Brückentage

  • Es war inzwischen nachts um drei geworden. Sarah war zu ihren Kollegen auf die Intensiv gegangen, bei denen auch Ben schon als Zugang avisiert war. Die hatten sie liebevoll begrüßt, ihr erst mal Tee und Süßigkeiten angeboten und dann in das Zimmer in das Ben einziehen würde, einfach ein zweites Bett gestellt. „So Sarah-du legst dich da jetzt rein und wenn dein Mann fertig ist, wachst du ja automatisch auf, wenn wir ihn zu dir bringen-aber jetzt schlaf erst mal. Machen kannst du gerade überhaupt nichts, wir beobachten am PC immer die geplante Operationszeit und wenn wir sonst irgendwelche Neuigkeiten haben, wirst du natürlich sofort geweckt.“ ordnete ihr älterer Kollege, der gerade Nachtdienst hatte an und Sarah fügte sich. Sie bekam Waschzeug und Intensivklamotten als Behelfsschlafanzug und nach einer Katzenwäsche legte sie sich ins Bett und obwohl sie es nicht für möglich gehalten hätte, schlief sie irgendwann doch ein. Die vertrauten Geräusche auf der Intensivstation, die andere Leute verrückt machen würden, hatten auf sie eher eine beruhigende Wirkung, denn die bedeuteten Sicherheit und Kontrolle und so schlief sie zu ihrer eigenen Überraschung tief und fest, aber Wunder war das keines, denn sie hatte die beiden vergangenen Nächte vor Kummer und Sorgen nicht erholsam schlafen können.


    Ben kam langsam zu sich. Allerdings war das eine der Nebenwirkungen des Ketamins, das er ja noch in sich gehabt hatte, bevor er sozusagen notfallmäßig in Todesangst in Narkose gelegt worden war-dieselben Gefühle, die er beim Einschlafen gehabt hatte, suchten ihn jetzt beim Erwachen wieder heim. Er atmete schnell am Narkosegerät selbst, aber anstatt danach langsam wach zu werden, riss er die Augen auf, blickte voller Panik um sich und versuchte sich aufzurichten. Der Narkosearzt dankte Gott, dass der Springer Ben vorschriftsmäßig nach dem Umdrehen auf den Rücken mit einem breiten gepolsterten Gurt über den Oberschenkeln und an beiden Handgelenken mittels einer Handfixierung festgemacht hatte, denn sonst wäre er ihnen vermutlich in seiner Panik vom OP-Tisch gefallen. Der Arzt versuchte ihn verbal zu beruhigen, während er hektisch den Tubus entblockte und heraus zog, was Ben fürchterlich zum Husten brachte und beinahe einen Erstickungsanfall provozierte. „Herr Jäger-keine Angst, die Operation ist vorbei und der Fuß ist auch noch dran, sie kriegen genügend Luft, bleiben sie einfach ruhig!“ sagte er, aber Ben war so außer sich und wusste überhaupt nicht was los war, dass das ganze Zureden gerade überhaupt nichts brachte. Erst fuhr man den Operationstisch noch in halb sitzende Stellung, um die Atemnot zu lindern und schob ihm eine Sonde in die Nase, um ihm Sauerstoff zuzuführen, aber Ben wehrte sich mit Kopfschütteln dagegen, kannte sich überhaupt nicht aus und wollte nur weg. Er kam aber nicht davon und wieder suchte ihn das Trauma des Eingeklemmtseins und der absoluten Hilflosigkeit heim. Um ihn herum waren zwar lauter grün vermummte Menschen von denen er nur die Augen sehen konnten, aber er konnte in seiner Panik nicht verstehen, dass die ihm nur helfen wollten, sondern wehrte sich vehement gegen jede Berührung. Dann stellte er fest, dass er seinen rechten Arm ab dem Ellbogen nicht spürte und eine tiefe Verzweiflung überkam ihn. Man hatte ihn abgeschnitten, er würde Zeit seines Lebens ohne Arm herumlaufen, seine Kinder nicht tragen können, nie mehr Gitarre oder Klavier spielen, es wurde alles zu viel und außerdem hatte er am ganzen Körper fürchterliche Schmerzen.


    Der Narkosearzt hatte von der Anästhesieschwester zunächst einmal eine Ampulle Piritramid verlangt, die die auch sofort aus dem Betäubungsmittelschrank holte und auf Ben´s Namen austrug. Nachdem er da drei Milligramm erhalten hatte, wurden zwar Ben´s Schmerzen besser, aber er kannte sich trotzdem nicht aus und kämpfte wie ein Berserker gegen seine Fesseln. „Bitte noch eine Ampulle Diazemuls!“ ordnete der Arzt nun an und als er den ersten Milliliter der milchigen Flüssigkeit erhalten hatte, wurden Ben´s Abwehrbewegungen schwächer, der Blutdruck, der sprunghaft angestiegen war, so dass man vorübergehend sogar das Noradrenalin abgeschaltet hatte, damit er keinen Schlaganfall bekam, sank wieder und langsam beruhigte er sich und kämpfte gegen den Schlaf. Er bemerkte fast nicht wie man den Tisch wieder flach stellte, denn sonst konnte man den nicht schleusen, ihn ein wenig zudeckte und dann zügig in die Patientenschleuse fuhr.
    Die Intensivstation war verständigt und in der Schleuse warteten bereits der diensthabende Intensivarzt und der Pfleger, der Ben in der Nacht betreuen würde mit einem Monitor und einer Sauerstoffflasche. Man hatte Sarah noch nichts gesagt, sondern ihr noch die letzten Minuten Schlaf gegönnt, denn so viel war klar-wenn ihr Mann aus dem OP zurück war, würde die keine Sekunde mehr schlafen, sondern ihm nicht mehr von der Seite weichen.


    „Also-wie bereits avisiert haben wir hier Herrn Jäger, den ihr von seinen vorherigen Aufenthalten ja schon kennt. Er hat ein klassisches Polytrauma erlitten, also mehrere lebensbedrohliche Verletzungen mit Kreislaufversagen, Blutverlust und Organbeteiligung, wovon jedes für sich schon zum Tode führen könnte-deshalb jetzt auch die Intensivüberwachung. Das Gebäude in dem er sich befand wurde gesprengt und dabei sein Fuß fast abgerissen. Die Replantation war primär erfolgreich, auch weil noch eine Gewebebrücke bestanden hat und die Extremität wenigstens notdürftig versorgt war. Die Schiene soll dran bleiben und nur zur Wundkontrolle und gezielten passiven Krankengymnastik abgenommen werden. Er hat vor der Narkoseeinleitung eine Komplikation geboten, denn sein bekannter Hämatothorax ist dekompensiert und wir mussten sofort notfallmäßig eine Thoraxdrainage legen!“ erklärte der Narkosearzt und wies auf den zur Hälfte mit Blut gefüllten Saugbehälter. „Puh-das ist aber eine ganze Menge!“ bemerkte der übernehmende Intensivarzt. „Hat er denn Konserven gebraucht?“ wollte er wissen, aber sein Kollege schüttelte den Kopf. „Die letzte Kontrolle hat einen Wert von 7,8, ergeben-angesichts der Jugend und der vorher guten Konstitution unseres Patienten habe ich vorerst davon abgesehen-es ist auch während der OP kaum mehr was nachgelaufen. Ich denke er hat das schon im Verlauf der letzten beiden Tage langsam verloren und so konnte sein Körper das kompensieren-vielleicht kommen wir ja ohne Transfusion aus. Wir haben multiple Hämatome am Rücken ausgeräumt und drainiert, die Nieren sind beide gequetscht mit Kapselhämatom und rechts besteht auch ein Parenchymeinriss, da wird sich der Urologe, der ihn schon gesehen hat, weiter drum kümmern, aber immerhin scheidet er mit ausreichend Volumen und Druck aus, auch wenn eine Makrohämaturie besteht“-was bedeutete, dass man mit bloßem Auge das Blut im Urin im Beutel sehen konnte.
    „Der rechte Arm war über mehrere Tage eingeklemmt, da besteht zwar keine knöcherne Verletzung, aber eine Nervenschädigung, die man versuchen wird konservativ zu behandeln und der Verband am Oberarm kommt von einer Amputationsverletzung-man hätte ihm beinahe den Arm abnehmen müssen, um ihn zu befreien, aber Gott sei Dank ging es dann ohne diese archaische Operation!“ war die Übergabe nun fast beendet. Man tauschte sich noch über die Noradrenalindosierung aus und dann erfuhren die Abholer noch, warum ihr Patient noch so schläfrig war.
    „In der Aufwachphase wurde er überschießend wach-vermutlich weil er voller Panik eingeschlafen ist und durch das Ketamin, das er am Unfallort intramuskulär erhalten hatte noch besonders sensibilisiert war. Wir haben ihm bereits drei Milligramm Piritramid gegeben und fünf Milligramm Valium dazu, jetzt schläft er wieder, aber ihr müsst gut auf ihn aufpassen, wenn die Wirkung nachlässt, nicht dass er wieder panisch wird und aussteigt!“ bat der Narkosearzt, aber nun grinsten die beiden Abholer. „Das macht uns jetzt keine Sorgen-Sarah, seine Frau ist hier geblieben, die wird auf ihn aufpassen wie ein Schießhund!“ informierte man ihn und nun lächelte der Narkosearzt ebenfalls. „Na dann kann ja wirklich nichts passieren!“ stimmte er seinem Kollegen zu und wenig später fuhr das Bett mit dem vor sich hindämmernden Ben, dessen Glieder schwer wie Blei waren und der sich immer noch nicht auskannte, aber jetzt war es ihm gerade egal, auf die Intensivstation, wo Sarah erwachte, als man das Licht anmachte und das Bett herein schob.

  • Sarah sprang mit einem Satz aus dem Bett, als sie sah, dass Ben herein gefahren wurde. Voller Liebe stürzte sie zu ihm und streichelte ihm übers Gesicht. Mit einem Blick hatte sie die Thoraxdrainage gesehen und den Behälter in dem ziemlich viel Blut war. „Armer Schatz!“ flüsterte sie mitleidig und hielt dann den Atem an, als ihr Kollege die Decke wegnahm, um die Verkabelung zu vervollständigen und seinen Patienten ordentlich hin zu legen. Sie atmete erleichtert auf, als sie die Schiene sah-der Fuß war noch dran! „Er ist aber noch weit weg!“ bemerkte sie zum Intensivarzt, weil Ben irgendwie gar nicht richtig reagierte. „Er hat auch gerade fünf Milligramm Diazepam gekriegt, weil er sich beim Aufwachen so aufgeregt hat. Sie mussten die Narkose ziemlich schnell und unter Stress einleiten und genau so ist er wach geworden. Wir müssen ihn gut überwachen, damit er nicht versucht aufzustehen, oder sonst Blödsinn macht!“ erklärte er ihr und Sarah nickte. „Ich mach das schon!“ versicherte sie und der Intensivarzt schenkte ihr ein warmes Lächeln „Davon gehe ich aus!“ sagte er und nahm gleich mal Blut ab, damit man einen Überblick über Ben´s momentanen Zustand hatte.


    Der Blutdruck war nicht besonders hoch und um die Nierendurchblutung sicher zu stellen bekam Ben nun Noradrenalin über den ZVK und der Intensivarzt legte in Ben´s linken Unterarm noch einen arteriellen Zugang, was der aber durch die Sedierung gar nicht richtig mitbekam. Sarah war noch kurz hinaus gehuscht, während ihr Kollege dem Arzt assistierte. Erstens musste sie dringend zur Toilette und dann hatte sie ja versprochen Semir anzurufen. Vor der Intensivstation funktionierte ihr Handy und sie hatte kaum zwei Mal angeläutet, da ging Semir schon ran und meldete sich verschlafen: „Und Sarah-wie schauts aus?“ woraufhin sie ihm kurz berichtete: „Der Fuß ist noch dran, am Arm haben sie gar nichts gemacht, er hat eine Thoraxdrainage gekriegt und die Blutergüsse wurden aufgeschnitten. Er schläft noch ein bisschen, ist aber nicht nachbeatmet und ich werde jetzt nicht mehr von seiner Seite weichen, bis er ganz wach ist und es ihm besser geht!“ berichtete sie und nun atmete auch Semir erst einmal auf. „Danke dass du mir Bescheid gesagt hast. Ich komme auf jeden Fall morgen-äh ich meine heute vorbei!“ kündigte Semir nach einem Blick auf die Uhr an. Es war gerade halb vier geworden. Schnell verabschiedeten sie sich und Andrea, die vom Läuten des Telefons ebenfalls wach geworden war, sah Semir erwartungsvoll an: „Wie geht es Ben?“ fragte sie ihren Mann und der antwortete: „Er hat die OP überstanden und der Fuß ist noch dran-alles Weitere muss die Zeit zeigen!“ sagte er wahrheitsgemäß, Andrea kuschelte sich noch ein wenig an ihn und kurz darauf waren die beiden erneut eingeschlafen.


    Sarah ging wieder zu ihrem Mann zurück und zog sich einen Stuhl neben sein Bett. Man hatte die Bettgitter hoch gemacht und alle drei Schenkel des ZVK mit Infusionen befeuert. In niedriger Dosis lief Noradrenalin, das Thoraxdrainagesystem war an einen Vakuumanschluss angeschlossen und blubberte leise vor sich hin, der Katheterbeutel war gegen ein Stundenurimeter ausgetauscht worden, damit man die Stundenportionen erfassen konnte und die Nierenfunktion im Auge hatte und das Bett war mit einer zweiten Unterlage geschützt, weil die aufgeschnittenen Blutergüsse sicher noch nachlaufen und sonst das Leintuch beschmutzen würden. Das operierte Bein lag in einer Braun´schen Schiene hochgelagert, damit sich kein Blut darin staute und eine Sauerstoffsonde steckte in Ben´s Nase. Während ihrer kurzen Abwesenheit hatten ihre Kollegen ganze Arbeit geleistet und so setzte sie sich jetzt einfach auf einen Stuhl neben ihn und griff nach seiner linken Hand. Der rechte Arm war in ein wärmendes Kunstfell eingeschlagen und ebenfalls weich und hoch gelagert. Auch die Temperatursonde hatte man wieder angeschlossen, damit man die aktuelle Temperatur auf dem Monitor hatte und ihn je nach Bedarf wärmen oder kühlen konnte. Eine Perfusorspritze mit Piritramid stand bereit, damit man ihm etwas gegen die Schmerzen geben konnte, wenn nötig und nun musterte Sarah voller Liebe das vertraute blasse Gesicht mit den staubigen und verschmutzten Haaren darüber, bis plötzlich Ben´s Lider zu flattern begannen.


    Wie bereits beim ersten Erwachen kannte Ben sich erst einmal überhaupt nicht aus. Sarah war aufgesprungen und hatte sich über ihn gebeugt. Allerdings war er im Gegensatz zu vorhin diesmal nicht angebunden und die Wirkung des Valiums ließ auch nicht schlagartig nach und so duldete er es, dass Sarah ihn sanft zurück drückte, als er versuchte sich aufzurichten. „Es ist alles gut mein Schatz!“ beschwor sie ihn und wiederholte das gebetmühlenartig wieder und wieder, bis er ihre vertraute ruhige Stimme erkannte und mühsam die Augen, die in tiefen Höhlen lagen, öffnete. „Du bist in Sicherheit im Krankenhaus und ich lass dich nicht mehr alleine!“ sagte Sarah und langsam konnte er verstehen was sie sagte und entspannte sich ein wenig. Dann fiel ihm allerdings etwas ein und ein eiskalter Schauer überfiel ihn-er spürte nämlich seinen Unterarm überhaupt nicht, nur der Fuß im Bereich des Knöchels pochte und tobte. „Mein Arm-ist er-ist er….“ stammelte er, aber Sarah schüttelte den Kopf, dass die blonden halblangen Haare nur so flogen: „Nein Ben-es ist alles noch dran-sieh hin!“ sagte sie und nahm zum Beweis das weiche Kunstfell zur Seite. Ben musterte nun tatsächlich seinen Arm einen Augenblick, bevor ihm die Augen wieder zufielen. Komisch-der war zwar tatsächlich vorhanden, aber er spürte ihn überhaupt nicht, allerdings war es jetzt zu mühsam, da weiter darüber nachzudenken und darum schlief er fürs Erste wieder ein. Noch mehrere Male wurde er unter Stöhnen überschießend wach, aber Sarah konnte ihn jedes Mal beruhigen, gab ihm Schmerzmittel und so wurde es langsam Morgen und die nächste Schicht kam zur Übergabe ins Zimmer.


    Brummer hatte sich vor den Suchtrupps im Wipfel eines hohen dicht belaubten Baumes verborgen. Er war erst ein Stück durch einen Bach gewatet, weil er schon vermutet hatte, dass sie mit Hunden nach ihm suchen würden und hatte sich dann mit seiner Beute hoch oben über den Erdboden zurück gezogen. Als nach mehreren Stunden Ruhe einkehrte und es dunkel war, kletterte er zurück auf den Boden und schlug dort unter ein paar Büschen ein behelfsmäßiges Lager auf. Wasser hatte er aus dem Bach und sogar ein paar Schokoriegel waren im Sanka gelegen, die er mitgenommen hatte. Die Wunden waren ordentlich verbunden, er hatte sich selber ein Antibiotikum gespritzt und genügend Schmerzmittel hatte er auch dabei. So legte er sich in den wärmenden Decken nach einer Weile zur Ruhe und wartete, dass er sich erholte und dann sein Werk vollenden konnte.

  • Als Sarah´s Kollegin Ben am Morgen übernahm, war er wenigstens wieder wach und bei Sinnen. Er dämmerte zwar immer wieder weg und Schmerzen hatte er auch überall, aber er wusste, dass er im Krankenhaus und in Sicherheit war. „Na dann werden wir mal eine Restaurierungsaktion starten!“ sagte die Pflegekraft und holte eine Waschschüssel und Waschzeug. Zu allererst hatte sie allerdings-wie der Pfleger das in der Nacht schon mehrfach gemacht hatte, die Fußschiene geöffnet und die Durchblutung der Zehen überprüft. Die waren aber warm und Ben hatte sogar den Hauch eines Gefühls darin. „Es ist völlig normal Herr Jäger, dass sie da nicht sofort normal spüren können!“ hatte ihn der Arzt beruhigt, der das auch einmal kontrolliert hatte. „Die Nerven brauchen ihre Zeit um wieder zusammen zu wachsen und die Reizleitung zu ermöglichen. Sie bekommen von uns auch extra B-Vitamine um das zu fördern und mit dem Arm werden wir noch sehen, was sich machen lässt!“ hatte er erklärt, bevor er sich wieder einem anderen Patienten widmete.


