Komakinder

  • Kevin's Wohnung - 23:00 Uhr


    Jennys Herz schlug bis zur Kehle, sie hatte das Gefühl, in Sekundenschnelle Fieberschübe zu bekommen. Obwohl sie nicht wusste, was passiert war... obwohl sie nur ein Röhrchen mit Pillen, Kevins geladene Dienstwaffe und Kevin selbst in einem scheinbar etwas weggetretenen Zustand "fand", so spielten sich in ihrem Inneren ungeheuerliche Szenen ab. Kevin im Drogenrausch, Kevin, der nicht mehr wusste, wo er genau war. Kevin, der sich die Waffe gegen die Schläfe hielt, gegen den Hals hielt und wahrscheinlich nur von inneren Kräften davon abgehalten wurde, die entsicherte Waffe abzudrücken. Am liebsten hätte Jenny sich bei den Gedanken übergeben, sie stand mit tropfendem Gesicht am Waschbecken und starrte in den Spiegel.
    Was sollte sie tun? Sich Hilfe holen? Und damit Kevins Polizeikarriere endgültig beenden? Wäre das besser für ihn, oder würde es alles noch schlimmer machen? "Bulle sein ist das einzige, was ich kann.", hatte Kevin gerade vor 5 Minuten noch zu Jenny gesagt. Wussten Semir und Ben davon? Sollte sie jetzt nach draussen, und ihn darauf ansprechen? Oder ruhig sein, cool bleiben und ihn ab jetzt beobachten, nicht mehr aus den Augen lassen? In ihrem Kopf drehte sich alles, sie starrte immer noch in den Spiegel und hin und wieder auf die feucht-glänzende Waffe, die der junge Polizist offenbar mit unter die Dusche genommen hatte. Jetzt lag sie auf dem Waschbecken und ließ sich von der, leicht zitternden Jenny, beobachten. Langsam musste sie wieder raus, ansonsten würde sich Kevin draussen wohl fragen, was sie so lange machte. Sie trocknete ihr glänzendes Gesicht und fasste einen Entschluss, als sie das Röhrchen und die Waffe packte.


    Kevin saß immer noch auf der Couch, und schien langsam wieder klarer zu sehen. Doch Jennys ernster Gesichtsausdruck gefiel ihm nicht, sie hatte etwas in der linken Hand umklammert, die rechte hatte sie hinter dem Rücken. "Was hast du heute abend gemacht, nachdem du heimgekommen bist?", fragte sie mit seltsam tonloser Stimme. Ihr fiel es schwer, Kevin so direkt darauf anzusprechen, sie hatte Angst vor seiner Reaktion. Würde er ihr die Tür zu seinem Innersten wieder zuschlagen? Würde er sich abkapseln, einigeln? Sie empfand dies als eine echte Prüfung für ihre junge Beziehung, denn sollte er es abstreiten, oder nicht wissen, wo das Zeug herkomme... es wäre ein großer Vertrauensbruch. "Wieso?", fragte Kevin unsicher, denn ihm fehlte ein wenig aus den letzten Stunden, seit er im Auto die Pillen eingeworfen hatte. Dann diese Horrorvision im Badezimmerspiegel, als er sich nicht mehr kontrollieren konnte und auf den Boden gefallen war. Eine Achterbahnfahrt, Horrorbilder, seine Schwester blutüberströmt mit verbrannten Haaren, die vor ihm im Bad stand und laut "Mörder" schrie... irgendwann war er dann wieder bei sich, sitzend unter der Dusche. Etwas lag bei ihm, doch darauf achtete er gar nicht, als es klingelte und er sich schnell anzog.
    Jennys Hand zitterte, als sie ihm das Pillendöschen auf den Schoß warf, und die Waffe langsam auf den Wohnzimmertisch legte. "Das lag in deiner Dusche..." Ihre Stimme klang dabei traurig, ein wenig ängstlich, aber doch stark, trotz dass sie mit den Tränen kämpfte. Der junge Mann sah auf das Pillendöschen, aus dem mehrere fehlten, er umfasste es, umklammerte es mit seiner Hand. Dann nahm er die Waffe zur Hand... er konnte sich erinnern, dass er öfters die Waffe damals, in einer sehr depressiven Phase in die Dusche mitgenommen hatte, und sich vorstellte, einfach abzudrücken. Damals hatte er die Kugeln aus dem Magazin entfernt, weil er zwischen Fantasie und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden konnte. Sein Herzschlag setzte aus, als er jetzt sah, dass die Waffe geladen und entsichert war... und er sich nicht mehr erinnern konnte, was er getan hatte.


    "Jenny... ich...", fing er stotternd an, doch die junge Polizistin fiel ihm ins Wort. "Was ist los mit dir? Du nimmst Drogen, ich finde deine geladenen Waffe in der Dusche... was hast du gemacht?", fragte sie und Kevin konnte hören wie ihre Stimme zitterte. Er sah zu der jungen Frau, er nahm zweimal Luft um eine Antwort zu geben, doch seine Stimme kam erst beim dritten Mal, schwach und müde. "Ich weiß es nicht." Seine Partnerin stand schräg von ihm, mit offenem Mund und fragenden Augen. "Du weißt es nicht?", fragte sie diesmal leiser und fassungslos, als der Mann vor ihr, den sie liebte, den Kopf schüttelte. "Ich hab die Pillen im Wagen genommen. Danach bin ich hier rauf." Er erzählte nichts davon, was er im Spiegel gesehen hatte, was er vor sich hat stehen sehen. "Dann weiß ich nichts mehr... ich bin wieder unter der Dusche zu mir gekommen, als du geklingelt hast." Mit offenem Mund atmete Jenny hörbar aus, als könne sie nicht fassen, was Kevin ihr gerade erzählte. Wie zum Spannungsabbau ging sie einige Schritte durch die Wohnung, die Hand vor den Mund und sich überlegend, was sie als nächstes sagen sollte. "Wie lange nimmst du schon Drogen? Seit Janine tot ist?" Es dauerte kurz, bis sie die Stimme des Mannes auf der Couch wieder vernahm. "Seit dem wieder... mal mehr, mal weniger.", sagte er, ohne seine Freundin anzublicken.
    Jenny war wie vor den Kopf gestoßen. Ihr Freund, in den sie sich vor einigen Wochen verliebt hatte, der ein Polizist mit krimineller Vergangenheit war, war abhängig... UND hatte dazu noch einige psychische Probleme. War ihre Liebe wirklich so stark, das zu überleben? Wollte sie nicht einen starken Freund, der die Schulter für sie war, so wie es Kevin damals war, als sie vergewaltigt wurde? Der Kevin, der er war, als seine Schwester noch gelebt hatte und zu ihrem unerschütterlichen großen Bruder aufgeblickt hatte? Wo war er nur hin?


    Langsam kam Jenny zurück zur Couch, und setzte sich zu Kevin. Der sagte leise: "Semir und Ben wissen, dass ich bis vor einem dreiviertel Jahr, bis Peter Becker sich umgebracht hat, noch was genommen habe. Seitdem war ich so gut wie weg. Ich dachte, es wäre vorbei... aber es ist nicht vorbei." Jenny hing an seinen Lippen, ähnliches hatte sie eben auch schon gehört. Dass Janine ihn quäle, dass der Dämon niemals verschwinden würde. Die Pillen halfen ihm normalerweise, doch heute warfen sie ihn völlig aus der Bahn. Seine Beine zitterten, seine Hände ebenfalls, es fühlte sich an wie Entzug, und doch anders. Er spürte Jennys Hand auf seiner Schulter, er spürte ihren Duft in der Nase. "Vielleicht können wir dir helfen. Wenn du dich in professionelle Hilfe...", sagte sie zaghaft, doch wurde von Kevin sofort unterbrochen. "Wenn ich zu einem Psychater gehe, dann kann ich meinen Job an den Nagel hängen. Der ist das Einzige, was mich bisher überleben hat lassen. Und du jetzt..." "Kevin, du musst von den Drogen wegkommen.", sagte Jenny bestimmter und lauter. "Ich will dir helfen, aber du musst dir helfen lassen. Alleine schaffst du das nicht, du machst dich daran kaputt!" Dabei fasste sie den jungen Mann an den Schultern und drehte ihn zu sich, dass er ihr in die Augen blicken musste, und sie erschrak von dem gräulichen Schimmer in seinen sonst strahlend hellblauen Augen. Und sie erschrak über seine panische Stimme, und wie sich nun seinerseits seine Hände um ihre Schultern legten und zupacken. "Ich bin bereits kaputt!! Es ist nicht's mehr von dem Kevin übrig, den ich vorgebe zu sein. Den Kevin, den du jetzt siehst, das bin ich!!", rief er laut. Jenny war geschockt, sie stand sprunghaft auf und wich zwei Schritte zurück. Die Situation überforderte sie, sie erkannte den Mann nicht mehr wieder, der schreckhaft die Hände zurück zog und offenbar über sich selbst erschrak. Er war kurz davor die Kontrolle zu verlieren, etwas was er nie sein wollte. Er war nicht mehr der starke unerschütterliche Kevin, dem alles gelang, und dem nichts zu schwer war... zumindest nicht, wenn er sein wahres Inneres zeigte, wie bei Jenny.


