Brückentage

  • Semir war endlich an der angegebenen Hangbrücke angekommen. Er fuhr darüber und hielt dabei auch die Augen offen, aber er konnte keinerlei Auffälligkeiten entdecken. An der nächsten Ausfahrt fuhr er ab und kontrollierte die Gegenrichtung, aber auch da konnte er nichts sehen was ihm komisch vorkam. Er war schon drauf und dran wieder zurück zu fahren, da fiel ihm ein, dass er irgendwie auch noch die Unterkonstruktion der Brücke anschauen sollte. Also verließ er an der nächsten Ausfahrt erneut die Autobahn und versuchte zunächst durch ein Wohngebiet des Kölner Vororts und dann über freies Feld zu den Brückenpfeilern zu kommen. Allerdings fragte er sich die ganze Zeit, warum er das eigentlich machte-da waren eben vermutlich ein paar Brückenpfeiler aus Beton und darüber die Stahlbrücke. Was erwartete er denn zu entdecken? Obwohl-vielleicht fand er dort ja doch irgendeinen Hinweis, falls Ben am Freitag dort gewesen war, der ihm verriet wo er weiter suchen sollte.
    Der zunächst breite asphaltierte Weg verjüngte sich und wurde zur Schotterpiste, die allerdings gut befestigt war. Semir war durchaus die Sprühanlage von der Fahrbahn aus aufgefallen, es standen oben auch überall Schilder: „Stahlbrücke-erhöhte Glatteisgefahr!“ was natürlich jetzt im Juli keine Rolle spielte, aber irgendwo mussten die Vorratstanks der Enteisungsflüssigkeit ja auch sein und betankt werden können. Ah-da sah er das Gebäude, das sozusagen regelrecht mit dem Brückenpfeiler verschmolzen, vielmehr ein Teil davon war, schon aus der Ferne. Und was er noch sah-daneben stand-von der Straße aus zwar nicht zu sehen, aber ansonsten nicht versteckt- ein Geländewagen.


    In diesem Augenblick läutete sein Telefon und als er ran ging war Isolde Rasp dran. „Herr Gerkhan-ich bin inzwischen in der Firma und habe mich umgesehen.“ redete sie los. Die Chefsekretärin hatte wie sonst nur der Firmenchef und die Wachfirma einen Generalschlüssel, der ihr Zutritt zu allen Räumen gewährte, wie sie ihm erklärt hatte. „Friedrich Mittler´s Firmenwagen, den er auch privat nutzen darf, steht am Parkplatz neben dem Porsche ihres Kollegen, sein Handy liegt in seinem Büro in der Ladestation, aber ein dunkelblauer Dienstgeländewagen ohne Firmenaufschrift fehlt!“ teilte sie ihm aufgeregt mit. „Und die Abhöranlage habe ich mir auch angesehen-die ist ja im Archiv, wo seit ein paar Wochen ein gewisser Herr Brummer, ein Rentner der seine Altersbezüge bei uns aufbessert, arbeitet, vielleicht sollten sie den auch einmal befragen-ich habe ihnen die Adresse herausgesucht!“ sagte sie und Semir hielt kurz an und notierte die auf einen Zettel, den er im Handschuhfach hatte. Dann bedankte er sich, legte auf und näherte sich langsam dem Vorratsgebäude.


    Auf den ersten Blick sah das eigentlich ganz normal aus, aber als er direkt davor stand und aus dem BMW ausstieg, konnte er plötzlich erkennen, dass da überall Risse und Sprünge im Mauerwerk waren. Als sein Blick nach oben ging, stockte ihm beinahe der Atem. Um Himmels Willen-ein riesiger Riss zog sich hinauf durch den Brückenpfeiler, er hatte zwar keine Ahnung von Statik, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass da keine Einsturzgefahr bestand! Gerade wollte er schon sein Handy zücken, um seine Kollegen zu verständigen, damit die die Brücke sperrten, da hörte er plötzlich einen schwachen Hilferuf aus dem Inneren des Gebäudes, das von einer stabilen Metalltür verschlossen war. Wie elektrisiert steckte er sein Handy in die Tasche und rüttelte an der Tür. Da-da war es wieder und es war eindeutig Ben´s Stimme, die da gedämpft und schwach aus dem Inneren des Brückenpfeilers drang. Gott sei Dank, er lebte!
    Vor Erleichterung schossen Semir beinahe die Tränen in die Augen und er rief laut: „Ben-ich bin da und hole dich hier raus!“ und als nun als Antwort nur ein schwaches Schluchzen aus dem Inneren kam, das aber weiter entfernt klang, also war Ben nicht direkt hinter der Tür, zückte Semir kurzerhand seine Waffe und schoss das Schloss auf. Er hatte Glück von keinem Querschläger getroffen zu werden und wenn das die Chefin oder irgendeiner seiner Kollegen, die eine Ahnung von Waffen hatten, gesehen hätten, hätten die ihn für verrückt erklärt und ihn geheißen zu warten, bis die Feuerwehr kam und mit technischem Gerät die Tür öffnete, aber dafür hatte er keine Zeit-die Verzweiflung und Erschöpfung in Ben´s Stimme sprach für sich-er musste jetzt zu ihm! Endlich sprang die Tür auf und als Semir nun ins Halbdunkel trat, meinte er seinen Augen nicht zu trauen vom Anblick, der sich ihm bot.


    Brummer war inzwischen in die Nähe des Anwesens von Stumpf senior gefahren. Das lag in einer ruhigen Wohngegend Kölns, wo der Reichtum sichtlich zuhause war, denn die pompösen Gründerzeitvillen waren von riesigen Gärten umgeben. Das Stumpf´sche Anwesen war von einer verklinkerten Mauer gesäumt und als Brummer langsam daran vorbeifuhr, konnte er vor der Haustür ein Polizeifahrzeug sehen, in dem zwei uniformierte Beamte bei geöffneter Wagentür im Schatten eines großen Baumes saßen, Kaffee tranken und anscheinend den Eingang bewachten. So kam er schon mal nicht rein, aber ihm würde schon etwas einfallen!

  • Ben hatte sich aufgegeben. Er fühlte es-lange würde es nicht mehr dauern, bis entweder die Brücke über ihnen zusammenbrach, oder er an den Folgen seiner Verletzungen sterben würde. Sein Bein wummerte, sein Arm war taub und schmerzte trotzdem und er fröstelte abwechselnd und schwitzte denn wieder. Wie spät es wohl war? Würde dieser Sonntag sein Sterbetag sein? Was machten wohl Sarah, Tim und Lucky? Er war sich sicher, dass die vor Verzweiflung völlig am Ende waren und er versuchte ganz stark an sie zu denken und ihnen sozusagen mental einen Abschiedsgruß zu schicken. Wie es wohl war zu sterben? Stimmte das mit dem hellen Licht und den Verstorbenen, die einen am Ende des Tunnels erwarteten? Dann hatte er aber ein Problem, denn er hatte seine verstorbenen Freundinnen Saskia und Laura wirklich von Herzen geliebt, aber jetzt galt seine Liebe Sarah, mit der er doch sein Leben hatte verbringen wollen und seinen Kindern. Sein Ungeborenes würde seinen Vater wohl nie kennenlernen und auch Tim war noch so klein, ob der sich überhaupt an ihn erinnern würde? Ob jetzt dann einfach alles vorbei war, oder ob man doch noch irgendwie Anteil nehmen konnte am Leben der Zurückbleibenden. War man dann ein Teil des Sommerwindes, der um ihre Körper strich, war man im Rascheln der Zweige im Garten oder auch brüllender Sturm?
    Er beneidete gerade Menschen, die tief gläubig waren-wie viel einfacher taten die sich-gerade Christen hatten da ja die Option nach Fegefeuer und jüngstem Gericht als Engel in den Himmel aufzusteigen und da auf einer Wolke zu schweben-leider war er zwar getauft, aber nicht besonders gläubig, also fiel diese Möglichkeit für ihn schon mal weg und ehrlich gesagt empfand er das auch als ein wenig kindisch-so ein Himmel, der für Angehörige einer bestimmten Glaubensrichtung reserviert war. Aber er würde es bald erfahren und so versuchte er seine Todesangst und seine Schmerzen irgendwie auszuhalten und wartete voller Resignation auf das Ende.


    Plötzlich hörte er ein Auto heranfahren. Es klang wie ein BMW und im selben Augenblick begann er wieder Hoffnung zu schöpfen und mit letzter Kraft zu rufen. Jemand rüttelte an dem Metallltor und als er so laut er konnte „Hilfe-Semir hilf mir!“ rief, denn er wusste im selben Augenblick, dass kein anderer als Semir da draußen war, kam auch schon die ersehnte Antwort: „Ben-ich bin da und hole dich hier raus!“ Dann ertönten Schüsse, plötzlich wurde es hell im Raum und Ben musste die Augen zusammen kneifen, als plötzlich das Sonnenlicht in sein Gefängnis flutete.


    Semir brauchte einen Augenblick, bis seine Augen sich an das Halbdunkel in dem Raum gewöhnt hatten, aber dann sah er Ben und ein zweites dunkles Bündel Mensch neben ihm und das Blut gefror ihm in den Adern. Sein Freund lag auf dem Rücken und war über und über mit Staub bedeckt. Hier hatte eindeutig eine Explosion stattgefunden. Aber außer dem getrockneten Blut, das er überall erkennen konnte, erschreckte ihn, dass Ben sichtlich eingeklemmt war. Sein Unterarm diente als eine Art Säule und es sah aus, als ruhe die Last der Brücke auf ihm. Mit wenigen Schritten über das Geröll war Semir bei ihm. „Ben!“ sagte er nur voller Sorge. Die Frage wie es ihm ginge erübrigte sich, denn Semir sah auf den ersten Blick, dass Ben am Ende seiner Kräfte war. Als er vor ihm auf die Knie fiel und ihn anfasste, war er glühend heiß, aber die linke freie Hand die er ergriff, war eiskalt. Semir versuchte Ben da irgendwie herauszuziehen, aber der schrie nur schmerzerfüllt auf, als er an seinen rechten Arm kam. Als Semir ihn nun abtastete und sein Blick auf den rechten Fuß fiel, wurde ihm beinahe schlecht. Um Himmels Willen, der hing ja halb weg und man konnte Knochen und Sehnen des eröffneten Gelenks, bedeckt mit Schmutz erkennen. Welche unsäglichen Schmerzen musste Ben haben, aber hier konnte er alleine nichts ausrichten, er musste dringend Hilfe herbeiholen! Hektisch zog er sein Handy aus der Tasche, stellte aber fluchend fest, dass er keinen Empfang hatte-anscheinend schirmte der Stahl außen herum die Funkwellen ab und so musste er seinen Freund wieder verlassen, um draußen zu telefonieren.
    Erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass das reglose Bündel neben Ben ebenfalls noch atmete. Er drehte Mittler auf den Rücken-zumindest nahm er an, dass das der ebenfalls vermisste Bauleiter war und prüfte die Vitalfunktionen. Obwohl tief bewusstlos konnte er noch einen rasend schnellen Puls spüren und die Atmung funktionierte ebenfalls noch, wie man hören konnte. Kurz überlegte er, ob er ihm schaden würde, wenn er ihn aus seinem dunklen Gefängnis zog-vielleicht hatte er ja Wirbelsäulenverletzungen und das sollten lieber die Profis machen, aber Ben, der Semir´s Gedankengänge wohl nachvollzogen hatte, sagte mit schwacher Stimme: „Bring ihn raus!“ und Semir folgte wie in Trance den Anweisungen seines Freundes. Mit dem Rautek-Griff schleppte er den Bewusstlosen ans Tageslicht und wählte dann sofort den Notruf 112. „Hier Gerkhan Kripo Autobahn, ich habe hier zwei Schwerverletzte-einer davon eingeklemmt, bitte sofort Notarzt, zwei RTW´s und Feuerwehr, vielleicht auch noch das THW mit einem Bergungsfahrzeug!“ bestellte er und beschrieb genau den Anfahrtsweg und die Problematik. Dann tippte er, während er Mittler in die stabile Seitenlage brachte, die Nummer der PASt-wenn die das koordinierten würde es schneller gehen, als wenn er über die Notrufzentrale agierte und bat die, sofort die Sperrung der Hangbrücke zu veranlassen. Gerade als er auflegte und wieder zu seinem Freund eilen wollte, fiel sein Blick nach oben zur Brücke und er meinte, das Herz würde ihm stehen bleiben! Dort war das Blaulicht des vorausfahrenden Begleitpolizeifahrzeugs zu sehen und ihm nach folgte in Zeitlupentempo der angekündigte Schwertransport und war bereits kurz vor der Brücke! Um Himmels Willen, was sollte er nur tun?

  • Semir schrie und winkte aufgeregt, aber wie zu erwarten war, bemerkte ihn niemand-klar-die Fahrer dort oben hatten sicher die Fenster geschlossen und die Klimaanlage laufen. Wer rechnete auch mit sowas und dann fiel Semir´s Blick auf den Baum, der nahe des nächsten Brückenpfeilers stand und dessen Krone zwischen den beiden Fahrbahnen endete. Ob der ihn tragen konnte? Aber egal-er musste es riskieren wenn er Ben retten wollte und mit ihm vermutlich eine Menge anderer Menschen, denn das Gewicht des Schwertransports würde wahrscheinlich die Brücke komplett zum Einsturz bringen und damit jeden der sich auf ihr befand, in die Tiefe reißen.
    Semir spurtete zu dem Baum, dessen insgesamte Höhe sicher an die zwanzig Meter betrug und begann geschickt den Stamm zu erklimmen. Die Rinde der Buche war uneben und so fand er immer wieder Halt und als sich der Stamm nach oben verjüngte, konnte er den nach einer Weile umfassen. Er kletterte wie ein Affe nach oben, ohne einen Blick in die Tiefe zu werfen. Gott sei Dank war er eigentlich schwindelfrei, sonst wäre dieses Unterfangen von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, denn wenn er jetzt abrutschte, würde er unten auf dem harten Boden aufschlagen und wäre entweder tot, oder zumindest schwerst verletzt und dann würde das Schicksal seinen Lauf nehmen und die anderen Menschen, Ben eingeschlossen, würden mit ihm sterben. Kurz hatte er überlegt, ob der Funk in seinem Wagen eine Option gewesen wäre, aber bis er die Polizisten dort oben erreicht und die richtige Frequenz herausgefunden hätte, wäre es vielleicht zu spät gewesen. So überwand er Meter um Meter und konnte schon sehen wie langsam die erste Achse des Schwerfahrzeugs begann die Hangbrücke zu befahren. Vor seinen Augen verbreiterte sich der Riss im Brückenpfeiler-es war sonnenklar, das Bauwerk würde nicht halten und gerade erschien vor Semir´s innerem Auge ein Bild, das er schnell wieder von sich schob. Er sah gerade, wie die Brücke zusammenbrach und hörte Ben´s Entsetzensschreie, als er endgültig verschüttet wurde. Wie sollte er das Sarah beibringen, die in einem absoluten Ausnahmezustand und zudem schwanger war. Vielleicht würde die das Kind verlieren-Andrea , die sich rührend um ihre Freundin gekümmert hatte, hatte sowas schon befürchtet, falls Ben nicht bald gefunden würde. Das konnte und wollte er nicht verantworten und so war Semir inzwischen katzengleich in der dichten Krone angelangt.


    Diese Bäume, die die Lücke zwischen den Fahrbahnen begrünten und von oben teilweise als Büsche wahrgenommen wurden, reckten sich der Sonne entgegen und wurden von der Straßenmeisterei beim jährlichen Rückschnitt immer gerade soweit eingekürzt, dass keine Sichtbehinderungen auf den beiden Fahrbahnen entstanden und kein Laub auf die Straße fiel. Allerdings waren so weit oben auch die Äste immer dünner, dafür die Zweige dichter und Semir musste jetzt allen Mut zusammennehmen, um die letzten Meter bis zur Fahrbahn zu überwinden. Er versuchte immer mehr als einen Ast zu umklammern und das war sein Glück, denn einmal brach ein Ast ab und nur durch die Tatsache, dass er blitzschnell das Gewicht auf den anderen Ast verlagerte, den er gepackt hatte, hinderte ihn daran, mitsamt dem Holz in die Tiefe zu stürzen. Die dichten Blätter nahmen ihm die Sicht und der anstrengende Aufstieg raubte ihm in Verbindung mit der Aufregung den Atem, aber unverdrossen kletterte er aufwärts. Nun wurden die Ästchen schon sehr dünn, aber jetzt konnte er das Brückengeländer direkt vor sich erkennen und stellte fest, dass der Baum leider nicht, wie er von unten gedacht hatte, direkt dort anlag, sondern eine Lücke von mindestens einem Meter bestand. Kurz schloss Semir die Augen, atmete tief durch und bat alle höheren Mächte um Beistand, als er sich abdrückte und ein wenig ungeschickt, weil er durch das Zweigwerk behindert war, Richtung Fahrbahn sprang. Gerade so konnte er eine Metallstrebe des Geländers fassen und hing eine Schrecksekunde zwischen Himmel und Erde, bevor er mit letzter Kraft seine Muskeln anspannte und sich nach oben und über das Brückengeländer wuchtete. Ein wenig erstaunt stellte er fest, dass dieses wohl zuerst kaum höher als die Leitplanke gewesen war, aber anscheinend nachträglich eine Erhöhung aufgeschweißt bekommen hatte, aber das war im Augenblick völlig egal, wichtig war jetzt, dass er den Schwertransport zum Halten brachte.