    Ben beäugte misstrauisch die Schwester. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen wie das gehen sollte mit dem Waschen, dabei fühlte er sich wirklich immer noch verschwitzt, staubig und dreckig und so sah er auch aus. Sarah lächelte ihm ermutigend zu, aber dennoch war es eine einzige Tortur, als die beiden jungen Frauen ihn systematisch erst vorne herunter wuschen und dabei mehrmals das Wasser wechselten. Er war am ganzen Körper grün und blau, jede Berührung mit dem Waschlappen schmerzte und vor allem als die beiden geschickt die Thoraxdrainage verbanden, musste er laut aufjammern, obwohl er schon einiges an Schmerzmitteln erhalten hatte. Aber das Schlimmste kam erst noch, als sie ihn behutsam umdrehten und seine Rückseite wuschen. Erstens mal tat ihm jede Bewegung fürchterlich weh, aber als sie dann einen Verband nach dem anderen dort ablösten, die ausnahmslos mit der Wunde verklebt waren und die blutigen Kompressen wechselten, schrie er die halbe Station zusammen und irgendwie half gerade nicht einmal das Opiat.


    Sarah war ganz blass geworden-sie hatte nicht vorgehabt, ihn so zu quälen, aber es musste doch gemacht werden, denn eine sorgfältige Wundtoilette war das A und O, damit sich die Infektion in den Blutergüssen nicht ausbreitete. Eigentlich hätte man auch seine Haare noch waschen müssen, aber das hätte er einfach nicht mehr ausgehalten. Als sie die Flankenpartie sauber machten, zuckte er vor Schmerz zurück und man sah auch dort, dass sich die Kapselhämatome an den Nieren schon bis in die Haut ausgebreitet hatten. Der Urin war immer noch tief blutig und durch den Stress und den Blutverlust war Ben käsebleich und sofort nach dem Waschen schon wieder nass geschwitzt. Das Leintuch und die Bettunterlagen sahen aus, als wenn man damit einen Keller ausgewischt hätte und als man endlich fertig war, sank Ben fix und alle in seine weichen, frisch bezogenen Kissen zurück. Eigentlich wusste er sowieso nicht, wie er sich hinlegen sollte, denn es gab irgendwie keinen Körperteil der nicht weh tat-außer seinem Arm, denn den spürte er überhaupt nicht. Aber so schloss er völlig fertig die Augen und dämmerte vor sich hin, während nun Sarah ihrerseits kurz duschen ging.


    Kurz vor acht kam die große Visite und der Stationsarzt referierte vor den Weißkitteln, die nun das Zimmer füllten über die Verletzungen Ben´s und die ergriffenen Maßnahmen. Man packte nun das Bein aus und die Chirurgen waren sehr zufrieden mit dem Aussehen der Operationswunde und zeigten sich erfreut, dass Ben auch schon teilweise Gefühl im Fuß hatte, wie man durch Bestreichen testete. Die beiden Operateure lagen schon lange in ihren Betten-der Operationsmarathon in der Nacht hatte viel Kraft gekostet.
    Als man den Arm betrachtete, runzelte der Chefarzt die Stirn, denn Ben hatte dort eine schlaffe Lähmung und keinerlei Gefühl. „Das muss sich heute nochmals ein Neurologe ansehen!“ ordnete er an und kaum war die Schar der Visitierenden verschwunden, verband Sarah´s Kollegin das Bein wieder und forderte sie dann auf: „Komm Sarah-du machst jetzt mit uns Frühstück, sonst bist du die Nächste, die hier umfällt-denk an euer Baby!“ und Sarah nickte, als Ben sie auffordernd ansah. „Keine Widerrede Schatz, ich schlafe jetzt noch ein Ründchen!“ flüsterte er und die Schwester packte Sarah nun einfach am Arm und zog sie mit ins Stationszimmer, wo schon der Frühstückstisch gedeckt war. „Ich zahle natürlich dafür!“ beteuerte Sarah und ihre Kollegen drückten sie jetzt wortlos auf einen Stuhl-„Ja, ja schon in Ordnung, wir hätten dich aber auch eingeladen!“ bemerkte die Stationsleitung und nun schenkte sich Sarah doch einen Tee ein und griff nach einem Brötchen. „Wir müssen nachher noch fragen, ob dein Mann auch schon was zu essen kriegt-eigentlich spricht ja nichts dagegen-am Bauch hat er ja nichts!“ überlegte Ben´s betreuende Schwester und Sarah nickte. Wenn Ben wieder essen konnte, dann würde es ihm bald besser gehen.


    Nach dem Frühstück rief Sarah erst bei Hildegard an, die sehr erleichtert war, dass man Ben´s Fuß hatte erhalten können und die berichtete ihrerseits, dass sie Konrad verständigt hatte und es Tim und Lucky sehr gut ging. Nun setzte sich Sarah wieder neben den schlafenden Ben und betrachtete sorgenvoll, wie sich sein malträtierter Brustkorb hob und senkte. Er hatte noch einen weiten Weg bis zur Genesung vor sich, aber immerhin hatte sie ihn zurück und dafür war sie zutiefst dankbar-es hätte auch anders ausgehen können. Ihre Kollegin stellte einen Schnabelbecher mit warmem Tee aufs Nachtkästchen. „Wir sollen erst mal langsam anfangen-wenn er den Tee verträgt, kann er mittags ein Süppchen haben.“ gab sie die Anordnung des Stationsarztes weiter, da streckte die Stationsleitung den Kopf zur Zimmertür herein: „Ihr könnt schon mal alles vorbereiten-er soll in einer halben Stunde in der Urologischen Endoskopieabteilung sein!“ richtete er aus und nun sah Ben, der gerade erwacht war ein wenig panisch um sich. Um Himmels Willen-was würde ihn da wohl erwarten?

  • Sarah und die junge Schwester nickten. Die Pflegerin ging hinaus, um eine frei tropfende Infusion mit Rückschlagventil, die Trägerlösung für das Noradrenalin, das Ben immer noch brauchte, vor zu bereiten und einen neuen Perfusor her zu richten. Sie holte eine transportable Sauerstoffflasche, die sie ans Bett hängte und eine Halterung für den Monitor, zudem die Krankenakte. Außerdem gab sie dem Stationsarzt Bescheid-beimTransport instabiler Intensivpatienten war eine Arztbegleitung vorgeschrieben- und der versprach, einen jungen Assistenzarzt mit zu schicken, der gerade sein halbjähriges Anerkennungspraktikum auf der Intensivstation ableistete, was die Voraussetzung für den Facharzt in Chirurgie oder Innerer Medizin war und den man mal eine Weile entbehren konnte.


    Ben sah Sarah ängstlich an. „Was soll ich in dieser Uro-Dingsda?“ wollte er wissen und Sarah erwiderte liebevoll. „Schatz-du hast schwere Nierenquetschungen erlitten, das muss kontrolliert werden und der Urologe der dich gestern untersucht hat, hat zwar akut keine Notwendigkeit gesehen, da chirurgisch zu intervenieren, aber man muss das im Auge behalten.“ erklärte sie. „Und wie wird das gemacht?“ fragte nun Ben, dem schon Übles schwante, aber nun zuckte Sarah mit den Schultern und sagte wahrheitsgemäß: „Ich habe keine Ahnung was der für heute geplant hat!“ obwohl sie sich schon vorstellen konnte, welche Diagnostik jetzt gemacht würde, aber das würde der Urologe ihrem Mann schon selber erklären und sie wollte ihm vorher keine Angst machen.


    Semir war am Morgen erst vom Wecker erwacht. Nach einem Blick auf die Uhr beschloss er, zunächst einmal bei Ben vorbei zu schauen, auch wenn er durch den Anruf Sarah´s beruhigt war, aber irgendwie musste er ihn persönlich sehen bevor er in die PASt ging. Nachdem er ja das ganze Wochenende eigentlich gearbeitet hatte, könnte es sogar sein, dass er bald wieder Feierabend machen konnte, aber zumindest seine Berichte musste er heute noch schreiben-alles Weitere würde er mit der Chefin besprechen. So rief er nach dem Frühstück kurz bei Susanne an und kündigte an, dass er später kommen würde und warum, woraufhin ihm die einen lieben Gruß aller PASt-Mitarbeiter an Ben auftrug und versprach, das der Chefin auszurichten, die noch nicht im Büro war. Während Andrea die Kinder noch auf ihrem Weg zur Arbeit in Schule und Kindergarten brachte, machte sich Semir auf zur Uniklinik und fand auch gleich einen Parkplatz in der Nähe des Haupteingangs.


    Wenig später war er vor der Intensivstation und wollte gerade auf die Glocke drücken, da öffnete sich die Tür und Ben wurde-begleitet von Sarah, einem Arzt und einer Schwester- heraus gefahren. „Hallo Ben-wie geht’s dir denn?“ fragte er freundlich und musterte seinen Freund aufmerksam. Er war zwar blass und seine Haare waren noch schmutzig, aber sonst sah er schon ein wenig besser aus als gestern. „Semir-wir müssen los-Ben hat einen Termin in der Uro-Endo, wenn du möchtest, kannst du ja mitkommen, dann können wir uns noch unterwegs ein wenig unterhalten!“ bestimmte Sarah und so machte sich die Karawane auf den Weg.
    So fuhren sie los durchs ganze Haus, um pünktlich vor der Endoskopieabteilung zu stehen. Die Schwester nahm die Papiere und gab die in der Anmeldung ab, woraufhin man alle miteinander ein Stückchen weiter in einen grün gefliesten Vorraum bat. Der Urologe, der Ben am Vortag bereits untersucht hatte, trat in grüne OP-Kleidung gewandet an sein Bett, reichte ihm und auch Sarah und Semir die Hand und sagte freundlich: „Ich habe schon gehört, dass die Operation am Fuß gut verlaufen ist. Eine Thoraxdrainage haben sie ja auch bekommen und die Hämatome wurden entlastet. Ich möchte mich jetzt um die Nieren kümmern und die, wie gestern bereits angekündigt, genauer untersuchen. Wir machen zunächst wieder einen Ultraschall und dann werde ich eine retrograde Kontrastmitteldarstellung der Harnleiter und der Nierenbecken machen, vor allem an der rechten Niere besteht ja eine Parenchymverletzung, das bedeutet, dass Nierengewebe zerstört ist und jetzt müssen wir unbedingt prüfen, ob da irgendwo Urin austritt, denn wenn das der Fall ist, kann man eine üble Bauchfellentzündung kriegen und ohne Behandlung droht der Verlust der Niere!“ erklärte er und Ben nickte-soweit hatte er die Notwendigkeit dieser Untersuchung begriffen-aber wie würde die durchgeführt werden?


    Bevor er allerdings fragen konnte, kam ihm der Urologe zuvor. „Ich werde dazu unter örtlicher Betäubung der Harnröhre ein Cystoskop-das ist ein endoskopisches dünnes Instrument-in ihre Blase einführen, von dort die Harnleiter aufsuchen und mit Kontrastmittel füllen. Dann machen wir mehrere Röntgenaufnahmen und können so sehen, wenn Harn aus dem Ureter oder dem Nierenkelchsystem austritt.“ erklärte er und Ben war jetzt von der Logik her die Vorgehensweise klar, aber trotzdem lief es ihm kalt den Rücken hinunter.
    Der Assistenzarzt hatte sich verabschiedet und war auf die Intensiv zurück gekehrt-er hatte den Patienten an einen anderen Arzt übergeben und würde erst wieder zur Abholung angerufen werden. Sarah hatte schon vermutet, dass diese Untersuchung gemacht werden würde und sagte gleich: „Schatz-ich kann da leider nicht mit rein-ich meine schon zum Ultraschall, aber danach muss ich rausgehen-die Röntgenstrahlen würden unserem neuen Baby schaden!“ erklärte sie ihm und ihre junge Kollegin bekam nun einen roten Kopf. „Tut mir leid, aber ich muss auch passen-wir wünschen uns auch sehnlichst ein Kind und verhüten nicht-ich möchte wegen des Röntgens kein Risiko eingehen!“ erklärte sie und so sah Semir plötzlich mehrere hilfesuchende Blicke auf sich ruhen. „Bleibst du bei ihm?“ fragte Sarah ein wenig bang und Semir nickte, das war doch klar, dass er seinem besten Freund in so einer Situation beistand und nicht einfach abhaute.


    Ben schlug das Herz bis zum Hals, als man nun sein Bett packte und in den Untersuchungsraum rangierte. Auch der war grün gefliest und eine Menge technisches Gerät, Monitore, C-Bogen, Ultraschallgerät etc. standen herum, aber Ben´s Blick wurde wie magisch von dem Ding in der Mitte angezogen-da stand nämlich ein Untersuchungsstuhl mit Beinhaltern, wie sonst eher bei Frauenärzten und bis er sich versah, hatte man sein Bett daneben gestellt, ein Rollbrett geholt und alle packten mit an, ihn dort hinüber zu befördern. Nur Sarah bekam nichts außer dem Behälter der Thoraxdrainage zu halten und musste die Perfusoren, die Kabel und die Arterie beaufsichtigen, damit man da nichts herauszog-Schwangere sollten schließlich nicht heben. Ben schrie kurz auf-klar mit seinen gebrochenen Rippen und den aufgeschnittenen Blutergüssen tat jede Lageänderung weh, aber bis er sich versah lag er mit gespreizten Beinen auf dem Tisch und vor Angst und Scham schoss ihm das Blut in den Kopf, als man ihn dort fachmännisch zurecht rückte und eine Schulterstütze anbrachte, damit er nicht nach oben rutschte, wenn man den Tisch kopfwärts kippte. Die Endoskopieschwester hatte rücksichtsvoll für den Augenblick ein angewärmtes grünes Tüchlein zwischen seine Beine gelegt, aber Ben war nun schrecklich aufgeregt und todfroh, dass Semir bei ihm blieb, denn er wäre jetzt am liebsten davongelaufen, wenn es möglich gewesen wäre.


    Der Urologe zog jetzt zunächst das Ultraschallgerät heran und schallte wie am Vortag Ben´s Bauch und die Nierenregion. „Rechts ist wesentlich mehr freie Flüssigkeit im Retroperitoneum als gestern-wir werden gleich sehen, ob das Blut oder Urin ist!“ teilte er den Umstehenden mit, die gebannt auf das graue Gewaber auf dem Bildschirm sahen. Ben interessierte das im Moment überhaupt nicht, außer dass ihm der Druck des Schallkopfs Schmerzen bereitete. Viel mehr Sorgen machte ihm der nächste Schritt der Untersuchung und bis er sich versah, wurde das Licht, das man zunächst gelöscht hatte, damit man den Bildschirm besser erkennen konnte, wieder angemacht, der Arzt wischte sorgfältig das glibbrige Ultraschallgel mit Papiertüchern von seinem Bauch und den Flanken und nun verließen Sarah und ihre Kollegin den Raum, während der Arzt, die Endoskopieschwester und Semir nun schwere Röntgenschürzen aus Blei anlegten und Semir danach fest nach Ben´s linker Hand griff-die rechte lag ja immer noch wie tot neben ihm und wurde von einem Armhalter gestützt, damit sie nicht einfach seitlich herunterrutschte. Es ging los!

  • Ben hatte die Augen geschlossen als man den Dauerkatheter entfernt und nach sorgfältiger Desinfektion der Arzt die Blasenspiegelung vorgenommen hatte. Semir und alle anderen Anwesenden konnten auf dem Videobildschirm die Bilder sehen, die die Kamera im flexiblen Endoskop von Ben´s Innerem machte. Nachdem die Blase mit sterilem Wasser aufgefüllt worden war, was ziemlich drückte und Ben Bauchkrämpfe verursachte, hatte der Arzt nacheinander in jede Harnleiteröffnung langsam wenige Milliliter eines Kontrastmittels gespritzt und danach mit dem C-Bogen, einer transportablen Röntgeneinheit, die man über Ben geschoben hatte, Bilder angefertigt. Man konnte sehen, dass sich auf der linken Seite die Nierenkelche und der Harnleiter scharf begrenzt darboten und obwohl auch aus dieser Seite immer noch Blut kam, musste dort nichts gemacht werden. Anders sah es auf der rechten Seite aus. Dort verlor sich kurz unterhalb des Nierenbeckens das Kontrastmittel und verschwamm im Gewebe, was Ben außerdem ziemliche Schmerzen bereitete. Er bekam ein krampflösendes Schmerzmittel gespritzt, aber trotzdem klammerte er sich wie ein Ertrinkender an Semir´s Hand fest, hatte die Augen immer noch fest geschlossen und atmete stoßweise. Wie aus der Ferne hörte er die Erklärungen des Arztes, konnte ihnen aber gar nicht folgen, so peinlich und schmerzhaft empfand er den Eingriff. Semir´s Blick wanderte immer wieder von Ben´s Gesicht zu dem Bildschirm. Eigentlich war das sogar ziemlich interessant, was der Urologe da erklärte, aber das empfand man wohl nur, wenn man nicht der Betroffene war, in dem da gerade herum gefuhrwerkt wurde.


    Der Arzt hatte nun die Länge des Harnleiters anhand der Röntgenaufnahme ausgemessen und ließ sich eine Ureterschiene in der passenden Länge anreichen. „Herr Jäger ich lege jetzt mithilfe des Endoskops einen sogenannten Pigtailkatheter in ihren rechten Ureter!“ kündigte er an und schon schob er mittels eines Einführungsdrahts das dünne Schläuchlein mit den vielen Löchern über die prall mit sterilem Wasser gefüllte Harnblase unter Sicht in den Harnleiter. Der Tisch musste dazu stark kopfwärts gekippt werden, was Ben ebenfalls zusetzte. Als der Spezialkatheter oben im Nierenbecken ankam, entfernte der Arzt den Einführungsdraht und wie ein Schweineschwänzchen-daher auch der Name-kringelte sich das eine Ende im Nierenbecken und das andere in der Blase.