    Seim Atem polterte, und die beiden jungen Menschen sahen sich an... Jenny stand neben dem Sofa, und war sich unschlüssig, was sie tun sollte... und verwirrt war sie auch. Sie konnte Kevin unmöglich jetzt alleine lassen, als dieser mit zitternden Lippen aufblickte und flüsterte: "Bitte rette mich... Rette mich."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 08:00 Uhr


    Das geschäftige Treiben in dem Großraumbüro der Autobahnpolizei war das Gleiche wie immer, und doch kam es Ben an diesem Morgen grauer und trister vor. Die Geräusche von Funksprüchen und Telefonläuten vernahm er wie durch einen Schleier, etwas dumpfer als sonst. Er saß an seinem Schreibtisch, hatte den Kopf auf die zusammengefalteten Hände gelegt, und stützte ihn mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. Dabei sah er auf den Monitor seines PCs. Würde man ihn durch die große Glasscheibe nach draussen beobachten, hätte man gemeint, er würde sich aufmerksam etwas durchlesen, oder sich irgendeinen Bericht im Internet ansehen. Tatsächlich war der tägliche Lagebericht vor ihm geöffnet, doch Ben interessierte sich nicht für die Buchstaben vor ihm, oder dass am Rheinufer heute Nacht ein junger Drogenjunkie tot aufgefunden wurde. Nein, seine Gedanken waren bei Semir, sie waren bei Ayda die im Koma lag, und sie waren auch bei Kevin, der ziemlich fertig schien gestern.
    Seine Gedanken waren ausserdem bei dem bevorstehenden Gespräch mit den beiden Kotzbrocken vom LKA, die sich für heute morgen für ein Gespräch mit Anna Engelhardt, der Chefin des Reviers angekündigt hatten. Ben hatte seine Vorgesetzte bereits bei seinem Kommen über die neuesten Entwicklungen informiert. Als er jedoch die Explosion und den Tod des gefangenen Mädchens erwähnte, schlug sie die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. DIe Chefin wusste, was das für sie bedeuten würde, sie hatte den ungenehmigten Einsatz bewilligt und gedeckt. Doch sie ließ sich vor ihrem Mitarbeiter erst einmal nichts anmerken, und nickte nur stumm. "Lassen sie die beiden vom LKA nur kommen. Das bekommen wir geregelt.", sagte sie souverän und machte Ben damit etwas Mut.


    Das Klingeln seines Telefons riss Ben aus den düsteren Gedanken um seine beiden Partner und Ayda. "Jäger, Kripo Autobahn?", meldete er sich und rieb sich mit den Fingern durch die Augen. "Morgen Ben, hier ist Hartmut.", meldete sich der KTU-Techniker aus seiner Werkstatt. "Hartmut. Ich hoffe, wenigstens du hast du gute Nachrichten." "Naja, gut wäre übertrieben.", gluckste das Superhirn, während Ben missmutig die Lippen aufeinander presste. "Also hör zu. Ich habe die beiden Lieferscheine einem befreundeten Medizinlaborant geschickt. Absolut vertrauenswürdig natürlich. Er hat mir gesagt, dass man die Apparaturen und einige Zutaten definitiv benutzen KÖNNTE, um ein Mittel herzustellen, das das Opfer in einen komatösen Zustand versetzt." "Aber?", fragte Ben sofort, denn er konnte im Tonfall von Hartmut hören, dass die scheinbar gute Nachricht noch einen gewaltigen Haken haben musste. "Zwei Sachen sind im aufgefallen: 1. fehlen noch einige Zutaten.Es musss also irgendwo noch einen dritten oder vierten Bestellschein geben." Ben's Polizeigehirn arbeitete sofort auf Hochtouren. Wenn jeweils ein Lieferschein bei zwei Entführern war, und es würde noch weitere Lieferscheine geben... dann musste es auch weitere Komplizen geben.
    "Das zweite: Auf beiden Bestellscheinen waren ausserdem Chemikalien, die nichts mit diesem Mittel zu tun hatten. Nichts, was irgendwie auf ein Koma hindeuten könnte, sondern eher auf eine Art "Gewebezerstörer" hindeutet." Ben legte die Stirn in Falten. "Gewebezerstörer?", wiederholte er etwas ungläubig, des es klang wie eine neuartige Waffe aus einem Sci-Fiction-Film. "Richtig. Er meinte, sowas kenne er nur aus der Medizinforschung, wenn es um das Heilen von Krebs ginge. Aber dazu konnte er mir absolut nichts sagen, ohne Aufzeichnungen oder Forschungsunterlagen waren das nur einzelne Chemikalien für ihn, aber nichts was einen Sinn ergäbe. Ausser die vereinzelten, die auf das Herbeiführen eines komatösen Zustands sprechen würden." Ben kritzelten die Informationen auf einen Zettel, der am Ende vollgeschrieben und unleserlich war. "Versuch mal herauszufinden, was es mit diesem Versandhandel auf sich hat. Ist der seriös, gibts Kundendaten zu den Bestellungen, und wo wurden sie hingeliefert.", bat der Polizist den KTU-Techniker.


    "Das ist noch was.", sagte der nun, bevor sie das Gespräch trennten. "Ich hab es dem LKA noch nicht weitergegeben. Ich hab in dem Haus die Sprengfallen, oder was davon übrig geblieben war, analysiert." Ben hörte weiterhin aufmerksam und gespannt zu, und bemerkte dass Hartmut etwas gehemmter sprach: "Also... die Sprengzündungen wurden ferngezündet. Das geht heute schon über einen Funkstandard wie Bluetooth." "Du meinst, es hat uns jemand beobachtet, als wir in das Haus gegangen sind?", vermutete der Polizist sofort, und Hartmut schien am Telefon den Kopf zu schütteln. "Nein, nicht direkt. Das Signal ging von einem Kontaktgeber aus... der an der ... an der Eingangstür befestigt war." Bens Herz setzte für einen Moment aus, als er langsam realisierte, was das bedeutete. "Das heißt...", begann er leise, doch der Techniker schnitt ihm das Wort ab: "Ja genau... an der Eingangstür war ein Kontaktwarner, wie bei Einbruchsicherungen an Fenstern und Türen. Sobald dieser Kontakt getrennt wird, sendet das Gerät ein Signal... in dem Fall zur Zündung des Sprengsatzes. Die weiteren Zündungen wurden zeitversetzt versendet."
    Ben atmete hörbar am Telefon aus, und sein Gesprächspartner konnte sich die Gedanken lebhaft vorstellen. "Ben, das hättet ihr niemals ahnen können. Der Kontakt war so klein am oberen Eck der Tür, den hättet ihr nicht mal gesehen, wenn ihr geschaut hättet. Wir haben ihn nur gefunden, weil er durch die Explosion heruntergefallen war, und zum Glück nicht verbrannt ist. An der oberen Ecke haben wir dann die Befestigung gesehen, aber erst nach 1 Stunde abtasten." "Ja... fühlt sich grad trotzdem scheisse an...", seufzte der Polizist. "Das kann ich mir vorstellen, aber trotzdem. Ihr seid nicht schuld an dem Tod des Mädchens. Ihr habt die anderen Kinder und vor allem Ayda gerettet, der Zünder hatte nämlich auch einen Zeitauslöser, der ihn etwas mehr als 40 Stunden abgelaufen wäre. Die Gangster haben sich vermutlich eine Rücksicherung geschaffen, falls sie alle geschnappt werden würden. Da kannte sich jemand aus. Und das schreibe ich auch so in den Bericht für das LKA und erwähne ausdrücklich, wie nötig euer schnelles Eingreifen war." Ben lächelte etwas gequält ob der Solidarität seines Freundes. "Danke Hartmut.", sagte er ehrlich, bevor sie das Gespräch trennten.


    Ben wollte gerade zur Chefin, um die neuen Informationen zu überbringen, als Kevin und Jenny gemeinsam in das Großraumbüro traten. Sie waren zusammen gekommen scheinbar und lächelten sich kurz an, bevor Jenny ihre Tasche an ihrem Platz abstellte, und danach zu den Umkleidekabinen ging um ihre Dienstkleidung anzuziehen. Kevin strich sich durch die abstehenden Haare und ging zu Ben ins Büro, wo die beiden Männer sich kurz begrüßten. "Na? Alles okay bei dir?", erkundigte sich Ben mit vorsichtiger Stimme, denn er hatte noch im Gedächtnis wie Kevin gestern abend auf seine Nachfrage reagiert hatte. Doch die Nacht schien ihm gut getan zu haben, seine Augen waren wacher und die Apathie in seinem Blick verschwunden. "Ja, alles in Ordnung.", nickte er Ben zu. "Kaffee?" "Könnte ich gebrauchen." Als schienen sie nur das Notwendigste zu reden um sich miteinander zu verständigen, so kam es Ben gerade vor. Er ging zur Kaffeemaschine und gießte den heißen Koffeinsaft in eine Tasse für Kevin, der sich auf Semirs Drehstuhl niederließ.
    "Danke. Wie gehts Ayda?", fragte Kevin und nahm einen vorsichtigen Schluck aus der Tasse. Ben blickte etwas überrascht, er hätte nicht gedacht dass der junge Polizist sich nach der gestrigen Ausnahmesituation noch daran erinnerte, dass er gestern ins Krankenhaus gefahren war. "Naja... was soll man da sagen. Sie liegt im Koma, die Vitalwerte werden überwacht. Aber je länger sie in diesem Zustand ist, desto eher könnte ihr Gehirn dauerhaft beschädigt werden. Es ist... nicht angenehm." Kevin nickte durch den aufsteigenden Dampf des Heißgetränkes vor ihm etwas betreten und wusste nicht recht, ob er darauf etwas antworten solle. Es war auch für Ben schwer, das wusste er genau, denn er stand in einem engen Verhältnis zur Familie Gerkhan, auch zu den Kindern. Kevin hätte von sich aus wahrscheinlich eh nichts von seinem gestrigen Absturz erzählt, aber dass Ben selbst persönlich von dem Schicksal Aydas betroffen war, hätte er es sowieso unterlassen.