    Wild mit den Armen wedelnd sprang er direkt vor das schwere Fahrzeug, das gerade begann mit der zweiten Achse die Brücke zu befahren. Der Fahrer trat erstaunt auf die Bremse, als plötzlich ein verschrammter kleiner Mann heftig gestikulierend, direkt vor sein viele Tonnen schweres Fahrzeug sprang und ihn so zum Anhalten brachte. Auch das vorausfahrende Begleitfahrzeug mit Blaulicht stoppte und die beiden Polizisten sprangen heraus, um diesen Verrückten, der beinahe von dem Schwertransport überrollt worden wäre, zur Seite zu schleifen und den Weg frei zu machen. Was war denn das wieder für ein verpeilter Aktivist und gegen was protestierte der? Sein Gesicht und seine Arme waren zerschrammt und blutig, außerdem war er schmutzig und sie konnten sich gerade auch nicht vorstellen, wo der hergekommen war-hier war doch nirgendwo eine Möglichkeit sich zu verstecken? Aber egal-sie würden ihn wegziehen, damit der Transport, dessen Fahrstrecke minutiös ausgerechnet war und der auch bewusst mit Sondergenehmigung am Sonntag diese Strecke bei Köln passierte, um werktags den Berufsverkehr nicht zu stören, weiterfahren konnte und sie voran kamen.
    Gerade wollten ihn die beiden Beamten überwältigen, da zog der drahtige Mann mit der Kurzhaarfrisur einen Ausweis aus der Tasche und schrie beinahe: „Gerkhan, Kripo Autobahn-sie dürfen auf gar keinen Fall weiterfahren, sondern müssen im Gegenteil sofort die Fahrbahnen sperren-die Brücke ist akut einsturzgefährdet!“ und nun sahen ihn die Polizisten erstaunt an. „Wenn sie mir nicht glauben-sehen sie nach unten-der Betonpfeiler hat einen Riss, dort unten hat eine Explosion stattgefunden und mein Kollege ist wenige Meter unter uns verschüttet und eingeklemmt.“ erklärte er aufgeregt und als der eine der Polizisten nun einen vorsichtigen Blick über die Brüstung warf-er war nämlich nicht schwindelfrei-wurde er blass, der Kollege hatte Recht.


    In diesem Augenblick kam auch schon die Warnung aus dem Funkgerät mit der Aufforderung an alle, die Brücke zu sperren Wenn dieser Teufelskerl allerdings nicht so schnell reagiert hätte, wäre jetzt in diesem Augenblick der Schwertransport vermutlich mit allen Achsen auf der Brücke gewesen und hätte die zum Einsturz gebracht. In Windeseile evakuierte man den Fahrer und den Beifahrer aus dem Transporter und ließ den riesigen LKW genau so stehen wie er war. Die nachfolgenden Fahrzeuge, die sowieso den Verkehr nach hinten abgeriegelt hatten, blieben wo sie waren und Semir sprang nun wie ein Derwisch in den Polizeiwagen auf den Fahrersitz, fuhr den nach vorne, damit er die Pedale erreichen konnte, und rief den beiden verdatterten uniformierten Beamten zu: „Schnell-kommt mit-vielleicht könnt ihr mir bei der Bergung unseres Kollegen helfen!“ und die Türen waren noch nicht ganz zu, da brauste da Streifenfahrzeug schon mit Vollgas, Blaulicht und Martinshorn los, um über die nächste Abfahrt die Unfallstelle so zu erreichen, wie Semir das vor weniger als einer halben Stunde schon mit seinem BMW getan hatte. Die Polizisten schnallten sich mit zitternden Fingern an und klammerten sich dann verzweifelt an den Haltegriffen im Fahrzeug fest-diese Höllenfahrt mussten sie erst einmal überleben, aber sie getrauten sich nicht zu protestieren, denn der Mann am Steuer driftete nach dem Passieren der Abfahrt routiniert und rasend schnell um die Kurven, schien das Fahrzeug aber völlig in Griff zu haben.

  • Ben sah Semir mit Mittler aus dem Gebäude verschwinden-jetzt hatte er wieder Hoffnung. Er hörte noch, dass Semir draußen etwas ins Telefon sprach, die Worte konnte er allerdings nicht verstehen, aber er schloss nun ein wenig die Augen und wartete. In wenigen Sekunden wäre sein Freund wieder bei ihm und dann würde alles gut werden. Er würde in Kürze seine Familie wieder in die Arme schließen, klar-zuvor musste er noch ins Krankenhaus, aber immer noch erschien ihm die Vorstellung des weichen Krankenhausbetts und Schmerzmitteln-vielen Schmerzmitteln-als Option, der er durchaus Geschmack abgewinnen konnte. Hoffentlich konnte man Mittler noch helfen-aber immerhin hatte der noch geatmet, als Semir ihn nach draußen gezogen hatte. Die Feuerwehr würde in Kürze kommen und die hatten sicher irgendein Werkzeug dabei mit dem sie ihn befreien konnten. Ben öffnete die Augen wieder, um nach seinem Freund Ausschau zu halten, aber dann weiteten sich seine Pupillen, denn plötzlich begann sein Gefängnis erneut instabil zu werden, die Wände knarzten und bewegten sich auf ihn zu und von der Decke fielen einige Betonbrocken auf ihn, trafen ihn und brachten ihn schmerzhaft zum Aufschreien. Um Himmels Willen-was war geschehen? Stürzte gerade jetzt, wenn er die Rettung vor Augen hatte, das Gebäude über ihm ein und tötete ihn? Und wo zum Teufel war Semir? War dem auch etwas geschehen und der lag jetzt ebenfalls irgendwo und konnte sich nicht mehr befreien? Er hatte ihn draußen noch laut rufen hören, ohne die Worte zu verstehen, aber jetzt lag er wieder alleine und verlassen da und nicht einmal der schwer verletzte Mittler war mehr in seiner Nähe! Voller Panik begann Ben zu hyperventilieren und krampfhaft zu husten, als der Staub in seine Lungen drang und der Schutt, der immer noch herunterfiel, bedeckte mehr und mehr seinen Körper.


    Wenn der Polizeiwagen nicht zum Stehen gekommen wäre, hätten Semir´s beide Mitfahrer vermutlich die Sitze voll gereiert, so war das Auto in bester Rennfahrermanier um die Kurven geschossen und hatte die kurvige Strecke in Höchstgeschwindigkeit bezwungen. So mussten sie sich erst einmal am Dach festhalten, als sie herauskletterten und Semir, der schon mit einem Satz herausgesprungen und zum Eingang des maroden Gebäudes gelaufen war, sah noch aus dem Augenwinkel, wie der eine der beiden den Schlüssel abzog und in seiner Tasche verschwinden ließ, bevor sie ihm langsam zum Eingang folgten. „Ben-ich bin wieder da und habe Unterstützung mitgebracht!“ schrie Semir und verschwand schon im Inneren des Gebäudes. Dort stockte ihm der Atem, als seine Augen sich wieder langsam an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Wo war Ben? Aber als er dann unter einem neu entstandenen Schutthaufen ein schwaches Wimmern hörte, begann er voller Energie die Betonbrocken wegzuräumen. „Verdammt noch mal Leute-kommt gefälligst rein und helft mir!“ schrie er zornig-warum hatte er die beiden Luschen von Kollegen denn mit gezerrt, wenn die ihm jetzt nicht halfen, seinen Freund zu befreien?


    Die waren inzwischen in den Eingang des Gebäudes getreten, wo das Metalltor nun schief in den Angeln hing, so sehr hatten sich die Reste des Häuschens verschoben. „Ich habe Familie-ich gehe hier nicht rein!“ sagte der eine der beiden Männer furchtsam und sein Kollege stimmte ihm zu, denn wie als Antwort ächzte die Brücke und erneut fielen ein paar Steine herunter. Semir hatte sich schon zu Ben vorgearbeitet und hustend und verbissen räumte er Brocken um Brocken zur Seite, so dass der wieder Luft bekam. „Ich habe schon gedacht, du kommst nicht mehr!“ flüsterte Ben schwach, aber Semir strich ihm mit einem Lächeln das von Steinstaub und Tränen verschmutze Haar aus der Stirn, damit er wieder etwas sehen konnte und sagte liebevoll: „Du weisst doch-ich lasse dich nicht im Stich!“ und Ben nickte erschöpft.


    Inzwischen waren die Rettungskräfte eingetroffen und hatten sich zunächst einmal um Friedrich Mittler gekümmert, dem einer der beiden Polizisten schon Erste Hilfe geleistet und ihn in eine Rettungsdecke aus dem Verbandskasten gehüllt hatte. Ansonsten war der gut in stabiler Seitenlage gelegen, wie Semir ihn zurückgelassen hatte und als ihn sich nun der Notarzt und die Besatzung des ersten RTW vornahmen, ging der Polizist wieder zum Eingang zurück, wo inzwischen sein Kollege eine starke Lampe aus dem Wagen geholt hatte und den Unglücksort beleuchtete. Ihnen Allen gefror das Blut in den Adern, als sie das Szenario im Inneren der Brücke nun so schonungslos hell betrachten konnten. Dort lag ein sichtlich schwer verletzter und noch teilweise von Schutt bedeckter Mann halb auf der Seite und sein Unterarm trug wie eine letzte verbliebene Säule die Deckenkonstruktion, die insgesamt instabil war. Ein zweiter Mann räumte verbissen den Schutt weg, aber das ganze Gebäude war akut einsturzgefährdet und der Notarzt, der sich kurz von Mittler entfernt und einen Blick hinein geworfen hatte, hielt seine Leute zurück. „Niemand betritt das Brückeninnere, bevor nicht ein Statiker grünes Licht gegeben hat-Eigenschutz hat Priorität!“ befahl er als momentaner Einsatzleiter mit Autorität in der Stimme und nun fuhren auch schon die Feuerwehr und ein Wagen des THW vor.

  • Die Fachleute der Feuerwehr und des THW sprangen aus ihren Fahrzeugen, aber auch diese Einsatzleiter hielten ihre Leute davor zurück, das einsturzgefährdete Gebäude zu betreten. Sie musterten die Brückenkonstruktion mit dem riesigen Riss im Pfeiler und sperrten das Gelände erst einmal weitläufig ab. Ein zweiter Notarzt-nun exclusiv für Ben-war zugefordert, denn der zuerst am Unfallort eingetroffene hatte Friedrich Mittler inzwischen intubiert und leidlich im Fahrzeug stabilisiert, aber er musste nun dringend mit Arztbegleitung zur weiteren Diagnostik und Behandlung in die Klinik transportiert werden-er war sehr schwer verletzt und sein Überleben war nicht sicher. So fuhr der erste RTW davon und die anderen Helfer standen betroffen vor dem Eingang und spähten hinein.


    Semir hatte inzwischen den restlichen Schutt von seinem Freund geräumt, damit der wieder besser Luft bekam. Ben hatte mehrmals laut aufgestöhnt, als er ihn berührt oder den einen oder anderen Brocken von ihm heruntergezogen hatte. Die Steine, die ihn erneut getroffen hatten, waren schmerzhaft gewesen-er konnte sich nun vorstellen wie sich die Opfer der grausamen Strafe der Steinigung im Islam fühlten und vor allem war man da eben nicht schnell tot, sondern litt bis zum bitteren Ende. Semir warf immer wieder zornige Blicke zurück, während er fieberhaft arbeitete und dabei selber husten musste, so staubte es in ihrem engen Gefängnis. „Verdammt noch mal-hat jetzt irgendeiner von euch Luschen da draußen so viel Arsch in der Hose, dass er reinkommt und mir hilft, meinen Kollegen zu bergen?“ schrie er verzweifelt, aber vom Verstand her konnte er durchaus verstehen, dass sich von den sicher motivierten Helfern niemand in Gefahr bringen wollte-Eigenschutz ging einfach vor und falsch verstandenes Heldentum war falsch-aber hier ging es schließlich um Ben!
    Der junge, neu zugeforderte Notarzt, der seinen hippokratischen Eid sehr ernst nahm, war kurz davor gewesen in die neu entstandene Höhle zu kriechen, aber er wurde vom Einsatzleiter der Feuerwehr daran gehindert. Inzwischen trafen immer mehr Fahrzeuge, ein Autokran und sogar die Höhenrettung ein, wobei eigentlich keiner wusste, was die hier sollte, aber als ein Vertreter des Straßenbauamts, den man in seiner Sonntagsruhe gestört hatte, nun auch noch erschien und den Kopf schüttelte, machte sich bei den ganzen Helfern eine tiefe Traurigkeit breit. Man würde natürlich versuchen den eingeklemmten Mann irgendwie herauszuholen, aber der Mann des Bauamts, der zudem geprüfter Statiker war, hatte höchste Gefahrenstufe, akute Einsturzgefahr ausgerufen und so durfte einfach niemand zu dem Verletzten.


    Ben war inzwischen am Ende seiner Kräfte und kurz davor, sich aufzugeben. Nur die Anwesenheit seines Freundes hielt ihn davon ab, einfach die Augen zu schließen und in die wohltuende Bewusstlosigkeit abzudriften. Wieder versuchte Semir an seinem Arm zu ziehen, der aber fest steckte wie in einem Schraubstock und brachte ihn so laut zum Schreien, das in ein verzweifeltes Schluchzen überging, so dass Semir betroffen wieder aufhörte. „Ich bring ihn einfach nicht raus-macht irgendwas, bevor die Brücke über uns zusammenbricht!“ schrie er verzweifelt nach draußen und inzwischen liefen ihm selber die Tränen der Verzweiflung herunter. Wieder ächzte das marode Bauwerk und einige Steine polterten herunter. Semir musste jederzeit damit rechnen, mitsamt seinem Freund verschüttet zu werden.


    Eine ganze Weile geschah nun nichts und draußen wurde der Absperrradius nochmals vergrößert und die Schaulustigen, die natürlich inzwischen auch in Scharen eingetroffen waren, außerhalb der Gefahrenzone gebracht. Nur der Notarzt, der Einsatzleiter und drei Mann vom THW standen noch unmittelbar vor dem Gebäudeeingang, alle hatten Helme auf und waren bereit beim ersten Anzeichen, dass die Brücke nachgab nach rückwärts zu fliehen und auch das war eigentlich fast zu gefährlich, aber man wollte dem Verschütteten und seinem Freund wenigstens Solidarität beweisen, wenn man schon nichts machen konnten. Man hatte den Einsatz eines Hydraulikspreizers überlegt und auch andere Abstützmaßnahmen, aber ohne die Menschen hochgradig zu gefährden, die diese Geräte zu bedienen wussten, konnte man sie nicht einsetzen.
    Auch der Notarzt hatte sich Gedanken gemacht und inzwischen eine Spritze aufgezogen und eine Blutsperre und einiges Instrumentarium, eingeschlagen in ein steriles grünes Tuch, hergerichtet. „Können sie einmal kurz zum Ausgang kommen, Herr Gerkhan?“ fragte er leise und nach kurzer Überlegung kroch Semir tatsächlich zu ihm. Man hatte zuvor natürlich die Namen ausgetauscht und sich auch die Lage vor Ort und den Zustand Ben´s, eingeschlossen seines halb abgerissenen Fußes, von Semir detailgenau schildern lassen. Der Einsatzleiter wollte ihn leise, damit es Ben nicht hörte, überreden ans Tageslicht zu kommen, um wenigstens sein Leben zu retten, aber Semir bedachte ihn mit einem Blick, der ihn zum Verstummen brachte.


    „Herr Gerkhan-ich habe jetzt für sie eine schwere Aufgabe, aber es wird die einzige Möglichkeit sein, ihren Freund hier herauszubekommen und sein Leben zu retten, denn nach Einschätzung des Statikers wird die Brücke in Kürze zusammenbrechen und dann sind sie beide tot!“ begann nun der Notarzt seine Erklärung und Semir hörte konzentriert zu, wobei ihm diese Tatsache durchaus bewusst war. Jemand hatte ihm einen gelben Schutzhelm aufgesetzt und auch einen für Ben bereitgelegt-den würde er ihm dann gleich anlegen.„In dieser Spritze befindet sich Ketamin, das ist ein stark schmerzlinderndes Mittel, das man zur Narkose einsetzen kann und das man auch in den Muskel spritzen kann. Ich möchte sie bitten, das ihrem Freund ins Gesäß oder auch den Oberschenkel zu injizieren. Er müsste dann langsam müde werden, keine Schmerzen mehr haben und vielleicht sogar einschlafen. Dann bringen sie am Oberarm diese Blutsperre an“ zeigte der Notarzt ihm-es war eine Blutdruckmanschette mit Doppelsicherung-an seinem eigenen Oberarm die korrekte Anlage. „Sie pumpen den Druck auf 300mm/Hg auf, dann fließt kein Blut mehr in den Unterarm. Und jetzt kommt das Schwerste und ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich einen medizinischen Laien einmal dazu auffordern müsste, aber es ist vermutlich die einzige Möglichkeit, das Leben von Herrn Jäger zu retten. Sie müssen so nah am Gelenk wie möglich einen kreisrunden Schnitt mit diesem Skalpell um den Oberarm durch die Weichteile machen und mit dieser Säge dann den Oberarmknochen durchtrennen-sobald wir ihn draußen haben übernehme ich dann die weitere Versorgung!“ erklärte er und zeigte Semir dabei die Instrumente und das Paar Chirurgenhandschuhe in dem grünen Päckchen. Semir starrte ihn nun fassungslos an und meinte seinen Ohren nicht zu trauen. Hatte dieser Arzt ihn gerade aufgefordert, seinem Freund den Arm zu amputieren?