    „Wir hoffen jetzt, dass über diese Schiene“, deren korrekte Lage der Urologe jetzt nochmals durch eine Röntgenaufnahme kontrollierte, „der Harn nach außen abgeleitet wird und nicht mehr ins Gewebe läuft. Mir ist es jetzt während dieses Eingriffs nicht möglich das Nierenbecken zu rekonstruieren und zu verschließen. Manchmal genügt es mittels dieser Schiene, die bis zu mehreren Monaten liegen bleiben kann wenn nötig, die aber auch schnell wieder entfernt ist, dem in der Niere gebildeten Harn den richtigen Weg zu weisen. Wir müssen ja auch davon ausgehen, dass durch die massiven Kräfte die auf dieses empfindliche Organ eingewirkt haben, die Strukturen alle verschwollen sind und daher auch ein Abflusshindernis bestanden hat. Ich werde aber regelmäßige Ultraschallkontrollen vornehmen und auch den klinischen Verlauf beobachten, so dass wir eingreifen können, wenn diese Therapie nicht ausreichend ist!“ erklärte der Arzt, ohne dass Ben ihm richtig zuhörte. Er wollte jetzt nur noch, dass es endlich vorbei war, er aus dieser peinlichen Lage befreit wurde und ins weiche Bett durfte. Die eröffneten Blutergüsse und die gebrochenen Rippen schmerzten, sein Fuß, der durch die Schiene auch ziemlich unbequem im Beinhalter hing, tobte und überhaupt war er nur noch fix und fertig.


    So atmete er auf, als der Arzt das Endoskop entfernte, einen neuen Blasendauerkatheter aus Silikon einführte und nun das Deckenlicht wieder angemacht wurde. Der Arzt, die assistierende Schwester und auch Semir zogen ebenfalls aufatmend die schweren Röntgenschürzen aus und Semir wunderte sich, wie man sowas viele Stunden am Tag tragen konnte-das war alleine schon ziemlich anstrengend und warm. Sarah und ihre Kollegin wurden wieder herein geholt und in umgekehrter Reihenfolge wie er auf den Stuhl gekommen war, wurde Ben mittels des Rollbretts und vieler helfender Hände wieder in sein Bett befördert. Als Sarah ihn mitleidig zudeckte, inzwischen zitterte er nämlich vor Kälte und Erschöpfung, erzählte der Urologe ihr und der Intensivschwester noch, was er für einen Befund erhoben, was er unternommen hatte und die weitere Therapie. „Wie ich gesehen habe, ist er ja bereits antibiotisch abgedeckt, ich darf aber um regelmäßige Untersuchungen des Urins auf Keime bitten-wir haben durch diese durchaus üble Verletzung ein erhöhtes Infektionsrisiko!“ erklärte er und während sie darauf warteten, dass der Arzt von der Intensivstation zur Abholung kam, füllte der Urologe noch das Endoskopieprotokoll am PC aus und dokumentierte die eingelegte Ureterschiene. Auch dieses Schriftstück kam in die Befundmappe, die sich langsam zu füllen begann, denn eine lückenlose Dokumentation war gerade im Krankenhaus sehr wichtig. Auch wenn die Akten später alle digitalisiert wurden-so ganz funktionierte das noch nicht mit der Papierlosigkeit-jetzt konnte jeder Behandler genau nachvollziehen was man mit dem Patienten gemacht hatte und wie die weitere Vorgehensweise war. Endlich erschien der Arzt und nachdem Ben jetzt die Augen geschlossen hatte und nur noch seine Ruhe wollte, verabschiedete sich Semir, um in die PASt zu fahren und die anderen brachten den jungen Polizisten zurück auf die Intensivstation.

  • Als Semir in der PASt eintraf, wurde er von allen anwesenden Mitarbeitern und der Chefin begrüßt. „Wie geht es Ben?“ fragte Jenni und auch alle anderen lauschten gebannt Semir´s Worten. Der überlegte kurz, ob es seinem Freund wohl Recht wäre, wenn er alle Diagnosen weitergab, aber dann entschied er sich doch dafür- da war nichts dabei, weswegen man sich schämen musste und so erzählte er, dass man wohl den Fuß hatte wieder annähen können, der Arm zwar noch taub, aber durchblutet war, er eine Thoraxdrainage nach Rippenbrüchen und Blutungen in den Brustraum hatte und auch eine schwere Nierenverletzung gerade eben behandelt worden war. „Ganz abgesehen dass er auf lauter aufgeschnittenen Blutergüssen am Rücken kaum liegen kann!“ fügte Semir noch hinzu und alle drückten nun ihre Betroffenheit und ihr Mitleid aus. „Wir wissen ja er ist ein Stehaufmännchen und wird auch das überstehen-seine kleine Familie braucht ihn doch!“ sagte Dieter Bonrath und die Kollegen nickten eifrig.


    Nun bat Frau Krüger Semir ins Büro und dort erfuhr er, dass es Brummer gelungen war zu fliehen und dass sie Stumpf, der im Marienkrankenhaus erfolgreich operiert worden war, deswegen erneut unter Personenschutz hatte stellen lassen. Semir sah sie mit offenem Mund an: „Das ist doch fast nicht möglich-er war doch nach der Schussverletzung selber schwer angeschlagen!“ staunte er, aber die Chefin zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung wo er hin verschwunden ist oder ob er Helfer hatte. Wir haben eine Streife bei seiner Frau vorbei geschickt, aber die war zuhause und ihr Gemeindepfarrer hat ihr beigestanden-ich glaube nicht, dass die in etwas eingeweiht war, oder ihn unterstützt hat. Sogar Spürhunde waren eingesetzt, aber dieser Brummer ist mit allen Wassern gewaschen-ich glaube da ist ein sehr gefährlicher Mann auf der Flucht!“ vermutete sie und Semir musste ihr beipflichten. „Ich schreibe jetzt mal meine Berichte, Chefin und danach schaue ich nochmals bei dieser Frau Brummer vorbei-vielleicht kann sie mir doch einen Hinweis geben, wo wir ihren Mann suchen sollen und wie der zum skrupellosen Mörder geworden ist, außerdem sollten wir vielleicht an die Presse gehen und sein Bild veröffentlichen, auch damit die Bevölkerung gewarnt ist!“ überlegte er und Frau Krüger stimmte ihm in allen Punkten zu. „Und Gerkhan-wenn sie dies alles erledigt haben, machen sie Feierabend-sie haben immerhin das ganze Wochenende gearbeitet!“ ordnete sie noch an und Semir nickte-genau so hatte er sich das auch gedacht-Andrea und die Kinder würden sich freuen, wenn er mal ausnahmsweise früher zuhause war und außerdem würde er auf jeden Fall am Abend nochmal bei Ben vorbeischauen und sich erkundigen, wie es ihm ging.


    Ben war kaum auf der Station angekommen und dort wieder an seinem Bettplatz verkabelt, da wurden seine Augen schwer. Der Stress und die Anspannung begannen sich zu lösen, man stellte ihm noch das Wärmegebläse ans Bett, das wohltuend heiße Luft unter seine Decke pustete und langsam fielen ihm die Augen zu. Es war jetzt später Vormittag und Sarah saß aufmerksam an seinem Bett und achtete auf jede seiner Regungen. Sie bot ihm auch noch Tee an, aber außer einen winzigen Schluck getraute er sich nichts zu nehmen-ihm war ein wenig übel, aber primär wollte er jetzt einfach nur schlafen. „Sarah-geh mal ne Weile heim und schau nach Tim und Lucky, obwohl die sicher bei Hildegard in besten Händen sind. Du musst was essen und vielleicht könntest du mir auch meinen MP3-Player mitbringen!“ bat er sie und nach kurzem Zögern willigte Sarah ein. Ihr Mann war hier in besten Händen und in wenigen Stunden würde sie wieder bei ihm sein, aber er hatte Recht-ihr Sohn wollte vielleicht auch seine Mama sehen und so machte sie sich wenig später auf den Weg-einerseits immer noch voller Sorge um ihren geliebten Mann und andererseits voller Dankbarkeit, dass sie ihn noch hatte und das neue Baby seinen Papa doch kennen lernen durfte, etwas was sie in der Zeit seines Verschwindens kaum für möglich gehalten hatte.

  • Nachdem Semir seinen Bericht fertig geschrieben hatte, setzte er sich in den BMW und fuhr zu Frau Brummer. Man hatte sie zwar davon verständigt, dass ihr Mann geflohen war, aber über die näheren Umstände wusste sie noch nicht Bescheid. Sie hatte zwei Kerzen angezündet und vor eine Art Schrein gestellt, wo ein Kreuz und das Bild eines fröhlichen lachenden etwa vierzigjährigen Mannes stand. „Ich bete schon die halbe Nacht für meinen Mann!“ sagte sie. „Peter hätte das nicht gewollt, dass er aus Rache zum Mörder wird! Er war so ein herzlicher, hilfsbereiter Mensch und als er plötzlich so krank wurde, hat er sein Schicksal angenommen und getragen. Er kam auch mit seiner Behinderung gut zurecht, aber sein Vater war deswegen voller Hass und Groll und wurde sogar aus der Bundeswehr unehrenhaft entlassen, weil er im Afghanistankrieg damals an Folterungen an feindlichen Soldaten beteiligt war!“ erzählte sie und jetzt lief es Semir kalt über den Rücken. Wenn sie gedacht hätten, dass dieser Brummer ein derartig gefährlicher Mensch, sozusagen ein hervorragend ausgebildeter Kämpfer, eine menschliche Waffe war, dann wäre er höchstpersönlich im Krankenwagen mitgefahren und hätte ihn nicht aus den Augen gelassen-aber auf ihn hatte er den Eindruck eines normalen und schwer verletzten Mittsechzigers gemacht, wer hätte sowas auch erwartet?
    „Frau Brummer-hat sich ihr Mann bei ihnen gemeldet?“ fragte Semir eindringlich, aber die Frau sah ihn fest an. „Nein-hat er nicht und auch wenn ich ihn immer noch liebe und unser gemeinsames Schicksal unsere kleine Familie über die Jahre noch fester zusammen geschweißt hat, werde ich ihn nicht decken. Wie sie mir gesagt haben, hat er vermutlich mehrere Morde begangen und in der Bibel steht: „Du sollst nicht töten!“ Er wird sich zwar einmal vor einem höheren Richter verantworten müssen und von dem vielleicht auch einmal Vergebung erhalten, wenn er genügend gebüßt hat, aber ich werde ihn der weltlichen Gerechtigkeit ausliefern, wenn er nach Hause kommt-so habe ich es mit unserem Herrn Pfarrer ausgemacht!“ versicherte sie und Semir gab ihr seine Karte, damit sie ihn jederzeit erreichen konnte.


    „Haben sie irgendeine Ahnung wo ihr Mann sich aufhalten könnte?“ fragte Semir und Frau Brummer zuckte mit den Schultern. „Er kann überall sein! Bevor Peter diesen schlimmen Unfall hatte, haben die beiden öfter ein sogenanntes Survivaltraining gemacht-sie sind zusammen irgendwo in eine menschenleere Gegend gefahren, haben sich von den Früchten des Waldes ernährt, in Erdlöchern geschlafen, Fische mit einfachen Mitteln gefangen und gegessen, sogar Feuer wie in der Steinzeit konnten sie entfachen.“ erzählte sie und Semir sah sofort ein, dass es schwierig werden würde, Brummer zu fassen. Die Frau gab ihm noch die Adresse seines damaligen Vorgesetzten bei der Bundeswehr, der in der Nähe wohnte und nachdem Semir sich von ihr verabschiedet hatte, suchte er diesen Mann ebenfalls noch auf.


    Der Mittsiebziger mit dem streng militärischen Haarschnitt begrüßte ihn und Semir musste sich zusammenreißen, damit er nicht die Hacken zusammen schlug und salutierte, so eine Ausstrahlung hatte der Mann immer noch. Als er ihm mitteilte, warum er kam, nickte der Pensionär mit dem Kopf. „Ich habe mir sowas schon gedacht, als ich die Warnung vor meinem ehemaligen Mustersoldaten vorhin im Radio gehört habe!“ erzählte er und als Semir sich mit dem Mann eine Weile unterhalten hatte, war ihm noch viel unwohler. Tatsächlich handelte es sich bei dem gesuchten Mörder um einen Mann, der wegen einer Persönlichkeitsstörung aus der Bundeswehr geworfen worden war. „Wir wollten ihn damals zu einer Behandlung überreden, denn wenn man das als eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert hätte, wären er und seine Familie wenigstens finanziell abgesichert gewesen, aber er hat sich jeder Behandlung verweigert und vor dem Militärgericht beteuert, die Folterungen und auch Übergriffe im Kriegsgebiet in vollem Bewusstsein und ohne jegliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit begangen zu haben-dem Gericht blieb nichts anderes übrig als ihn ohne Pensionsansprüche unehrenhaft zu entlassen und er hat das nie verstanden und deshalb einen großen Groll gehegt!“ berichtete der ehemalige Offizier, aber auch er wusste nicht, wo sich Brummer konkret verbergen konnte. „Wir haben Sommer, eigentlich kann er überall sein und er ist auch durchaus fähig sich selber medizinisch zu behandeln und auch lange Zeit alleine draußen zu überleben-wir bringen das unseren Soldaten gerade vor Auslandseinsätzen akribisch bei!“ erzählte er Semir und der seufzte nun auf. Vermutlich hatten sie ohne die Hilfe des Kommissars Zufall wenige Chancen den Gesuchten aufzustöbern.


    Dennoch fuhr er, nachdem er auch hier sein Kärtchen hinterlassen hatte, noch zu dem Ort an dem man den Krankenwagen aufgefunden hatte. Er lief ein Stück in das Wäldchen hinein und sah auch den zertrampelten Boden wo die Suchmannschaften durchgestöbert waren, allerdings fand er keinen Hinweis auf den Gesuchten. Brummer saß derweil nicht weit von ihm entfernt wieder auf einem Baum, der ihm trotz der verletzten Schulter bei seiner Sportlichkeit leichte Aufstiegsmöglichkeiten bot und wo er auch in einer breiten Astgabel seine Beute verborgen und eine Art Baumhaus gebaut hatte und spähte durch das dichte Blätterdach nach unten, wer da durch das Wäldchen schlich. Das war doch dieser Polizist der ihn nach dem Attentat auf Stumpf identifiziert hatte! Brummer hatte das Gefühl in dem einen ernsthaften Gegner vor sich zu haben, aber wegen seiner Verletzung scheute er aktuell einen Zweikampf und außerdem schien der Mann gut in Form zu sein und er konnte auch das Holster unter seiner Jeansjacke erspähen-diese Konfrontation musste er auf einen späteren Zeitpunkt verschieben!


    Semir fuhr also, nachdem er Frau Krüger noch vom Stand der Ermittlungen berichtet hatte nach Hause und traf gerade rechtzeitig ein, um den Mittagessenstisch zu decken-Andrea hatte am Vortag schon vorgekocht und so konnte er gemeinsam mit seiner Familie das Essen genießen und auch den Nachmittag verbringen.


    Ben war derweil wieder erwacht, weil ihm jetzt richtig übel war. Er hätte den Schluck Tee nicht nehmen sollen und als dann noch die Schwester mit einer dampfenden Schüssel Suppe zur Tür herein kam, kam es ihm sofort hoch und er übergab sich in die schnell herbeigeholte Nierenschale. Es kam allerdings nichts außer ein wenig Magensaft und Galle. „Ich hole den Doktor!“ sagte die Schwester kurz entschlossen und Ben war nur froh, als sie die Suppenschüssel wieder mit nahm-er konnte den Gedanken an Essen und den Geruch gerade überhaupt nicht ertragen!

  • Wenig später stand der Arzt vor ihm. „Herr Jäger, ich habe gehört, ihnen geht es nicht so gut!“ fragte er und nahm auch schon Ben´s Zudecke zur Seite. Während er geschlafen hatte, hatte die Schwester irgendwann das Wärmegebläse weg genommen, ohne dass er es gemerkt hatte, aber ihm war jetzt sowieso eher heiß. Der Doktor fragte: „Ist ihnen immer noch übel?“ und Ben nickte, woraufhin der Arzt die Decke ein wenig nach unten schob und das Hemd, in dem sowieso nur der rechte Arm steckte, der linke war wegen der Arterie nicht durchgeschlüpft, nach oben. Erst betastete er Ben´s Bauch, was dem aber nicht sonderlich weh tat und dann holte er sein Stethoskop heraus, hörte den Leib sorgfältig ab und runzelte dabei die Stirn. „Da rührt sich überhaupt nichts-wann hatten sie zum letzten Mal Stuhlgang?“ fragte er und Ben warf einen verschämten Seitenblick zur Schwester, die ebenfalls neben seinem Bett stand. Mann war das peinlich-er kannte doch die meisten der Kolleginnen seiner Frau, da unterhielt man sich nicht so gerne über solche intimen Details. Die verstand seinen Blick richtig und tat so, als hätte sie außerhalb des Zimmers noch was zu erledigen. Als sie draußen war, antwortete Ben stockend-er hatte sogar ein wenig überlegen müssen. „Das war am Donnerstagmorgen-irgendwie bin ich am Freitag erst nicht dazu gekommen und dann…“ sagte er, denn klar als er so eingeklemmt gewesen und voller Hunger und Durst gewesen war, hatte sein Körper sich mit allem beschäftigt außer der Verdauung. „Dann ist das heute der fünfte Tag an dem sie Verstopfung haben, ich werde ihnen ein Medikament geben, das die Darmmotorik ein wenig anregt und dann versuchen wir auch von hinten noch zu stimulieren-sie bekommen noch Abführzäpfchen- und dann hoffe ich, dass die Peristaltik wieder in Gang kommt, die Übelkeit weg geht und sie bald wieder was essen können!“ sagte der Arzt freundlich und überlegte für sich, dass natürlich die Opiate, die Ben gegen die Schmerzen bekam, ebenfalls noch den Darm lähmten, aber da musste man jetzt eben gegenarbeiten-er sah das nicht so dramatisch.


    „Schwester-können sie mir 20mg MCP bringen?“ rief er laut, denn er hatte sie direkt vor der Zimmertür vorbeihuschen gesehen und wenig später stand die junge Frau vor ihm und drückte ihm eine aufgezogene Spritze, über die noch die Ampulle gestülpt war, in die Hand. Der Arzt entleerte die in Ben´s ZVK und ordnete dann noch zwei Abführzäpfchen an-eins war für Erwachsene eine zu geringe Dosis-und Ben begann gerade zu überlegen, wie er die Verabreichung verhindern konnte bis Sarah wieder da war, denn irgendwie genierte er sich gerade ein wenig, da wurde ihm auf einmal ganz komisch und dann begann er zu krampfen.