    Jenny hatte ihn versucht, gestern aufzufangen, obwohl sie sich selbst unsicher fühlte... das spürte Kevin. Sie war sich selbst nicht im Klaren, wie tief der Polizist noch in der Suchthölle steckte und sie wusste nicht genau, wie sie damit umgehen sollte. Ob sie es überhaupt könnte? War sie stark genug, war es das, was sie suchte als sie sich in den jungen Mann verliebt hatte, vor allem in der Situation, als er selbst eine Stützte für die junge Polizistin war. Diese Zweifel bewegten sie heute nacht, und diese Zweifel konnte auch er selbst spüren. Gestern war er einfach dankbar... dass sie ihm zuhörte, dass sie ihn nicht verurteilte, ihm die Pillen und die Knarre entgegen warf und wutentbrannt die Wohnung verließ. Nein, sie blieb... sie igelten sich auf der Couch zusammen, sie hielten sich aneinander fest, bis sie es schafften langsam einzuschlafen. Jennys Nähe war in diesem Moment die perfekte Droge für Kevin, um die Nacht zu überleben, und dafür war er ihr dankbar. Sie hatten heute morgen zusammen gefrühstückt, Kevin bot ihr das Bad an, aber da Jenny eh keine weiteren Kleider dabei hatte, weil sie nicht geplant hatte, bei dem Polizisten zu übernachten und abends bereits geduscht hatte, beließ sie es dabei sich nur die Haare zu waschen.
    Kalle hatte sie mit einem Lächeln morgens geweckt, kurz nachdem sie von der Arbeit gekommen war. Wo der Transvestit-Künstler zu ihrem Ziehsohn gerne mal rau und ruppig war, so war sie doch immer überaus liebenswert zu etwagigen Frauenbekanntschaften, die er mit nach Hause brachte.


    "Aber es gibt Neuigkeiten.", sagte Ben dann nach einigen Minuten des Schweigens. Kevin blickte zu seinem Freund auf und hörte aufmerksam zu, als Ben von Hartmuts Anruf erzählte. Von den Lieferscheinen, den scheinbaren Medikamenten und dass es offenbar noch weitere Komplizen gab. Von den Umständen der Explosion im Haus schwieg Ben allerdings, denn er befürchtete, dass er Kevin sofort wieder runterziehen würde, und hoffte, dass Kevin es ihm nicht übel nahm, wenn er es doch rausfinden würde.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 08:30 Uhr


    Sie hatten sich alle im Büro der Chefin versammelt. Anna Engelhardt, Ben und Kevin sowie die beiden LKA-Ermittler Schöneberg und Reuter saßen um den kleinen Tisch herum. Es stellte sich heraus, dass Schöneberg nicht nur Ermittler, sondern Leiter der Dienststelle für Menschenraub war, und deswegen entsprechend erzürnt über das selbstständige Vorgehen der Autobahnpolizei. "Wo steckt ihr Partner? Ich möchte, dass alle Beiteligten an dieser Besprechung teilnehmen.", knurrte er und und sah auf die Uhr. "Hauptkommissar Gerkhan befindet sich bei seiner Tochter im Krankenhaus. Und dort wird er auch bleiben.", sagte die Chefin in einem scharfen Ton, der eigentlich keinerlei Widerworte duldete. "Frau Engelhardt, ihr Hauptkommissar ist an dieser Ermittlungskatastrophe genauso beteiligt, wie diese beiden Herren...", wobei er auf Kevin und Ben zeigte, die beide jeweils auf einem Stuhl saßen und abwehrend die Arme vor der Brust verschränkt hatten. "...also gehört er auch in diese Besprechung." Die Chefin verengte die Augen zu Schlitze, für die Kommissare, die sie kannten, ein untrügliches Merkmal, jetzt besser zu schweigen. "Schöneberg, auch wenn sie mit dem Polizeipräsidenten Golf spielen, aber die Personalplanung, und wann ich meinen Mitarbeitern freigebe oder nicht, das überlassen sie gefälligst mir. Gerkhans Familie befindet sich in einer psychischen Ausnahmesituation und wird das Krankenhaus nicht verlassen, solange ihre Tochter im Koma liegt."
    Die Atmosphäre in dem Büro war zum Schneiden, es lag eine Grundaggression in der Luft, die eine sachliche Diskussion sehr schwer machen würde. "Gerade deswegen wäre es besser gewesen, wenn sie ihn gar nicht hätten ermitteln lassen.", meldete sich Reuter, der ebenfalls saß, zu Wort. "Sagt mal, wollt ihr uns verarschen? Semirs Tochter liegt im Koma, der hat jetzt ganz andere Sorgen, als sich hier einen Anschiss abzuholen.", knurrte Ben, dem es sofort an die Nieren ging, wenn diese beiden Typen jetzt auf nichts anderes herumritten, als auf der Tatsache, dass Semir sich jetzt um seine Tochter kümmerte, statt hier zu sein.


    "Na schön, na schön.", beschwichtigte Schöneberg mit hochgehaltenen Händen. Er war der Einzige, der nicht saß, sondern immer zwischen Sitzgruppe und Schreibtisch, hinter dem Anna Engelhardt saß, hin und her ging, während er redete. "Wie kamen sie nun darauf, alleine und ohne Einbeziehung unserer Dienststelle, die Übergabe durch zu führen?" "Weil wir Aydas Leben so wenig gefährdern wollten wie möglich.", antwortete Ben, und sah zu dem Ermittler auf, der ihn misstrauisch ansah. "Und weil wir die Kontrolle über die Geldübergabe behalten wollten. Mit dem festgenommenen Boten wollten wir Druck auf die Entführer ausüben, und erhofften uns Informationen." Schöneberg strich sich über die Stirn. "Und sie denken, damit haben sie das Leben weniger gefährdet, als wenn sie uns informiert hätten?" "Was habt ihr denn bis jetzt gemacht? Jedes Entführungsopfer wurde im Koma liegend gefunden. Hätten wir den Boten nicht festgenommen, wären wir keine Namen, keine Wohnanschrift und hätten auch das Versteck nicht gefunden.", bellte der Polizist, während sein Nebenmann Kevin erstaunlich still blieb.
    Die beiden LKA-Ermittler sahen sich gegenseitig an und atmeten hörbar aus. "Jede betroffene Familie hat bisher die Polizei nicht informiert. Wir ermitteln seit Wochen, seitdem das Krankenhaus uns über die merkwürdigen Komafälle informiert hat, und die Eltern bei Ärzten erstmals ausgepackt haben.", erklärte sich Schöneberg und nannte so die Ursache für den bisher mangelnden Erfolg. "Und was hättet ihr bei dieser Entführung getan, wenn ihr Bescheid gewusst hättet?", fragte Ben provokativ. Als nicht sofort eine Antwort kam, nickte der junge Mann. "Ihr hättet auch nicht mehr getan. Ihr wäret auch dem Boten gefolgt, und hättet ihn festgesetzt."


    Die Chefin verfolgte die Diskussion mit gefalteten Händen, und schritt nun ein. "Meine Herren... Wir haben umfassende Ermittlungserfolge vorzuweisen durch das Vorgehen meiner Beamten. Wir haben Namen zweier Vorbestrafter Entführer, einer davon sitzt bei uns in der Zelle. Wir haben Lieferscheine von Medikamenten, aus denen weitere Ermittlungsansätze gezogen werden können. Wir haben ausserdem drei Kindern das Leben gerettet, davon sind zwei sogar absolut unverletzt.", zählte sie auf während sie eine Mappe mit den entsprechenden Informationen zu Schöneberg herüberschob. Der öffnete diese Mappe und sah sich die Dokumente genauer an. "Einige Chemikalien können zur Erstellung eines Koma-Cocktails benutzt werden. Einige andere passen nicht dazu, ein befreundeter Mediziner hat diese Dinge ermittelt.", sagte Ben, ohne Angst zu haben, dass es Konsequenzen gab. "Ein befreundeter Mediziner?", fragte Reuter ungläubig. "Lass mal, Manuel. Mit diesen Dokumenten können die Forscher etwas anfangen.", wurde er von seinem Kollegen sofort beschwichtigt.
    Er setzte hinzu: "Die Forscher des Instituts sind immer noch beschäftigt heraus zu finden, was die Kinder ins Koma versetzt hat. Erst wenn sie das wissen, können sie etwas dagegen unternehmen, wenn überhaupt." "Die Liste ist nicht vollständig. Laut dem Mediziner reicht das noch nicht, er kann aber auch nicht sagen, was fehlt. Deswegen kann man davon ausgehen, dass die Gangster einen weiteren Komplizen haben und somit noch einen weiteren Lieferschein.", erklärte Ben. Die Atmosphäre wechselte etwas, so etwas wie Kooperation und Zusammenarbeit war zu spüren, doch davon wollte das LKA erstmal nichts wissen.