  • Semir nahm trotz alledem mit zitternden Händen das Päckchen entgegen. In seinem Kopf ratterte es. Am liebsten wäre er davon gelaufen, weit weg, um eine solche Entscheidung nicht treffen zu müssen, aber weil er seinen Freund nie im Stich lassen würde, kroch er wieder zu ihm und fasste, nachdem er das Päckchen und die Spritze am Boden abgelegt hatte, nach dessen Hand. Gerade wollte er zu sprechen beginnen, da kam ihm Ben zuvor. Mit rauer Stimme sagte er: „Semir-geh jetzt nach draußen-du bringst dich hier nur unnötig in Gefahr. Ich komme hier nicht mehr raus und ich spüre es-in Kürze wird die Brücke zusammenbrechen und dann ist es vorbei. Ich will nicht dass du dein Leben für mich opferst und ich komme hier nicht mehr weg. Richte bitte Sarah aus, dass ich sie liebe und gib Tim einen Kuss von mir-bitte sorge auch dafür, dass sie nicht herkommt und von dieser ganzen Sache erst erfährt, wenn es vorbei ist-ich traue ihr nämlich zu, dass ihr sie sonst nicht davon abhalten könnt, hier hereinzukommen und ich will nicht, dass Tim als Waise aufwächst!“ Ben schloss erschöpft die Augen-der Monolog hatte ihn sehr angestrengt, aber er war bereit den Weg zu gehen, den früher oder später jeder gehen musste. „Semir geh jetzt-ich liebe dich und tu das als letzten Freundschaftsdienst!“ fügte er gefasst hinzu, aber Semir ließ seine eiskalte Hand nicht los, sondern begann stattdessen selber zu sprechen.
    „Ben-gerade hat mir der Notarzt einen Plan unterbreitet, wie wir dich hier raus bringen können. Ich habe hier ein Narkosemittel, das dich einschlafen lässt und soll dir dann den Arm abbinden und amputieren!“ unterbreitete er seinem Freund den unfassbaren Vorschlag, während nun auch bei ihm die Tränen zu laufen begannen, in Ben´s Gesicht hatte sich schon ein Rinnsal gebildet, das sich durch den Schmutz und den Staub einen Weg nach unten bahnte. Ben hörte ihm zu und eigentlich wollte er schreien: „Nein-tu das nicht!“ denn es war für ihn unvorstellbar seinen Arm zu verlieren, aber dann siegte die Vernunft und eigentlich wollte er schon leben und seine Kinder aufwachsen sehen und wenn man es sich recht überlegte, war das ohne die professionellen Helfer zu gefährden, die einzige Möglichkeit mit dem Leben davonzukommen. Wieder ächzte die Brücke und einige Steine fielen herunter. Semir hatte sich instinktiv über seinen Freund geworfen und erwartete schon, dass jetzt das Inferno begann und sie beide sterben würden, aber dann beruhigte sich die Lage wieder, da kam von Ben plötzlich das OK-„Semir-dann tu es!“ gab er sein Einverständnis, denn das eine wurde ihm nun auch klar-Semir würde nicht ohne ihn gehen und dann waren sie beide dem Tod geweiht. Mit zitternden Händen holte Semir nun die Spritze hervor, zog Ben´s Hose ein Stück nach unten und versenkte die lange Nadel tief in seinem Po. Ohne einen Mucks ließ sein Freund sich die Injektion geben und nun warteten beide, dass er müde wurde. Von draußen war nun die aufgeregte Stimme der Chefin zu hören, die aber anscheinend von den Einsatzkräften nicht vorgelassen wurde. Nach einer Weile fielen Ben die Augen zu und seine Hand erschlaffte. Semir konnte zwar vor lauter Tränen fast nichts sehen, aber entschlossen legte er nun die Manschette um Ben´s rechten Oberarm und begann sie aufzupumpen.


    Brummer hatte inzwischen eine Armbrust aus seinem Kofferraum geholt und den Wagen ein Stück vom Haus entfernt abgestellt. Er war im Verein und konnte mit dieser Waffe umgehen. Er besah sich die spitzen scharfen Pfeile, die durchaus einen Menschen töten konnten und steckte mehrere in die Tasche, bevor er sich katzengleich, obwohl er ja nicht mehr der Jüngste war, auf die Mauer schwang und dort geduckt im Schutz der Büsche und Bäume vordrang. Es war zwar schade, dass er diesmal das Brückensymbol nicht einsetzen konnte, aber wichtig war, dass dieser Stumpf starb und sein Sohn endlich gerächt würde!

  • Hartmut hatte Ben´s Verschwinden keine Ruhe gelassen. Er hatte mit der Chefin ausgemacht, dass er sofort verständigt würde, wenn es irgendwelche Neuigkeiten gab. Ihn zog es auch Sonntags manchmal in die KTU, die ja eigentlich geregelte Dienstzeiten hatte, aber er durfte als deren Leiter das wunderbar ausgestattete Labor und die Werkstatt auch privat nutzen und bastelte dort manchmal an Autos herum-sein Oldtimer Lucy, der nun leider das Zeitliche gesegnet hatte, war dort in mühevoller Kleinarbeit restauriert worden- und irgendein Projekt hatte er immer.
    Gerade war er fasziniert von Robotern und konstruierte schon geraume Zeit an so einer kleinen wendigen Maschine, die via Cyberfernsteuerung zum Beispiel nach verstecktem Sprengstoff suchen konnte, ohne Menschen zu gefährden. Klar gab es in der Robotertechnologie viele solcher Projekte und Hartmut , der ungern staubsaugte, hatte schon lange in seiner Wohnung einen Saugroboter, der in seiner Abwesenheit die Wohnung auf Zack brachte, das war in der heutigen Zeit ja kein Hexenwerk mehr, aber dieser neue kleine Roboter hatte so allerlei andere Finessen. Nachdem Hartmut ja einen Heidenspaß daran hatte zu basteln und zu programmieren, konnte Robby, wie er ihn liebevoll getauft hatte, wahlweise auf Rollen, oder eben auch auf Ketten durch unwegsames Gelände klettern, hatte mehrere Arme, die man ausfahren konnte und war über Sprachsteuerung oder eben auch Cybersteuerung via Brille, Kameras und Sensoren zu lenken, so dass Hartmut das Gefühl hatte, selber in dem kleinen Kerl zu sitzen, so gut funktionierte das. Er hatte sich angewöhnt, den immer Dinge aus den oberen Regalfächern holen zu lassen, Robby fuhr dann einen Teil seiner Arme selbsttätig als Stützen aus und konnte mit den Greifarmen, die wie Hände funktionierten, auch schwere Dinge heben. Manchmal dachte Hartmut daran, wie sich das Bild der Menschheit vielleicht in einigen Jahren verändern würde, wie in der Industrie ja die Robotertechnologie schon alltäglich war, so würde bald in jedem Haushalt so ein kleiner Kerl wohnen, der die Menschen unterstützte, Alte und Behinderte wieder mobil machte und die schweren körperlichen Arbeiten übernahm. Je nach Programmierung war fast alles machbar und mit den Möglichkeiten künstlicher Intelligenz würden vielleicht viele Science-Fiktion-Romane, die Hartmut seit seiner Kindheit verschlungen hatte, Realität werden.


    Gerade baute Hartmut einen Chip mit Sensor ein, der wie eine Hundenase-allerdings noch nicht so vollkommen wie diese, aber immerhin-den Geruch vieler Sprengstoffe wahrnehmen und analysieren konnte, da läutete sein Handy und nach einem Blick auf das Display ging Hartmut sofort ran. „Chefin was gibts-hat man Neuigkeiten von Ben?“ sprudelte er heraus und lauschte dann betroffen ihren Erklärungen. Die diensthabende Sekretärin hatte sofort nachdem Semir sich dort wegen der Brückensperrung gemeldet hatte-natürlich hatte er da ja mitgeteilt, dass Ben unter der Brücke eingeklemmt war-die Chefin verständigt, die sich zuhause in ihrer Wohnung gerade eine Gesichtsmaske gegönnt und auf dem Balkon im Liegestuhl gelegen hatte. Die schoss in Windeseile hoch, entfernte die Maske und fuhr in ihre Klamotten. Sie wohnte in einer anderen Ecke Kölns als die KTU und so machten die beiden aus, sich am Unfallort zu treffen.
    Hartmut sagte zu seinem neuen Adjutanten, nachdem er das Gehäuse noch rasch zugeschraubt hatte. „Robby, wir fahren jetzt Auto!“ woraufhin der Roboter selbsttätig den Kofferraum öffnete, sich via Stützen und Greifarmen hinein wuchtete und sogar die Klappe von innen verschloss. Hartmut gab die angegebene Adresse in sein Navi ein und fuhr los. Schon wurde über Autoradio die Totalsperrung der besagten Autobahnbrücke durchgegeben und Hartmut näherte sich nun über Umwegen seinem Ziel.


    Die Chefin war als Erste eingetroffen und wurde sofort, wie die inzwischen sicher hundert Schaulustige weit vom Unfallort entfernt von entschlossen aussehenden Männern des THW und der Feuerwehr aufgehalten. Sie zeigte ihren Ausweis vor und als der bullige Mann vor ihr immer noch unschlüssig war, ob er sie ernst nehmen sollte, wurde sie laut: „Wenn sie jetzt nicht sofort ihren Luxuskörper zur Seite nehmen und mich durchlassen, werde ich sie wegen Behinderung der Polizei festnehmen. Dort drinnen sind zwei meiner Männer und ich werde mich von ihnen nicht daran hindern lassen, meine Arbeit zu tun und nach ihnen zu sehen!“ sagte sie in scharfem Ton und jetzt trat der Mann doch eingeschüchtert zur Seite und hob das rot-weiße Absperrband hoch, damit sie untendurch schlüpfen konnte. In diesem Augenblick traf auch Hartmut ein und bestaunt von einer glotzenden Menschenmenge, befahl er Robby aus dem Wagen auszusteigen und nachdem der den Kofferraum sorgfältig wieder hinter sich verschlossen hatte, rollte der Roboter wie ein Hund hinter Hartmut her und gemeinsam mit der Chefin näherten sie sich nun der Unfallstelle.


    Semir hatte sich nun entschlossen nach Anlegen der Blutsperre die Tränen aus dem Gesicht gewischt und tief durchgeatmet. Auch wenn das hier das Schrecklichste war, was er sich vorstellen konnte, aber es war wohl die einzige Möglichkeit, seinem Freund das Leben zu retten und nur das zählte. Er wagte zwar nicht an die Zeit danach zu denken, jedes Mal wenn sie sich sehen würden, würden sie beide daran denken, dass er-Semir-ihm den Arm abgeschnitten hatte und der rechte war es auch noch. Ben würde ab sofort ein Behinderter sein, der auch seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, aber was blieb ihm denn anderes übrig? Eines war ihm sonnenklar-Sarah wäre damit einverstanden und würde ihren Ben trotz Handicap weiter lieben und ihm treu bleiben, denn die Alternative bedeutet ja, ihn auf jeden Fall zu verlieren. Er musste auch an Andrea und seine eigenen Kinder denken und so wenig wie er es fertigbringen würde Ben in Todesnot im Stich zu lassen, so wenig hätte seine Familie dafür Verständnis, wenn er sinnlos sein Leben opferte, wenn es doch eine andere Möglichkeit gab. Nein, es war richtig, was er nun zu tun gedachte, auch wenn es ihm unendlich schwer fiel und ihm jetzt schon schlecht war.


    Langsam schlüpfte Semir in die Chirurgenhandschuhe, wischte mit den mit Desinfektionsmittel getränkten Tupfern, die ebenfalls in dem Päckchen lagen, Ben´s Arm rundherum knapp über dem Ellenbogengelenk ab und griff dann zu dem großen scharfen Skalpell. Er musste jetzt seine Gefühle ausschalten und nur funktionieren, sonst würde er es nicht fertig bringen. Von draußen kam nun die ruhige Stimme des Notarztes der ihn sozusagen aus der Entfernung navigieren würde. „Jetzt setzen sie das Skalpell an und schneiden kreisrund die Weichteile ab!“ befahl er und als das Messer sich in Ben´s Fleisch bohrte, riss der entsetzt die Augen auf, denn er war leider nicht völlig weggetreten und ein gewisser Restschmerz blieb. Auch Ben atmete jetzt tief durch, biss sich auf die Lippen und sagte dann zu dem völlig fertigen Semir: „Mach weiter!“ bevor er die Augen wieder schloss und die Kiefer zusammenpresste.

  • Hartmut und die Chefin waren in diesem Moment näher gekommen und als sie jetzt sahen und nach einer kurzen Weile begriffen, was Semir da gerade im Begriff war zu tun, schrie die Chefin nur in bestimmendem Ton: „Halt, Gerkhan!“ und Semir verharrte in der Bewegung. Er hatte sich auf etwa zwei Zentimeter Länge bis zum Knochen durchgearbeitet, aber das ging schwerer, als er erwartet hatte und außerdem war ihm immer noch kotzschlecht. Auch Ben hatte zwar die Augen geschlossen und keinen Mucks mehr gesagt, aber die Schweißperlen standen auf seiner Stirn, er hatte doch gehofft, wenigstens von der ganzen Sache nichts mitzukriegen, aber er war zwar müde und der allgemeine Schmerz, auch in seinem Bein, hatte nachgelassen, aber völlig schmerzfrei war er eben nicht und er spürte jeden Schnitt.
    Semir wandte nun den Kopf und die Chefin und Hartmut erschraken, als sie die Verzweiflung in seinen Augen sahen und nachdem der Notarzt ihnen nun, als sie sich ausgewiesen hatten in kurzen Worten erklärte, was Semir für einen Auftrag ausführte, fasste sich die Chefin an den Hals und wurde blass. Hartmut hingegen wurde ganz aufgeregt-jetzt konnte Robby einmal zeigen was in ihm steckte. „Warum geht da niemand rein und hilft?“ fragte die Chefin nun, aber der Einsatzleiter der Feuerwehr belehrte sie, dass höchste Alarmstufe, also akute Einsturzgefahr bestand und kein Helfer hinein dürfe und wie zum Beweis ächzte in diesem Augenblick die Brücke und wieder prasselten einige Gesteinsbrocken auf die beiden Männer darin herunter. Semir schrie jetzt verzweifelt: „Jetzt sagt uns eine Alternative-ich muss Ben da rausholen, sonst sind wir beide tot!“ und hielt immer noch krampfhaft das Messer fest, während er sich erneut über Ben warf. Hartmut hatte inzwischen Robby angewiesen, sich zu seinen Freunden vorzuarbeiten und der kleine Roboter bewegte sich nun sicher mittels seiner Ketten und der Greifarme zu den Verschütteten und räumte die Steine weg. In einer Tasche hatte Hartmut die Cybersteuerung mitgenommen, setzte nun die Spezialbrille auf und schlüpfte in die beiden Handschuhe und nach einem kurzen Umschalten war er nun sozusagen selber in dem Gebäude, sah über die Kameras die Örtlichkeiten und konnte zwei der Greifarme nun steuern wie Hände. Kurz fiel ihm ein, dass, falls er keine Möglichkeit sah die Decke abzustützen und seine Freunde da rauszuholen, wenigstens der Arzt dann in die Handschuhe schlüpfen konnte und an Semir´s statt das Werk vollenden konnte-genauso funktionierten nämlich die in der Medizin eingesetzten Operationsroboter und das wäre auf jeden Fall besser, als einen medizinischen Laien zu so einer furchtbaren Tätigkeit abzustellen.
    Als er nun aber die Wände aus einem Blickwinkel musterte, der von außen nicht einsehbar war und das Metallgestänge und die Gesteinssäule musterte, kam ihm sofort eine Idee und er wandte sich an den Einsatzleiter. „Ich brauche hier sofort einen Rettungsspreitzer und eine Flex mit Akkuantrieb!“ befahl er und wenig später waren die beiden gewünschten Dinge vor dem Eingang. Hartmut holte nun Robby einen Augenblick retour und kurz darauf fuhr der wieder schwer beladen zu Semir und Ben zurück. Semir hatte inzwischen das Skalpell wieder in das Päckchen gelegt, in ihm keimte wieder ein kleines bisschen Hoffnung-vielleicht würden sie doch im Ganzen hier rauskommen!


    Sarah hatte ein furchtbares Wochenende verlebt. Sie wollte zunächst die Wohnung nicht verlassen, damit sie trotz Handy keinen Anruf verpasste, aber sie war völlig hilflos, weinte viel und zermarterte sich den Kopf, was sie tun konnte und wo es Sinn machte nach Ben zu suchen. Semir hatte sie auf dem Laufenden gehalten, aber jetzt hatte sie schon längere Zeit nichts mehr von ihm gehört, wusste aber, dass er fieberhaft nach Ben suchte. Irgendwann hatte sie sich dann ins Auto gesetzt und war ebenfalls zu der Firma gefahren, wo Ben verschwunden war, aber Semir hatte ihr am Vortag erklärt, dass nicht einmal Lucky eine Spur von ihm gefunden hatte und der hätte ihn aufgespürt, wenn er auf dem Gelände gewesen wäre. Es war später Sonntagvormittag-Hildegard hatte Tim und Lucky für ein paar Stunden mit zu sich nach Hause genommen, aber versprochen, bald wieder zurück zu kommen und Sarah Gesellschaft zu leisten und außerdem achtete sie darauf, dass die auch etwas aß und trank-das neue Baby musste versorgt werden!
    Nun stand Sarah vor dem Metalltor und spähte unglücklich durch die Gitterstäbe auf das Firmengelände, als plötzlich ein Wagen vorfuhr und eine Frau um die Sechzig das Tor aufsperrte und hineinging. Sie hatte sie verwundert angesehen und kurz gegrüßt, aber irgendwie konnte Sarah sich jetzt nicht mehr vom Fleck bewegen. Als nach einer ganzen Weile die Frau wieder herauskam, trat sie zu Sarah und sagte weich: „Sie sind Frau Jäger-nicht wahr?“ denn sie hatte die junge Frau anhand des Fotos auf Ben´s Schreibtisch identifiziert. Sarah nickte stumm und Isolde Rasp sagte: „Ich bin mir nicht sicher, aber der Polizeibeamte der vorher bei mir war, hat vielleicht eine Spur, wo ihr Mann sich aufhalten könnte, auf jeden Fall ist er am Tag seines Verschwindens zu einer Hangbrücke gefahren, die von unserer Firma restauriert werden soll!“ und so war Sarah wenig später auf dem Weg zu der besagten Autobahnbrücke-nichts hätte sie jetzt mehr zuhause gehalten. Allerdings hörte sie weder Verkehrsfunk noch benutzte sie das Navi, denn sie kannte sich dort in der Gegend sehr gut aus, weil ihre Tante in der Nähe wohnte und sie die Strecke im Schlaf fand. So stand sie plötzlich in einem Megastau und es ging keinen Meter vor oder zurück. Sie war kurz nach der letzten Ausfahrt vor der Brücke und nun hieß es warten bis es weiter ging.