    Brummer hatte sich erneut das Antibiotikum verabreicht und dann den Verband gewechselt. Als er durch das Wäldchen gestreift war, dabei einige essbare Pflanzen vertilgt, junge Blätter der Bäume gegessen und aus dem klaren Bächlein etwas getrunken hatte, hatte er auch einige Heilkräuter entdeckt und machte nun damit einen dicken Verband auf seine Schulterverletzung. Solche Kräuterpackungen halfen oft den Heilungsverlauf zu beschleunigen und er merkte auch, wie er langsam zur Ruhe kam, durch den Aufenthalt in der Natur sein Verstand sich wieder klärte und die Kräfte zurück kehrten. Nur noch ein bisschen, dann konnte er seine Mission vollenden, seine Frau holen und mit ihr irgendwo im Ausland ein neues Leben anfangen-dazu war man nie zu alt!


    Sarah war, nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatte, zuerst nach Hause gefahren, um für sich und Ben einige Sachen zusammen zu packen. Sie lüftete die Wohnung kurz durch und fuhr dann-wie sie telefonisch schon angekündigt hatte-zu Hildegard, wo sie zunächst einmal begeistert von den beiden Hunden Frederik und Lucky begrüßt wurde. Tim allerdings schenkte ihr zwar ein kurzes Lächeln, buddelte dann aber selbstvergessen in der neuen Sandkiste weiter mit seinen Sandelsachen und manschte dazu noch mit Wasser. Sarah freute sich schon, wenn sie ihm das im neuen Haus auch bieten konnten-Sand und Wasser war einfach etwas, was den meisten Kindern ganz besonders Spaß machte, aber so ging Tim gerade extrem gerne zu Hildegard, das war nämlich hier die neueste Attraktion, obwohl die sich für ihn sowieso ständig etwas Interessantes, Kind gerechtes einfallen ließ.
    Sarah dankte Gott für die glückliche Fügung, die ihr diese Zweitoma geschenkt hatte-eigentlich war sie zu ihr gekommen um ihre Hundeangst zu überwinden, als Ben nach einer Beissattacke im Krankenhaus gelandet war und jetzt hatten sie selber einen Hund und das Goldstück Hildegard, die einfach Zeit für Tim hatte, noch dazu!


    Hildegard hatte gerade den Tisch gedeckt und zuvor eine wohlschmeckende Mahlzeit zubereitet. Sie hatte vorsorglich schon für Sarah auch mit gekocht, denn sie hatte gehofft, dass die ein wenig vorbei kommen würde und es möglich war, Ben wenigstens für kurze Zeit alleine zu lassen. Der Sandkasten stand so günstig, dass sie Tim darin beobachten konnte, wenn sie in der Küche war und so hatte sie in Ruhe das Mittagessen vorbereiten können, als Sarah sich angekündigt hatte. So holte Sarah nun ihren Sohn unter dessen lauten Protests aus der Kiste, wusch seine Hände und den sandverschmierten Mund, aber als er dann in seinem Hochstuhl mit ihnen am Tisch auf der Terrasse saß, war er schnell besänftigt, denn Tim kam ganz nach seinem Papa-nicht nur optisch mit den dunkelbraunen Augen und den dunklen Locken, sondern er futterte auch-obwohl er schlank war- für sein Leben gern. So aß er selber sehr konzentriert und auch Sarah ließ es sich schmecken und erzählte Hildegard von Ben und den vergangenen Erlebnissen, als plötzlich ihr Handy klingelte.
    Ihre Kollegin aus dem Krankenhaus war dran und sagte ernst: „Sarah-wir hatten ja versprochen dich sofort zu verständigen, wenn etwas ist-Ben hat einen Krampfanfall-wir fahren gerade ins CT !“ teilte sie ihr mit und nun sah Sarah, nachdem sie versichert hatte, sofort zu kommen, unglücklich zu Hildegard. „Ich muss wieder in die Klinik-Ben geht es schlecht!“ teilte sie nun auch Hildegard mit, sprang dann auf, küsste Tim zum Abschied und machte sich auf den Weg. „Gute Besserung!“ rief Hildegard ihr nach und half dann Tim die letzten Bissen von seinem Kinderteller zusammen zu schieben. Hoffentlich wurde Ben wieder und es war nichts Schlimmes-sie machte sich um ihre kleine Zweitfamilie gerade große Sorgen!

  • Ben war zwar die ganze Zeit bei Bewusstsein, aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Erst wurde sein Kopf von Kräften, gegen die er sich nicht wehren konnte, in den Nacken gezogen und seine ganze Wirbelsäule überstreckte sich nach hinten, was ihm natürlich zusätzlich auch noch Schmerzen bereitete, seine Glieder begannen unkontrolliert zu zucken, aber das Schlimmste war, dass auch seine Augäpfel wie von Geisterhand nach oben gezogen wurden, so dass er gar nichts mehr sehen konnte. Er versuchte etwas zu sagen, aber nur ein Gurgeln kam aus seiner Kehle. „Schnell-eine Ampulle Diazepam!“ rief der Arzt und als er wenig später das sedierende Valium spritzte, wurde Ben zwar unendlich müde, aber die Krämpfe hörten nicht auf. Man schob eine Sauerstoffmaske über sein Gesicht, denn die Sättigung wurde schlechter, allerdings doch nicht so, dass es gefährlich wurde und so vereinbarte der Doktor eilig ein Schädel-CT mit der Röntgenabteilung, die Pflegekräfte arbeiteten Hand in Hand um den Transport durchs Haus vorzubereiten und wenig später waren eine Schwester, der Arzt und Ben mit einer Intensiveinheit, bestehend aus Transportmonitor, für alle Fälle fahrbarem Beatmungsgerät, Perfusoren und Notfallkoffer, falls man ihn intubieren musste unterwegs, während eine weitere Kollegin Sarah verständigte.


    In der Röntgenabteilung musterte man ihn besorgt und spritzte erneut ein sedierendes Medikament, ohne dass die Zuckungen aufhörten. Nachdem der Kopf zwar in einer total unnatürlichen Lage war, die sicher unangenehm war, aber dabei völlig ruhig lag, zog man Ben mit einem Rollbrett auf den Röntgentisch, befestigte breite Gurte über seinem Körper, damit er nicht herunter fiel und schnallte auch seinen Kopf in der überstreckten Lage fest. „Was hat er bloß?“ rätselten der Arzt und die Schwester, denn normalerweise ließen sich die meisten Krampfanfälle mit hoch dosiertem Diazepam durchaus unterbrechen, aber hier geschah nach der Verabreichung überhaupt nichts. Natürlich konnte man jetzt der Reihe nach alle Antiepileptika ausprobieren, aber das war etwas, was man tun würde, nachdem man die Diagnostik gefahren hatte. Bisher war zwar sein Herzschlag beschleunigt und er brauchte mehr Sauerstoff, aber er war nicht in akuter Lebensgefahr. Außerdem hatte man ja alles zum Intubieren dabei und spätestens wenn er das Muskelrelaxans erhielt, würden sich die Verkrampfungen der Muskulatur lösen, aber der Arzt scheute momentan davor zurück, denn immerhin hatte sein Patient zuvor über Übelkeit geklagt und auch erbrochen-es war also möglich, dass der Magen voll war und eine akute Aspirationsgefahr bei der Intubation bestand-er wollte das wenn nötig lieber später auf der Intensivstation machen, wo er alle Hilfsmittel bereit hatte, falls es dabei Komplikationen gab.
    Man konnte auch die Pupillen nicht kontrollieren, denn die waren so nach oben verdreht, dass man nur das Weiße im Auge sah und so warteten nun hinter der Glasscheibe der Arzt und die Schwester gespannt, ob man auf den CT-Bildern eine Hirnblutung oder Ähnliches erkennen konnte, was das Krampfen erklärte-die Übelkeit wäre dann logisch, denn Hirndruckerhöhung führte häufig zu Schlechtsein und Erbrechen.


    Ben hatte furchtbare Angst. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr und obwohl das Medikament das man ihm gespritzt hatte, zwar seine Denkfähigkeit verlangsamte und auch so manche Teile seines Körpers erschlaffen ließ, aber die schmerzhaften Kontraktionen blieben und er war sich durchaus bewusst, dass der Arzt keine Ahnung hatte was ihm fehlte-das konnte er zumindest aus seinen Gesprächen mit dem Pflegepersonal entnehmen. Du liebe Güte-wenn das nicht bald aufhörte würde er wahnsinnig werden. Der Schweiß brach ihm von der Anstrengung aus und die Unmöglichkeit zu kommunizieren und irgendjemandem mitzuteilen, dass er das Alles hier mitkriegte, wovon anscheinend niemand ausging, setzte ihn noch zusätzlich unter Stress. Er fühlte wie er umgelagert und festgeschnallt wurde. Der harte Röntgentisch unter ihm, der ihm an den aufgeschnittenen Blutergüssen und den gebrochenen Rippen unsägliche Schmerzen bereitete, setzte sich in Bewegung und außer dem Surren der gewaltigen Maschine um ihn herum, die er sich aber nur im Geiste vorstellen konnte, weil er da ja schon öfter darin gelegen hatte, konnte er nichts wahrnehmen. Zusätzlich war ja auch die Übelkeit nicht weg und er war immer noch kurz davor, sich erneut zu übergeben.


    Noch während die schichtweisen Röntgenbilder gemacht wurden, die der Computer dann zu einer zweidimensionalen Grafik umrechnete, sah sie sich der Röntgenologe auf dem Bildschirm an, schüttelte aber schon kurz nach Abschluss der Untersuchung den Kopf. „Ich kann auf den ersten Blick nichts erkennen. Eine Blutung kann ich mit Sicherheit ausschließen, auch Hirndruckzeichen sind nicht zu erkennen. Um eine funktionelle Beurteilung zu erreichen, müsste man ein Angio-CCT, oder besser noch ein MRT machen, aber da haben wir jetzt keine Zeit dafür. Außerdem wäre es besser, ihr würdet zuvor-wie auch immer-versuchen die Spastik zu lösen, ich kann mir das extrem unangenehm für den Patienten vorstellen!“ bemerkte er und erst jetzt wurde den Anwesenden bewusst, dass Herr Jäger ja vielleicht doch etwas mitkriegte. Was den Anwesenden zusätzlich einen Schauer über den Rücken jagte, war die Bemerkung des Röntgenfacharztes, der noch sagte: „Ich habe vor Jahren mal einen Fall von Tetanus erlebt, das sah so ähnlich aus-nur die Zuckungen passen eigentlich nicht dazu!“ überlegte er und nun ratterten die Symptome und die Behandlung im Kopf des Intensivarztes. Falls hier eine Tetanusinfektion vorlag, würde man ihn intubieren und relaxieren müssen und er hatte dann eine sehr schlechte Prognose, aber es war nicht unmöglich-Tetanuserreger kamen überall im Erdreich vor und der Patient war voller Schmutz eingeliefert worden, wie man an seinen Haaren immer noch sehen konnte und ob er geimpft war, wusste der Arzt nicht auswendig.
    Vielleicht war es aber auch eine Enzephalitis, also eine Gehirnentzündung, oder schlimmer noch eine Meningitis, wofür die Nackensteifigkeit sprechen würde-du lieber Gott, dann würde man ihn aber isolieren müssen, denn sowas war je nach Erreger hoch ansteckend! Zur Diagnosesicherung würde man ihm Blut abnehmen und ihn lumbalpunktieren müssen, aber wie sollte er da ran kommen, wenn die Wirbelsäule doch so nach hinten überstreckt war-man brauchte dazu eher einen Katzenbuckel!
    „Er wird ab sofort isoliert, wir setzen jetzt alle einen Mundschutz auf, durch die Sauerstoffmaske ist im Moment eine Tröpfcheninfektion von ihm nicht zu erwarten und nachher ziehen wir uns alle um. Bitte desinfizieren sie den CT-Raum, als wenn wir etwas Infektiöses gebracht hätten!“ bat der Intensivarzt, während man einen Mundschutz anlegte und Ben dann wieder ins Bett zog.


    Sie waren gerade auf dem Weg zurück zur Intensiv, als Sarah voller Panik um die Ecke bog-sie war kurz zuvor auf der Intensiv eingetroffen und hatte von ihren Kolleginnen erfahren, dass Ben noch im CT war. Sie sah den schrecklichen Anblick im Bett und wollte gerade zu ihrem Mann stürzen, da hielt der Intensivarzt, der wie ihre Kolleginnen zu ihrem Erstaunen einen Mundschutz und Handschuhe trug, sie zurück. „Halt Sarah-wir wissen nicht was er hat, es könnte auch eine Meningitis oder Enzephalitis sein, wir haben ihn für infektiös erklärt, solange wir nicht sicher wissen, was ihm fehlt. Du als Schwangere solltest dich solange von ihm fern halten, um dein Kind nicht zu gefährden!“ erklärte er und Sarah blieb wie vom Donner gerührt stehen. Sie meinte in einem schrecklichen Alptraum gefangen zu sein-jetzt hatte sie gedacht, das Schlimmste wäre überstanden und nun brach erneut das Unheil über ihre Familie herein! Wie ein geprügelter Hund folgte sie in großem Abstand dem Bett und das Schlimmste daran war-sie fühlte dass Ben wach und nicht bewusstlos war-als er ihre Stimme gehört hatte, war seine Herzfrequenz langsamer geworden, aber jetzt durfte sie nicht zu ihm, bis man wusste was ihm fehlte. Wenn sie nicht schwanger wäre, würde sie sich einfach umziehen und zu ihm eilen, aber so wusste sie, dass Ben am Allerwenigsten wollte, dass sie ihr neues Baby gefährdete, auf das sie sich doch so freuten. So blieb sie außerhalb des Zimmers stehen, als ihre Kollegen Ben dort hinein schoben, die Tür verschlossen und ihn drinnen versorgten. Sie drückte ihre Stirn an die kalte Glasscheibe, sah zu und stumme Tränen bahnten sich ihren Weg nach unten. Obwohl sie eigentlich nicht gläubig war, begann sie zu beten, etwas anderes fiel ihr gerade nicht ein. Sie löste sich erst aus ihrer Starre als der Neurologe, der routinemäßig nach Ben´s Arm sehen wollte, um dort die Nervenströme zu messen, um die Ecke bog und erstaunt fragte: „Was ist denn hier los?“

  • „Mein Mann hat einen Krampfanfall und bisher weiss niemand warum, darum wurde er jetzt isoliert!“ teilte ihm Sarah in kurzen Worten ihren Kummer mit. „Dann ist das ja genau mein Fachgebiet!“ bemerkte der Neurologe und begann sofort Schutzkleidung, bestehend aus Schutzkittel, Haube, Mundschutz und Handschuhen anzuziehen. Dann betrat er das Zimmer und trat an Ben´s Bett. Sein Gerät zum Messen der Nervenströme hatte er derweil vor der Zimmertür abgestellt.
    „Was haben wir denn hier?“ fragte er den Stationsarzt, der seinen Kollegen mit einem Lächeln begrüßte. „Du kommst ja wie gerufen-wir haben einen akuten Krampfanfall, der sich auch durch bisher 15mg Diazepam nicht lösen lässt. Auf dem CCT ist keine Blutung zu erkennen, dem Patienten war initial übel und dann hat er plötzlich zu krampfen begonnen, eine Epilepsie ist bisher nicht bekannt, er hat aber Fieber und erhöhte Entzündungswerte im Labor, was allerdings durch seine mannigfaltigen anderen Verletzungen, die ja schon antibiotisch abgedeckt sind auch verursacht sein kann, wir haben ihn jetzt aber vorsichtshalber isoliert und ich möchte ihn noch lumbalpunktieren, falls wir eine Enzephalitis oder eine Meningitis vorliegen haben.“ fasste er in kurzen Worten zusammen.


    Nun wurde der Neurologe hellhörig. Nicht jeder Krampfanfall war gleich, aber dieser hier hatte einige Besonderheiten. Erstens die Überstreckung der Wirbelsäule und zweitens die Zuckungen der Extremitäten, die ein bestimmtes Muster aufwiesen. Dazu kam noch, dass sich die Spastik durch Benzodiazepine, wozu Valium gehörte, nicht hatte lösen lassen. Klar konnte das hier auch das Erstereignis eines Krampfleidens sein und das musste man dann eben mit Antiepileptika einsteigen, bevor der Patient in einen lebensbedrohlichen Status epileptikus fiel, der sogar zum Tod führen konnte. Er hatte jetzt allerdings eine Vermutung und deswegen fragte er: „Was hat er denn zur Behandlung der Übelkeit gekriegt?“ und der Intensivarzt antwortete: „20mg Metoclopramid!“ und nun bat der Neurologe die Schwester: „Könnten sie mir bitte eine Ampulle Akineton 5mg holen?“ und die Schwester sah ihn überrascht an, nickte dann aber. Das war doch ein Parkinsonmittel, wenn sie es recht im Kopf hatte und wurde in der Intensivmedizin eher selten angewendet, aber natürlich war es im Medikamentenschrank vorrätig. Sie öffnete die Schiebetür und bat ihre Kollegin das gewünschte Medikament zu bringen-sie war ja durch den fehlenden Schutzkittel sozusagen kontaminiert, würde jetzt im Anschluss mit einem übergezogenen Schutzkittel und Handschuhen in die Umkleide gehen, sich dort mit antibakterieller Lösung duschen und dann frisch angezogen mit neuer Dienstkleidung wieder auf der Station erscheinen und der Intensivarzt würde genauso verfahren, bis sie wussten, was ihrem Patienten fehlte. Würde sich bei der Lumbalpunktion der Verdacht auf eine bakterielle Meningitis bestätigen, würden sie sogar vorbeugend für drei Tage ein Antibiotikum einnehmen, war es allerdings die virale Form, konnte man nur auf sein Immunsystem vertrauen und bei Krankheitsgefühl sofort zuhause bleiben, um eine Durchseuchung zu vermeiden-dieses Risiko bestand einfach für Krankenhausmitarbeiter und auf der Intensivstation besonders.