    "Na schön. Ich denke, die Ergebnisse und die Ermittlungserfolge allgemein der Autobahnpolizei haben es verhindert, dass der Polizeipräsident sie...", dabei zeigte Schöneberg auf die Chefin "... in vorzeitigen Ruhestand geschickt hat. Sie haben diese illegalen Ermittlungen gedeckt und genehmigt." Die Chefin protestierte scharf: "Ohne unsere illegalen Ermittlungen hätten sie nichts, ausser eines weiteren Kindes im Koma, und immer noch drei vermisste Kinder." "So haben wir ein totes Kind. Ein totes Kind, für das sie verantwortlich sind, durch ihr unvorsichtiges Vorgehen.", sagte Schöneberg scharf, gerade als er neben dem Stuhl von Kevin stehenblieb, dabei hielt er einen Zettel hoch, das Ergebnis der KTU, in dem die Informationen standen, die Hartmut eben an Ben weitergegeben hatte.
    Als er die Verantwortlichkeit des Kindes ansprach, ging alles so schnell, dass Ben, die Chefin oder Reuter gar nicht eingreifen konnten. Kevin war innerhalb weniger Sekundenbruchteile aufgestanden, hatte den LKA-Ermittler am Kragen gepackt und ihn gegen die Glasscheibe zum Großraumbüro gedrückt. Ein dumpfer Schlag ließ Hotte und Jenny draussen aufblicken. "Wir sind verantwortlich für den Tod des Mädchens, während ihr hinter euren scheiss Schreibtischen sitzt?", sagte er mit ruhiger, aber bedrohlicher Stimme. "Wenn sie morgen noch Polizist sein wollen, dann lassen sie mich auf der Stelle los.", drohte Schöneberg dem jungen Mann und machte keinerlei Anstalten sich körperlich zu wehren. Ben griff Kevin am Arm und riss ihn von Schöneberg weg, bevor Reuter mit etwas mehr Gewalt einschreiten konnte. "Hast du sie noch alle?", knurrte er seinen Partner Kevin an und schob ihn in die andere Hälfte des Zimmers... obwohl er natürlich wusste, warum der Kommissar so austickte. Kevin richtete sich seinen Kragen und verkniff sich jeden weiteren Kommentar, er atmete tief durch, denn er konnte mit dem direkten Vorwurf nichts anfangen... er wusste die Informationen von Hartmut ja nicht.


    Schöneberg richtete sich ebenfalls die Kleidung und giftete in Kevins Richtung: "Jemand mit ihrer Vorgeschichte hat im Polizeidienst nichts verloren. Und ich sage es ihnen jetzt nochmal in aller Deutlichkeit: Die Ermittlungen an diesem Fall sind für sie tabu, und endgültig erledigt. Ihr Kollege hat seine Tochter wieder, und damit gibt es nichts, was sie veranlassen sollte nochmal in diese Richtung eigenständige Ermittlungen durch zu führen." Danach richtete er sich an die Chefin, die mittlerweile hinter ihrem Schreibtisch stand. "Egal wie gut ihre Arbeit, oder die Arbeit dieser Dienststelle ist... ihr Kredit bei dem Polizeipräsidenten ist nicht unendlich, und sie wären nicht die erste verdiente Beamtin, die in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wird."
    Für einen Moment herrschte unheilvolle Stille in dem Büro. Schöneberg und Reuter auf der einen Seite zur Tür, während Ben, der durch Handauflegen an Kevins Schulter so etwas wie Ruhe auf den Polizisten bewirken wollte, am Fenster. Die Chefin stand hinter ihrem Schreibtisch und ergriff das Wort: "Soweit ich weiß, Herr Schöneberg, haben wir beide den gleichen Dienstrang. Sie sind also weder befähigt, noch in einer Position, mir gegenüber solche Drohungen auszusprechen. Denn im Prinzip, haben sie keinerlei Rechte mehr als ich." Kurz hielt sie inne, verließ ihren Schreibtisch und ging zur Bürotür, wobei sie diese öffnete. "Wobei, wenn ich es recht überlege... ich habe ein Recht mehr als sie: Ich habe nämlich das Recht, sie aus meiner Dienststelle zu werfen, weil sie die Arbeit meiner beiden Ermittler behindern... die sollten nämlich längst auf Streife sein. Und wenn sie nicht augenblicklich verschwinden, drücke ich ihnen eine Beschwerde wegen Dienstbehinderung auch noch rein." Ben platzte in diesem Moment vor Stolz über seine Chefin, und auch Kevin war mehr als nur beeindruckt... genauso wie Schöneberg, der vor Wut kochte. "Herzberger! Begleiten sie die beiden Herren nach draussen.", rief sie in das Großraumbüro.
    Hotte Herzberger stand hinter seinem Schreibtisch auf, und setzte seine, mehr als nur grimmige Miene auf, wobei er sich beinahe drohend über seine Hosenträger und den dicken Bauch strich. Anhand der Tonart der Chefin konnte er sofort erkennen, dass sie den beiden LKA-Ermittlern sicherlich nicht freundlich gestimmt war, und er wollte sie mit dieser Geste sofort unterstützen, schließlich arbeiteten die Chefin und er schon fast 20 Jahre zusammen. "Wir finden alleine raus.", knurrte Schöneberg, und der dicke Polizist musste sich nicht mal von seinem Platz weg bewegen. Während die zwei Polizisten das Weite suchten, und die Chefin die Tür wieder hinter sich schloß, kicherte Jenny auf: "Hotte, du wärst ein perfekter Türsteher..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Krankenhaus - 9:30 Uhr


    Die Zeit in diesen hellen, kargen Räumen verging für Semir und Andrea viel zu langsam. Sie gingen im Zimmer auf und ab, während der jeweils andere von Ihnen am Bett bei Ayda saß, ihre Haare bürstete oder einfach nur ihre Hand hielt. Sie blätterten in Zeitungen, die sie schon dreimal gelesen hatten, Andrea hatte sich ein Buch von zu Hause mitgebracht, doch nach 2 Seiten verließ sie die Konzentration, sich auf die Handlung im Buch einzulassen. Semir sah immer mal wieder aus dem Fenster in den feucht-grauen Herbstmorgen. Er seufzte, und es kam ihm vor, als würde Ayda schon wochenlang im Koma liegen.
    Die einzige Abwechslung, die die junge Familie hatte, war wenn ein Arzt hereinkam, um nach Aydas Werten zu sehen. Sie gab keinerlei Reaktion auf den Blick ins gleißende Licht der Taschenlampe des Arztes, mit der er dem Mädchen in die Augen leuchtete, der Puls war stabil. Anders, als bei Unfallkomapatienten konnte man keinen Zustand an Hirnschwellungen ablesen, da diese bei Ayda nicht vorlagen. Man konnte nur sagen... sie lag noch immer im Koma, und auf Hände halten, streicheln oder den Lichtschein gab sie weder physisch noch von den Werten her eine Reaktion. "Sie müssen Geduld haben.", sagte der Arzt immer mit verständnisvoller Stimme, und der Polizist spürte, wie gleichgültig ihm mittlerweile diese Worte waren. Gestern hatte er den Arzt noch angegangen, als dieser nur ungenaue Antworten gab auf den Zustand von Ayda. Heute spürte er, dass der Arzt einfach nicht mehr als das sagen konnte, was er wusste. So nickte Semir resignierend und bedankte sich bei dem Chefarzt, bevor dieser das Zimmer wieder verließ.


    Semir setzte sich zu Andrea auf die Bettkante und legte einen Arm um seine Frau, sie wiederrum legte ihren Kopf an seine Schulter. In den letzten Stunden hatte die Mutter von Ayda viel geweint, wenig geschlafen und spürte, wie sie Stück für Stück, Stunde für Stunde ihren Mut verlor. Vor allem die Vorhersage des Arztes, dass Ayda mit jeder Stunde, die sie im Koma lag, die Gefahr stieg dass das Mädchen Schäden am Gehirn erleiden könnte, ließ Andrea noch ungeduldiger sein, was Fortschritte anging. Semir spürte, dass seiner Frau der Mut schwand, und er strich mit einem Finger sanft über ihre Schulter, während er sie festhielt. "Wir müssen geduldig sein. Der Arzt hat recht. Und wir dürfen den Mut nicht verlieren.", sagte er leise und spürte seine Frau stumm nicken. "Aber es fällt so schwer, Semir... so unendlich schwer.", sagte sie beinahe tonlos.
    Zwei Tage ist es her, seit Ayda verschwunden war und die beiden Eltern Todesangst um ihre Tochter hatten. Jetzt war Ayda wieder da, doch die Angst ist geblieben. Und die Hilflosigkeit, die Semir beinahe wahnsinniger machte, als die Angst selbst. Er saß hier, und konnte seiner Tochter nicht helfen, er konnte nichts tun ausser abzuwarten. So ruhig wie er äusserlich schien war er nur, weil Andrea diese Ruhe jetzt brauchte. Und der Verbrecher, der dem kleinen Mädchen und der Familie das angetan hatte, läuft scheinbar immer noch frei herum. Semir wollte es nicht zugeben, aber auch dieser Gedanke beschäftigte ihn zusehends, auch wenn er Ben klar gesagt hatte, dass es Ayda doch nichts nützen würde, wenn sie sich über alle Vorschriften hinweg setzen würden, und den Verbrecher jagen würden. Nein, es war in den letzten Monaten genug Glas zerbrochen worden und Karrieren riskiert worden, entschied der Familienvater über seinen besten Freund. Ben sollte dieses Risiko nicht eingehen.


