecht vor dem Eingangsbereich des Anwesens war im vollen Gange. In den Reihen der SEK Beamten hatte es bereits einen Verletzten gegeben, wie sie aus den Funksprüchen entnehmen konnte. Marius Peucker wollte jedoch nicht auf weitere Verstärkung warten. In dem Augenblick als Linus das Handzeichen zum Vorrücken gab, stürmte über die Terrasse ein Mann mit südländischen Aussehen und einem riesigen Schnauzbart im Gesicht. Als Camil Musik die SEK-Beamten mit ihren Waffen im Anschlag erblickte, riss er seine Hände nach oben, zum Zeichen, dass er sich ergeben wollte und schrie etwas in seiner Muttersprache.


    Kim erstarrte in ihrer Vorwärtsbewegung. Der Mann, der sich ergeben wollte, war offensichtlich in Panik vor etwas auf der Flucht und im gleichen Moment verstand sie warum. Eine gewaltige Detonation ertönte aus dem inneren der Villa. Die Ereignisse überschlugen sich. Geistesgegenwärtig riss Linus die erstarrte Chefin der PAST zu Boden und warf sich schützend über sie, als die Hölle losbrach.