    Schon war die Kollegin mit der gewünschten aufgezogenen Ampulle zurück und Sarah, die sich immer noch das Gesicht an der Scheibe platt drückte, wunderte sich. Was wollte der Neurologe mit diesem Parkinsonmittel bei Ben? Da spritzte der Arzt schon sehr langsam die Hälfte der Ampulle in Ben´s ZVK und es war wie ein Wunder. Plötzlich löste sich die Spastik in seinem Körper, sein Kopf ruhte wieder normal auf dem Kissen, anstatt sich dort weit überstreckt hinein zu bohren. Die Augen, in denen man nur noch das Weiße gesehen hatte, rollten wieder an ihren Platz zurück und er stöhnte zwar schmerzvoll auf, aber immerhin konnte er wieder sprechen. „Was war das-ich kann nicht richtig sehen und ich habe Schmerzen überall!“ klagte er und nun riss sich der Neurologe mit einem siegessicheren Lächeln die Schutzkleidung vom Leib und rief Sarah zu, sie solle ruhig hereinkommen. „Keine Sorge-er hat nichts Ansteckendes-das war eine zugegebenermaßen recht seltene Nebenwirkung auf das MCP. Auch wenn das ein sehr altes, häufig angewendetes Mittel ist, wirkt es doch neben der anregenden Wirkung im Magen-Darm-Trakt auch im Gehirn durch eine Blockade der zentralen Dopamin-Rezeptoren. Dopamin ist ja ein Botenstoff und manche Menschen reagieren da einfach empfindlich darauf. Ich habe sowas in meiner Laufbahn schon mehrfach gesehen, aber ich bin ja auch Neurologe und mir werden diese Patienten normalerweise auch häufiger vorgestellt, als dem normalen Arzt. Es steht zwar in der Fachinformation drin, aber weil diese Nebenwirkung so selten ist, denkt man meistens nicht dran. Herr Jäger sie bekommen von uns einen Allergieausweis ausgestellt, obwohl das ja eigentlich keine allergische Reaktion ist, sondern einfach eine übersteigerte Sensibilität der Neurotransmitter im Gehirn, aber bitte schreien sie laut, wenn ihnen jemand erneut MCP verabreichen will-sie werden diese Symptome sonst wieder bekommen-ach ja und es kann sein, dass die Wirkung des Akineton kürzer anhält als die des MCP, also bitte in ein bis zwei Stunden verstärkt darauf achten, ob es nochmals zur Spastik und Dyskinesien, also unwillkürlichen Bewegungen kommt. Dann geben sie ihm einfach nochmals zwei bis drei Milligramm Biperiden-das war der Wirkstoff des rettenden Medikaments- dann müsste es aber gut sein!“ wies er seinen Kollegen noch an. Der Intensivarzt bedankte sich und war fast ein wenig schuldbewusst, dass er nicht darauf gekommen war, aber wenn man sich alle seltenen Nebenwirkungen der Medikamente einprägen würde, hätte man vermutlich den Kopf damit voll und käme zu keiner normalen Arbeit mehr.


    „Was wäre jetzt geschehen, wenn er das Gegenmittel nicht gekriegt hätte und warum kann er nicht richtig sehen?“ fragte Sarah schüchtern, die jetzt an die Seite ihres Mannes geeilt war und liebevoll seine Hand ergriffen hatte. „Die Symptome hätten von alleine nachgelassen, wenn das MCP vom Körper abgebaut gewesen wäre, aber meistens hat man bis dahin schon eine ganze Latte Antiepileptika durch und denkt dann, man hätte jetzt das Richtige gefunden! Und das mit den Augen lässt in ein paar Stunden nach, auch die Augenmuskeln waren betroffen und brauchen eine Weile um sich zu entspannen, das vergeht aber.“ erklärte der Neurologe und jetzt lief Sarah ein kalter Schauer über den Rücken. Da hätte man Ben vielleicht als Epileptiker eingestuft, er hätte seinen Beruf nie mehr ausüben können und auch nicht Auto fahren, bis er zwei Jahre lang anfallsfrei gewesen wäre, ob mit oder ohne Medikamente. Obwohl-das mit dem Arbeiten stand sowieso in den Sternen-immerhin bestanden ja immer noch die Arm-und Beinproblematik und die inneren Verletzungen.


    Der Neurologe maß nun erneut die Nervenleitung im Arm und die Werte waren ein wenig besser als am Vortag. „Ich schicke später die Krankengymnastin vorbei, die soll spezielle stimulierende Techniken nach Bobath anwenden, vielleicht beeinflusst das die Nervenheilung!“ gab der Neurologe noch Bescheid und Ben, der jetzt noch ein wenig Schmerzmittel bekommen hatte, entspannte sich endlich und das Valium konnte nun seine Wirkung entfalten und ließ ihn voller Erschöpfung einschlafen-so ein Krampfanfall war körperliche Höchstleistung.

  • Sarah war einfach nur erleichtert. Natürlich hatte sie im Laufe ihres Berufslebens auf der Intensivstation schon mehrere schwere Verläufe von Gehirn-oder Hirnhautentzündung erlebt, an denen die Patienten manchmal verstarben, oder dann bleibende geistige Retardierungen zurück behielten. Als Ben auf die Gabe des Medikaments so gut angesprochen hatte und die Krämpfe sofort aufgehört hatten, hatte sie dem Neurologen vertraut, obwohl sie sich an eine solche Nebenwirkung bei MCP-Gabe nicht erinnern konnte. Sie würde das zu gegebener Zeit nachlesen, aber wichtig war nur, dass es Ben wieder gut ging.
    Der war nun vor Erschöpfung eingeschlafen, fuhr aber kaum eine halbe Stunde später wieder hoch und würgte hervor: „Ich muss kotzen!“ und Sarah beeilte sich, ihm die Nierenschale vorzuhalten. Klar-das Grundproblem, warum er das MCP gekriegt hatte, war deswegen ja noch nicht beseitigt.Der Arzt hatte immer im Vorbeigehen einen Blick ins Zimmer geworfen, war aber beruhigt gewesen, als Ben friedlich schlief und die Werte am Monitor mit einer Spur Noradrenalin stabil waren. Als Ben die Schale ein befüllt hatte, sagte er leise: „Sarah-ich sehe immer noch ganz verschwommen und irgendwie tut mir jede Gräte weh, das war so schrecklich, als ich nichts sagen konnte und da völlig durchgebogen und ohne Kontrolle über meinen Körper da gelegen habe. Ich habe, obwohl die mir schon was gespritzt haben, übrigens jedes Wort gehört, das der Arzt und deine Kollegen gesagt haben!“ teilte er ihr mit und Sarah ließ ihn jetzt den Mund ausspülen und wusch sein Gesicht mit einem kühlen Waschlappen. „ Ben die konnten nicht wissen, dass du bei Bewusstsein bist-normalerweise sind Patienten mit so schweren Grand-Mal-Anfällen komplett weg und können sich hinterher nur manchmal an eine Aura erinnern, bevor sie nichts mehr mitkriegen. Wer konnte denn ahnen, dass du bei Bewusstsein bist!“ versuchte sie ihm zu erklären. „Weisst du Sarah-ich hatte so furchtbare Angst, dass das nicht mehr anders wird und ich nie mehr Kontakt mit meiner Umwelt aufnehmen könnte!“ gab er seine schlimmsten Befürchtungen preis, aber Sarah lächelte und er wusste das einfach, obwohl er immer noch sehr verschwommen sah. „ Semir und ich-wir hätten gemerkt dass du bei Bewusstsein bist und einen Weg gefunden, mit dir zu kommunizieren!“ sagte sie weich und Ben glaubte ihr.


    In dem Moment kam der Arzt erneut ins Zimmer. „Oh-mussten sie sich wieder übergeben, Herr Jäger?“ fragte er, als er den typischen Geruch wahrnahm und Sarah und Ben nickten gleichermaßen. „Sarah-ich habe ihn vor diesen ganzen Ereignissen abgehört-er hat kaum Peristaltik und daher kommt auch die Übelkeit. Das ist ja alles sehr verständlich, aber wir müssen jetzt den faulen Kerl im Bauch deines Mannes in Schwung bringen und verständlicherweise würde ich jetzt lieber mit Medikamenten zurückhaltend sein!“ teilte er den beiden mit und Ben seufzte nun auf. Von seinen zurück liegenden Aufenthalten her hatte er eine ungefähre Vorstellung davon, was ihn erwartete und als Sarah nun entschlossen sagte: „Dann beginnen wir eben mal mit Zäpfchen!“ nickte er ergeben. Die würden eh keine Ruhe geben, bevor er sich nicht entleert hatte und außerdem waren auch die Übelkeit und der Blähbauch alles andere als angenehm! So protestierte er nicht, als Sarah ihn mit ihrer Kollegin, die er Gott sei Dank ebenfalls nicht genau erkennen konnte, zur Seite drehte und ihm mit Schutzhandschuhen über den Händen die zwei Suppositorien verabreichte, die sie aber vorher sorgfältig mit Vaseline gleitfähig gemacht hatte. Allerdings konnte er sich diese kleine Spitze nicht verkneifen, als er wieder auf dem Rücken lag und natürlich froh gewesen war, dass das seine Sarah, die jede Faser seines Körpers kannte, erledigt hatte. „Das mit dem Zäpfchen machst du, aber beim Katheterlegen stellst du dich an!“ klagte er, aber Sarah gab ihm einen Nasenstüber. „Wenn ich da hinten was kaputt mache, bin ich ja nicht die Leidtragende!“ sagte sie frech und nun packte Ben ihre Hand, die er zwar nur undeutlich erkennen, aber umso besser fühlen konnte und zog sie trotz Übelkeit, Müdigkeit und Schmerzen zu sich herunter und küsste sie. „Das werden wir mal noch ausdiskutieren, wenns mir wieder besser geht!“ sagte er und Sarah lachte und erwiderte seinen Kuss.


    Leider waren die Abführmaßnahmen aktuell nicht von Erfolg gekrönt und als Ben wieder ein wenig wacher war, kam die angekündigte Krankengymnastin , gab ihm die rechte Hand-das heißt, sie nahm seine schlaffe Rechte, die warm eingepackt auf einem Kissen neben ihm geruht hatte und tat so, als wäre die voller Gefühl. „Herr Jäger-ich habe jetzt so Einiges mit ihnen vor!!“ kündigte sie an. „Zunächst werde ich die gelähmte Hand massieren und stimulieren, damit ihr Körper die wieder wahrnimmt und die gequetschten Nerven einen Reiz erhalten. Danach machen wir Atemgymnastik und in etwa einer halben Stunde“-sagte sie nach einem Blick auf die Uhr, „wird der Wiederherstellungschirurg, der ihren Fuß repariert hat, vorbei kommen und dann werden wir gemeinsam das Bein aus der Schiene nehmen und durch bewegen, sowie eine Lymphdrainage gegen die Schwellung vornehmen!“ erklärte sie und schon begann sie mit ihrer Therapie.
    „Tut mir leid-ich kann sie gar nicht genau erkennen!“ entschuldigte sich Ben, aber die junge Frau lachte. „Das ist auch nicht notwendig-sie sollen jetzt sowieso eher fühlen und auch aktiv etwas machen. Der Neurologe hat mir von ihrer MCP-Nebenwirkung schon erzählt-ja nicht alle Medikamente tun nur Gutes!“ bemerkte sie und jetzt ging Sarah, die gerade nicht benötigt wurde, ein wenig an die frische Luft, holte sich am Automaten ein Wasser und verständigte Hildegard von den Ereignissen. Die war ebenfalls sehr froh, dass es Ben wieder besser ging und ließ viele gute Wünsche ausrichten.


    Konrad trat wenig später vor die Intensiv und wollte Ben besuchen, aber Sarah hielt ihn noch eine Weile zurück, bis dessen Therapien fertig waren und erzählte ihm nun detailliert, was überhaupt geschehen war. Konrad wurde blass-wie oft hatte er schon Angst haben müssen, seinen Sohn zu verlieren! „Wenn ich gewusst hätte, weshalb da eine Totalsperre der Autobahn ist, hätte ich heute Morgen nicht so geschimpft, als ich im Stau gestanden habe!“ sagte er kleinlaut und Sarah konnte ihn nur zu gut verstehen. Wenn man im Verkehrsfunk immer von Totalsperren hörte, dann war man angenervt. Manchmal war man auch ein wenig betroffen, wenn die Landung eines Rettungshubschraubers durchgegeben wurde, aber wenn man dann persönlich jemanden kannte, der da mitten im Getümmel war, sah die Sache plötzlich wieder ganz anders aus.
    Gerade erzählte sie Konrad davon, wie toll Tim sich entwickelte und wie viel er schon sprechen konnte, da hastete der Wiederherstellungschirurg an ihnen vorbei und verschwand in Ben´s Zimmer. Wenig später hörte man den laut jammern und klagen und Sarah krallte sich jetzt hilfesuchend an Konrad fest und legte dabei ihre Hand schützend auf ihren Bauch. „Schatz-das ist nur zu Papa´s Bestem!“ beschwor sie sozusagen das neue Baby und zugleich sich selber. Auch Konrad war blass geworden, als erneut ein Schrei aus Ben´s Zimmer kam. Es war schwer mit anzuhören, wie jemand Nahestehendes Schmerzen hatte, auch wenn das vielleicht notwendig war!

  • Ben war erst sehr angetan gewesen, als die Krankengymnastin mit ihm an seinem tauben Arm geübt hatte. Wie sie ihm immer wieder vorsagte, hatte er in sich hinein gehört und versucht etwas zu fühlen. Undeutlich hatte er erkennen können, dass die da herum manipulierte, aber so verzweifelt er es sich auch wünschte-er spürte einfach nichts und Kontrolle hatte er über dieses taube Stück Fleisch schon gar nicht! Irgendwann war diese Therapie abgeschlossen und jetzt ging es zur Atemgymnastik. Erst als er aufgefordert wurde-auch mit dem Auflegen der Hände auf den geschundenen Brustkorb und entsprechenden Kommandos- tief auszuatmen, wurde es mühsam und tat auch ein wenig weh, was ihn auch zum Jammern brachte, allerdings war es auszuhalten und die Erklärungen dazu, die ihm die Physiotherapeutin gab, waren klar verständlich und er hatte wirklich null Bock als Komplikation jetzt eine Lungenentzündung zu kriegen.
    Bis dahin funktionierte eigentlich alles gut, bis wie mit seiner Therapeutin verabredet, der Chirurg, der ihn in der Nacht operiert hatte und der nach wenigen Stunden Schlaf zuhause, schon mittags wieder auf der Matte gestanden hatte, um sein nicht delegierbares Arbeitspensum heute irgendwie zu schaffen, auf der Matte stand. Man hatte seinen Fuß aus der Schiene gehoben, was ihn alleine schon dazu brachte, zu jammern und zu stöhnen, aber als nun der Chirurg seinen Unterschenkel festhielt und die Physiotherapeutin nach dessen Anweisungen den Fuß im Millimeterbereich bewegte, massierte und dann von oben nach unten beginnend noch mit heilenden Händen Lymphdrainage zu machen, um die Schwellung raus zu bringen, konnte er nicht mehr an sich halten und schrie zwischendurch laut auf, wenn es einfach zu weh tat. „Brauchen sie ein Schmerzmittel, oder geht’s noch?“ fragte ihn der Arzt mehrfach eindringlich, denn er war von seinen Kollegen darauf hingewiesen worden, dass Ben auch mit dem Darm Probleme hatte und deswegen nicht unbegrenzt Opiate erhalten sollte, die ihrerseits nämlich die Peristaltik hemmten und so Symptome verstärken konnten. Aber natürlich hätte er etwas gekriegt, wenn es absolut unerträglich gewesen wäre-allerdings hatte Ben dieselbe Information erhalten und er wollte einfach so bald wie möglich wieder gesund werden und nahm deshalb nur, was unbedingt nötig war. Es waren auch nur kurze Schmerzspitzen und wenn er geahnt hätte, dass Sarah und sein Vater von draußen schreckensstarr zuhörten, hätte er sich lieber auf die Lippen gebissen, anstatt die zu beunruhigen, aber manchmal tat es einfach gut, seinen Schmerz heraus zu lassen und endlich war auch diese Tortur beendet. „Morgen kommt unsere Dame mit den heilenden Händen alleine zu ihnen-ich habe ihr jetzt gezeigt, worauf es ankommt und auf was sie achten muss!“ erklärte der Chirurg seinem Patienten, „allerdings kann ich ihnen versichern-es sieht gut aus und natürlich ist der Fuß noch nicht angewachsen, aber ich sehe positiv in die Zukunft!“ teilte er ihm mit und nun flog über Ben´s Gesicht ein Lächeln.


    „Na Gott sei Dank!“ sagte er und nachdem sie seinen Fuß und den Arm wieder eingepackt hatten, verabschiedeten sich die beiden und wenig später standen Sarah und sein Vater vor ihm, die er freudig begrüßte und sich dabei wunderte, dass die beiden so blass waren.„Hey was ist los?“ fragte nun er erstaunt und griff mit der Linken erst nach der dargebotenen Hand seines Vaters und zog dann Sarah zu sich heran, auf deren Wangen er Tränen schimmern sah und die immer noch unwillkürlich ihre eine Hand auf dem Bauch liegen hatte. „Geht´s dir nicht gut-oder ist was mit dem Baby?“ fragte er entsetzt, aber seine Frau schüttelte den Kopf. „Es ist nur-weil du so geschrien hast-du hast uns so leid getan!“ stammelte sie und nun zog er sie noch ein wenig näher und legte nun seinerseits unter kleinen Verrenkungen die Hand auf Sarah´s Bauch. „Hör mal du Zwerg da drin-mit deinem Papa ist schon soweit Alles in Ordnung, der musste sich nur ein wenig Luft machen, dann wars leichter!“ sagte er und jetzt war es an Konrad, der besorgt seinen blassen, verschrammten Sohn gemustert hatte, sich nun eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen. Nie hätte er sich vorstellen können, dass sein draufgängerischer Sprössling, der zuvor ständig wechselnde Freundinnen und meist nicht für lange gehabt hatte, einmal so glücklich mit Frau und Kindern sein würde! Er sah die Verbände und Drainagen, die Thoraxsaugung , die mit Blut gefüllt war und den blutigen Urin, die Schiene am Bein und den rechten Arm, der danebenlag, als würde er nicht dazu gehören, aber trotz all dieser Verletzungen war der echte Ben, sein einziger Sohn noch da und wirkte mitsamt aller Einschränkungen positiv-er würde es schaffen-da war er sich ganz sicher! So verabschiedete er sich, richtete auch einen schönen Gruß von Julia aus, die gerade in Urlaub in der Karibik war und verließ dann das Krankenhaus wieder.