    Es klopfte an der Tür. Beide sahen auf als sich die Tür öffnete und die beiden Polizisten, Kevin und Ben in das Zimmer kamen. Ein Lächeln huschte über Semirs Gesicht, sie begrüßten sich mit Händedruck, Andrea mit Küsschen auf die Wange. "Gibt es etwas Neues?", fragte Ben sofort mit Blick auf die kleine Ayda, aber Semir schüttelte nur den Kopf. "Abwarten, Geduld haben.", wiederholte er die Worte des Arztes. Andrea's Augen waren immer noch leicht gerötet, sie setzte sich wieder zu ihrer Tochter und hielt die Hand des kleinen Mädchens fest. "Und bei euch?", erkundigte sich der Polizist, aber Ben wollte seinen Partner nun nicht auch noch mit Vorgängen auf dem Revier belasten. "Wir sind nicht gefeuert worden.", sagte er etwas beruhigend mit Blick auf das Gespräch mit dem LKA, das Semir geschwänzt hatte. "Um alles andere musst du dich jetzt nicht kümmern." Der erfahrene Kommissar nickte dankbar und legte Ben freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. "Danke, dass ihr uns gestern geholfen habt.", sagte er noch leise, auch in Kevins Richtung, dem er noch nicht persönlich gedankt hatte, weil er gestern abend nicht mehr mit ins Krankenhaus gekommen war. Die Rührung über den selbstlosen Einsatz seiner beiden Freunde trieb Semir ein wenig Feuchtigkeit in die Augen.
    "Hey, das ist doch selbstverständlich. Wir wissen doch, dass wir uns auch auf dich verlassen können, oder Kevin?", sagte Ben und sein Freund, der etwas hinter dem Polizisten stand und schweigsamer wirkte als sonst, nickte. Er war ebenfalls beeindruckt von der bedrückenden Atmosphäre, von Ayda die da lag, als würde sie friedlich schlafen und sonst kerngesund sein. Nur die Blässe im Gesicht des Mädchens passte nicht dazu. Aber auch für ihn war es gar keine Frage gewesen, Semir und seiner Familie zu helfen, egal welche Konsequenzen es für den jungen Polizisten hatte. Dafür hatte er Semir schon viel zu viel zu verdanken gehabt.


    Semir wendete sich wieder zu seiner Tochter, und für einen Moment kehrte Stille ein. Er stützte sich dabei auf das Bettgestell zu Aydas Füßen und wischte sich etwas die Feuchtigkeit aus den Augen. Ben stand direkt hinter ihm, Kevin noch etwas weiter hinter Ben versetzt während Andrea unermüdlich Aydas Hand streichelte. Einmal meinte sie, dass ihr kleiner Finger etwas zuckte, doch das schien sich die Mutter nur einzubilden. Regen prasselte draussen gegen die großen Fensterfronten, die das Zimmer erhellten, der Tag war grau und diesig und es schien gar nicht richtig hell zu werden. Der Herbst zeigte sich von seiner hässlischen Seite, er hatte den Sommer endgültig verjagt. Das regelmäßige Piepen des Überwachungsmonitors, an dem Ayda angeschlossen war, veränderte sich für kurze Zeit, es wurde schneller als würde Aydas Körper in sich irgendetwas versuchen zu verarbeiten, als würde sie in ihrem Rythmus durch irgendetwas gestört werden. Andrea und Semir sahen sofort auf den Monitor und dann einander an. Der Arzt hatte ihnen versichert, dass nur bei einem schrillen Piepton bestimmte Werte überschritten werden, und man einen Arzt sofort rufen sollte, doch dieser schrille Piepton erklang nicht, und auch das schnelle Piepen beruhigte sich nach wenigen Minuten wieder.
    Sie wechselten gar nicht viele Worte miteinander, und bald verabschiedeten sich Kevin und Ben wieder von den leidenden Eltern. Semir sah den beiden Männern hinter her und wünschte sich jede anstrengende Schicht bei Wind und Wetter auf der Autobahn, wenn er sie nur gegen das eintauschen könnte, was er jetzt gerade erlebte. Aber niemand auf der Welt würde ihm diesen Wunsch erfüllen können...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienstwagen - 10:30 Uhr


    Ben und Kevin hatten sich als bald wieder von der Familie verabschiedet, auch wenn sie gerne noch mehr Trost gespendet hätten. Sie hatten gespürt, dass es Semir und Andrea gut tat, Gesellschaft um sich zu haben, Freunde die an sie dachten. Doch genauso wussten sie auch, dass Ayda Ruhe brauchte, und ausserdem müsse Ben eh zum Dienst. Er hatte Kevin angeboten, ihn nach Hause zu fahren, der dieses Angebot gerne annahm. Sie hatten mit dem Fall nichts mehr zu tun, das LKA hatte ihn endgültig an sich gerissen und Semir hatte Ben gesagt, dass er keine unnötigen Risiken mehr eingehen sollte... es würde Ayda sowieso nicht helfen. Ben akzeptierte die Bitte seines besten Freundes, und auch Kevin stimmte dem, wenn auch sehr zähneknirschend, zu. Ihm gefiel es nicht, dass sie die Jagd auf die Mörder des kleinen Mädchens in dem Haus nun dem LKA überlassen sollten.
    Als die Landstraße an den Augen des jungen Polizisten vorbeiflog, machte er sich Gedanken um seine eigene Zukunft... nicht um die, mit Jenny oder hinsichtlich seines wieder aufkommenden Drogenproblems, sondern um seine berufliche Zukunft als Polizist. Dass das Anheuern beim SEK nur eine Flucht vor der Autobahnpolizei war, spürte er spätestens jetzt mehr als deutlich, als er wieder mit Ben und Semir zusammenarbeitete. Sollte es das wirklich sein? Das, was Kevin wollte? Zum SEK wollte er nicht zurückkehren, weil er die Gefahr als zu groß ansah, dort eher den unbequemen Robert ins Krankenhaus zu prügeln, als wirklich beruflich glücklich zu werden.


    Ben's Stimme riss den jungen Mann aus seinen Gedanken. "Wie läufts eigentlich in deiner SEK-Ausbildung?", fragte er um ein wenig von den düsteren Gedanken um Ayda abzulenken. Die zwei Männer arbeiteten jetzt wieder zusammen, und trotzdem hatte Ben den Eindruck, sie würden sich nur das Nötigste unterhalten... in aller Kürze. Vielleicht bildete er sich diese Distanz zwischen ihm und Kevin auch nur ein, und er wusste auch warum. Immer noch nagte das schlechte Gewissen an ihm, um die gemeinsame Nacht mit Jenny. Vielleicht müsste er das endlich mal aus der Welt schaffen, um sich wieder ungezwungener und normaler mit Kevin unterhalten zu können. Er hatte ja bei Jenny recht locker und verständnisvoll reagiert, warum sollte er das bei ihm nicht auch. "Naja, geht so.", meinte Kevin auf dem Beifahrersitz. "Geht so? Hört sich ja nicht berauschend an." Der junge Polizist, der mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache war und den Kopf ein wenig hin und her wogte, antwortete: "Sind ziemlich viele Vollidioten da. Da ist kein Teamgefühl, nichts." Nach kurzer Pause setzte er hinzu: "Ich hab das Gefühl, das wäre ein Gruppe von Einzelkämpfer, die gegeneinander antraten, wer die meisten Geiselnahmen beenden kann." Verachtend verzog er den Mund ein wenig und schüttelte den Kopf. "Ich glaube, das ist nicht meine Welt."
    Ben war ein wenig überrascht über die negative Wertung seines Freundes. Er hatte damals geglaubt, die Welt des SEKs oder der GSG9 wäre genau das Richtige für Kevin. Aber nach dem gestrigen Vorfall, den Kevin wieder abstürzen ließ, hatte er auch schon vermutet, dass es für den jungen Mann nicht so einfach wäre, Entscheidungen zu fällen, die über Leben und Tod entschieden... und das würde beim SEK oft vorkommen. Vielleicht, so dachte Ben, war seine Wertung auch nur eine Ausrede für eben jenes Denken, dass er sich dem Job beim SEK psychisch nicht gewachsen war. Aber würde sich sowas ein, nach aussen so selbstsicherer Typ wie Kevin, wirklich zugestehen? Eher nicht.


    Für einige Minuten schwiegen sie, und Ben kämpfte mit sich. Wie sollte er es ihm sagen? Sollte er es ihm sagen? Ja, verdammt, es musste endlich raus, diese Sache konnte nicht ewig zwischen ihnen stehen, zwischen ihrer Freundschaft, die es mal gab, und die nun zum zweiten Mal auf eine harte Probe gestellt werden würde. Seine Finger krampfen sich um den Kranz des Lenkrades, fester als zuvor, als er nach den richtigen Worten suchte, die ihm zur Auswahl standen. "Du... ich wollte mich... also...", begann er unsicher und spürte Kevins Blick auf ihm selbst ruhen. "Ja?", fragte der, als würde er wissen, zu welchem Geständniss Ben gerade ansetzen wollte.
    "Also... ich wollte dir sagen, dass es mir leid tut... mit Jenny... also was zwischen Jenny und mir passiert ist... während du im... Knast warst." Ein Stein des ganzen Gerölls fiel Ben von der Seele, der Rest würde erst folgen, je nachdem wie Kevins Reaktion ausfallen mochte. Der blieb für einen Moment ruhig, und Ben setzte noch hinzu: "Ich weiß, dass ihr euch damals schon etwas... etwas näher gekommen wart. Es war blöd von mir... von uns beiden." Einen Moment verharrte eher: "Nein, eher von mir. Jenny war so verzweifelt... ich hätte das richtig einschätzen müssen." Mann, warum sagte er nichts. Warum ließ er mich hier vor mich hin stottern, dachte der Polizist, bis Kevin endlich den Mund öffnete: "Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, das habe ich auch schon zu Jenny gesagt. Wir beide waren nicht zusammen, sie und du könnt tun und lassen, was ihr wollt." Im Prinzip war der Inhalt der Nachricht das, was Ben hören wollte... nur die Art, wie Kevin es sagte, verschaffte ihm eine Gänsehaut. Es klang so kühl, so abweisend... etwas arrogant.