    Adalbert Stumpf lag in einem Liegestuhl im Garten unter einem Baum im Schatten und betrachtete zufrieden seine Enkelkinder, die in seiner Nähe spielten. Er konnte sich zwar manchmal an deren Namen nicht erinnern, aber er wusste, das war ein geliebter Teil seiner Familie, die ihn behütete und immer um ihn herum war. Schon seit langem ging es in seinem Kopf drunter und drüber, er wusste manche Dinge nicht mehr, konnte Alltagsgegenstände wie ein Telefon nicht mehr benutzen, tat sich schwer zu sprechen, aber die ganzen Sachen von früher wusste er noch durchaus. Als er beiläufig seinen Blick durch den riesigen Garten, der von einer hohen Mauer gesäumt war, schweifen ließ, meinte er eine Bewegung auf der Umzäunung zu erkennen. Unauffällig schielte er hinüber-er war nicht umsonst lange Jahre Jäger gewesen und seine Jagdwaffen waren immer noch in dem Schrank in der Bibliothek. Ein leises Lächeln überzog seine Züge-seine Frau hatte den Schlüssel dazu schon vor längerer Zeit verschwinden lassen, aber er hatte natürlich einen Zweitschlüssel, den er sorgfältig versteckt hatte. Er wusste zwar im Augenblick nicht mehr genau wo, aber er würde ihn schon finden. Jetzt hatte er den Schatten wieder gesehen-das war ein mit einer Armbrust bewaffneter Mann, der ihm irgendwie sogar bekannt vorkam-der wollte sicher seinen Enkelkindern etwas Böses, aber nicht mit ihm-er Adalbert Stumpf war durchaus noch fähig seine Familie zu verteidigen und so packte er seine Enkel an der Hand und ging mit ihnen ins Haus, wo seine Frau, die gerade das Mittagessen zubereitete, sie verwundert in Empfang nahm. Während die Kinder nun in der Küche seiner Frau beim Kochen zusahen und seine Pflegerin ihren freien Vormittag genoss, tat Adalbert als ob er zur Toilette gehen würde, machte sich aber in Wirklichkeit auf die Suche nach dem Zweitschlüssel für den Waffenschrank.

  • Auf der Straße wurden die Fahrzeuge die nun auf den Stau auffuhren, direkt an der letzten Ausfahrt von der Brücke abgeleitet. Die Autobahnpolizei, die inzwischen mit allem verfügbaren Personal angerückt war, hatte blitzschnell eine Umleitung ausgeschildert und so quälten sich binnen Kurzem lange Autoschlangen durch den Kölner Vorort und verstopften die Straßen. Nachdem die Brückensperrung ja länger andauern würde, würde man versuchen den Verkehr auf Dauer weiträumig umzuleiten, aber jetzt musste man probieren die Autofahrer, die in dem Stau standen nacheinander zum Wenden zu bewegen und von der Autobahn runter zu bringen, sonst würden die da noch ewig stehen. So sah sich Sarah, die ja wenige Fahrzeuge nach der Abfahrt parkte, plötzlich einem groß gewachsenen Polizisten gegenüber, der sie gerade bitten wollte zu wenden, als er nun erkannte, wer da vor ihm saß.
    Sarah, die bei geöffnetem Fenster Verkehrsfunk gehört, nebenbei zum wiederholten Male erfolglos versucht hatte Semir zu erreichen und einen Moment abgelenkt gewesen war, sagte überrascht: „Dieter!“ denn vor ihr stand mit einer Polizeikelle in der Hand der langjährige Kollege ihres Mannes. Der war nicht minder überrascht-mit allem hätte er gerechnet, aber nicht mit Ben´s Frau. „Sarah-was tust du hier?“ fragte er und sie entschied sich, ihm die Wahrheit zu sagen. „Ich suche nach Ben!“ erklärte sie und nun überzog ein Schatten Dieter´s Gesicht, denn natürlich wussten inzwischen alle Polizisten, die an diesem Einsatz beteiligt waren und vor allem Ben´s und Semir´s Kollegen, was für ein Drama sich wenige Meter unter ihnen abspielte. „Hat dir niemand gesagt, dass Semir ihn gefunden hat?“ fragte er leise und Sarah schüttelte den Kopf. „Er ist unter der Brücke eingeklemmt!“ klärte Dieter sie nun auf und Sarah wurde blass und ein Entsetzenslaut kam über ihre Lippen. „Ich muss zu ihm!“ flehte sie und nach kurzer Überlegung stieg Dieter in das Polizeifahrzeug, das Jenni und er auf dem Seitenstreifen abgestellt hatten, bat seine junge Kollegin die Stellung zu halten, die gerade den rückwärtigen Verkehr aufhielt, damit die wendenden Fahrzeuge abfahren konnten und so bahnte Dieter mit Blaulicht und Martinshorn einer vor Sorge zitternden Sarah den Weg, denn sonst hätte sie keine Chance gehabt, schnell durch die verstopften Straßen zu gelangen.


    Wenig später kamen sie am Unglücksort an, wo sie auch das Auto der Chefin und Hartmut´s Wagen erspähten. Sarah stellte ihren Kombi ab und Dieter machte den Männern, die die Gefahrenstelle weiträumig absperrten, voller Autorität klar, dass das hier die Ehefrau des Unfallopfers war und sie die gefälligst durchlassen sollten. So wurde auch für Sarah das Absperrband gehoben, während Dieter sich wieder auf den Weg zurück zur Autobahn machte, um den Verkehr zu regeln, wie es seine Aufgabe war.
    Gerade hatte Semir das Skalpell weg gelegt und der Roboter die Steine von den beiden Opfern geräumt, da erschien Sarah neben der Chefin. Mit einem Blick erfasste sie die Situation und ihre Pupillen weiteten sich vor Entsetzen. Sie sah den eingeklemmten Ben, die Blutsperre an seinem Oberarm und die Wunde an seinem Bizeps. Es war sonnenklar, was man da im Begriff war zu tun, aber wenn es die einzige Möglichkeit wäre, ihren geliebten Mann dort rauszubringen, dann würde sie ihm sogar eigenhändig den Arm abschneiden-wichtig war nur, dass er überlebte! Gerade wollte Sarah nach vorne stürzen und zu Ben kriechen, da erfasste die Chefin, wer da plötzlich neben ihr stand. Mit einem festen Griff packte sie Sarah am Arm und sagte mit Autorität in der Stimme: „Halt!“ Sarah versuchte sich zu befreien und war kurz davor in Tränen auszubrechen, während die Chefin nun ihren Griff verstärkte und drinnen von neuem Gesteinsbrocken auf Semir, Ben und Robby herunterfielen, der aber von Hartmut via Cybersteuerung navigiert, ohne Verzögerung die Flex ablegte und den Rettungsspreitzer bereit machte. Man hatte inzwischen ein Einsatzfahrzeug nahe an den Eingang manövriert und von dort eine Luftleitung verlegt, denn dieser Spreitzer funktionierte hydraulisch, man brauchte also Druckluft für den Betrieb. Das und der abgesicherte Akku im Trennschleifer verhinderten Funkenflug und das war auch gut so, denn niemand wusste, ob es sonst nicht vielleicht zu einer Staubexplosion kommen würde und auch das ausgelaufene Enteisungsmittel, das Alkohol enthielt, war eine gefährliche Chemikalie.


    Hartmut besah sich durch die Kameras immer wieder die Konstruktion, die auf Ben´s Arm lastete. Man konnte förmlich sehen, wie es in seinem Gehirn arbeitete und er abwägte, was der Reihe nach passieren würde, wenn er den Spreitzer hier oder dort einsetzte, aber dann schritt er zur Tat, denn die von neuem herabfallenden Steine machten ihnen allen deutlich, dass die Brücke nicht mehr lange halten würde. Sarah schaute voller Entsetzen auf Ben, der bewusstlos zu sein schien, aber als Semir sich nun wieder schützend über ihn beugte, als die Gesteinsbrocken von oben kamen, öffnete er unendlich müde und dankbar die Augen und sah seinen Freund an. „Was ist mit ihm?“ fragte Sarah nun im Flüsterton den Notarzt, der neben ihr stand und der teilte ihr, nachdem sie sich als Intensivschwester geoutet hatte, kurz mit, dass sein Patient Ketamin intramuskulär bekommen hatte. Nun schluckte Sarah-ja das war eine gute Idee, denn dieses starke Analgetikum, das in höherer Dosierung auch als Narkotikum wirkte, senkte den Blutdruck nicht und war deshalb in der Notfallmedizin unverzichtbar und eines der wenigen, das man nicht nur in die Vene, sondern eben auch in den Muskel spritzen konnte. Allerdings war es i.m. sehr schlecht steuerbar und man musste es da nach Versuch und Irrtum dosieren. Für eine schmerzfreie Amputation wäre die Dosis sicher zu gering, denn dann würde Ben seine Augen nicht mehr aufbekommen und Sarah erschauerte von neuem, schwieg aber still, um Hartmut´s Konzentration nicht zu stören. Er und der Roboter waren gerade die einzige Hoffnung, Ben´s Arm zu erhalten, aber sie war fest entschlossen-falls dieses Vorhaben nicht klappte- sich den Einsatzkoffer des Notarztes der neben ihr auf dem Boden stand, zu schnappen, die Hand der Chefin abzuschütteln und zu ihrem Mann zu gelangen. Sie würde ihm dann noch zusätzlich eine örtliche Betäubung spritzen und ihm den Arm abnehmen, auch wenn sie davon wahrscheinlich danach ein Leben lang träumen würde.


    Nun ging es allerdings ganz schnell. Robby setzte den Spreitzer an, kletterte dann mit seinen Ketten kurz zum Eingang zurück, um die Luftleitung zu holen, schloss die an das technische Gerät mittels Bajonettverschluss an und schon begann sich die Hydraulik auszudehnen und die Konstruktion nach oben abzustützen. Semir versuchte nun an Ben zu ziehen, aber noch steckte der fest, als dann Robby allerdings mit dem Trennschleifer das Metallgestänge durchsägte, war Ben plötzlich frei und Semir schleppte ihn in Windeseile, während Ben vor Schmerz aufschrie, nach draußen, wo er von vielen helfenden Händen in Empfang genommen wurde. „Jetzt schnell weg hier!“ brüllte Hartmut, während er sich die Cybersteuerung herunter riss, denn er hatte durch die Kameras in Robby gesehen, was als Nächstes passieren würde und so waren alle Helfer und die Opfer kaum zwanzig Meter von dem Gebäude entfernt, als die Brücke begann in sich zusammen zu brechen.

  • Nachdem alle Helfer weit genug weg waren, drehte sich Hartmut um und sah mit einer gewissen Faszination dem Inferno zu. Die Brücke ächzte und plötzlich brach oben die Fahrbahn einfach ab und folgte dem Rest des Bauwerks in die Tiefe. Der Schwertransport oben, der ja erst mit wenigen Achsen auf der Brücke gestanden hatte, ragte mit den Vorderrädern in die Luft, aber die Fachleute dort droben hatten den nach hinten so gut gesichert, dass er nicht abstürzte und man wenig später sah, wie das riesige Fahrzeug von einem sofort nachgeforderten Bergekran, der schon gewartet hatte, zentimeterweise nach rückwärts in Sicherheit gezogen wurde. Die Brücke derweil war nur noch ein staubender Haufen verbogenen Metalls und zerborstenen Betons und von dem ehemaligen Gebäude war einfach nichts mehr übrig, eine gezielte Sprengung hätte das nicht anders hin bekommen.
    Hartmut war fast ein wenig traurig, dass sein kleiner Roboter Robby jetzt wohl zerstört war, da bewegte sich plötzlich etwas in dem Schutt und unendlich langsam erschienen zwei Greifarme und wuchteten eine Metallstrebe weg und auf seinen Ketten rollte Robby, oder vielmehr was noch von ihm übrig war zu Hartmut, dem jetzt ein glückliches Lächeln im Gesicht stand. Sein letzter Sprachbefehl hatte gelautet: „Raus hier!“ und Robby hatte sein Kommando befolgt. Nachdem Ben und Semir jetzt von vielen medizinischen Helfern umringt waren und er damit seine Aufgabe erledigt hatte, bewegte sich Hartmut langsam mit seiner Maschine zu seinem Wagen und wenig später saß, lag oder wie auch immer man sagen wollte Robby wieder im Kofferraum und Hartmut ertappte sich, dass er zu ihm sprach wie zu einem Hund: „Robby das wird schon wieder-wir fahren jetzt in die KTU und dort repariere ich dich!“ erklärte er und nachdem er der Chefin zugewinkt hatte, die neben einem am Boden sitzenden Semir stand und aus einiger Entfernung beobachtete, wie Ben versorgt wurde und die dankend die Hand gehoben hatte, ging Hartmut aufs Gas und fuhr zurück an den Ort, wo er beinahe am liebsten war-seine KTU.


    Der Notarzt hatte sofort mit mehreren Sanitätern zugegriffen, als Semir mit Ben im Eingang erschienen war und man hatte Ben so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone gebracht, obwohl dem natürlich jede Bewegung trotz Ketamin weh tat. Semir war von der Chefin und dem Einsatzleiter am Arm gepackt und mit gezerrt worden und erst als sie aus der Gefahrenzone waren, merkte er, wie der Stress und die Anspannung nachließen, die ihm vorher einen Adrenalinschub ohnegleichen verpasst hatten und seine Beine begannen nachzugeben. Ein Rettungsassistent hüllte ihn sofort in eine goldglänzende Rettungsdecke und bis er sich versah hatte er eine Infusion liegen, die ihm half den Schock zu überwinden.


    Sarah war auch gerannt, so schnell sie konnte und hatte sich aufatmend neben ihrem geliebten Mann auf den Boden gehockt, als die Retter ihn ablegten und erst einmal ihr medizinisches Equipement auspackten. Sie nahm unendlich zärtlich seinen Kopf auf ihren Schoß und es war ihr ziemlich egal, ob dadurch der Notarzt schlechter an ihn ran kam-sie musste ihm jetzt einfach nahe sein und während auch Ben-zwar unter Schwierigkeiten, weil seine Venen durch den Schock, den Blutverlust und die Austrocknung schlecht zu finden waren-endlich eine Infusion angehängt bekam, begannen nun Sarah´s Tränen der Erleichterung zu laufen und vermischten sich mit den feuchten Spuren auf Ben´s staub-und schmutzüberzogenem Gesicht.

  • Während nun der Rettungsassistent Ben´s Hemd aufschnitt und Überwachungselektroden auf seine Brust klebte, einen Blutdruckapparat um den unverletzten Oberarm schlang und den Sättigungsfühler an seinen Finger anclipste, hatte der Notarzt mit der groben Untersuchung begonnen. Er fing systematisch mit Kopf und Hals an, obwohl Sarah da tatsächlich im Weg saß. Allerdings konnte der Mediziner durchaus ermessen, welche Verzweiflung diese Beiden heimgesucht hatte und wie wichtig der Körperkontakt jetzt für sie war und so bat er die junge Frau freundlich, jetzt doch vorsichtig Ben´s Kopf auf den Boden auf ein flaches Kissen zu legen, den er währenddessen stützte, falls etwas an der Halswirbelsäule wäre und nachdem er die Pupillen kontrolliert hatte, die aber isocor waren und trotz Sedierung prompt reagierten, hatte er den Nacken betastet und Ben´s Kopf gedreht und gebeugt, dort aber keine Auffälligkeiten festgestellt, so dass man auf eine Nackenstütze verzichten konnte. Er fragte nun Ben nach dem Unfallhergang und wie er dazu gekommen war, auf so merkwürdige Weise eingeklemmt worden zu sein und als ihm der trotz seines ausgetrockneten Mundes und des desolaten Allgemeinzustands darüber Auskunft geben konnte, erschauerte der Notarzt. Erstens, dass sich der junge Polizist sozusagen bei Rettungsmaßnahmen für einen anderen Menschen in Lebensgefahr gebracht hatte und zweitens, dass er noch so wach und orientiert war. Das Ketamin war eindeutig unterdosiert gewesen und trotzdem hatte er nicht geschrien, als sein Kollege mit der Amputation begonnen hatte. Er hätte tatsächlich bei vollem Bewusstsein und trotz schrecklicher Schmerzen die archaische Operation über sich ergehen lassen, um zu überleben. Fast liebevoll setzte er seinem Patienten nun eine Sauerstoffmaske auf, denn die Sättigung war nicht besonders gut, was aber kein Wunder war bei der ganzen Situation und weil man ja auch davon ausgehen musste, dass Ben unheimlich viel Staub eingeatmet hatte.


    Als nächstes wurde der Brustkorb untersucht und betastet und der Rettungsassistent hatte inzwischen die restliche Kleidung bis auf die Unterhose vorne aufgeschnitten und selber festgestellt, dass sein Patient regelrecht glühte, dabei seine Extremitäten aber eiskalt waren-ein Zeichen dafür, dass der Körper zur Notmaßnahme der Zentralisierung gegriffen hatte, was bedeutete, dass die lebenswichtigen Organe-Gehirn, Herz, Nieren und Leber versorgt wurden, die Peripherie aber nicht. Ob man den Arm und den Fuß nun retten konnte, stand auch deshalb in den Sternen. Einige Rippen waren frei verschieblich und Ben entwich ein gequältes Aufstöhnen, als der Notarzt auf seinen Brustkorb drückte. Vermutlich bestand ein Pneumo-oder Hämatothorax, also Blut-oder Lufteinschluß im Pleuraspalt, aber die Sauerstoffsättigung war jetzt nicht so schlecht, dass man sofort eine Thoraxdrainage legen musste-das konnte auf die Klinik verschoben werden, wenn aussagekräftige CT-Bilder vorlagen.
    Der Beckenbereich war unauffällig und Ben zeigte auch keine Schmerzreaktion, als der Arzt den Bauch betastete und die Hüftknochen gegeneinander zu verschieben versuchte-wenigstens dort schien alles in Ordnung zu sein. Nun besah sich der Arzt zunächst noch den linken Arm und das linke Bein, aber außer ein paar Blutergüssen die bereits in allen Farben schillerten, gab es auch dort keine Auffälligkeiten. Man konnte auch problemlos den edlen Lederslipper ausziehen-ein Schuh, den Sarah ihn genötigt hatte zu kaufen, denn Ben würde am liebsten Tag und Nacht in seinen geliebten Sneakern oder wahlweise vielleicht noch Cowboystiefeln herumlaufen, aber das hätte ja jetzt zu den Anzügen wirklich nicht gepasst.