    Ben hatte nach einer Weile erschöpft die Augen geschlossen und erwachte erst wieder, als am Abend Semir vor ihm stand. „Hey Partner, wie geht’s dir?“ fragte der liebevoll und nun musste Ben, dem gerade ziemlich warm war, lächeln: „Unkraut vergeht nicht!“ und gleich schickte er Sarah raus, damit die sich in der Cafeteria noch etwas zu essen holte. Wenn ihm schon übel war-aber seine Frau und sein Kind brauchten Nahrung, sonst konnte der Zwerg nicht wachsen!
    Semir erzählte nun Ben nach kurzer Überlegung, dass Brummer ihnen leider entwischt war und was der für ein ausgebildeter Soldat war und was er heute über den heraus gefunden hatte und nun formierte sich in Ben´s Kopf die ganze Sache. „Mann-dann war das also der Grund dafür, dass der diesen Sprengsatz in der Brücke deponiert hat-er wollte Rache an allen, die seiner Meinung nach am Unfall seines Sohnes schuld waren und ich bin da nur zufällig zum Opfer geworden-irgendwie ganz schön krank!“ bemerkte er. „Aber Semir-du musst ihn dir schnappen, bevor der noch mehr Unheil anrichtet. Dabei kam mir der so völlig ungefährlich vor-ein schlanker Rentner, der mit der Digitalisierung von Akten seine schmale Rente aufbessert und ich fand das noch klasse von Stumpf, dass der dem die Möglichkeit dazu gibt!“ erzählte er und Semir versprach, sein Möglichstes zu tun.
    Als Sarah zurück war, ging Semir wieder und traf auf dem Intensivflur zufällig die junge Frau Stumpf, die ihm voller Erleichterung mitteilte, dass es ihrem Mann besser ging und er heute extubiert worden war. Ihr Schwiegervater im Marienkrankenhaus schwebte zwar noch in Lebensgefahr, aber er war nicht ganz chancenlos und zwei Polizisten hielten Tag und Nacht Wache vor seinem Zimmer und so bestand doch noch Hoffnung, dass bei der Familie Stumpf vielleicht Alles wieder in Ordnung kommen würde. Nur Brummer musste man noch aufspüren und festsetzen, aber Semir schwor sich, nicht eher zu ruhen, als bis er das geschafft hatte-aber heute würde er erst einmal nach Hause fahren und mit seiner Familie die Nacht verbringen-der Attentäter war selber schwer verletzt, der war gerade nicht fähig, jemand anderem zu schaden!


    Brummer hatte sich inzwischen in seinem Baumhaus zur Ruhe begeben. Die Kräuterpackung half besser als jede Schulmedizin. Die Wunde in seiner Schulter heilte rasend schnell-bald würde er versuchen, sein Werk zu vollenden!

  • Nachdem sich am Abend alle zur Ruhe begeben hatten, wachte Sarah, die vor Erschöpfung bald auf ihrer Liegestatt neben ihrem Mann eingeschlafen war, in den frühen Morgenstunden auf, weil Ben vor sich hin stöhnte. „Schatz was ist los?“ fragte sie angstvoll und war mit einem Satz aus dem Bett. Als sie zu ihm trat und ihn anfasste, erschrak sie-er war glühend heiß! Sie nahm das Fieberthermometer vom Nachtkästchen und kontrollierte die Temperatur: 40,6° C! Als sie ihn ansprach, murmelte er merkwürdige Dinge und warf seinen Kopf von links nach rechts-anscheinend war er in Fieberphantasien gefangen und wusste gar nicht so recht was los war. Vermutlich meinte er, wieder eingeklemmt zu sein und durchlebte diesen schrecklichen Alptraum wieder und wieder. „Ben-du bist in Sicherheit und nicht mehr unter der Brücke!“ sagte sie deutlich und er öffnete die zusammen gekniffenen Augen unter den verschwitzten Haaren ein wenig und sah sie verständnislos an. Man merkte wirklich, dass er überhaupt keinen Peil hatte, was los war und nun war auch schon ihre Kollegin, die ihn im Nachtdienst betreute, aufmerksam geworden.


    Sie trat ins Zimmer und machte erst einmal das helle Licht an, denn bisher war das Zimmer nur vom Monitor und einem kleinen Nachtlicht erhellt gewesen. Auch sie trat ans Bett ihres Patienten, fasste ihn an der Schulter an und erschrak. „Du lieber Himmel, dein Mann hat ja ziemlich aufgefiebert!“ sagte sie und Sarah nickte, während Ben erschauerte und die kühle Hand der Schwester abzuschütteln versuchte-die war ihm richtig unangenehm. „Ich habe ihn gerade nachgemessen, 40,6° C!“ erzählte Sarah unglücklich und die Schwester drehte sich kurzerhand um: „Ich hole den diensthabenden Stationsarzt!“ sagte sie kurz entschlossen und wenig später stand ein junger Arzt vor Ben´s Bett. „Herr Jäger-können sie mich verstehen?“ fragte er und der dunkelhaarige Mann öffnete mühsam die zusammengekniffenen Augen und musterte ein wenig verständnislos den Arzt. Dann allerdings nickte er müde-man merkte, wie es in seinem Kopf ratterte. Er sah auch noch Sarah an und dann fiel sein Blick auf die ganzen medizinischen Geräte um ihn herum und die Schläuche die in ihm steckten. Obwohl ihm wahnsinnig heiß und doch kalt war, er Schmerzen hatte und ihm übel war, überkam ihn gerade eine große Erleichterung. Er war nicht mehr ohne Aussicht auf Rettung unter der Brücke eingeklemmt, sondern befand sich im Krankenhaus.


    „Haben sie irgendwo besonders starke Schmerzen?“ versuchte der Stationsarzt nun den Fieberfokus heraus zu finden. Obwohl sein Patient ja antibiotisch abgedeckt war und alle acht Stunden ein starkes intravenöses Antibiotikum bekam, hatte sich vermutlich irgendwo eine Entzündung gebildet-da gab es mannigfaltige Möglichkeiten. „Wir machen jetzt zunächst einmal eine Blutgaskontrolle und dann nehme ich Blutkulturen ab. Sowas machte man immer am Fiebergipfel, denn wenn in die Blutbahn eingeschwemmte Bakterien schuld am hohen Fieber waren, konnte man die jetzt am besten nachweisen. Die Schwester hatte genickt, aus der Arterie eine Blutprobe in eine heparinisierte Spritze abgenommen und während das Kleinlabor auf der Intensivstation die Werte der Blutgase analysierte, brachte sie das Blutabnahmetablett und zwei Fläschchen, die mit je einer speziellen Nährlösung gefüllt waren. Der Arzt legte eine Stauung an Ben´s linkem Arm an-man nahm auch prinzipiell kein Blut aus einem paretischen-einem gelähmten- Arm ab und begann dann sorgfältig die Ellenbeuge zu desinfizieren. Mit sterilen Handschuhen, um jede Verkeimung von außen zu vermeiden, stach er dann in die Vene, die allerdings schlecht gefüllt und schwierig zu punktieren war, obwohl Ben ja ansonsten Venen wie Wasserleitungen hatte-nur im Moment waren die nicht so gut zu sehen und zu tasten, aber dem Doktor gelang es dann doch, die benötigten 20ml Blut unter sterilen Verhältnissen abzunehmen. Während man die Stauung wieder löste und Sarah fest auf die Einstichstelle drückte, damit Ben nicht noch einen blauen Fleck bekam, spritzte der Arzt jeweils die Hälfte der Blutprobe in jedes Fläschchen-die eine Nährlösung war für Aerobier, also sauerstoffabhängige Bakterien und die andere war für Anaerobier, also Bakterien die unter Luftabschluss gediehen. Die beiden Fläschchen kamen sofort nachdem man sie etikettiert hatte im Labor in einen Wärmeschrank, wo sie bei 37°C bebrütet wurden und man so vielleicht in zwei bis drei Tagen ein Bakterienwachstum nachweisen konnte, falls da etwas drin gewesen war in den Blutproben.


    Aber nun untersuchte der Arzt seinen Patienten weiter, um vielleicht die Ursache für das hohe Fieber heraus zu finden. Nacheinander löste man alle Verbände-auch die des ZVK und der Thoraxdrainage und achtete darauf, ob eine Entzündung vorlag. Auch das Bein wurde aus der Schiene genommen und kontrolliert, aber es lagen dort nirgendwo auffällige Rötungen vor. Nun legte man unter den Regeln der Asepsis wieder neue Verbände an und drehte Ben dann noch zur Seite, um die aufgeschnittenen Blutergüsse zu kontrollieren. Obwohl man Ben davor ein Schmerzmittel gegeben hatte, jammerte er laut auf, als der Arzt einen Verband nach dem anderen an seinem Rücken löste. Obwohl noch Wundsekret herauslief, das durch die Laschen abgeleitet wurde und leider auch wieder mit der Wunde verklebt war, konnte der Arzt keine Eiteransammlung erkennen, die eine Erklärung für das Fieber geliefert hätte. Man desinfizierte die Wunden und verband auch sie neu, um dann Ben, der immer noch vor sich hin glühte und überhaupt keine Kraft mehr hatte, wieder zurück gleiten zu lassen. Systematisch tastete der Arzt nun noch den Patienten von oben bis unten ab, hörte auf die Lunge und den Bauch und das Einzige was ihm momentan auffiel, war eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit in der rechten Flanke.Als die Schwester nun einen Blick auf den Stundenurimeter warf, war da in der letzten Stunde kein Urin mehr gelaufen, was sie sehr verwunderte, denn bisher war Ben´s Ausscheidung zwar blutig gewesen, aber von der Menge her ausreichend. „Wir geben ihm jetzt mal einen Liter Vollelektrolytlösung im Schuss und schauen, ob da was kommt!“ ordnete der Arzt an und nun wurde Ben auch noch schwindlig und sein Blutdruck sank ziemlich ab, was aber bei dem Fieber und dem daraus entstehenden Volumenmangel kein Wunder war. Die Schwester steuerte mit einer Erhöhung der Noradrenalindosierung gegen und nun bekam Ben, der mühsam atmete und kaum mehr wusste, wie ihm geschah, noch ein Gramm Paracetamol als Kurzinfusion zur Fiebersenkung.


    „Zusätzlich machen wir jetzt noch eine Röntgenaufnahme des Thorax, damit wir eine fragliche beginnende Lungenentzündung ausschließen und hoffen, dass das Fieber auf die Medikation sinkt. Mit einer Umstellung der Antibiose möchte ich noch warten, bis ich eingehende Laborergebnisse habe!“ sagte der Arzt und empfahl dann noch eine mechanische Kühlung zur Fiebersenkung. Während das Paracetamol in Ben tropfte, versuchten Sarah und die Schwester Ben kühl abzuwaschen und ihm Wadenwickel zu verpassen, aber er wehrte sie energisch ab. „Ich halte das nicht aus-das ist so kalt!“ klapperte er mit den Zähnen und so warteten die beiden noch damit, bis er wirklich zu schwitzen begann. Als wenig später die Röntgenassistentin auch noch kam und ihm die kühle Röntgenplatte unter den Rücken schob, erschauerte er und bekam sogar Gänsehaut „Gebt mir doch bitte eine dicke Decke und lasst mich in Ruhe!“ murmelte er hinterher erschöpft und Sarah, die zunächst weit weg von der Strahlenquelle gegangen war, musterte ihn besorgt. Was war wohl die Ursache für das Fieber und würden sie es zum Sinken bringen und würde die Urinausscheidung wieder anspringen? Bis jetzt war nämlich noch kein Tropfen im Stundenglas und das war schon merkwürdig!

  • Die Auswertung des Röntgenbildes brachte keine neueren Erkenntnisse, die Thoraxdrainage lag regelrecht und eine aktuelle Verschattung, die auf eine Pneumonie hingedeutet hätte, war auch nicht zu sehen. Inzwischen hatte die stark fiebersenkende Wirkung des Paracetamols eingesetzt und Ben, der ja kurz zuvor noch gefroren und nach einer dicken Decke verlangt hatte, schmiss die nun von sich und der Schweiß begann in Strömen von seinem Körper zu laufen. Binnen Kurzem waren die ganze Bettwäsche und das Hemd klatschnass und weil immer noch kein Urin kam, was aber durch den Flüssigkeitsverlust durchs Schwitzen und die hohe Temperatur momentan erklärlich war, ordnete der Arzt einen zweiten Liter Infusion an, denn der erste Liter war schon innerhalb von zwanzig Minuten in ihn gelaufen. Nun war Ben damit einverstanden, dass er kühl abgewaschen wurde und obwohl ihm auch immer noch latent übel war, war sein Mund jetzt wie ausgedörrt und seine Lippen trocken und rissig. So ließ er sich voller Dankbarkeit von Sarah und ihrer Kollegin frisch machen, auch wenn immer noch jede Bewegung, gerade das Drehen zum Wechsel des Lakens und der Unterlage, schweineweh tat. Sarah ließ es sich nicht nehmen, ihm höchstpersönlich noch Wadenwickel anzulegen und sein Verstand wurde auch ein wenig klarer, als die Körpertemperatur sank. Um ihm das ständige Nachmessen zu ersparen, hatte beim Drehen die Schwester einfach eine Temperatursonde in einer Einmalschutzhülle in seinem Rektum platziert, was er eigentlich fast nicht mitbekommen hatte und gerade war es ihm sowieso sowas von egal, ob ihn jemand nackt sah oder angezogen-es musste einem nur schlecht genug gehen, dann verloren solche Dinge an Bedeutung!


    Als er für einen kurzen Augenblick ein wenig erfrischt auf dem Rücken lag, wischte Sarah seinen Mund mit feuchten Mundpflegestäbchen aus und gab dick Bepanthen-Augen- und Nasensalbe auf seine spröden Lippen. Die Körpertemperatur lag momentan bei 39,5°C, was zwar immer noch hoch war, aber wenigstens seinen Verstand nicht mehr verwirrte. Allerdings schwitzte er weiter und binnen Kurzem musste er erneut abgewaschen und umgezogen werden und auch die Wadenwickel fühlten sich bereits eher wie Wärmflaschen an und mussten erneuert werden, jetzt aber zum letzten Mal, denn die gingen ganz schön auf den Kreislauf und man musste das Noradrenalin weiter steigern. Durch das Schwitzen hatte sich auch ein Teil der vor Kurzem erst frisch angebrachten Pflaster gelöst und so verklebten Sarah und ihre Kollegin nun erneut die Verbände.


    Immer noch war kein Urin im Beutel und als der Stationsarzt, der sich währenddessen um einige andere schwer kranke Patienten gekümmert hatte, nun wieder ins Zimmer kam, schüttelte er den Kopf. „Da stimmt was nicht!“ murmelte er, schlug das dünne und schon wieder schweißfeuchte Hemd, das als Einziges noch Ben´s Körper bedeckte, zurück und fasste, nachdem er seine Hände desinfiziert hatte, mit tastenden Fingern auf dessen Unterbauch, woraufhin Ben sich zusammenkrümmte, so dringend musste er plötzlich aufs Klo. „Dachte ichs mir doch-die Blase ist jetzt prall gefüllt und steht beinahe bis zum Bauchnabel!“ sagte der Arzt und wandte sich nun an die Schwester: „Ich vermute eine Koagelbildung, wir müssen den Blasenkatheter frei spülen!“ und die nickte und ging aus dem Zimmer, um die benötigten Materialien zu holen. Ben sah ängstlich in die Runde-von einer Sekunde auf die andere konnte er an nichts mehr anderes als seinen Harndrang denken und was er sich unter dem Freispülen vorstellen sollte, wusste er auch nicht, getraute sich aber nicht zu fragen, weil ihm schon dämmerte, dass das wohl nichts besonders Angenehmes war.
    Wenig später kam die Schwester mit einer Blasenspülspritze und sterilem Wasser in einer Flasche mit Entnahmekatheter darin und als sich nun die Schwester und der Arzt Plastikschürzen anzogen wandte sich Ben zu Sarah, die an seinem Kopfende saß und griff hilfesuchend nach ihrer Hand und schloss die Augen.


    Als er eine halbe Stunde später die Tortur überstanden hatte und nun der zuvor verstopfte Katheter gegen einen sogenannten Spülkatheter ausgetauscht worden war, durch den kontinuierlich über einen Infusomaten steriles Wasser in die Blase floss, um die gebildeten Koagel auszuspülen, schloss er erschöpft die Augen. Er hatte zwar immer noch Fieber-jetzt um die 39°C-seine Flanke und nun auch sein Unterbauch schmerzten und ihm war ständig ein wenig übel aber er war jetzt so fertig, dass er einfach nicht mehr konnte und langsam dämmerte er ein, während es draußen schon begann hell zu werden. Sarah war erst noch eine Weile an seinem Bett gesessen und hatte ihn sorgenvoll betrachtet, denn nun stach seine Nase spitz aus dem Gesicht und auch die Blässe hatte nochmals zugenommen, aber dann legte sie sich doch auch nochmals für wenige Stunden in ihr Bett-sie würde wie Ben vermutlich ihre Kräfte noch brauchen!

  • Brummer hatte sich über Nacht ausgezeichnet erholt. Von seinem Versteck aus beobachtete er, wie ein Spaziergänger mit Hund auf dem geschotterten Waldweg in der Nähe vorbei lief. Er warf dem Hund immer wieder Stöckchen und war so in sein begeistertes Spiel vertieft, dass er gar nicht bemerkte, wie ihm die Zeitung, die er zusammen gerollt in seinem Hosenbund stecken hatte, zu Boden fiel. Als der Spaziergänger sich weit genug entfernt hatte, kletterte Brummer, der kaum mehr Schmerzen und eine sehr gute Beweglichkeit in der Schulter hatte, wie eine Katze vom Baum und schnappte sich das Papierbündel. Dann machte er sich wenig später auf einer kleinen Lichtung im dichten Gestrüpp daran, die aktuellen Meldungen vor allem im Lokalteil zu lesen. Gleich auf der Titelseite prangte sein Konterfei und darunter wurde er als flüchtiger, gefährlicher Mörder beschrieben. Also eines war klar-er musste auf jeden Fall sein Aussehen verändern, bevor er in die Öffentlichkeit ging!


    Dann wurde sein Zweikampf mit Stumpf-diesmal ohne Namensnennung des Opfers beschrieben und erwähnt, dass der bekannte Industrielle Adalbert S. schwer verletzt im Krankenhaus lag, während dem Attentäter die Flucht auf dem Weg zur Klinik gelungen war. Aber noch viel mehr interessierte ihn der Artikel, wo von einem Verkehrschaos an der Autobahnbrücke erzählt wurde, örtliche und weiträumige Umfahrungsvorschläge gemacht und ganz nebenbei bemerkt wurde, dass die Brücke durch eine Sprengstoffexplosion beschädigt worden war und zwei Männer schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht worden waren. Vor Wut ballte Brummer die Fäuste-auch dieses Vorhaben Mittler und diesen Jäger zu töten hatte also nicht funktioniert-er musste jetzt dringend herausfinden, in welchem Krankenhaus die lagen. Bei Stumpf wusste er-es war das Marien, denn das hatte der Notarzt vor Ort erwähnt-aber wo Mittler und Jäger waren würde er noch herausfinden-ein Brummer machte keine halben Sachen und wen er zum Tode verurteilt hatte, der starb auch!