    "Trotzdem... ich will nicht, dass so etwas zwischen uns steht, und deshalb habe ich es dir gesagt.", rechtfertigte Ben sein Geständnis... und sein schlechtes Gewissen. Kevin nickte nur und sah weiter geradeaus durch die Frontscheibe. Es hatte ihn natürlich gekränkt... aber wie er schon zu Jenny sagte, die junge Frau hatte keine Verpflichtung ihm gegenüber, insofern konnte er niemandem böse sein, auch wenn Ben es mit dem Wissen getan hatte, dass Jenny und Kevin sich näher gekommen waren.
    "Hättest du es mir auch erzählt, wenn Jenny mir nichts gesagt hätte?", fragte Kevin nach einigen Minuten Stille, und trieb einen Pfeil mitten in Bens Brust. Mit dieser Frage zweifelte der junge Polizist an Bens Ehrlichkeit, an Bens Courage es dem Freund zu erzählen... bevor Jenny diese unangenehme Angelegenheit getan hatte. Kevin wusste nicht, dass Ben und Jenny über ihr Geständnis gesprochen hatten, es war nur geraten... vor allem, weil Ben davon ausging, dass Kevin Bescheid wusste, was er an Bens erstem Satz sofort erkennen konnte. Ben selbst wollte souverän bleiben, er wollte sich jetzt keine Schwäche erlauben, durch die er sich angreifbar gemacht hätte: "Ja, hätte ich. Aber nur in Absprache mit Jenny. Sie wollte es dir aber zuerst sagen.", antwortete er, obwohl er sich innerlich nicht sicher war, ob er den Mut aufgebracht hätte, Kevin die Sache zu beichten... ohne vorher zu wissen, welche Reaktion es in dem jungen Mann hervorgerufen hätte.


    Ihre Blicke trafen sich kurz, Kevins kühle blauen Augen, und Bens hoffungssuchendes Augenpaar. "Ist schon okay. Für mich ist die Sache vergessen.", sagte Kevin. Ben nickte, und hätte sich so gern eine kleine Geste, wie ein aufmunterndes Schenkelklopfen von seinem Partner gewünscht... doch es blieb aus. Er spürte, dass das Vertrauensverhältnis angekratzt war... durch die Sache im Krankenhaus, die Kevin fast den Job gekostet hätte, aber jetzt auch durch die Sache mit Jenny. Sie müssten sich erst wieder einander finden, einander zusammenraufen und lernen sich wieder zu vertrauen. Wobei Kevin Bens Vertrauen bisher nie gebrochen hatte... nur umgekehrt.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienstwagen - 11:15 Uhr


    Ben hatte gerade vor Kevins Wohnung den Wagen angehalten, als es im Funkgerät knarzte. "Zentrale für Cobra 11, Jäger hören sie mich?", erklang die, etwas gestresst wirkende Stimme der Chefin durch den Lautsprecher. Kevin hatte bereits die Tür offen und einen Fuß nach draussen gesetzt, als er verharrte... aus Gewohnheit, nicht aus Neugier. Sein Freund nahm das Funkgerät in die Hand und drückte den Sendenknopf: "Ja, ich höre?" "Ist Herr Peters noch bei ihnen?", fragte sie unsichtbare Stimme aus dem Funkgerät und die beiden Männer blickten sich kurz mit verwirrten Blicken an. "Zur Hälfte... er ist gerade beim Aussteigen.", gab der Polizist mit dem Wuschelkopf durch, während Kevin das Bein wieder zurück in den Dienstwagen zog. Die Muskeln der beiden Männer spannten sich an. Sollte sich was in dem Fall um die Komakinder ergeben haben? Aber warum würden sie, und nicht das LKA damit betraut werden?
    "Ich habe gerade einen unschönen Anruf bekommen, als Dienststellenleiterin seiner vorherigen Dienststelle. Sie wurden soeben aus der SEK-Ausbildung herausgeworfen.", sagte die Chefin und Ben sah seinen Partner von der Seite an, der weder geschockt noch betroffen wirkte, sondern einfach starr durch die Frontscheibe blickte. "Unter anderem, laut ihrem Ausbilder, wegen einer Prügelei mit einem anderen Auszubildenden, und dem gestrigen, wie heutigen unentschuldigten Fernbleiben." Wie in Zeitlupe reichte Ben das Funkgerät mit etwas verkniffener Miene an seinen Partner. Prügelei mit einem anderen Auszubildenden, das passte ja mal wieder zu Kevin, der nach aussen immer so ruhig, nach innen aber höchst emotional reagieren konnte. "Tja, wenn das der Ausbilder sagt, wird es wohl stimmen...", gab der junge Polizist zu, ohne jetzt wirklich zu wissen, was das für Konsequenzen für ihn hatte. Disziplinarverfahren? Wieder eine Suspendierung? Jedenfalls war er in seinem Job mal wieder heimatlos.


    "Sie können sich bei mir bedanken, Peters.", sagte die Chefin mit leichter Schärfe in ihrer Stimme. "Sie hätten diesmal noch mehr Tritte in den Hintern bekommen, wenn sie innerhalb von 9 Monaten zum vierten Mal ohne feste Anstellung im Polizeidienst gewesen wären. Ich habe mit dem Personalchef und dem Polizeipräsidenten, bei dem sie übrigens schon bekannt sind wie ein bunter Hund... Glückwunsch dazu...", bei diesem Nebensatz konnte Ben sich ein kurzes Lachgrunzen nicht verkneifen. "... gesprochen. Sie ersetzen ab sofort die Stelle von Semir, solange dieser dem Dienst freigestellt ist wegen seiner Tochter. Haben wir uns verstanden?" Kevin war so perplex, dass er nicht sofort Antwort geben konnte, weil er genau darüber vor einigen Minuten noch nachgedacht hatte, denn eine Fortsetzung der SEK-Ausbildung kam für ihn sowieso nicht in Frage. War er jetzt endlich dort, wo er hingehörte? Sollte er jetzt endlich an diesem Platz festhalten, auch wenn Semir zurückkam? Er hatte hier doch alles...
    Ben wollte dem eigensinnigen Polizisten gar nicht die Chance geben, diese Möglichkeit abzulehnen und nahm ihm das Funkgerät aus der Hand, als dieser keine Antwort gab. "Alles klar, Chefin. Haben wir verstanden." Dabei blickte er lächelnd zu seinem Nebenmann. "Sehr gut, meine Herren. Dann tun sie jetzt das, wofür sie vom Staat bezahlt werden, und vom lieben Gott ein Auto geschenkt bekommen haben... fahren sie auf Streife." Diesmal musste sogar Kevin ein wenig lächeln, er fühlte sich auf einmal wohl, zu Hause... irgendwie frei. Er könnte es vermutlich selbst nicht beschreiben, wie ihm zu Mute war, als er die Tür schloß, und den Gurt wieder anlegte. Obwohl er sich eben noch unwohl fühlte bei Ben, nachdem dieser von der gemeinsamen Nacht mit Jenny sprach, so wohl fühlte er sich jetzt, als er den Wagen wieder startete, und den Mercedes auf die Autobahn lenkte. "Und Herr Peters...", ertönte noch einmal die Stimme der Chefin aus dem Funkgerät. "Ich wäre ihnen sehr verbunden, wenn sie diesmal das Nasenbein ihres Kollegen in einem Stück lassen." Der junge Polizist nahm noch einmal das Funkgerät aus Bens Hand und sagte: "Ich werds versuchen." "Das hoffe ich doch sehr." , während beide Männer nochmal grinsen mussten.


    Dienststelle - 11:20 Uhr


    Hotte hatte am Funkgerät gesessen, als Anna Engelhardt die Nachricht an die beiden Autobahnpolizisten durchgegeben hatte. Sein Grinsen wurde immer breiter, und er freute sich, dass Kevin wieder ein festes Mitglied der Autobahnpolizei sein würde, und andererseits, dass er wieder einen festen Halt hatte... und nicht diese ständige Wechselei von Dienststelle zu Dienststelle, immer wieder andere Menschen, die sich auf ihn einstellen mussten, und auf die er sich hatte einstellen müssen. Das tat dem Jungen nicht gut. Er nickte, nach der Konversation der Chefin zu und meinte: "Das war eine sehr gute Idee." Anna Engelhardt legte viel Wert auf die Meinung ihrer Männer, vor allem wenn es die Meinung von Hotte Herzberger war, der mit Abstand am längsten bei der Autobahnpolizei dabei war.
    Nachdem die Chefin wieder in ihrem Büro verschwunden war, stand Hotte auf und ging herüber zum Schreibtisch, wo Jenny saß und Protokolle am Computer tippte. "Hast du schon gehört?", fragte er leise, nachdem Jenny ihn bemerkt hatte und zu ihm aufblickte. Er war für sie eine der wichtigsten Bezugspersonen, ein väterlicher Freund, dessen Rat sie sehr gerne annahm, nicht nur für den Polizeidienst sondern auch fürs Leben. "Was denn?" "Kevin springt hier für Semir ein, zumindest so lange er sich noch um seine Tochter kümmert. Und ich glaube...", er sah sich kurz um, bevor er sich wieder an Jenny wandte: "Ich glaube, die Chefin will ihm hier einen festen Platz geben. Ich hab das Gefühl, dass Kevin ihr auch langsam ans Herz gewachsen ist, und sie es nicht mehr mit ansehen kann, wie er von Dienststelle zu Dienststelle geschoben wird." Jennys Gesicht erhellte sich, Hotte schaffte es, ihr mit dieser Nachricht ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. "Das wäre ja wirklich toll.", sagte sie überschwänglich, und bemerkte Hottes etwas fragenden Ausdruck in seinem Gesicht. "Also ich meinte... toll für Kevin. Wenn er endlich eine Dienststelle findet, wo er sich wohl fühlt."