    Als der Arzt nun allerdings den rechten Fuß besah, entwich auch ihm, der ja so einiges gewohnt war, ein scharfer Entsetzenslaut. Dadurch dass der Rettungsassistent die Hose vorne aufgeschnitten hatte, lag nun das Bein komplett frei, nur der Schuh und die dünne Socke darin hielten den Fuß in seiner Position. Allerdings war es ein Wunder, dass der noch dran war und überhaupt zumindest teilweise noch versorgt wurde, denn alle Knochen waren gebrochen, die Sehnen des Knöchels größtenteils abgerissen und man sah, dass auch viele Blutgefäße beschädigt waren, deren Enden sich Gott sei Dank aufgerollt und so zu einer Blutstillung geführt hatten, was vermutlich Ben mit das Leben gerettet hatte. Allerdings war der Notarzt durchaus auf die ersten Laborwerte gespannt und bevor man die lebensrettende Infusion angeschlossen hatte, hatte man erst noch drei Blutröhrchen abgenommen, damit man in der Klinik überhaupt wusste wo man stand, denn durch den Verdünnungseffekt der Infusionen, die man gerade in Ben laufen ließ, waren die später abgenommenen Werte oft nicht mehr so aussagekräftig. Klar war, dass er da nun vor Ort überhaupt nichts machen konnte, außer die Wunde steril abzudecken und eine Vakuumschiene anzulegen, die der fachlich fitte Rettungsassistent inzwischen schon vorbereitet hatte. Auch Sarah hatte einen kurzen Blick auf das Bein geworfen, dann aber ganz schnell ihre Konzentration wieder auf Ben´s Gesicht gelenkt und begonnen, ihn zärtlich zu streicheln. Sie konnte ebenfalls nichts tun und sie wagte zu bezweifeln, ob man den Fuß, oder überhaupt das Bein erhalten konnte, denn erstens hing der Fuß halb weg und zweitens war da schon eine massive Infektion drin, aber es war egal-Hauptsache Ben würde überleben und gerade junge und sportliche Patienten kamen mit dem Verlust von Gliedmaßen oft erstaunlich gut zurecht.


    Der Notarzt überlegte kurz, ob er Ben sofort in Narkose legen und intubieren sollte, sah dann aber davon ab, da der durch das jetzt vorwiegend analgetisch wirkende Ketamin anscheinend mit den Schmerzen erstaunlich gut zurecht kam und der Blutdruck zwar niedrig, aber noch nicht besorgniserregend war. Brachte man ihn so in die Klinik konnten die notwendigen Untersuchungen ohne großen Aufwand durchgeführt werden, vielleicht wollten die Unfallchirurgen auch zuerst noch ein MRT des Fußes und des Arms, etwas was unter Beatmungssituation extrem schwierig war, weil dann kein Metall am Patienten sein durfte. Also warnte man ihn kurz vor, Sarah nahm ganz fest seine linke Hand in die Ihrige und man deckte den Fuß steril ab und legte ihn mitsamt Schuh in eine Vakuumschiene und stabilisierte so das Ganze. Ben seufzte kurz auf und quetschte einen kurzen Moment Sarah´s Hand, aber dann war er wieder ganz ruhig.


    Nun besah der Notarzt noch Ben´s Arm, der zwar noch dran und auch versorgt war, allerdings hatte Ben darin keinerlei Gefühl abwärts des Ellenbogens, nur bis dorthin tat es weh. Allerdings war auch das schwer beurteilbar, aber bevor man die Blutleere öffnete, musste man die Wunde versorgen, die Semir da verursacht hatte. Auch diese Extremität kam mitsamt Blutsperre in eine Vakuumschiene und als man Ben nun vorsichtig drehte, um seinen Rücken zu besehen, erschauerte Sarah von Neuem. Gut dass man ihr noch nicht ansah, dass sie schwanger war, sie hätte sonst befürchtet, dass ihre medizinischen Kollegen sie nicht bei ihrem Partner gelassen hätten, um das Baby nicht zu gefährden, sie selbst wusste allerdings, dass es ihr auf jeden Fall besser ging, wenn sie bei Ben sein konnte und über alles informiert war, denn die Ungewissheit zerrte viel mehr an ihren Nerven, als die Realität-und als Intensivschwester war man einfach andere Dinge gewohnt, als die Normalbevölkerung.
    Ben´s kompletter Rücken und sein Po waren von Blutergüssen durch den Steinschlag übersät. Manche davon waren faustgroß und entzündet, die würde man alle aufschneiden und drainieren müssen. Gerade in der Nierenpartie war es besonders schlimm und Sarah hoffte nur, dass da irgendwas im Beutel sein würde, wenn man Ben in der Klinik einen Katheter legte. Allerdings war im Bereich der Wirbelsäule keine Verletzung zu entdecken und so drehte man Ben bei dieser Gelegenheit nun vorsichtig auf ein Rettungstuch, hob ihn damit auf die Trage und wenig später waren Ben und Sarah im Fond des RTW verschwunden. Semir wurde ebenfalls noch kurz vom Notarzt durch untersucht und dann auf dem Beifahrersitz des RTW verstaut-er sollte auch im Krankenhaus durchgecheckt werden, aber ein liegender Transport war nicht erforderlich und durch die Infusion hatte sich sein Kreislauf so weit stabilisiert, dass er schon wieder zum Rettungswagen laufen konnte.
    So machte sich das Fahrzeug auf den Weg in die Uniklinik, denn nur dort konnten abgetrennte Gliedmaßen wieder angenäht werden und an der Unfallstelle begannen die Aufräumungsarbeiten.

  • Adalbert Stumpf hatte nach einigem Suchen den Schlüssel für den Waffenschrank gefunden. Er hatte ihn mit Klebeband hinten in seiner Nachtkästchenschublade versteckt gehabt, sich aber erst nach einiger Zeit daran erinnert. Mit triumphierendem Blitzen in den Augen marschierte er leise zum Waffenschrank und nahm eine seiner Jagdwaffen heraus, die passende Munition dazu und strich liebevoll über den Lauf. Obwohl sie schon jahrelang nicht mehr in Gebrauch gewesen war, war sie gut geölt weggesperrt worden und bei dem gleichmäßig temperierten Raum war das, als hätte man sie erst gestern abgefeuert. Leise schlich also Adalbert unbemerkt von seiner Frau, die die Kinder gerade Gemüse schnippeln ließ, was sie sehr gerne machten, nach draußen in den Garten und bewegte sich im Schutz der Büsche zu dem Ort, wo er vorhin den Mann mit der Armbrust gesehen hatte.
    Brummer hatte enttäuscht aufgeseufzt, als sein Opfer sich plötzlich aus dem Liegestuhl erhoben hatte und mit den Kindern ins Haus gegangen war. Gut-das war vielleicht besser so, denn eigentlich hatte er auch nicht vorgehabt den alten weißhaarigen Mann vor den Augen seiner Enkelkinder zu töten-die konnten ja schließlich nichts dafür, dass ihr Großvater so nachlässig gewesen und wegen mangelnder Baustellensicherung sein Sohn ins Verderben gestürzt war. Bei dem jungen Architekten war das was anderes gewesen-der hatte schließlich schon begonnen für diese schreckliche Firma zu arbeiten und deren Teufelswerk mit zu betreiben, da war es besser, ihm wurde beizeiten das Handwerk gelegt, damit er nicht noch mehr Unheil anrichten konnte.
    So legte er sich auf der Mauer zurecht, gut geschützt hinter einem Busch, der ihn fast vollständig verbarg und machte seine Armbrust bereit. Stumpf würde bei dem schönen Wetter sicher über kurz oder lang wieder herauskommen, er musste nur Geduld haben!


    Der Rettungswagen war inzwischen in der Notaufnahme der Uniklinik angekommen und ein diensthabender Pfleger sagte fast ein wenig fassungslos: „Sarah-was tut ihr denn schon wieder hier?“ denn es war kaum ein Jahr vergangen seit Ben hier zum letzten Mal aufgeschlagen war und seine Akten im PC füllten inzwischen einigen Speicherplatz. Man rollte die Trage aus dem RTW und fuhr sofort weiter in einen Behandlungsraum. Semir wurde gestützt und man setzte ihn derweil in den Wartebereich, bis ein Arzt Zeit hatte sich auch um ihn zu kümmern, aber er war kein Notfall, im Gegensatz zu Ben. Von unterwegs war er schon avisiert worden und so waren bereits ein Unfall-und ein Wiederherstellungschirurg angefordert und erwarteten, was da für eine üble Verletzung hereinkam.
    Das eingespielte Team der Notaufnahme hob Ben auf die Untersuchungs- und Behandlungsliege, der durchaus wach war, aber durch das Ketamin so gedämpft, dass er erstens in Ruhe keine Schmerzen hatte, was ihn zutiefst dankbar machte, aber zudem kam es ihm so vor, als würde das Ganze um ihn herum wie ein Film ablaufen und er stände als unbeteiligter Beobachter daneben. Als man ihn allerdings bewegte, stöhnte er auf, denn das tat plötzlich schweineweh. Der Notarzt machte an den Unfallchirurgen die Übergabe, gab die Blutröhrchen vom Unfallort weiter und während man die schon ins Labor brachte, untersuchte ihn der aufnehmende Arzt erneut, so wie es der Notarzt am Unfallort schon getan hatte. Als man ihn drehte um die Blutergüsse auf der Rückseite anzuschauen, schrie Ben auf, woraufhin er ein wenig Piritramid intravenös bekam. Die ganze Zeit hielt Sarah seine Hand und redete ihm beruhigend zu. Ihr wäre es lieber gewesen man hätte ihn sofort am Unfallort intubiert, dann würde er jetzt von dieser ganzen Quälerei nichts mitbekommen, aber statt dessen fuhr man ihn jetzt erst einmal mitsamt den Vakuumschienen die ja röntgendurchlässig waren, durchs Notfall-CT und Sarah musste draußen warten, denn die hohe Röntgenstrahlung wäre eine Katastrophe fürs ungeborene Baby gewesen, gerade jetzt wo sie noch am Anfang der Schwangerschaft war.
    Man sah dann, dass Ben eine größere Blutansammlung im Pleuraraum hatte, die dringend drainiert werden musste und um beide Nieren waren ebenfalls Ergüsse zu sehen. Die Bauchorgane hingegen schienen unverletzt und wie sie schon fast erwartet hatten, wollten die Unfall- und Wiederherstellungschirurgen noch ein MRT des rechten Fußes und des Arms, außerdem zog man noch einen Neurologen zu, der die Nervenleitung im Arm messen sollte. Diese ganzen Untersuchungen, die aber zügig von Statten gehen mussten, damit man so wenig Zeit wie möglich verlor, verlangten aber, dass er wach war und auch, dass die Blutsperre am Arm, den man schon aus der Schiene genommen hatte, bald geöffnet würde, damit man weitere Nervenquetschungen ausschloss. So entschloss man sich die Amputationsverletzung sofort in örtlicher Betäubung zu nähen, ihm für alle Fälle einen mehrlumigen ZVK zu legen und einen Blasenkatheter einzuführen. Erst dann würde man die Beinschiene entfernen und ins MRT fahren und das mit der Thoraxdrainage machte man von der Sauerstoffsättigung abhängig, wenn diese fiel, bekam er sie sofort, ansonsten später in Narkose.


    Sarah hatte gespannt zugehört, was für Diagnosen bisher gestellt waren und wie der weitere Behandlungsplan aussah-da würde in der nächsten Stunde, bevor er endlich schlafen durfte, noch so einiges auf ihren Mann zukommen, aber sie würde die ganze Zeit bei ihm bleiben und ihm beistehen, wie sie ihm versicherte. Als Ben im CT gewesen war, hatte sie kurz Hildegard angerufen und die von den neuesten Entwicklungen in Kenntnis gesetzt. Die war zwar einerseits froh, dass man Ben lebend gefunden hatte, war aber auch entsetzt, als sie die Schwere der Verletzungen erfuhr. „Sarah-bleib du bei deinem Mann-du weisst, Tim und Lucky sind bei mir gut aufgehoben. Ich werde auch Konrad verständigen, aber sonst bleiben dein Kind und natürlich dein toller Hund einfach bis auf Weiteres bei mir und du meldest dich, wenn du etwas brauchst-und ach übrigens-richte Ben von mir eine gute Besserung aus und achte auch ein wenig auf dich und das Baby, iss und trink was, nicht dass du noch umfällst!“ sagte sie eindringlich und Sarah kaufte sich daraufhin am Automaten gleich eine Limo und einen Müsliriegel, obwohl sie gerade weder Hunger noch Durst verspürte, aber Hildegard hatte Recht-auch sie würde ihre Kräfte noch brauchen!

  • Ben war froh, wieder still liegen zu dürfen, aber er hatte durchaus gehört, was die Ärzte mit ihm vorhatten-allerdings war er so fertig und durstig, obwohl die Infusionen in ihn hinein rauschten, so schnell der Zugang an seinem linken Arm das zuließ, dass ihn das im Augenblick wenig berührte. Sarah war bei ihm und navigierte ihn sozusagen durch den Medizindschungel, das war gut. Als nun allerdings die Pflegekraft auf der einen Seite ein steriles Tischchen herrichtete mit Handschuhen, Klemmen, Scherchen, Tupfern und Nahtmaterial und die beiden Ärzte sich begannen die Hände zu desinfizieren, wurde er ein wenig unruhig. Noch viel unruhiger allerdings wurde er, als er sah, was eine zweite Pflegekraft auf seiner anderen Seite vorbereitete-verdammt das kannte er schon, das war ein Blasenkatheter! „Muss das denn sein?“ fragte er leise und warf einen Blick darauf, aber Sarah nickte unnachgiebig. „Doch Ben-das muss sein!“ sagte sie fest und wartete nun darauf, dass Ben wieder eine Diskussion mit ihr anfangen würde wie beim letzten Mal, dass sie doch selber den Katheter legen solle, was sie aber nicht tun würde. Anscheinend hatte er sich das aber vom Vorjahr gemerkt und er errötete nun zwar, als man ihm vor aller Augen noch die Unterhose aufschnitt, die ihm als letztes Kleidungsstück noch geblieben war und ein älterer Pfleger-Gott sei Dank wenigstens ein Mann-ihm den Katheter legte, aber als das Ding an Ort und Stelle war und es auch nicht allzu schlimm gewesen war, sank seine Herzfrequenz wieder, die vor Aufregung in die Höhe geschossen war, als man ihn völlig entkleidet hatte. Man legte nun auch eine dünne Decke über ihn, allerdings hatten alle Anwesenden, Sarah eingeschlossen, sich sorgenvolle Blicke zugeworfen, als man sah, was da in den Beutel lief. Der Inhalt der Blase, von der Menge her sowieso sehr wenig, aber das war auch durch die Austrocknung, das Fieber und den Wundschock zu erklären, war fast das pure Blut gewesen und nachdem man ja im Unterbauch keine Verletzungen hatte feststellen können, war beinahe sicher, dass eine der Nieren, wenn nicht sogar alle beide ordentlich was abgekriegt hatten. „Bitte auch noch einen Urologen zuziehen!“ bat der Unfallchirurg und während er in den sterilen Kittel schlüpfte, den die Schwester ihm anreichte, war der Pfleger, nachdem er sein benötigtes Material entsorgt hatte, seine sterilen Handschuhe ausgezogen und seine Hände ebenfalls desinfiziert hatte, zum Telefon gegangen und hatte den diensthabenden Urologen angerufen, der versprach in Kürze vorbei zu kommen.


    Inzwischen war Ben´s Aufmerksamkeit wieder von den beiden grün gekleideten Chirurgen gefesselt, die jetzt seinen rechten Arm, der ab dem Ellbogen wie eingeschlafen war, oberhalb aber an der Wunde ordentlich tobte, nun begonnen hatten zu desinfizieren. Der Pfleger war dazu getreten, hatte den Arm weisungsgemäß gehalten und nachdem der Operateur großflächig desinfiziert hatte, wickelte man die Extremität in sterile grüne Einmaltücher und legte sie auf einem Tischchen ab. Die beiden Operateure setzten sich einander gegenüber auf zwei Rollhocker, denn wenn es diffizil wurde operierte man oft lieber sitzend, weil dann die Hände ruhiger waren und schon begann der eine der beiden die Wunde mit Lokalanästhetikum und einer Spritze zu infiltrieren. Ben zog zwar die Stirn kraus, das brannte und drückte, aber wenig später war sein Oberarm um die Verletzung wie ein Stück Holz und er spürte zwar noch Druck, aber eben keinen Schmerz mehr. Sehr geschickt verschlossen die beiden erfahrenen Operateure schichtweise die Wunde, sie mussten zwar die Bizepssehne, die Semir bereits durchtrennt gehabt hatte, nähen, aber die Nerven und Blutgefäße würden Umgehungskreisläufe bilden und so konnte man die Arterien und Venen, deren Stümpfe deutlich sichtbar in die glatte Wunde ragten, einfach unterbinden. Bevor man nun auch die Haut noch verschloss, bekam der Pfleger den Auftrag die Blutsperre zu lösen und als er zischend die Luft aus der Manschette entweichen ließ, kamen wirklich nur ein paar Tropfen Blut, die man abwischte und die Haut dann ordentlich verschloss. Ein steriler Klebeverband beendete den Eingriff und als man nun die grünen Tücher entfernt hatte, besahen sich die beiden Männer aufmerksam den Unterarm, der von außen außer ein paar Schrammen am Ellbogen und am Handballen unversehrt wirkte. Sie fassten Ben dort an, strichen auch energisch und fest über die ganze Extremität, aber er konnte ihre Berührungen nicht spüren, auch wenn er doch deutlich sah, dass er angepackt wurde.


    Auch der Neurologe war mit einem kleinen Gerät eingetroffen, stellte sich kurz bei Sarah und Ben vor und klebte nun an bestimmten Triggerpunkten am Arm kleine Elektroden auf, die er geschickt mit seinem Apparat, den er mitgebracht hatte, verband. Aber als er dann Strom hindurch leitete, spürte Ben wieder kein Kribbeln und der Arzt konnte zwar eine Muskelkontraktion des Unterarms hervorrufen, als er die Stromstärke erhöhte, aber Ben hatte immer noch kein Gefühl im Unterarm und der rechten Hand, die schlaff herunter hing. „Prognose?“ fragte der Wiederherstellungschirurg knapp, aber der Neurologe zuckte nur mit den Schultern, bevor er sich dem verletzten Fuß zu wandte.