    So näherte er sich wenig später im Schutz der Bäume dem ersten Haus, das dem Waldrand am nächsten lag. Im Garten hing Wäsche auf der Leine und wehte munter im Sommerwind. Wenig später hatte er sich ein modernes Hemd und eine Jeans angeeignet, auch frische Socken und Unterwäsche warteten im nächsten Busch darauf, dass er von seinem Raubzug zurück kam. Ein paar Häuser weiter unterhielt sich eine Frau am Gartenzaun intensiv mit ihrer Nachbarin und so ging er das Risiko ein und huschte über die wegen der Sommerlüftung weit geöffnete Terrassentür ins Haus, fand dort im Bad verschiedenste Schminkutensilien, Rasierzeug, einen Handspiegel und auch eine Basecap hing an der Garderobe. Im dritten Haus lag gleich auf der Anrichte ein Handy zum Laden und auch das nahm er-neben einem Stück Kuchen das auf einem Teller nur auf ihn wartete- einfach mit und noch bevor jemand das Verschwinden des Mobiltelefons bemerkte, hatte er schon via Internet die Telefonnummern verschiedener Krankenhäuser herausgesucht und von der Telefonauskunft der Uniklinik erfahren, dass ein Friedrich Mittler und auch ein Ben Jäger dort auf der chirurgischen Intensivstation Patienten waren. Während er das Handy säuberlich abwischte und ins Gebüsch warf, holte er sein restliches Diebesgut und zog sich wieder in sein Versteck im Wald zurück. Jetzt musste er sich sputen und sein Aussehen verändern und dann hier verschwinden, bevor sein Raubzug bemerkt wurde.
    Er hatte den Sanitätern auch ihr Bargeld abgenommen und so war er wenig später gerüstet und gab mit leisem Bedauern sein Versteck auf. Er hatte sich den Oberlippen-und Wangenbart abgenommen, den er schon seit vielen Jahrzehnten trug, die moderne Kleidung mit Mütze tat ihr Übriges und sorgfältig malte er sich ein riesiges Feuermal ins Gesicht. Wie hatte sein Ausbilder bei der Bundeswehr immer gesagt? Wenn verändern dann richtig und niemand würde doch vermuten, dass er extra auf sich aufmerksam machte, aber er hatte einen Freund gehabt-früher, als er noch Freunde besessen hatte- der war von Geburt an so entstellt gewesen und fast alle Leute hatten nach einem kurzen ersten Blick dann betont weg gesehen, um nicht neugierig und aufdringlich zu wirken und den bedauernswerten Mann zu beschämen. Diesen Mechanismus würde er jetzt für sich arbeiten lassen und nach einem flotten Marsch durch das Wäldchen verließ er es über einen anderen Weg und machte sich mit Bus und Straßenbahn zunächst auf den Weg zum Marienkrankenhaus.

  • Dort angekommen ging Brummer einfach frech auf die Intensivstation. Vor der Operationsabteilung war ein Metallkoffer, wie ihn Techniker benutzten, herumgestanden und den hatte er an sich genommen. Ohne draußen zu läuten, betätigte er dann den Türöffner und betrat die Station. Nachdem sein Sohn, der ja auf Intensiv an einer Sepsis gestorben war, zuvor eine lange Zeit dort gelegen hatte, kannte er die Gepflogenheiten, die sich, abgesehen von den Örtlichkeiten, eigentlich überall ähnelten. Er hatte momentan Glück-kein Arzt und kein Pfleger waren zu sehen und mit ein paar Schritten war er an der Zentrale hinterm Tresen und musterte aufmerksam die vierzehn Monitorbilder mit Namen darunter-aha Bettplatz acht lag Stumpf, Adalbert, wie er erwartet hatte. Nun musste er noch herausfinden, wo der Bettplatz acht war und als er sich suchend umsah-er hatte die Zentrale inzwischen wieder verlassen-kam ein Pfleger auf ihn zu und fragte freundlich: „Kann ich ihnen helfen?“


    Der Angestellte hatte zwar ebenfalls in der Zeitung das Bild des Attentäters gesehen, stellte aber keinerlei Verbindung zwischen dem Mann mit dem auffälligen Feuermal her. „Firma Philipps-ich wurde angerufen, der Monitor auf Bettplatz acht sei defekt!“ sagte Brummer geschäftig, denn er hatte natürlich mit einem Blick gesehen, von welcher Herstellerfirma die Cardiostation und damit auch die Monitore waren und nun fragte der Pfleger zunächst ein wenig ratlos seine Kollegen-der Monitor war immerhin im laufenden Betrieb und ihm war davon nichts bekannt, dass da ein Defekt sei, allerdings wurde da oft neue Software aufgespielt, sowas war nicht ungewöhnlich. Dann bat er den angeblichen Techniker mit zu kommen und in einer Einzelbox um die Ecke mit zwei uniformierten Polizisten davor, lag Stumpf beatmet und kämpfte um sein Leben.
    Brummer trat geschäftig zum Monitor und sagte freundlich zum Pfleger: „Ich mach das schon!“ und stellte den Metallkoffer am Fensterbrett ab, wie um da sein Werkzeug herauszuholen. Er hoffte der Mann würde ihn jetzt alleine mit seinem Opfer lassen, aber da trat in diesem Moment eine ältere Frau, anscheinend die Stationsleitung zu ihnen. „Matthias was fällt dir ein-du kannst einen Techniker doch nicht einfach so zum Patienten lassen, außerdem ist mir von einem Defekt nichts bekannt, was aber nicht unbedingt etwas heißen muss. Aktuell können wir den Patienten auch leider nicht in eine andere Box umschieben, da alle Intensivplätze belegt sind-sie müssen ein andermal wieder kommen und bitte zuvor anrufen, wir müssen dann aus hygienischen und Sicherheitsgründen den Patienten zuvor verlegen und an einen anderen Monitor nehmen, damit sie die Reparatur ungestört durchführen können-den Weg heute hätten sie sich sparen können!“ wandte sie sich an Brummer und der fluchte sozusagen still in sich hinein. Verdammter Mist-jetzt würde ihn niemand mehr mit Stumpf alleine lassen, soviel war klar und die beiden Polizisten hatten sich nun ebenfalls erhoben und spähten neugierig ins Zimmer-immerhin war das eine kleine Abwechslung-so eine Bewachung war nämlich einfach nur langweilig!
    „Gut-geben sie mir doch bitte ihre Durchwahl, ich rufe dann zuvor an!“ sagte Brummer geschäftig, nahm den Koffer vom Fensterbrett und trat den Rückzug an. Immerhin wusste er jetzt wo er Stumpf finden konnte und das nächste Mal musste er sich dann einfach einen anderen Trick einfallen lassen. Aber trotzdem triumphierte er innerlich-seine Verkleidung funktionierte, kein Mensch hatte ihn erkannt. Er nahm von der Schwester noch das Kärtchen mit der Telefonnummer entgegen und mit einem kurzen Gruß verließ er hoch erhobenen Hauptes mit dem gestohlenen Koffer die Intensivstation.


    Ben war inzwischen wieder erwacht. Die Geschehnisse der Nacht hatten ihn sehr mitgenommen, außerdem hatte er immer noch Fieber, obwohl er in regelmäßigen Abständen fiebersenkende Medikamente bekam, die ihn abwechselnd zum Frieren und dann wieder zum Schwitzen brachten. Er war erneut sorgfältig von Sarah und der Frühdienstschwester gewaschen worden, aber kurz darauf köchelte er schon wieder sozusagen im eigenen Saft vor sich hin. Die niedrigste Temperatur war 38,5°C und der Fiebergipfel lag immer noch bei um die vierzig. Er bekam weiter seine Antibiotika, man hatte auch eine Urinprobe entnommen und der Uricult wurde nun im Labor bebrütet, vielleicht konnte man daraus einen Keim isolieren, der die Temperaturen erklärte und der mit der bisherigen Antibiose nicht abgedeckt war. Die Röntgenaufnahme hatte auch bei sorgfältiger Auswertung keinen Hinweis auf einen bronchopulmonalen Infekt geboten, nirgendwo lief augenscheinlich der Eiter und jetzt hoffte man einfach auf Ergebnisse aus der Blutkultur und der Urinprobe und behandelte bis dahin symptomatisch. Ben fühlte sich schrecklich krank und auch die Übelkeit hatte zugenommen. Die Peristaltik in seinem Bauch war immer noch viel zu wenig und so war ihm die ganze Zeit schlecht. Er bekam zwar ein Klistier, aber auch das brachte nicht den gewünschten Erfolg und so dämmerte er fiebrig vor sich hin, während Sarah mit ihren Kollegen beim Frühstück saß und wollte am liebsten sterben!


    Als Semir in die PASt kam, wurde gerade ein Einbruch gemeldet. „Da wurde unweit des Wäldchens, wo Brummer verschwunden ist, ein Handy gestohlen!“ teilte ihm Susanne mit, die die eingehenden Anzeigen auf den Ticker bekam und gleich eine Verbindung herstellte. Semir drehte sich wie elektrisiert um. „Ich fahre dorthin!“ beschloss er und war wenig später, diesmal begleitet von Jenni Dorn in Uniform, auf dem Weg an den Kölner Stadtrand. Die Dame die den Einbruch gemeldet hatte, war erstaunt, dass sich weitere Polizisten die Mühe machte, dem Handydiebstahl nachzugehen. Sie hatte inzwischen alle Türen und Fenster verrammelt und verriegelt, denn es war klar, dass da ein Einschleichdieb drin gewesen war, während sie draußen mit ihrer Nachbarin gesprochen hatte. Ein fremder Mensch war währenddessen dreist in ihrem Wohnzimmer gewesen und hatte sie damit zutiefst verunsichert. Sie hatte nach kurzer Zeit bemerkt, dass das Handy weg war-das Ladegerät hing noch an der Steckdose-und das fehlende Stück Kuchen war ihr ebenfalls aufgefallen. Sie hatte auf dem Handy angerufen, aber dann war ihr noch eingefallen, dass das auf lautlos gestellt war-sie konnte es also auch nicht hören, falls es noch in der Nähe war und so ließ Semir, nachdem er sich vorgestellt und seinen Ausweis gezeigt hatte, das Telefon von Susanne orten und wenig später hatten sie es in dem Busch draußen gefunden. Semir gab Jenni, die wie er Handschuhe trug, das Teil zum Eintüten für die Spurensicherung, aber er war sich ziemlich sicher, dass Brummer der Dieb gewesen war, dann war der doch noch in der Nähe, aber wo genau steckte er und was hatte er vor?
    Kurz entschlossen forderte Semir wieder Hunde an und wenig später hatten die vier Polizisten mit ihren Spürhunden Brummer´s verlassenes Versteck in dem Wäldchen gefunden, seine Kleidung, die Sanitäterjacken, Decken und Medikamente. Semir lief es kalt über den Rücken, als sie auch den Unterschlupf auf dem Baum entdeckten-vermutlich war der Mörder keine fünf Meter von ihm entfernt über ihm gesessen, als er sich das letzte Mal hier umgesehen hatte. Man ließ die Dinge allerdings wo sie waren und stellte mehrere Polizisten ab, die sich in der Nähe verbargen-wenn Brummer zurück kam, würde man ihn schnappen!
    Semir und Jenni brachten das Telefon zu Hartmut in die KTU und sahen gespannt zu, wie der erst erfolglos versuchte Fingerabdrücke zu sichern und sich dann den Speicher ansah, was man zuletzt mit dem Telefon gemacht und welche Nummern Brummer angerufen hatte.

  • Nach einer Weile sah Hartmut auf. Mit ernster Miene sagte er: „Semir, Jenni-wer auch immer das Telefon zuletzt benutzt hat-zuerst hat er die Telefonnummer mehrerer Krankenhäuser, darunter allerdings nicht das Marien-gegoogelt und danach wurde da die Telefonauskunft angerufen. Nach der Uniklinik ist kein Anruf mehr erfolgt-liegt da nicht Ben?“ wollte er wissen und mit einem Fluch sprang Semir auf. „Ja da liegt Ben-wir fahren sofort hin, aber kannst du dich mal zusätzlich noch mit deren Zentrale kurz schließen-vielleicht zeichnen die ihre Gespräche auf!“ bat er Hartmut noch und der griff schon zum Telefon, während Semir das Gaspedal des BMW durchtrat, so dass Jenni hektisch nach dem Gurt fingerte. Mit Blaulicht und Höchstgeschwindigkeit raste Semir Richtung Krankenhaus-er hatte plötzlich ein ganz ungutes Gefühl!


    Friedrich Mittler war am Sonntag nach seiner Einlieferung sofort operiert worden. Er hatte schwere innere Verletzungen davongetragen und eine Menge Blut verloren. Außerdem hatte er ebenfalls eine Lungenverletzung mit Pneu und so lag auch eine Thoraxdrainage. Man hatte ihn intubiert gelassen und seine Frau und die Kinder harrten sozusagen in Wechselschichten an seinem Bett aus, weil die Ärzte nicht sagen konnten, ob er überlebte. Als seine Schockniere auch am Dienstag noch nicht angesprungen war, legte man ihm einen Dialysekatheter und als Brummer in seiner auffällig-unauffälligen Verkleidung wiederum selbstsicher die chirurgische Intensivstation betrat und nach kürzester Zeit herausgefunden hatte in welchen Boxen seine Opfer lagen, musste er nach einem Blick in das Zimmer feststellen, dass außer Mittler dort eine Frau-vermutlich die Ehefrau, eine Schwester und ein Arzt waren, die gerade an einer Dialysemaschine schraubten und den Patienten nicht aus den Augen ließen. Das waren eindeutig zu viele Leute-also würde er mit dem jungen Architekten beginnen, der ein paar Zimmer weiter lag und nach dessen Tötung die Verwirrung ausnützen, um dann Mittler zu erledigen-mit Sicherheit würden dann alle Mitarbeiter zu dem stürzen-oder vielmehr zu dessen Leiche-und die Bahn war dann für ihn frei. Das war ihnen bei der Bundeswehr schon immer eingetrichtert worden-sofort und effektiv zuschlagen und im Anschluss musste er dann sofort wieder zu Stumpf und da die nächste Gelegenheit wahrnehmen, allerdings brauchte er da dann eine andere Verkleidung, aber in einem Krankenhaus an Klamotten etc. zu kommen, war ja nun überhaupt keine Schwierigkeit!


    Nach dem Päuschen, bei dem sie sich gestärkt hatte, kehrte Sarah zu Ben zurück, der ihr furchtbar leid tat. Sie wusste wie schlimm das war, wenn einem die ganze Zeit übel war-zu Beginn ihrer beiden Schwangerschaften hatte sie sich morgens die Seele aus dem Leib gekotzt, aber das war jetzt Gott sei Dank vorbei und es hatte auch immer aufgehört, sobald sie es geschafft hatte, etwas runter zu würgen-ein Stück trockenen Toast oder sowas und damit hatte sie die Zeit ganz gut überstanden. Aber bei Ben war das ja etwas anderes und auch ihr bereiteten diese Fieberschübe großes Kopfzerbrechen-wo kamen die her und noch viel wichtiger-was konnte man dagegen unternehmen?
    Brummer spähte nun in das Zimmer, in dem er Ben ausfindig gemacht hatte. Der lag mit geschlossenen Augen und erhöhtem Oberkörper im Bett. Sein Bein ruhte in einer Schiene und er hatte nur über seine Körpermitte ein kleines Laken liegen, ansonsten war er unbekleidet, anscheinend weil ihm so warm war. Er hatte keinen Schlauch im Hals, war also vermutlich bei Bewusstsein und in diesem Moment fragte die junge Frau, deren Bild er ja schon auf dem Schreibtisch des Mannes gesehen hatte, etwas zu ihm und er antwortete. Brummer beschloss die Frau zu verschonen-die baute ja schließlich keine Brücken und das Kind, das er ebenfalls auf dem Foto gesehen hatte, wollte er auch nicht zum Waisen machen. Er hatte bisher wahnsinniges Glück gehabt, denn zufällig hatte ihn noch niemand vom Pflegepersonal entdeckt, die waren alle in den Zimmern beschäftigt, die Zentrale war wie ausgestorben und so trat Brummer nun einfach so in das Zimmer, in dem Ben wie ein Häufchen Elend nun wieder mit geschlossenen Augen lag.
    Sarah hatte gerade einen Waschlappen mit kaltem Wasser getränkt und beugte sich vor, um Ben´s schon wieder schweißfeuchtes Gesicht abzuwaschen, da nahm sie eine Bewegung hinter sich wahr, aber bevor sie sich umdrehen konnte, schlang sich ein kräftiger Männerarm von hinten um ihren Hals und drückte zu. Sarah versuchte noch einen kurzen Augenblick sich zu wehren, aber dann schwanden ihr nach ein paar erstickten Lauten die Sinne. Brummer war schließlich ausgebildeter Nahkämpfer, er wusste, wo er drücken musste, damit sein Gegenüber sofort das Bewusstsein verlor. Er ließ die bewusstlose Frau zu Boden gleiten und stand nun seinem Opfer gegenüber, das erschrocken die Augen aufgerissen hatte und im ersten Moment der Überzeugung war, seinen schlimmsten Alptraum zu erleben. Dann allerdings erkannte Ben, wer da trotz verändertem Aussehen vor ihm stand: Brummer!


    Hartmut hatte die Telefonzentrale des Klinikums kontaktiert und nachdem er sich legitimiert hatte, die Uhrzeit des Anrufs und die Nummer des Handys durchgegeben hatte, spielte ihm wenig später die Mitarbeiterin in der Zentrale den Anruf vor. Eine Männerstimme hatte sich nach einem Friedrich Mittler und einem Ben Jäger erkundigt und auch die Auskunft erhalten, dass die beide auf der chirurgischen Intensivstation lagen, aber Besuche nur für die nächsten Angehörigen möglich waren. Also doch-auch Ben war in Gefahr!

  • Hartmut verständigte sofort Semir von der Information und der trat das Gaspedal daraufhin fluchend noch ein wenig stärker durch. Trotzdem hatte er noch ein paar Kilometer bis zur Klinik und so versuchte Jenni die Telefonnummer der Intensivstation herauszufinden, auf der Ben und Mittler lagen. Sie waren schon beinahe am Krankenhaus, als die Telefonzentrale das Gespräch endlich angenommen hatte und das Gedudel mit der Bandansage mit der Bitte um Geduld ein Ende hatte und nun versuchte, sie zu verbinden, aber nur ein leeres Tuten hallte aus ihrem Smartphone-da ging niemand ran!