    Natürlich dachte Jenny erstmal an den Kevin, den sie gestern abend erlebt hatte. Und für den wäre es sicherlich toll, wenn er in seinem Berufsleben endlich einen festen Halt hätte, Kollegen auf die er sich verlassen könnte, und vor allem Freunde, mit denen er arbeiten konnte. Die Arbeit würde ihm sicherlich helfen, wieder von dem Teufelszeug wegzukommen, und das neuerliche Trauma zu verarbeiten. "Er wäre aus der SEK-Ausbildung geflogen.", sagte Hotte noch in Jennys Richtung. "Hast du etwas davon gehört?"
    Jenny blickte erstaunt auf und schüttelte den Kopf. "Nein... davon hat er mir nichts erzählt." Hotte lächelte und ersparte ihr die Einzelheiten. Er hatte schon mitbekommen, dass Jenny ein besonderes Verhältnis zu Kevin hatte, und so wollte er ihr das von der Prügelei nicht erzählen. Vermutlich hörte sie es von Kevin selbst, wenn sie ihn drauf ansprechen würde...

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  • Krankenhaus - 12:30 Uhr


    Andrea und Semir hatten sich am Mittag, nachdem Ben und Kevin das Krankenhaus verlassen hatten und Anna Engelhardt ihrem besten Mitarbeiter zugesichert hat, dass er so lange vom Dienst beurlaubt sei, wie seine Tochter im Koma läge, lange unterhalten. Machte es Sinn, machte es keinen Sinn? Wäre es gut für die kleine Schwester von Ayda? Lilly vermisste seine Schwester, und die Ausreden ihrer Großeltern, der Eltern von Andrea, waren mittlerweile unwirksam geworden. Obwohl Lilly erst 5 war, so erahnte sie doch, dass Ayda nicht einfach ohne sie in Urlaub gefahren war, oder auf einem längeren Schulausflug war, ohne es ihr erzählt zu haben und vorher davon geschwärmt zu haben. Sie löcherte Andreas Mutter immer wieder, bis diese Andrea anrief und es erzählte.
    Nun wollten natürlich auch Aydas Großeltern ihre Enkeltochter besuchen kommen, und die beiden Eltern entschieden sich schließlich dafür, Lilly mitzunehmen. Sie würden vorher mit ihr sprechen, und notfalls mit ihr nach draussen gehen, wenn es zu schlimm für sie sei. Semir wollte seiner jüngsten Tochter nicht vorenthalten wie es der geliebten Schwester ging, die für die kleine Lilly ein großer Halt war, die immer auf sie aufpasste und ihr bei allem möglichen half. Ayda war, trotz Lillys vieler Spielkameraden im Kindergarten, ihre beste Freundin, und alleine zu Hause zu spielen und zu toben machte nur halb so viel Spaß.


    Andrea's Eltern hatten Lilly vom Kindergarten abgeholt und bereits gesagt, dass sie jetzt zu Ayda fahren würden. Das kleine Mädchen strahlte übers ganze Gesicht, als sie im Auto hinten saß und aus dem Fenster sah. Andrea war froh, in dieser Situation ihre Eltern zu haben, die sich um Lilly zu Hause kümmerten. Andrea's Mutter war eine sehr warmherzige, offene Frau, die mit den beiden Mädchen in ihrer Mutterrolle nochmal gänzlich aufging, und die auch bei der damaligen Hochzeit Semir sofort in ihr Herz geschlossen hatte. Ihr Mann, Andrea's Vater war da schwieriger. Er betrachtete Semir zu Beginn sehr skeptisch, war generell ein etwas kühler, raubeiniger Mann der den Polizisten gerne ausfragte, über dessen polizeiliche Karriere und immer mal bemängelte, warum ein Mann in Semir's Alter immer noch auf der Autobahn Streife fuhr, und noch nicht Leiter irgendeiner "seriösen" Dienststelle war.
    Doch mit dem Alter wurde auch er ruhiger, akzeptierte Semir mittlerweile als Schwiegersohn voll und ganz, und war beinahe durch die beiden Mädchen besänftigt, auch wenn ihm das Wort "Opa" überhaupt nicht gefiel, denn trotz seiner schon beinahe 70 Jahre fühlte er sich jung, trieb hin und wieder Sport und hatte immer noch sein Aquarium als größtes Hobby. Er lenkte den großen Familienwagen nun auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus, nahm sich ein Parkticket während Lilly sich an den Arm ihrer Großmutter hing. Sie wiederum hatte ein etwas mulmiges Gefühl, nun zu ihrer Enkeltochter zu gehen, die im Koma lag. Die Beschäftigung mit Lilly die ganze Zeit hatte sie sehr gut abgelenkt von den Sorgen um Ayda, den Sorgen um ihre Tochter Andrea. Nun holten sie diese Gefühle wieder ein, als sie den Krankenhausflur betraten, und die Stimmung schien sich auch auf Lilly zu übertragen, die etwas stiller wurde als noch vorher im Kindergarten und auf dem Parkplatz.


    Semir und Andrea warteten vor dem Krankenzimmer auf die Eltern und ihre Tochter. Als Lilly sie erblickte, strahlte sie und riss sich vom Arm der Oma los, stürmte lachend auf Andrea und Semir zu, und die beiden wurden von ihrer Tochter geherzt, schließlich hatten sie die Kleine gestern überhaupt nicht gesehen. "Wo ist denn Ayda?", plapperte das kleine Mädchen erwartungsvoll. "Lilly, erst müssen wir dir etwas erklären.", sagte Semir mit ruhiger Stimme und ging vor seiner Tochter etwas in die Hocke. "Ayda ist etwas krank und sehr sehr müde. Wenn wir jetzt reingehen, wird Ayda tief schlafen und du darfst sie auf keinen Fall wecken, okay?" Das Mädchen schaute etwas enttäuscht, hatte sie doch gehofft, dass Ayda mit nach Hause käme und die beiden wieder zusammen spielen könnten. "Ooooch. Warum ist Ayda denn krank?", fragte sie mit ihrer kindlichen Stimme. Etwas hilfesuchend blickte Semir umher, und Andrea's Mutter kam ihm zur Hilfe. "Ayda hat eine Schlafkrankheit, mein Schatz. Das heißt, sie muss sich nur ein paar Tage kräftig ausschlafen, und dann ist sie wieder gesund." "Achsooo." Lilly umklammerte ihre Lieblingspuppe, die sie überall mit hinschleppte und niemals irgendwo alleine lassen würde, und zusammen ging die kleine Familie in das Krankenzimmer.
    Mit der anderen Hand umfasste Lilly die Hand ihrer Mutter, als sie auf das Bett zuging, wo Ayda bis zum Kinn zugedeckt auf dem Rücken lag, friedlich schlafend. Das Piepsgeräusch der Überwachungsgeräte ließ Semir von der Krankenschwester auf die niedrigste Lautstärke stellen, solange Lilly da war. Die Großeltern blickten etwas geschockt, vor allem die Großmutter hielt sich, leicht zitternd die Hand vor den Mund und hauchte ein "Das arme Mädchen...", in ihre Hand. Andrea's Vater war keinesfalls kaltherzig, aber ein Mann der emotionalen Kontrolle, er war ergriffen, doch zeigte er das nicht.


    Lilly sah etwas verwirrt auf Ayda, sie schien keinesfalls geängstigt oder erschrocken ob ihres Anblicks, was die Eltern des Kindes zunächst einmal beruhigte. "Geh mit der Oma zu Ayda.", sagte Andrea leise und das Mädchen ließ eine Hand los, um die nächste zu ergreifen. Andrea's Mutter setzte sich schräg aufs Bett, und ließ vor sich bis zu Ayda etwas Platz, wohin Lilly krabbelte und ebenfalls auf dem Bett saß. Das kleine Mädchen sah seine Schwester zunächst kurze Zeit stumm an, bevor sie ein wenig an ihr herumdrückte, als würde sie sie versuchen sanft zu wecken. "Ayda?", fragte sie leise und erhielt keinerlei Reaktion. "Du musst sie schlafen lassen, Liebling. Sie braucht das jetzt, viel Schlaf. So wie du, wenn du eine Grippe hast.", sagte Lillys Großmutter warmherzig, und versuchte, ihre Emotionen zu unterdrücken. Normalität, das war es was die Erwachsenen um Lilly ausdrücken wollten, um das junge Mädchen nicht zu verunsichern, als wenn jetzt die Frauen weinten und die Männer betreten da standen.
    Doch gerade dies fiel Andrea unendlich schwer, als sie beobachtete, wie die kleine 5jährige Lilly eigentlich überhaupt nicht verstand, warum Ayda jetzt soviel schlafen musste, und doch spürte, dass es ihrer Schwester nicht gut ging und ihre Hilfe brauchte. Sie begann zu zittern und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als die kleine Hand Lillys durch Aydas Haare fuhr und sie streichelten, wobei Lilly leise ein Schlafgedicht vorsagte, dass sie im Kindergarten gelernt hatte, und ihr Ayda auch manchmal vor dem zu-Bett-gehen aufsagte. Die Mutter drehte sich zum Fenster weg, damit ihre kleine Tochter nicht sah, dass sie weinte und ihr dicke Tränen von den Augen sofort auf den Pullover fielen. Tränen vor Schmerz und Sorge, aber auch vor Rührung über den schwesterlichen Instinkt des kleinen Mädchens. Auch Semir schluckte, er spürte Feuchtigkeit in den Augen, die zu Tränen allerdings nicht ausreichten. Er hatte sich im Griff...