  • Semir war in der Zwischenzeit aus dem Wartebereich geholt und ins nächste Behandlungszimmer gebracht worden. Er hatte die ganze Zeit sorgenvoll die Tür betrachtet hinter der Ben verschwunden war und machte sich die größten Gedanken um seinen Freund. Gut-immerhin war er gerettet, aber hatte er ihm vielleicht mit seinem Amputationsversuch schlimmere Schäden zugefügt? Er begann mit seinem Schicksal zu hadern, vergrub sein Gesicht in beide Hände und hatte das Gefühl, die Zeit schritte nicht voran, als er plötzlich eine Berührung merkte. „Herr Gerkhan, sie haben alles Menschenmögliche getan, um ihren Freund und Kollegen zu retten, jetzt sind die Ärzte dran und sie wissen doch-Ben ist stark, er wird das schaffen!“ ermunterte ihn die Chefin, während sie sich wie selbstverständlich neben ihn setzte. „Ihre Frau habe ich auch verständigt, die kommt, sobald sie einen Babysitter gefunden hat und sogar ihren Wagen haben wir schon von der Unfallstelle mitgebracht und im Hof der PASt abgestellt!“ informierte ihn Frau Krüger und Semir nickte dankend. Wie egal ihm gerade sein Auto war-wenn man da ein Stück demolierte, konnte man das problemlos austauschen, ach wenn das beim Menschen nur auch so einfach ginge! Da wurde er auch schon aufgefordert mitzukommen und wie in Trance folgte er der Schwester ins Behandlungszimmer.


    Ein junger Assistenzarzt bat ihn, sich bis auf die Unterhose auszuziehen und untersuchte ihn gründlich. Sein Blutdruck wurde kontrolliert und dann noch ein Ultraschall gemacht, aber bis auf mannigfaltige Blutergüsse am Rücken konnte man keine weiteren Verletzungen feststellen. „Sie können sich wieder anziehen, wir machen auch gleich noch den Zugang raus-ich würde ihnen raten, sich zwei Tage zu schonen-und ach ja-da hinten wäre ein Waschraum!“ plapperte der Arzt, denn sein Patient sah aus, als wäre er gerade einem Bergwerk entstiegen-vor allem das Gesicht war Dreck-und Staub-verschmiert.


    In diesem Augenblick hörte man Ben im Nebenzimmer laut und schmerzvoll aufschreien-die Behandlungsräume waren nämlich durch Schiebetüren miteinander verbunden und nun hielt Semir nichts mehr. Hastig schlüpfte er noch in sein T-Shirt und öffnete dann einfach die Tür zum Nebenraum, obwohl der junge Arzt heftig protestierte. Dort musste Semir sich erst einmal orientieren, aber als er sah, dass sich drei Ärzte über den beinahe abgerissenen Fuß beugten und dort herum manipulierten, Sarah Ben´s Hand hielt und ihn mitleidig ansah, während er immer weiter schrie, war er mit wenigen Schritten bei seinem Freund und strich ihm liebevoll über die Wangen, über die gerade die Tränen kullerten. „Ben ich bin da!“ flüsterte er und griff nach dessen rechter Hand, die ganz einfach neben ihm auf einem Tischchen lag und an der außer der anscheinend inzwischen versorgten und verbundenen Verletzung am Oberarm, die er ihm zugefügt hatte, nichts Außergewöhnliches zu entdecken war. Ben sah ihn zwar schmerzerfüllt an, aber die Hand, die er gefasst hatte war eiskalt und schlaff und Ben schien seine Berührung nicht zu spüren. In diesem Augenblick hatten die Ärzte es auch geschafft den Schuh und die Socke endlich auszuziehen, bzw. soweit möglich herunter zu schneiden und Sarah wagte es kaum zu denken, weil es eigentlich furchtbar gemein war, aber es war gut, dass die Liebe ihres Lebens dort Schmerzen hatte, immerhin zeigte das-der Fuß war noch dran!

  • Die drei Ärzte betteten den Fuß vorsichtig auf ein steriles Tuch. Jetzt erst wurde das Ausmaß der Verletzung komplett sichtbar und man sah, dass die Knochen des Fußknöchels alle gebrochen waren, die Sehnen größtenteils abgerissen und auch die Nerven und Blutgefäße in Mitleidenschaft gezogen waren. Allerdings stand doch eine Gewebebrücke durch die Blutgefäße liefen und so war trotz der schweren Verletzung der Fuß noch versorgt worden. Die Zehen waren zwar eiskalt, aber als nun der Neurologe sein Gerät wieder ansetzte, um verschiedene Nervenleitungen zu prüfen, spürte Ben wie der Strom hindurch lief und tat das mit lautem Jammern kund. Unendlich vorsichtig stabilisierte man nun den Fuß durch Polster, die man drum herum drapierte und fuhr dann das Bett zum MRT. Man hatte momentan doch auf einen ZVK verzichtet und stattdessen einen zweiten Zugang zur Sicherheit gelegt, da Ben´s Kreislauf recht stabil war-das konnte man dann später im OP in Narkose nachholen.
    Semir war zwar ein paar Schritte mitgegangen, aber als er auf den Flur trat, war eine aufgelöste Andrea inzwischen eingetroffen und fiel ihm regelrecht um den Hals. „Gott sei Dank-du lebst!“ schluchzte sie und während Sarah mit bis zum MRT ging, blieb nun Semir fürs Erste bei seiner Frau und Frau Krüger im Wartebereich, die beide noch schnell Ben, der angespannt da lag und hoffte, dass niemand seinen Fuß mehr berühren würde und der Schmerz bald nachließ, eine gute Besserung gewünscht hatten.


    Als man Ben auf den fahrbaren Tisch des Magnetresonanztomographen umgelagert hatte, wobei die beiden Chirurgen-der Neurologe war wieder abgezogen- wirklich nichts anderes taten, als seinen Fuß zu stabilisieren und den hinterher wieder mit den Polstern in eine korrekte Lage zu bringen, gab man ihm einen Kopfhörer und Sarah, die ebenfalls hinter der Glasscheibe Platz nehmen musste, hielt Ben´s Ehering, den man ihm abgenommen hatte, damit das Metall die Schallwellen nicht störte, wie einen Talisman fest in ihren Händen. Für die Untersuchung hatte man außer einer speziellen EKG-Überwachung, deren Elektroden ohne Metall auskamen und über Funk mit dem Monitor im Nebenraum verbunden waren, jegliche Kabel entfernt-das war der Grund gewesen, warum man auf eine vorherige Intubation verzichtet hatte. Es gab zwar spezielle Beatmungsmöglichkeiten mit sehr langen Schläuchen, aber da bestand eben ein sehr hohes Risiko für den Patienten im MRT. So fuhr der Tisch, auf dem Ben vor Schmerzen im Bein, am Rücken, dem Brustkorb und den Flanken sowieso ganz durcheinander war, nun langsam in die geschlossene Röhre und Sarah sah plötzlich entsetzt hinüber, als er die Augen aufriss und laut zu brüllen begann, was man durch den Lautsprecher gut hören konnte. „Was ist los, Herr Jäger?“ wollte der Unfallchirurg wissen, der die Tür aufstieß und wieder in den Raum stürzte, gefolgt von seinem Kollegen und Sarah, während die Radiologieassistentin, die die Untersuchung durchführen würde, den Tisch per Fernbedienung wieder herausfuhr. Ben hatte zu schluchzen begonnen, er konnte es gar nicht so in Worte fassen, aber als sich die enge Röhre um ihn geschlossen hatte, hatte er dermaßen Platzangst bekommen-er fühlte sich wieder verzweifelt und eingesperrt, wie in dem Gebäude, in dem er jetzt fast drei Tage verschüttet gewesen war. Nachdem Sarah ebenfalls zu ihm getreten war und ihn liebevoll geküsst und gestreichelt hatte, fiel es dem Unfallchirurgen ein, wie der Unfallhergang gewesen war. „Her Jäger war doch verschüttet?“ fragte er und Sarah nickte. „Dann müssen wir ihm etwas zum Sedieren geben!“ beschloss er und ließ sich eine Ampulle mit zwei Milligramm Tavor anreichen, die er ihm sofort in den Zugang spritzte. Innerhalb weniger Sekunden wurde Ben hundemüde, in seinem Kopf drehte sich alles und seine Augen fielen zu. Dieses angstlösende Beruhigungsmittel war ein Segen und so konnte man einen erneuten Versuch starten und diesmal schlief Ben tatsächlich vor sich hin, sogar als die lauten Schallwellen mit rhythmischem Dröhnen zu ertönen begannen. Fast zwanzig Minuten dauerte die Untersuchung, aber obwohl man ihm ferngesteuert auch noch ein Kontrastmittel verabreichte, was zu einem intensiven Wärmegefühl führte, gab Ben keinen Ton mehr von sich-zu fertig und erschöpft war er von den vergangenen Tagen und überließ sich gerne den wohltuenden Fesseln des Psychopharmakums.


    Der Urologe hatte kurz den Kopf zur Tür hereingestreckt und versprach später nochmals vorbei zu kommen, wenn die Untersuchung fertig war. Irgendwann lag Ben wieder in seinem Bett und nun besprachen der Unfall-und der Wiederherstellungschirurg konzentriert die angefertigten Bilder und planten die nun folgende Operation. Man hatte nun einen Anästhesisten angefordert, der Ben ab sofort begleiten und auch die Narkose machen würde. Sarah kannte ihn gut und hatte auch großes Vertrauen zu dem Oberarzt, der sie begrüßte, indem er sie kurz in den Arm nahm und drückte. „Na was hast du denn schon wieder für Aufregung-bei euch hörts ja irgendwie nie auf?“ fragte er und Sarah, die inzwischen selber fix und fertig war, hätte beinahe zu weinen begonnen-dieses Mitgefühl das von Herzen kam, tat einfach gut. Man hatte Ben´s Bein wieder in eine Vakuumschiene gepackt, um es für den Transport in den OP zu stabilisieren und der Arzt, der Ben von seinen vorherigen Aufenthalten durchaus kannte, hatte sich ihm kurz vorgestellt, was Ben in seinem momentanen Zustand, in dem seine Gedanken sehr träge liefen, aber wenig interessierte.


    Der Urologe hatte sich inzwischen die CT-Bilder, die leider ohne Kontrastmittel angefertigt worden waren und das Retroperitoneum, wo die Nieren lagen, nur undeutlich zeigten, angesehen und auch den blutroten Urin in dem Beutel begutachtet. Er betastete Ben´s Flanken, was dem nun allerdings schon weh tat und worauf der Anästhesist sofort reagierte, indem er ihm ein wenig Piritramid, also ein Opiat i.v. verabreichte. Der Urologe hatte noch das Ultraschallgerät näher geholt und routiniert schallte er Ben´s beide Nieren und die ableitenden Harnwege. „So wie es aussieht, haben wir eine beidseitige Nierenquetschung mit Kapselhämatom. Auf der rechten Seite sehe ich einen Parenchymeinriss, aber ich glaube nicht, dass das Nierenbecken oder die Harnleiter eröffnet sind-das werden wir aber die nächsten Tage mit weiterführenden Untersuchungen, unter anderem einer retrograden Kontrastmittelfüllung klären. Momentan empfehle ich Flüssigkeit, Schmerztherapie und Bettruhe-eine sofortige chirurgische Intervention ist nicht nötig, die Klassifizierung nach der Traumskala ist rechts Grad zwei und links Grad eins-da die Verletzung aber beidseitig ist, muss ich die Graduierung höher stufen, also zwei und drei. Die linke Niere wird sich fast mit Sicherheit wieder von alleine erholen und rechts müssen wir sehen, auch ob sich nicht ein Urinom bildet!“ teilte er seinen Kollegen mit, denn auch die beiden Chirurgen waren inzwischen wieder zu der kleinen Gruppe gestoßen.
    „Gut-dann gehen wir jetzt in den OP-Frau Jäger-diese Operation wird mit Sicherheit mehrere Stunden dauern und wir werden ihn im Anschluss natürlich auf die Intensivstation übernehmen-wollen sie nicht ein paar Stunden nach Hause gehen?“ fragte der Unfallchirurg, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Ich gehe zu meinen Kollegen auf die Intensiv und warte dort!“ sagte sie fest und begleitete Ben auch noch bis zum OP. Erst als er auf dem Schleusentisch lag und langsam mit dem Fließband hinübergefahren wurde, verabschiedete sie sich, küsste ihn noch zärtlich und flüsterte: „Ich bin da, wenn du wieder wach wirst!“ und Ben nickte unendlich müde.

  • Semir, Andrea und die Chefin hatten im Wartebereich gesessen und auf irgendeine Nachricht gewartet. Nachdem sie Ben in den OP verabschiedet hatte, war das Sarah plötzlich eingefallen. Fast ein wenig schuldbewusst ging sie zu den anderen und teilte ihnen die erhobenen Befunde mit und dass Ben jetzt operiert würde und man hoffte, den Fuß erhalten zu können. Semir nahm sie in den Arm und nachdem Sarah das Krankenhaus nicht verlassen wollte und Tim und Lucky ja bei Hildegard in den besten Händen waren, bestand Semir darauf, dass sie sich eine Pizza bestellten und so schmausten eine halbe Stunde später alle Vier und obwohl Sarah zuvor hätte schwören mögen, dass sie überhaupt keinen Hunger hatte, verspeiste sie ihre Portion trotzdem mit Appetit und den Salat gleich hinterdrein-das neue Baby forderte sein Recht.
    Die Chefin hatte nur einen Salat gegessen und als Sarah nach einem Blick auf die Uhr feststellte, dass es inzwischen 17.00 Uhr geworden war und sie sich nun zu ihren Kollegen auf die Intensiv begeben und dort warten würde, stimmten ihr alle zu und verabschiedeten sich. Semir und Andrea mussten nach Hause und die Kinder bei ihren Freundinnen abholen, wo Andrea sie geparkt hatte und Kim Krüger wollte nun auch noch ein wenig ihren Feierabend genießen, als plötzlich im Hinausgehen ihr Handy läutete. Als sie es langsam sinken ließ, sah Semir, der neben ihr lief, sie prüfend an. Das war etwas Dienstliches, so viel hatte er ihren Worten entnommen, die ein wenig entsetzt geklungen und den Anrufer angewiesen hatten, vor Ort auf sie zu warten-sie würde gleich kommen.


    "Chefin-was ist los?“ wollte er wissen und nachdem Semir sie nach der langjährigen Zusammenarbeit inzwischen lesen konnte wie ein Buch, versuchte sie erst gar nicht ihn anzulügen. „Auf Stumpf senior wurde ein Mordanschlag verübt!“ sagte sie tonlos und Semir schluckte. Verdammt-sowas sollte nicht passieren, wenn Personenschutz zugeordnet war. Nun fiel ihm aber siedend heiß ein, dass er ja den Zettel mit der Adresse und dem Namen eines Verdächtigen im Auto liegen hatte-hatte er da vielleicht etwas verbummelt und dafür hatte ein Unschuldiger sterben müssen? „Chefin-ich muss da mit hin und zuvor ist es sehr wichtig, dass wir noch in der PASt vorbeifahren, ich habe von der Chefsekretärin, die mit ihrem Tipp letztendlich Ben´s und Mittler´s Leben gerettet hat, einen Namen bekommen und versäumt den weiter zu geben-ich hoffe jetzt, dass das nicht der Attentäter war, denn sonst bin ich vielleicht mit verantwortlich für den Tod eines unschuldigen Opfers!“ sagte er unglücklich und nachdem Andrea´s Proteste ungehört verhallten, waren Semir und die Chefin wenig später unterwegs in die PASt und von dort mit zwei Fahrzeugen-Semir konnte seinen geliebten BMW doch nicht einfach da im Hof stehen lassen- weiter zum Stumpf´schen Anwesen, während die diensthabende Stationssekretärin derweil diesen Brummer durchleuchtete, dessen Namen auf dem Zettel stand.


    Ben war unendlich müde und nachdem er im MRT etwas gespritzt bekommen hatte, war ihm irgendwie alles egal. Natürlich hatte das weh getan, als der Urologe den Ultraschall gemacht und seine Flanken betastet hatte, wie auch der Fuß ganz schrecklich brannte, aber seit der Spritze hatte eine wohltuende Gleichgültigkeit von ihm Besitz ergriffen, er war sozusagen stiller Beobachter seines eigenen Schicksals, aber es machte ihm nichts aus und das Grübeln und Nachdenken war sowieso viel zu anstrengend. Sarah war da und er bemerkte wie sein Bett irgendwohin geschoben wurde. Zuvor hatte man noch sein Gesicht abgewaschen und auch seine Hände grob sauber gemacht, wobei ihn das durchaus erschreckte, dass er seine rechte Hand überhaupt nicht spürte, weder als sie untersucht wurde, noch als Semir die später genommen hatte, was er ja gesehen, aber eben nicht gespürt hatte. Eine grüne Haube war über sein staubiges verklebtes Haar gestülpt worden und nun fuhr er langsam nach einem letzten Kuss von Sarah über das Schleusenband auf den OP-Tisch, der mit Gelmatten ausgelegt und ganz weich war.
    Der Arzt der die letzte halbe Stunde etwa bei ihm gewesen war und ihm auch etwas gegen die Schmerzen gegeben hatte, war bis zur Patientenschleuse mitgelaufen, dann aber selber in die Personalumkleide gegangen, um sich umzuziehen und während ihn nun eine grün vermummte Schwester in Empfang nahm, von der man nur die Augen mit den Lachfältchen sehen konnte, begann Ben nun doch unruhig zu werden und Angst zu kriegen. Verdammt-das war doch nicht seine erste Narkose, aber er hatte plötzlich fürchterliche Angst aufzuwachen und kein Bein-vielleicht auch keinen Arm mehr zu haben. Sein Herz schlug schneller, er rang nach Luft und sein Brustkorb tat ihm plötzlich auch wieder fürchterlich weh. Die Schwester hatte ihn inzwischen mit grünen Tüchern zugedeckt und in die Einleitung gebracht. Als sie ihn dort verkabelte, erschrak sie ein wenig, so schlecht war die Sauerstoffsättigung: „Ruhig Herr Jäger!“ versuche sie ihm gut zuzureden und sah sehnsüchtig zur Tür, wann denn endlich ihr Oberarzt käme, denn hier musste dringend etwas geschehen!