    Ben sah voller Entsetzen aus dem Augenwinkel seine Frau bewusstlos am Boden ein wenig entfernt von seinem Bett liegen. „Sarah!“ rief er angstvoll, aber bevor er sich weiter bemerkbar machen und um Hilfe rufen konnte, hatte Brummer, dem die pure Mordlust aus den Augen sprach, nach einem dicken Lagerungskissen gegriffen, das am Fußende von Ben´s Bett lag und das auf das Gesicht seines Opfers gedrückt, so dass dem sozusagen das Wort im Mund abgeschnitten wurde. Brummer war nun mit einem Sprung auf dem Bett und kniete sich auf Ben´s linke Hand, damit der ihn damit nicht erreichen konnte. Er nutzte den Überraschungsmoment noch aus und schaltete den Monitor auf Stand By, was eine Bedienung von zwei Tasten erforderte, aber das waren die selben Monitore wie auf der Intensivstation auf der sein Sohn gestorben war-die Funktion war ihm vertraut-wie oft hatte er gesehen, wie Ärzte und Pflegepersonal damit gearbeitet hatten. Er musste sich dazu zwar verrenken, aber indem er mit seinem Körpergewicht arbeitete und mit dem anderen Knie auf Ben´s Brustkorb thronte und ihm damit zusätzlich noch unsägliche Schmerzen bereitete und zugleich die Luft abschnürte, war er völlig sicher, dass sein Opfer bald aufhören würde zu zucken und zu strampeln und bewusstlos wurde.


    Ben kämpfte währenddessen um sein Leben. Wenn er gekonnt hätte, hätte er vor Schmerz laut losgebrüllt, aber er konnte sich nicht bemerkbar machen. Das Blut begann schon in seinen Ohren zu rauschen, er befürchtete in Kürze in die Bewusstlosigkeit abzudriften, aber ein Gutes hatte der Adrenalinstoß, den sein Körper in Todesnot ausstieß doch-er spürte plötzlich keine Schmerzen, kein Fieber und keine Übelkeit mehr und die Zeit wurde regelrecht in seinem Kopf langsamer geschaltet. Jetzt müsste eigentlich sein Lebensfilm beginnen abzulaufen, wie man aus vielen Nahtoderfahrungen wusste, aber Brummer hatte nicht damit gerechnet, dass Ben´s Nase noch mit einer Sauerstoffbrille versorgt war, den Sarah vorhin fürsorglich noch etwas höher gedreht hatte, so dass er wenigstens minimal mit Luft versorgt wurde. Drei Liter in der Minute war zwar nicht viel, aber die Menge verhinderte doch, dass er das Bewusstsein verlor, sondern statt dessen fieberhaft versuchte, einen Plan zu fassen, wie er Brummer von sich herunter befördern konnte. Ben wunderte sich auch, dass der Monitor nicht alarmierte und die Schwestern und Pfleger ihm und Sarah zu Hilfe kamen, aber anscheinend hatte sein Angreifer da etwas gedreht-Semir hatte ihm ja erzählt, dass der angebliche Archivmitarbeiter mit der schmalen Rente in Wahrheit ein bestens ausgebildeter Kämpfer war, der im Krieg wohl sämtliche Skrupel verloren hatte und jetzt seine persönliche Vendetta durchzog, dabei hatte der ja überhaupt keine Schuld am Tod seines Sohnes, aber Ben hatte den Wahnsinn in den Augen des Mannes gesehen, der wollte einfach töten und verhielt sich nun wie ein Raubtier, das in Blutrausch fiel.


    So schwer es ihm fiel, aber Ben befahl sich jetzt selber ganz flach zu atmen, um mit dem minimalen Sauerstoff zu Recht zu kommen und zugleich ließ er alle Glieder erschlaffen. Brummer sollte glauben, dass er nun das Bewusstsein verloren hatte-nur dann würde er vielleicht unaufmerksam werden und er hatte eine Chance sich effizient zu wehren. In Ben´s Kopf ratterte es-er ließ Semir´s Bericht noch einmal Revue passieren. Stumpf hatte Brummer angeschossen und dabei aufs Herz gezielt, nur leider eben lediglich einen Schulterdurchschuss zustande gebracht. Das bedeutete, dass Brummer´s verletzte Schulter, also seine Schwachstelle links war, sozusagen direkt über seiner rechten Hand. Obwohl Ben die bisher nicht wahrgenommen hatte und die Hand lahm und taub auf einem Kissen neben ihm gelegen hatte, fühlte er nun darin ein starkes Kribbeln-aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht würde die ihm gehorchen, vielleicht aber auch nicht-er musste alles auf eine Karte setzen, sonst war er sowieso tot! Er kämpfte die Panik in sich nieder, die ihn zu übermannen drohte und ihm eigentlich befahl, wild um sich zu schlagen und zu treten, aber damit hatte Brummer ja kalkuliert und saß deshalb so auf ihm, dass er ihm nicht schaden konnte. In der Zeitung war gestanden, dass der Eingeklemmte vielleicht seinen rechten Arm verlieren würde, deshalb hatte Brummer den außer Acht gelassen-so wie der auf dem Kissen neben seinem Opfer gelegen hatte, als würde er nicht zu ihm gehören, stellte die rechte Hand keine Gefahr dar und darum hatte er sich lieber auf den Rumpf seines Opfers gekniet, um dem keine Gegenwehr zu erlauben.


    Ben hatte jetzt einen Plan gefasst und nachdem er noch kurz überlegt hatte, wie weit Sarah vom Bett weg lag und sich sicher war, die nicht unter sich zu begraben, hob er in Zeitlupentempo den rechten Arm. Jawohl-es funktionierte, er konnte die Hand spüren und sie gehorchte ihm auch. Jetzt griff Ben beherzt nach oben, packte Brummer an seiner linken Schulter, die ja durch die Schussverletzung dessen Schwachstelle war und als der vor Schmerz und Überraschung einen Moment mit dem Druck nachließ und statt dessen aufschrie, als sich die Finger seines Opfers in die Wunde bohrten, spannte Ben alle Muskeln an, rollte mitsamt seinem Angreifer aus dem Bett und stürzte zu Boden.

  • Ben hatte sich zur linken Seite rollen lassen, auf der auch Sarah lag, denn nur dort war das Bettgitter abgesenkt. Allerdings hingen der Pleur-Evac-Behälter der Thoraxdrainage, der Auffangbehälter des Blasenkatheters mitsamt der Spüllösung und alle Infusionen am ZVK auf seiner rechten Körperseite und im Fallen gab es einen Ruck und noch einen und noch einen und wenn Ben da nicht den Adrenalinstoß noch in seinem Körper gehabt hätte, wäre er in derselben Sekunde vor Schmerzen ohnmächtig geworden, denn er hatte sich soeben die Thoraxdrainage und den ZVK mitsamt Annaht herausgerissen und den geblockten Spülkatheter ebenfalls. Nur die Arterie, die ein langes Kabel hatte und gut verklebt war, steckte noch in seinem Arm.
    Allerdings hatte Brummer wenigstens im Fallen das Kissen losgelassen, denn er war von Ben´s Gegenwehr völlig überrascht worden und so sog der junge Polizist mit einem tiefen keuchenden Atemzug gierig Luft in seine Lungen. Er und Brummer kamen seitlich am Boden auf und von diesem Moment an war Ben zu keiner Gegenwehr mehr fähig, denn nun schlug die Welle des Schmerzes über ihm zusammen und er konnte nur aus dem Augenwinkel Sarah ganz nah vor sich legen sehen, die kein Lebenszeichen von sich gab, ohne sich auch nur einen Millimeter bewegen zu können. Wenn ihnen jetzt keiner zu Hilfe kam, war es vorbei!


    Brummer löste sich mit einem Fluch aus Ben´s Umklammerung und sprang auf. Er war der Überzeugung gewesen, sein Opfer wäre bereits tot, oder zumindest tief bewusstlos, denn als dessen Glieder erschlafft waren, hatte er sich schon siegessicher gefühlt und bereits das nächste Attentat auf Mittler geplant. Töten war gar nicht so schwer und wenn man erst einmal die Skrupel über Bord geschmissen hatte, ging es sogar ganz leicht! Aber das war ihnen schon bei der Bundeswehr eingebläut worden-man durfte im Krieg keine Gefühle haben, sondern musste soldatisch funktionieren und seine Gegner vernichten, oder zumindest dezimieren. Man durfte die auch nicht als Menschen sehen, sondern man diente in diesem Augenblick dem Vaterland-in seinem speziellen Fall zwar nicht unbedingt- aber auch Rache war wichtig und immerhin schützte er so das übrig gebliebene Volk vor weiteren Fehlern, die zum Tod Unschuldiger führen konnte, wie man an seinem Sohn gesehen hatte. Außerdem musste er zugeben, dass das Töten ihm große Befriedigung verschafft hatte, endlich konnte er einmal ausprobieren, was ihm seine Ausbilder beim Bund beigebracht hatten-er hatte nur nicht verstehen können, warum die ihn damals unehrenhaft entlassen hatten-er hatte doch nur seine Pflicht getan.


    Nun sah Brummer, seine Hand fest auf seine schmerzende linke Schulter gepresst, auf sein Opfer am Boden, aus dem nun an mehreren Stellen das Blut floss und das langsam blau anlief. Das stellte keinen ernst zu nehmenden Gegner mehr dar, obwohl Brummer dennoch fast ein wenig Hochachtung hatte-dieser Mann hatte wie ein guter Soldat auch nicht kampflos aufgegeben, auch wenn es ihm nichts nutzen würde. Suchend sah er sich um, wie er die Sache nun schnell zu Ende bringen, dann das Zimmer verlassen und sich irgendwo verbergen konnte, bis man den toten Jäger und dessen Frau entdeckte, in der Verwirrung sicher die ganze Station zusammenlaufen würde und sein Weg zu Mittler dann frei wäre. Wobei-wenn er es so bedachte, würde sich das mit diesem jungen Architekten vermutlich in Kürze von selber erledigen, aber nein, wenn er etwas machte, dann auch richtig!
    Ben war zwar noch bei Bewusstsein, aber mehr als ein leises Stöhnen kam nicht über seine Lippen-zu knapp wurde ihm die Luft gerade und die unsäglichen Schmerzen taten das Ihrige dazu. Außerdem hatte Brummer die Tür hinter sich zugezogen, so dass man sowieso einen leisen Laut draußen nicht hören würde, da müsste er schon laut brüllen, aber das war ihm nicht mehr möglich.
    Nachdem Brummer bei seinem ersten suchenden Blick kein passendes Tötungswerkzeug sehen konnte, trat er kaltblütig zu dem Metallkoffer, den er neben der Tür abgestellt hatte und öffnete den. Vielleicht war da ja etwas drin, mit dem er seinem Opfer das Lebenslicht endgültig ausblasen konnte.


    Semir und Jenni hatten die sinnlosen Versuche die Mitarbeiter der Intensivstation telefonisch zu warnen, aufgegeben. Das geschah öfter auf Intensiv, dass keiner weg konnte und dann läuteten die verschiedenen Telefone eben mal ein wenig länger. Nur das Notfalltelefon mit seinem durchdringenden Ton veranlasste jeden Mitarbeiter der eine Hand frei hatte, los zu stürzen und sich um den Notfall zu kümmern.
    Inzwischen war Semir mit Blaulicht direkt vor den Eingang der Uniklinik gefahren, bremste abrupt, so dass Jenni beinahe nach vorne geschleudert worden wäre und schon war er herausgesprungen. Jenni schnallte sich ab und hetzte ihm hinterher, er hatte zwar den Schlüssel abgezogen, aber der BMW stand so vor dem Eingang, dass der Pförtner sich gerade beschweren wollte und aus seinem Kabäuschen kam, aber da war Semir schon an ihm in Höchstgeschwindigkeit vorbei gerannt. „Hey was soll das!“ schrie er, aber da kam Jenni schon hinterdrein und zeigte im Vorbeiweg ihren Polizeiausweis: „Polizei-wir haben einen Einsatz!“ rief sie ihm zu und während Semir zwei Stufen auf einmal die Treppen nahm, um möglichst schnell im vierten Stock, wo die chirurgischen Intensivstationen lagen, anzukommen, schlüpfte Jenni in den Aufzug, der gerade direkt vor ihr hielt. Fast gleichzeitig kamen sie oben an und Semir, dessen Bauchgefühl ihm sagte, dass Ben in höchster Gefahr schwebte, rannte ein wenig außer Atem, so schnell er konnte zur verschlossenen Schiebetür von Ben´s Zimmer. Als er sie aufriss, meinte er sein Herz würde stehen bleiben, so ein schrecklicher Anblick bot sich ihm.

  • Brummer hatte den Inhalt des Koffers gemustert. Wie er erwartet hatte, war das ein gut sortierter Werkzeugkoffer, wie ihn Medizingerätetechniker meist hatten. Neben allerlei elektronischem Messwerkzeug war ein gut sortierter Schraubenziehersatz darin und mit einem Handgriff hatte Brummer den Größten heraus gezogen und mit einem siegessicheren Grinsen gemustert. Das Ding war lang und stabil, es würde genügen, um das Herz zu treffen, wenn er genau zwischen den Rippen durchstach-und auch das hatte er bei der Bundeswehr gelernt, die richtige Lokalisation für einen absolut tödlichen Stich ins Herz. Mit zwei Schritten war er bei seinem Opfer, das nun mühsam nach Luft rang und zu keiner Gegenwehr mehr fähig war und kniete sich daneben. Er brauchte nämlich auch eine gewisse Wucht, um das Gewebe zu durchdringen-das hatten sie an toten Schweinen geübt und er war sehr froh darüber-nichts was er jemals gelernt hatte, war umsonst gewesen. Das war prima, mit dieser Waffe konnte er im Anschluss gleich noch Mittler erledigen und sich dann auf zu Stumpf machen. Er musterte mit kaltem Lächeln sein Opfer, das nackt vor ihm auf dem Boden lag und vor Luftnot und Schmerzen fast umkam. Der sollte ihm dankbar sein, dass er seine Todesnot so schnell beendete, das war sozusagen Euthanasie, er würde den Architekten jetzt von seinen Qualen erlösen und schon hob er die Hand-zuvor hatte er fachmännisch mit den Augen die Rippen abgezählt um wirklich an genau der richtigen Stelle zuzustechen- da fiel ihm auf einmal jemand von hinten in den Arm und umklammerte verzweifelt seine Hand.


    „Hilfe!“ schrie Sarah, allerdings drang ihre Stimme nicht weit, denn sie war noch schwach und schwindlig, aber gerade als sie zu sich gekommen war und mühsam die Augen geöffnet hatte, sah sie einen drahtigen älteren Mann mit Basecap, der gerade ausholte, um mit einem Schraubenzieher Ben , der voller Blut und nach Luft ringend, nackt am Boden lag, zu erstechen. Wie eine lästige Fliege schüttelte Brummer Sarah kalt lächelnd ab, der nun wieder verdammt schwindlig war, denn ihr Kreislauf drohte erneut zu versagen-mit der würde er sich im Anschluss beschäftigen- da hörten sie plötzlich wie die Schiebetür geöffnet wurde und nach einem kurzen Blick und einem Ausruf des Entsetzens stürzte sich Semir entschlossen auf den Attentäter und versuchte ihm die Waffe zu entreißen.
    Allerdings hatte er nicht mit der dermaßen entschlossenen Gegenwehr des durchtrainierten älteren Mannes gerechnet. Der hatte mit japanischen Kampftechniken über die Jahre seinen athletischen Körper trainiert und so rollten sich binnen Kurzem die beiden Männer in einem Kampf auf Leben und Tod über den Boden. Inzwischen war auch Jenni in der Zimmertür erschienen und versuchte mit gezogener Waffe ihrem Kollegen zu Hilfe zu kommen, aber auf dieses Knäuel aus menschlichen Körpern, das dort über den Fußboden kugelte, konnte sie keinen Schuss abgeben-zu groß war die Gefahr, dass sie den Falschen traf. Semir hatte inzwischen Gott sei Dank die Hand mit dem Schraubenzieher mit eisenhartem Griff umklammert, denn Brummer hatte nach einer geschickten Drehung sofort auf seine Augen gezielt und wenn es dem völlig skrupellosen Mann gelang, ihn dort zu treffen, dann musste er los lassen, wenn er es überhaupt überlebte.


    Inzwischen waren die Mitarbeiter der Intensivstation darauf aufmerksam geworden, dass in dem Patientenzimmer etwas nicht stimmte und wollten schon zu Hilfe eilen, aber Jenni hielt sie im Moment noch mit ein paar Worten zurück: „Bitte warten sie und bringen sie sich nicht selber in Gefahr!“ bat sie die Mediziner, die hinter ihr standen. „Mein Kollege hat die Sache schon in Griff!“ und mit einem Lächeln steckte sie ihre Waffe weg und holte die Handschellen heraus. Semir hatte nämlich in eben diesem Augenblick ebenfalls seine bei der Polizei erlernten und wieder und wieder geübten Kampftechniken und seinen drahtigen durchtrainierten Körper eingesetzt, mit einer geschickten Drehung, die sein Gegner so nicht erwartet hatte, den aus dem Konzept gebracht, ihn mit einem heftigen Tritt gegen die Hand, der Brummer aufschreien ließ, entwaffnet und kniete jetzt schwer atmend auf seinem Rücken und verdrehte ihm den rechten Arm. Mit zwei Schritten war Jenni nun da und gemeinsam legten sie dem Mörder Handschellen an, was den nochmals schmerzvoll zum Aufstöhnen brachte, als man ihm seinen verletzten linken Arm auf den Rücken zog, aber das war sowohl Semir als auch Jenni völlig egal. Gemeinsam zerrten sie Brummer auf die Beine, schleiften ihn auf den Flur, um dann dem Intensivpersonal und dem Arzt Zutritt zum Zimmer zu gewähren-hoffentlich kamen die noch nicht zu spät!


    Sarah war zurück getaumelt, als der Attentäter sie wie eine reife Pflaume abgeschüttelt hatte, aber als Semir nun den Mann ablenkte robbte sie mit letzter Kraft zu Ben, der gerade im Begriff war zu ersticken und versuchte vergeblich den Sauerstoffschlauch zu erhaschen und ihm in die Nase zu stecken, bevor sie erneut das Bewusstsein verlor und neben ihrem sterbenden Mann zusammen sank.

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