  • Brummer sah gebannt auf den Weg der von der Terrassentür, durch die Stumpf vorher ins Haus verschwunden war, in die Tiefe des riesigen parkähnlichen Gartens führte. Irgendwann musste sein Opfer doch endlich wieder herauskommen, aber eine ganze Weile geschah nichts, bis er plötzlich ein Rascheln hörte. Gelangweilt sah er sich um-war da vielleicht ein Vogel im Gebüsch? Aber dann erschrak er beinahe zu Tode, schräg hinter ihm stand nämlich Adalbert Stumpf und hatte ein Gewehr auf ihn angelegt. Mit einem Fluch sprang Brummer von der Mauer und verschwand im nächsten Busch-eigentlich erwartete er jederzeit, dass der Alte, der mit seiner weißen Mähne und dem zornigen Gesichtsausdruck hinter ihm gestanden hatte, abdrückte und damit sein letztes Stündlein geschlagen hatte, aber nichts geschah.
    Adalbert war ein wenig verwirrt-er hatte den Mann mit der Armbrust eigentlich auffordern wollen die Waffe wegzulegen und auch wissen wollen, wer er war und wie er hereingekommen war, aber kein Ton kam über seine Lippen. Außerdem kam ihm der Mann, der ungefähr in seinem Alter war irgendwie bekannt vor-war das vielleicht sogar ein Freund oder Bekannter? Ach er konnte sich in letzter Zeit an so viele Dinge nicht mehr erinnern, Menschen nicht unterscheiden und mit dem Sprechen war es auch so eine Sache-er formulierte die Worte in seinem Kopf, aber wenn er sie dann von sich geben wollte, kam kein Ton über seine Lippen. Ein wenig verwirrt stand er da und blickte auf die Waffe in seiner Hand. Was hatte er damit gewollt? Einen Augenblick lang begann er zu zweifeln, ob da überhaupt jemand gewesen war-so oft spielte ihm sein Gehirn üble Streiche, aber dann teilte sich plötzlich das Gebüsch und vor ihm stand der Mann, den er vorhin überrascht hatte, allerdings nun mit abschussbereiter Armbrust.


    „Herr Stumpf-ich werde sie jetzt töten und sie sollen wissen, warum sie sterben müssen. Vor fünfzehn Jahren wurde mein Sohn durch ihre Fahrlässigkeit und mangelnde Baustellensicherung schwerst verletzt und war seitdem querschnittsgelähmt. Vor wenigen Wochen ist er jetzt elendig an den Folgen eines infizierten Dekubitus am Gesäß, der zu einer Blutvergiftung geführt hat, gestorben. Er würde noch leben, wenn sie damals ihren öffentlichen Auftrag ernst genommen hätten und die Brücke ordnungsgemäß gesichert worden wäre. Ich habe meinen Sohn jetzt gerächt, indem ich alle die für dieses Fiasko verantwortlich waren, hingerichtet habe-bis auf sie und genau das werde ich jetzt nachholen und so mein Werk vollenden!“ sagte er und löste in diesem Augenblick die Arretierung, die den Carbonpfeil in der gespannten Armbrust an Ort und Stelle gehalten hatte. Während der mit leisem Sirren Richtung Stumpf flog, hatte der im selben Moment auf den Auslöser seiner entsicherten Waffe gedrückt und nun fielen fast im selben Augenblick die beiden alten Männer zu Boden.


    Stumpf´s Frau hatte einen Schuss aus dem Garten gehört und eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen. Um Himmels Willen-was war hier geschehen? „Adalbert!“ rief sie laut und in diesem Moment läuteten schon die beiden Polizisten, die den Eingang des Anwesens im Auge behalten hatten Sturm-auch sie hatten den Schuss wahrgenommen. Mit gezückten Waffen rasten sie in den Garten, sich gegenseitig Deckung gebend und hatten wenig später die beiden Opfer gefunden. Beide lagen am Boden, es war eine Menge Blut im Spiel, aber als die Polizisten nach dem Puls tasteten, waren beide noch am Leben. „Schnell zwei RTW´s und einen Notarzt!“ rief der eine der beiden in sein Funkgerät und gleich danach ging die Meldung weiter an alle Dienststellen und unter anderem auch die Autobahnpolizei, deren Sekretärin sofort die Chefin verständigte. Und so trafen Semir und Frau Krüger gerade ein, als man die beiden Verletzten erstversorgt und in die Rettungswagen eingeladen hatte. Beide waren schwer verletzt, aber es bestand laut Aussage des Notarztes trotzdem eine Möglichkeit, dass sie überlebten. Man hatte den fremden Mann mit der Armbrust durchsucht, aber keine Papiere bei ihm gefunden. Als Semir allerdings die Sekretärin der Autobahnpolizei bat, ihm das Passfoto Brummer´s aufs Handy zu schicken, konnte der bewusstlose Mann zweifelsfrei identifiziert werden.


    Stumpf´s Frau war mit den Kindern weinend im Haus geblieben, die Polizisten hatten den Garten nochmals gründlich durchkämmt, aber keine weiteren Täter dort gefunden. „Ach du liebe Güte-ich bin völlig fassungslos!“ schluchzte Frau Stumpf und auch die Pflegerin war aus ihrem Appartement geeilt und übernahm dann die Kinder, so dass Frau Stumpf sich noch kurz von ihrem Mann verabschieden konnte, bevor der abtransportiert wurde. Danach hatte sie sich ein wenig gefasst und inzwischen war auch die Spurensicherung eingetroffen und nahm den Tatort in Beschlag, den zuvor schon Semir und die Chefin begutachtet hatten.
    „So wie es aussieht hat sich Brummer auf das Gelände geschlichen, um ein Attentat auf ihren Mann zu verüben!“ sagte Semir und nun weiteten sich die Augen von Frau Stumpf. „Wenn sie Brummer sagen, weiss ich sofort wer gemeint ist. Vor fünfzehn Jahren hat sich auf einer unserer Baustellen ein tragischer Unfall ereignet, bei der ein junger Mann schwer verletzt wurde, allerdings hatte da eigentlich niemand daran Schuld-außer dem Opfer selber, dem seine Hilfsbereitschaft zum Verhängnis wurde. Wie ich gehört habe, ist der vor einiger Zeit gestorben, aber unsere Firma konnte da wirklich nichts dazu!“ beteuerte sie. „So wie es aussieht, hat der Vater des damaligen Opfers jetzt seinen privaten Rachefeldzug durchgeführt, wobei auch völlig unbeteiligte Personen schwerst verletzt wurden!“ erklärte Semir kurz. „Wir hätten jetzt allerdings schon gerne gewusst, woher ihr Mann die Waffe hatte, mit der er Brummer verletzt hat!“ fragte er und wortlos ging Frau Stumpf zum Waffenschrank an dem der Zweitschlüssel steckte. „Das sind die ehemaligen Jagdwaffen meines Mannes, der früher passionierter Jäger war. Der Schlüssel dazu ist bei unserem Sohn, damit Adalbert da auf gar keinen Fall rankommt, aber woher dieser Schlüssel ist-ich habe keine Ahnung!“ bemerkte die ältere Frau kopfschüttelnd. „Mir ist völlig klar, dass ein dementer Mensch nicht an Waffen kommen darf, aber ich hatte keine Ahnung vom Vorhandensein eines Zweitschlüssels. Was mich zudem erstaunt, ist, dass er ihn überhaupt gefunden hat, denn normalerweise verlegt er eigentlich alles, was nicht niet- und nagelfest ist!“ wunderte sie sich und die Chefin nickte ernst. „Am besten bringen sie die Waffen an einen sicheren Ort unter, damit er, falls er das überlebt, auf gar keinen Fall mehr einen Zugriff hat. Allerdings hat er sich ja nur verteidigt und ist vermutlich auch nur deshalb auch noch am Leben, das war also Notwehr und außerdem kann er in seinem Zustand sowieso nicht gerichtlich belangt werden, also darf er normalerweise –falls er das überleben sollte-wieder zurück in ihre gute häusliche Pflege!“ erklärte Frau Krüger die Rechtslage und nachdem man vor Ort nichts mehr tun konnte, fuhren Semir und sie noch zur Adresse Brummer´s, um dessen Frau zu verständigen.


    Die wartete schon ganz unruhig und fiel aus allen Wolken, als man ihr erzählte, was ihr Mann getan hatte. „Ich muss sofort den Pfarrer anrufen, damit er mir beisteht!“ weinte sie und ließ sich auch gleich das Krankenhaus durchgeben, in das ihr Mann gebracht worden war. „Er steht allerdings unter Bewachung und wird, falls er das überlebt, sobald sein Gesundheitszustand das zulässt, in ein Gefängniskrankenhaus verlegt!“ informierte die Chefin sie und Frau Brummer weinte. „Seit dem Tod unseres Sohnes war er schon so komisch und hat so merkwürdige Sachen gesagt, ich habe die aber nicht ernst genommen! Heute wollte er mit mir zum Abendessen in ein Gartenlokal gehen-ich habe die ganze Zeit schon gewartet, dass er bald aufkreuzt-und jetzt so etwas!“ lamentierte sie. Semir hatte sich derweil mit der Erlaubnis der Frau in der Wohnung ein wenig umgesehen und neben einem Wegwerfhandy auch in einer Wohnzimmerschublade noch Aufzeichnungen gefunden, die auf die anderen Taten hindeuteten. „Ich denke das sind genügend Beweise!“ sagte er und die Chefin nickte. So fuhren sie, als endlich der Seelsorger bei der verstörten Frau eingetroffen war, getrennt voneinander nach Hause und Andrea atmete auf, als ihr Mann unversehrt vor ihr stand. „Du sollst dich doch noch schonen, hat der Arzt gesagt!“ murmelte sie vorwurfsvoll, aber weiter schimpfte sie nicht und so lag Semir, dem nun doch beinahe jede Gräte weh tat, nach einer heißen Dusche und nachdem er die Mädels zu Bett gebracht hatte, auf dem Wohnzimmersofa und erzählte seiner Frau von den neuesten Entwicklungen. „Dann habt ihr den Täter ja gefasst, jetzt hoffen wir nur, dass Ben das folgenlos übersteht!“ meinte Andrea und Semir nickte bestätigend mit dem Kopf. „Sarah wird mich in der Nacht auf dem Handy anrufen wie die OP verlaufen ist!“ erklärte er Andrea und die nickte. „Ich warte auch schon gespannt auf die Nachricht-hoffentlich kann er den Fuß behalten!“ sagte sie und so sahen die beiden noch ein wenig fern, bevor sie gegen Zehn zu Bett gingen und auch sofort einschliefen.

  • Ben war derweil die Panik ins Gesicht geschrieben. Er rang mühsam nach Atem und konnte an nichts anderes denken, als dass er nicht genügend Luft bekam. Der Anästhesist hatte sich derweil gemütlich umgezogen und war in der Personalschleuse noch zur Toilette gegangen, denn so eine Wiederherstellungsoperation konnte viele Stunden dauern und gerade nachts war es manchmal schwierig, dann eine Ablösung zu bekommen, die einen im Saal vertrat, damit man was essen oder trinken und seinen menschlichen Bedürfnissen nachkommen konnte. Die Anästhesieschwester hatte derweil eine Sauerstoffmaske auf Ben´s Gesicht gedrückt und den Sauerstoff auf 15 Liter pro Minute aufgedreht, aber auch das brachte die Sättigung nicht merklich zum Steigen. Ben pumpte, setzte trotz Schmerzen die ganze Atemhilfsmuskulatur ein und in ihrer Verzweiflung fuhr die Schwester auch das Kopfteil des OP-Tischs in fast sitzende Lage, damit ihr Patient vielleicht wenigstens dann mehr Luft bekam. Verdammt, wo blieb denn ihr Oberarzt-las der jetzt noch Zeitung, oder was war los? Alle Beruhigungsversuche ihrerseits fruchteten nichts und gerade wollte sie laut um Hilfe schreien-gut dann mussten sich halt notfalls die Chirurgen unsteril machen, aber sie brauchte hier jetzt einen Arzt und zwar sofort, da bog plötzlich der Oberarzt in die Einleitung und erfasste mit einem Blick die Situation.


    „Ach du heilige Sch….!“ zischte er zwischen den Zähnen hervor. Als er einen Blick auf die Sättigung geworfen hatte, die Herzfrequenz sah, die bei fast 150 lag und bemerkte, dass sein Patient fast am Ersticken war, war ihm sofort klar, wo das Problem lag. Sein Patient hatte ja einen nachgewiesenen Hämatothorax, also Blut-und vielleicht dazu jetzt auch noch eine Luftansammlung im Pleuraspalt. Nachdem sich die Flüssigkeitsmenge dort ja langsam angesammelt hatte, konnten gerade junge Menschen das relativ lange kompensieren. Allerdings war das ein schmaler Grat und er hatte schon im Schockraum überlegt, ob es nicht vernünftiger wäre, die Thoraxdrainage und auch den ZVK sofort zu legen. Allerdings hatte man dann aus Patientenservice darauf verzichtet, weil Ben ja augenscheinlich leidlich stabil war und die Werte zwar nicht gut, aber doch mit dem Leben vereinbar waren. Nun war die Situation allerdings gekippt-vielleicht hatte sich auch beim Umlagern nochmals eine der gebrochenen Rippen verschoben, oder die letzte Infusion, die man zügig in ihn hatte hineinlaufen lassen, war momentan zu viel gewesen-wie dem auch sei-er war jetzt dekompensiert und im Begriff zu ersticken, wenn man jetzt nicht sofort etwas unternahm. Auf Ben´s Gesicht stand der Schweiß, sein malträtierter, überall blauer Brustkorb hob und senkte sich mühsam in dem angestrengten Versuch genügend Luft hinein zu bekommen. Eigentlich war es hochgradig riskant, ihn jetzt sofort zu intubieren, denn dann würde sein Blutdruck, der gerade vor Erstickungsangst in die Höhe geschossen war, rapide absinken und eigentlich versuchte man vor einer Intubation möglichst die Patienten zu präoxygenieren, was bedeutete, dass man ihren Organismus mit Sauerstoff so aufsättigte, dass man Zeit und Muße hatte, in Ruhe zu intubieren, aber das war hier nicht möglich. Man konnte ihn nicht einmal flach stellen, denn das würde er nicht tolerieren und vermutlich vor Angst wild um sich schlagen.


    So öffnete der Anästhesist die Schiebetür zum eigentlichen OP, wo die Vorbereitungen für die Versorgung des Fußes liefen und gerade das Operationsmikroskop abgedeckt wurde und rief ernst hinein: „Leute, wir haben ein echtes Problem! Bevor ihr irgendetwas anderes anfangt, braucht unser Patient sofort seine Thoraxdrainage. Ich werde ihn halbsitzend intubieren und ihm auch vor Beginn der OP noch einen ZVK legen, aber jetzt muss uns jemand helfen!“ rief er und sofort kam der Unfallchirurg, der sich bereits steril gewaschen und umgezogen hatte, herüber. Auch er erfasste mit einem Blick die Situation und sagte bedrückt: „Das war auch eine Fehlentscheidung meinerseits-wir hätten ihm die Drainage schon lange legen sollen, aber jetzt werde ich das sofort erledigen, sobald er in Narkose ist!“ sagte er und die sterile OP-Schwester ließ sich im Saal schon vom Springer, das Besteck für die Drainage öffnen.


    Der Anästhesist hatte sich derweil ein Treppchen herbei geschoben, damit er an Ben´s Kopf auch im Sitzen heran kam und nachdem Gott sei Dank wenigstens die Zugänge gut liefen, forderte er die Anästhesieschwester auf, ihm jetzt bitte das Fentanyl und danach das Propofol, das bereits aufgezogen bereit lag, zu spritzen, denn wenn man jetzt noch länger wartete, würde er vermutlich zu flimmern anfangen, denn das Herz pumpte inzwischen rasend schnell und dadurch nicht mehr kräftig, was die Atemnot verstärkte. In kurzem Abstand injizierte die Schwester die beiden Medikamente in den Zugang, danach bekam Ben noch ein Muskelrelaxans und kaum begannen seine Augen zu zu fallen, fuhr man den Tisch ein klein wenig flacher. Der Narkosearzt hatte, während er Einmalhandschuhe anzog und sich den passenden Tubus herrichtete, die ganze Zeit noch vergeblich versucht, Ben verbal zu beruhigen, aber der hatte nicht zuhören können, denn er war der Überzeugung, sein letztes Stündlein hätte soeben geschlagen und er würde statt unter der Brücke hier und jetzt in der Uniklinik sterben! Der Springer war ebenfalls dazu geeilt und machte jetzt Ben´s eine Hand, die langsam so schlaff wie die andere wurde, fest und schloss einen Gurt um seine Oberschenkel. Es bestand nämlich durchaus die Gefahr, dass ein Patient in diesem Zustand zwischen Wachen und Schlafen vom Tisch knallte und dann würden sie hier gemeinschaftlich wegen grober Fahrlässigkeit vor dem Kadi stehen. Aber irgendwann war es so weit, der routinierte Anästhesist öffnete Ben´s Kiefer, die von der Wirkung des Muskelrelaxans gerade zu erschlaffen begannen und schob unter Sicht über den Laryngoskopspatel den Tubus zügig zwischen der Stimmritze hindurch in die Luftröhre, wo der Ballon sofort geblockt wurde und man einen Beatmungsbeutel anschloss.
    Hastig hörte der Narkosearzt den Thorax ab, ob der Tubus richtig lag, aber auf der einen Seite konnte er überhaupt kein Atemgeräusch feststellen. Er zog den Tubus noch ein wenig zurück, aber auch jetzt war nichts zu hören. „Ich glaube, der ist nur noch einseitig belüftet“ fluchte er verhalten und während man den schlafenden Ben jetzt doch ganz flach stellte, begann dessen Blutdruck einzubrechen. Man hatte ihn sofort ans Transportbeatmungsgerät gehängt und dort einen hohen PEEP und hohe Beatmungsdrücke eingestellt, um das Herz zu entlasten, aber deshalb und weil jetzt auch der körpereigene Adrenalinschub nachließ, der in seiner Todesnot ausgeschüttet worden war, verabschiedete sich jetzt sein Kreislauf und man spritzte ihm nun ein kurz wirkendes kreislaufstützendes Medikament, nämlich Akrinor und stellte die Infusion schneller.


    Alle packten mit an und Sekunden später war der Operationstisch im Saal auf dem elektrischen Stützfuß arretiert , man löste die Armfixierung wieder und zog Ben´s Arm jetzt einfach kopfwärts und legte ein dickes Polster unter seinen linken Brustkorb, wo man kein Atemgeräusch mehr feststellen konnte. In Windeseile strich der Unfallchirurg persönlich den Thorax ab, schmiss ein grünes steriles Tuch darüber und hatte auch schon das Skalpell in der Hand. Während der Narkosearzt und die Anästhesieschwester Ben, der trotz Intubation jetzt tiefblau angelaufen war und dessen Sättigung kaum mehr messbar war, an das Narkosegerät hängten, Medikamente vorbereiteten und Infusionen bereit hielten, eröffnete der Chirurg mit einem beherzten Schnitt seitlich zwischen zwei Rippen-erst mit dem Messer und dann mit einer groben Schere unter Führung mit dem Zeigefinger den Thorax, im Sinne einer Minithorakotomie und dann kam er nicht schnell genug zur Seite, denn kaum war eine Verbindung zwischen Pleuraspalt und Außenwelt hergestellt, schoss das dunkelrote Blut, das sich da sicher seit Stunden, wenn nicht Tagen angesammelt hatte, wie eine Fontäne heraus. Völlig besudelt, aber unbeeindruckt machte der Operateur weiter, ließ sich eine dicke Thoraxdrainage anreichen und nähte die fest. Der Springer schloss das inzwischen vorbereitete Pleur-Evac-Gefäß mit einem Sog von 20 cm Wassersäule an und auch da lief sofort noch knapp ein Liter Blut, durchsetzt von Luftblasen nach. Der Narkosearzt hatte derweil von vorne unter dem Tuch auf den Brustkorb gehört und bemerkte nun zufrieden: „Jetzt habe ich wieder ein Atemgeräusch!“ und langsam begann Ben sich zu erholen. Man legte noch einen Verband an und bevor er sich erneut steril wusch, ging der Unfallchirurg erst mal duschen, denn er hatte keine Lust jetzt die nächsten sechs bis acht Stunden in einer Mischung aus Schweiß und Patientenblut vor sich hin zu köcheln.


    Ben brauchte wegen der massiven Flüssigkeitsverschiebungen jetzt zwar Noradrenalin, aber als das einigermaßen gleichmäßig lief, legte der Narkosearzt an seinem Hals gleich einen Mehrlumen-ZVK und bis die ganzen Vorbereitungen abgeschlossen waren, kam der Unfallchirurg schon wieder umgezogen und mit noch feuchten Haaren unter der grünen Mütze aus der Umkleide. „Gut dass ich den Mundschutz aufhatte-sonst wären wir jetzt Blutsbrüder!“ bemerkte er trocken und langsam begann sich die Anspannung im Saal zu lösen-man hatte den Patienten halbwegs stabil, die Beatmungsdrücke waren im Normbereich, die Sauerstoffsättigung war einigermaßen gut und mit der Unterstützung des Noradrenalins hatte Ben auch wieder einen Kreislauf. „Das war verdammt knapp!“ bemerkte der Wiederherstellungschirurg, der jetzt begonnen hatte, nachdem der Springer die Vakuumschiene abgenommen hatte, den Fuß zu desinfizieren, damit man den bald versorgen konnte und alle Anwesenden nickten.

  • Brummer hatte das Bewusstsein verloren, als ihn die Kugel aus dem Jagdgewehr beinahe im selben Augenblick traf, als er den Abzug der Armbrust betätigt hatte. Er war rücklings umgefallen und erst wieder zu Bewusstsein gekommen, als er auf der Trage lag, um ins Krankenhaus abtransportiert zu werden. Seine Schulter schmerzte ungemein und sein Rücken auf Höhe des Schlüsselbeins ebenfalls, aber er verhielt sich mucksmäuschenstill, um niemand bemerken zu lassen, dass er wieder bei Bewusstsein war. Ein Mann und eine Frau trafen ein-aha das waren wohl Zivilpolizisten, die etwas zu sagen hatten und auch kombinieren konnten, denn obwohl er keine Personalpapiere am Mann hatte, etwas was man ihm bei der Bundeswehr in der Sondereinheit bei der er gedient hatte und wo er auch die Kunst des Nahkampfs, den Gebrauch verschiedenster Waffen, Sprengkunde und viele anderen Dinge gelernt hatte, die man im Kriegsfall so brauchte-schon vor Jahren beigebracht hatte, fiel wenig später sein Name-er war identifiziert. Er stellte sich weiter tot und hörte, dass Stumpf wohl sehr schwer verletzt war, aber ebenfalls noch am Leben und langsam begann ein Plan in ihm zu reifen.
    Obwohl es ihn sicher ordentlich erwischt hatte und er nicht mehr der Jüngste war, hatte er doch das Gefühl, dass er es schaffen konnte zu fliehen. Wenn die Schulter vorne und hinten weh tat, war es vermutlich ein glatter Durchschuss und wenn er es fertig bringen würde abzuhauen, konnte er sich irgendwo verstecken und warten bis seine Verwundung verheilt war. Wenn die allerdings erst einmal drauf gekommen waren, was er alles auf dem Kerbholz hatte, würden die ihn schnellstmöglich in ein Gefängniskrankenhaus verlegen und von dort zu fliehen war fast unmöglich. Also musste die Flucht zeitnah erfolgen und so wartete er, bis sich der Krankenwagen in Bewegung gesetzt hatte und sondierte dann mit einem vorsichtigen Blick aus halb geschlossenen Augenlidern die Lage.


    Anscheinend ging man davon aus, dass er noch tief bewusstlos, aber stabil war und würde sicher nicht sonderlich aufmerksam sein. Nachdem in diesem Fahrzeug am Herweg anscheinend der Notarzt mitgefahren war, der aber jetzt Stumpf, den es wohl schlimmer erwischt hatte, begleitete, waren in seinem Wagen nur der Fahrer und ein Sanitäter, der angeschnallt neben der Trage saß, auf der er lag. Über seinem Körper war ein Gurt, aber seine Arme waren frei, zwar mit Infusion, aber eben nicht angebunden, obwohl natürlich der rechte Arm mit der Verletzung nur begrenzt einsatzfähig war. Natürlich war es möglich, dass ein Polizeifahrzeug den Transport begleitete, aber dieses Risiko musste er eingehen-er hatte nichts mehr zu verlieren!


    Also begann Brummer sich ein wenig zu regen und zu stöhnen und der Sanitäter beugte sich zu ihm vor, um nachzusehen, was mit seinem Patienten war, da schoss plötzlich dessen linke Hand vor und mit einem gezielten Schlag gegen den Kehlkopf setzte er den Sanitäter schachmatt, ohne dass der Fahrer davon etwas mit bekam. Der Helfer sank bewusstlos in seinem Sitz zusammen und katzengleich schnallte sich Brummer ab, knebelte ihn sachgerecht und fesselte ihn mit einer Binde an den Sitz, bevor er wieder zu sich kam. Dann zog er aus dem Medikamentenschrank eine Spritze auf, öffnete leise das kleine Guckfenster, das bei diesem Fahrzeugmodell in der Metallwand eingelassen war, die die Fahrerkabine vom Inneren des RTW trennte und setzte sie an den Hals des Fahrers in den rot-weißen Klamotten der Feuerwehr an. „Wenn du dich ruhig verhältst und tust, was ich dir sage, geschieht dir und deinem Kollegen nichts-ansonsten spritze ich dir in der nächsten Sekunde das Kaliumchlorid, das sich in dieser Spritze befindet in die Halsvene und mit deinem medizinischen Fachwissen weisst du, dass das deinen sofortigen, qualvollen Tod bedeutet!“ zischte er zwischen zusammengepressten Lippen hervor und der Fahrer wurde zwar blass, fuhr aber ruhig weiter und bedeutete dem Patienten, dass er tun würde, was er von ihm verlangte.
    So bog der RTW an der nächsten Kreuzung ab und als man den eine Stunde später in einem kleinen Wäldchen am Stadtrand Kölns fand, als man ihn endlich vermisste und die Polizisten, die zur Bewachung Brummers von einer anderen Dienststelle direkt ins Krankenhaus gefahren waren, Alarm schlugen, waren die beiden Sanitäter darin gefesselt und geknebelt, einer davon ausgezogen bis auf die Unterhose und es fehlte Bargeld, Medikamente, Decken und Verbandmaterial. Obwohl man sofort mit Suchhunden ausrückte, blieb Brummer verschwunden und als man die Chefin zu später Stunde davon in Kenntnis setzte, beschloss sie, Semir erst am nächsten Morgen zu informieren-er konnte jetzt auch nichts machen! Stumpf bekam nun wieder Personenschutz, aber während er operiert und später im Marienkrankenhaus auf die Intensivstation übernommen wurde, geschah nichts weiter und so musste man davon ausgehen, dass Brummer untergetaucht war.

  • Ben hatte sich inzwischen so weit stabilisiert, dass man guten Gewissens mit der Wiederherstellungsoperation beginnen konnte. Zunächst arbeiteten die beiden erfahrenen Chirurgen im Stehen Hand in Hand und verplatteten und nagelten die kaputten Knochen. Dann setzten die beiden Operateure Lupenbrillen auf, bzw. ließen sich die vom unsterilen Springer aufsetzen und dann wurde der Operationstisch in angenehme Sitzhöhe gebracht, Ben´s kaputtes Bein in seinen sterilen Tüchern, mit denen man es nach dem Desinfizieren abgedeckt hatte, wurde anders hingelegt und die Operationslampen auf die neue Arbeitshöhe gebracht. Jetzt begann die diffizile Arbeit, die höchstes Geschick und Konzentration erforderte und beginnend mit den Sehnen und danach den Blutgefäßen fing man an mit zunächst starken Fäden und dann solch hauchfeinen, dass die mit dem bloßen Auge fast nicht zu erkennen waren, wieder zusammenzufügen, was abgerissen war.


    „Bitte geben sie ihm unbedingt Piperacillin und Tazobactam damit wir ihn antibiotisch abdecken. Wir werden zwar sowieso schon Keime in der Wunde haben und Fieber hat er ja auch schon, aber trotzdem hoffen wir, dass wir die Infektion systemisch bekämpfen können und falls es nichts wird, haben wir es wenigstens versucht-amputieren können wir immer noch!“ erklärte der plastische Chirurg und der Anästhesist nickte und wies die Narkoseschwester an, ihm das gewünschte Antibiotikum gleich aufzulösen. Die Arbeit am Knochen war sicher sehr schmerzhaft gewesen und dafür hatte man Ben eine große Menge Opiat gegeben, was natürlich seinen Kreislauf erneut belastet hatte, aber bei den jetzt folgenden Nähten konnte man eine sehr oberflächliche Narkose fahren, so dass Ben sogar am Narkosegerät selbst atmete und nur durch die Inhalationsnarkotika und wenig Opiaten in einem leichten Schlaf gehalten wurde. Immer wieder kontrollierte man die Narkosetiefe, aber man wollte ihn nicht viele Stunden komplett ausknocken-umso schwerer würde er nämlich wieder aufwachen und mit den Nebenwirkungen der Narkosemittel zu kämpfen haben.


    Nachdem der Operateur ja die Musikrichtung vorgeben durfte, hatte er sich für klassische Klaviermusik entschieden und bei den Goldberg-Variationen von Bach, die ja auch schon pro Stück fast eine halbe Stunde dauerten, verging die halbe Nacht, währenddessen die Operateure geschickt und angespannt Hand in Hand arbeiteten. Die OP-Schwester hatte sich auch einen Stuhl geben lassen, was eher selten vorkam, aber solche Wiederherstellungsoperationen waren für das gesamte OP-Personal außer den beiden Operateuren, die sehr konzentriert arbeiteten, eigentlich langweilig und immer wieder gähnte der eine oder andere, denn auch wenn man untertags geschlafen hatte, der Körper mit seiner inneren Uhr befahl den meisten Menschen trotzdem in der Nacht müde zu sein, was ja normalerweise auch ok war.
    Man hatte um Ben´s Oberschenkel eine breite aufpumpbare Manschette gelegt und als der Operateur zur Naht der größeren Blutgefäße kam, stellte man vorübergehend eine Blutsperre her, die man aber nicht die ganze Zeit belassen konnte, denn sonst würde der Fuß komplett absterben, aber so hantierte man mit viel Fingerspitzengefühl und nachdem die wichtigsten Blutgefäße wieder verbunden waren, wurden die Fäden noch dünner und nun kam das Operationsmikroskop zum Einsatz, denn mit bloßem Auge waren trotz Lupenbrille die feinen Nerven kaum zu erkennen.


    So nahm man die Brillen ab und der Operateur und sein Assistent blickten nun durch die Optik des Operationsmikroskops, der Operateur durch den Hauptgang und sein Assistent durch den sogenannten Spion-einem zweiten optischen Aufsatz. Inzwischen lief keine Musik mehr, denn diese Tätigkeit erforderte höchste Erfahrung, Geduld und Fingerspitzengefühl und der Wiederherstellungschirurg mit seinen filigranen geschickten langen Finger, die er durch Klavierspiel beweglich hielt, arbeitete in höchster Präzision. Einige Male beratschlagten die beiden Chirurgen sich, welcher Nerv das wohl war-es war detailliertes anatomisches Wissen für solche Operationen erforderlich, denn sonst würde das nicht funktionieren und der plastische Chirurg hatte schon viele Stunden und Tage damit verbracht, menschliche Hände und Füße in der Pathologie zu präparieren und daran zu üben, aber am lebenden Objekt war das Ganze dann doch wieder ganz anders. Allerdings hatte er eine hohe Erfolgsrate und die Patienten wurden nach Unfällen mit dem Hubschrauber von weit her zuverlegt, um von seiner Erfahrung und seiner Geduld zu profitieren.


    Trotzdem kamen die Operateure einfach durch die Konzentration und das angespannte Arbeiten mit teilweise doch krummem Rücken und ein wenig verdreht an ihre körperlichen und mentalen Grenzen, alle hatten Hunger und Durst und mussten eigentlich schon lange zur Toilette, aber das verdrängte man, bis es unaufschiebbar war, denn sonst stockte der ganze OP-Betrieb, weil sich derjenige der den Saal verließ, nach der Stärkung und dem Klobesuch wieder komplett umziehen und steril waschen musste. So aber atmete die ganze OP-Besatzung erleichtert auf, als irgendwann der Operateur das Operationsmikroskop zur Seite schob, seinen schmerzenden Rücken streckte und: „Hautnaht!“ forderte. Nun wurden noch zwei dünne Redondrainagen gelegt, damit das Wundsekret ablaufen konnte und mit peniblen sauberen Hautnähten an denen jede Schneiderin ihre wahre Freude gehabt hätte, so exakt gleich waren die Abstände, wurde die Operation am Fuß beendet. Man fuhr nun den Tisch hoch, wischte die Haut nochmals mit Desinfektionsmittel ab und klebte sterile Wundverbände über die Wunden.


    Nun vertiefte der Operateur die Narkose wieder, denn jetzt würde man Ben umdrehen und die Blutergüsse an seinem Rücken inzidieren und drainieren, da sich die riesigen Hämatome sonst infizieren und schlecht abheilen konnten. Man hatte mehrmals während der Operation Blutgase gemacht und auch andere Laborwerte bestimmt, um dringend benötigte Elektrolyte auszugleichen, Ben Pufferlösungen zu verabreichen und die richtige Infusionsrate heraus zu finden, damit er einigermaßen stabil blieb. Im Pleur-Evac-Gefäß der Thoraxdrainage war Gott sei Dank kaum mehr Blut und Sekret nachgelaufen und der Hb-Wert war zwar deutlich erniedrigt, aber man konnte bisher von der Verabreichung von Blutkonserven absehen, denn diese störten das Immunsystem deutlich und man ging da heutzutage viel zurückhaltender damit um, als noch vor wenigen Jahren-oft schadete man den Patienten damit mehr, als man nutzte und Ben würde ein intaktes Immunsystem brauchen, um den Fuß zu behalten.
    Im Katheterbeutel kam immer noch sehr blutiger Urin, aber zumindest eine der Nieren arbeitete, sonst würde kein Pipi produziert und so überließ man dieses Organsystem der Sorgfalt des Urologen, der sich die Sache später wieder ansehen würde, aber jetzt musste man zusehen, dass man Ben langsam ins Bett brachte. In seinem Rektum hatte man zu Beginn der Operation eine Temperaturmeßsonde platziert, damit man ihn bei Bedarf wärmen konnte, denn Hypothermie, also Untertemperatur, war für den Operationserfolg unbedingt zu vermeiden, aber da er zunächst 38°C Fieber gehabt hatte, war die Temperatur nur bis 36,5°C gesunken und das war in Ordnung so.
    Nun erhoben sich die Chirurgen, streckten ihre schmerzenden Rücken und fassten dann gemeinsam mit dem Springer an, um Ben auf den Bauch zu legen und so auf dem Tisch zu fixieren. Die Operateure zogen dann frische Sterilkittel und Handschuhe an, der Springer desinfizierte inzwischen die mannigfaltigen Beulen und nun kam der Unfallchirurg, in diesem Fall der Mann fürs Grobe, wieder zum Zug. Mit mehreren beherzten Schnitten eröffnete er die Blutergüsse, drückte mit Kompressen die Koagel, die sich teilweise darin befanden heraus, legte dicke Drainagen ein, nähte die mit jeweils einem derben Stich fest und als man so Ben´s Rückseite versorgt hatte, befestigte man noch dicke saugende Verbände darauf und drehte ihn dann wieder zurück auf den Rücken. Der Wiederherstellungschirurg prüfte nochmals die Durchblutung der Zehen, aber so wie es aussah, war die Operation zumindest fürs Erste gelungen. Man wickelte einen warmen Polsterverband um den Fuß und legte darüber eine aufblasbare Schiene zur Stabilisierung. Die nötige Bewegung würde die ersten Tage nur kontrolliert und passiv durch die Krankengymnastik erfolgen-ansonsten musste man das Bein noch ruhig halten, damit die hauchfeinen Strukturen darin sich erholen konnten.


    Kurz hatte der Anästhesist überlegt, Ben noch ein paar Stunden nachbeatmet zu lassen, sich aber dann dagegen entschieden. Die Temperatur war in Ordnung, mit Noradrenalin hatte er einen stabilen Kreislauf und so sprach nichts dagegen, ihn aufwachen zu lassen. Er stellte das Narkosegas ab, versorgte Ben nur noch mit einem Luft- Sauerstoff-Gemisch und dann wartete man, bis der langsam zu sich kam.

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