    "Wann kommt Ayda wieder nach Hause?", fragte Lilly und blickte herum zu ihrer Oma, die wieder lächelte und dem kleinen Mädchen über den Kopf strich. "In ein paar Tagen, vielleicht. Wir müssen sie ausschlafen lassen... du magst es doch auch nicht, wenn ich dich morgens wecke, oder?" Dabei kitzelte sie Lilly am Ohr und das kleine Mädchen lachte auf. Sie nahm die Ernsthaftigkeit nicht auf, sie glaubte den Erwachsenen, dass Ayda einfach nur ein bisschen schlafen musste, und alles sei wieder in Ordnung. Der Großvater stand mittlerweile auch am Bett und strich einmal kurz über das Bein unter der Decke seiner Enkeltochter und drückte kurz ihre Hand. "Na komm Lilly... wir fahren nach Hause. Wir müssen Ayda noch schlafen lassen.", sagte auch er und Lilly nickte.
    Das kleine Mädchen blickte wieder zu ihrer Oma, und fragte: "Darf ich ihr einen Kuss geben, oder wird sie davon wach?" Andrea spürte dabei wieder, wie ein Zittern durch ihren Körper fuhr und die Großmutter nickte. "Natürlich darfst du, aber ganz sachte. Dann wird sie... wird sie sicher nicht wach." Die Schwester von Ayda beugte sich nach vorne und gab ihr einen Kuss auf die Wange und auf die Stirn. Dann legte sie ihre geliebte Puppe neben das Mädchen und sagte: "Mia wird auf dich aufpassen, dass du gut schläfst." Es war das erste Mal, dass sie ihre Puppe bei jemandem ließ, aber es fiel ihr nicht schwer, denn sie hatte das Gefühl, ihrer Schwester damit zu helfen. Dann rutschte sie vom Bett, ihre Oma nahm sie wieder bei der Hand. Zum Abschied drückte sie ihre Eltern noch, nachdem Andrea schnell ihre Tränen weggewischt hatte, und die weiteren zurückhielt. Erst als die Eltern und ihre kleine Tochter zusammen das Krankenzimmer verlassen hatte, brachen alle Dämme und sie ließ ihren Gefühlen in Semirs Armen freien Lauf. Aus Sorge um ihre älteste Tochter, und aus Stolz über ihre jüngste Tochter.

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  • Jenny's Wohnung - 23:30 Uhr


    Was bedeutete "Glücklich sein" wirklich? Kevin wusste es nicht. Er hatte es mal gewusst, und es gab durchaus Phasen in seinem Leben, die vielleicht nicht gut für ihn waren, aber er dieses Gefühl hatte. Zu Hause zu sein, Vertrautheit und Liebe spüren. War das "Glücklich sein?" War dies wirklich Vertrautheit... Liebe... das war so ein großes Wort, das alle Grenzen sprengte. Nein, glücklich war er jetzt nicht. Zu tief hing noch der Schatten seines Absturzes über ihm, zu präsent das Erlebnis in dem brennenden Haus. Sicherlich würde er heute Nacht wieder von den Schreien des Mädchens träumen, eine schwarze Gestalt ihm begegnen und er schweißgebadet aufwachen. Immer wieder dachte er daran, wenn er Zeit hatte, immer wieder wollte er daraufhin nur die Augen schließen und vergessen. Er hatte einen guten Tag mit Ben zusammen, doch je näher der Feierabend rückte, desto größer wurde das Verlangen nach Vergessen, das Verlangen in die Wohnung zu kommen, und einfach nur die Augen zu schließen. Doch Jenny hatte etwas dagegen, denn sie ahnte was passieren würde. Nein, er sollte nicht alleine sein. Er sollte nicht zu Hause sitzen und sich zuviele Gedanken machen, wieder in ein Loch fallen. Sie wollte irgendwie die Kontrolle über ihn behalten, und den schreckhaften Straßenkater wieder zu einem offenen starken Kater machen, den er nach aussen vorgab zu sein, aber im Innersten einfach nicht war.


    Also schnappte sie sich den jungen Polizisten nach Feierabend, sie verhaftete ihn quasi dazu, mit ihr einkaufen zu gehen. Jenny brauchte keine tiefgreifenden Gespräche, sie brauchte nichts besonderes zu sagen, es war einfach ihre offene und fröhliche Art, die Kevin schnell von seiner Finsternis ablenkte. Sie redete, sie lachte und hin und wieder herzte sie ihn einfach, sie kauften frische Steaks, Kartoffeln und Gemüse um sich zusammen ein Abendessen zu zubereiten. Der junge Polizist gab an, zwar nicht besonders gut kochen zu können... aber wenn er am Herd etwas konnte, dann seien es gute Steaks, genauso auf den Punkt, wie Jenny sie gern möchte. "Ich bin gespannt.", sagte die junge Polizistin lächelnd. Sie hatte sich entschlossen, Kevin mit seinem gestrigen Drogenabsturz nicht mehr zu konfrontieren, und auch gar nicht darüber nachzudenken, ob sie es Semir oder Ben sagen sollte. Sie beschloss, einfach auf den jungen Mann aufzupassen, denn es würde ihm nicht helfen, wenn sie die Hilfe anderswo besorgte. Und so hielt Jenny Zweisamkeit und Zuneigung für die beste Therapie und ergriff, während sie durch den Supermarkt gingen, Kevins Hand, was sofort ein seltenes Glücksgefühl in dem Mann auslöste.
    Natürlich hatte er bereits Beziehungen hinter sich, in seiner Jugendzeit, vor ein paar Jahren während der Polizeiausbildung. Aber meistens zerbrachen diese Beziehungen daran, dass Kevin Angst davor hatte, es selbst kaputt zu machen, weil er voller Selbstzweifel war. Und vor lauter Angst, sich etwas kaputt zu machen, was er liebte, tat er es automatisch. Die Frauen kamen mit seinen melanchonischen Stimmungswechseln nicht klar, und eine Frau, die am verständnisvollsten war, hatte ihn hintergangen. Es war die letzte Beziehung, die der junge Polizist eingegangen war, und die mehr von körperlicher Liebe, als von gegenseitigem Vertrauen geprägt war. Jetzt fühlte es sich fast neu an, was wie die erste Beziehung eines jungen Kerls, als Jenny Kevins Hand ergriff und sich die Finger ineinander legten.


    Sie kochten, sie aßen zusammen (Kevin hatte übrigens nicht zuviel versprochen, und Jenny schwärmte danach, dass kein Steakhouse bisher den Punkt getroffen hatte, den sie bei einem Steak mochte) und redeten. Sie saßen nachher auf dem Sofa und redeten über ihre Ausbildung, was Jenny veranlasste, zur Polizei zu gehen. Kevin erzählte, welch schweren Stand er bei der Ausbildung hatte, weil viele in ihm den Straßenjungen gesehen haben, der er war. Es war unangenehm, wenn er als Streifenpolizist in sozialen Brennpunkten eingreifen musste, und sich dort als Verräter beschimpfen ließ. Unangenehm für ihn vor allem auch, weil er damit Missgunst bei den Kollegen erntete, die keine Gelegenheit ausließen, Verfehlungen ihm in die Schuhe zu schieben... schließlich war er mal "einer von denen."
    Doch sie redeten auch über schöne Dinge, über Kevins Musik und darüber, dass auch Jenny gerade dabei war, Gitarre zu lernen. Sie verloren kein Wort mehr über Kevins Rausch, über Jennys Vergewaltigung oder über den Ausrutscher mit Ben. Jenny war darüber sehr dankbar und sie spürte, dass dieser Abend anders enden könnte in ihrer Beziehung, als die Abende davor. Gestern war sie noch bei ihm eingeschlafen, hatte über ihn gewacht als er nicht mehr in der Lage war, die Nacht alleine zu überleben. Heute ließ sie sich fallen, heute würden sie beide übereinander wachen, das wusste sie als er lächelnd und leise zustimmte, als Jenny fragte, ob er bei ihr die Nacht verbringen möchte. Eine Stunde später umhüllte ihn die Dunkelheit von Jennys Schlafzimmer, als er sich darum Gedanken machte, was "Glücklich sein" bedeutete. Geborgenheit verspürte er, Liebe verspürte er. Doch diese untrügliche Angst darüber, alles zu verlieren konnte er im Kopf nicht ausschalten. Vielleicht... ja vielleicht würde er Jenny davon auch einmal erzählen, dachte er als er ihren nackten schlanken Rücken an seinem freien Oberkörper unter der Decke spürte, seine Arme um den Bauch der schlafenden jungen Frau schlang und ihr einen zärtlichen Kuss auf den Hals gab.



    Krankenhaus - 09:00 Uhr


    Er hatte die Zeitschrift schon zum dritten Mal gelesen... im hohen Bogen flog sie in die andere Ecke des Zimmers. Semir war verzweifelt, und die Verzweiflung wurde noch größer, als er daran dachte, dass gerade erst drei Tage vergangen waren, seit Ayda im Koma lag. Fälle, in denen monatelanges Koma bis zum Aufwachen berichtet wurde ließen in seinem Kopf wahre Horrorszenarien entstehen. Andrea, die etwas weg von ihm am Bett saß, blickte zu ihrem Mann auf. "Was ist?" "Ach... dieses Rumsitzen treibt mich in den Wahnsinn.", sagte er, stand auf und sah aus dem Fenster. Der gleiche Blick über einen Park und einen Teil der Stadt wie gestern, nur noch grauer und durch Sprühregen verschwommen. Andrea fühlte mit ihrem Mann, jemand der immer aktiv war, durch seinen Job immer auf Achse und der jetzt so hilflos nichtstuend seine Tochter beobachtete. "Warum gehst du nicht wieder arbeiten. Du kannst hier doch eh nichts tun... Ich bin doch da.", sagte sie, und ging zu ihrem Mann um ihm die Hand von hinten auf die Schulter zu legen. Doch das kam für den stolzen Polizisten, für den die Familie 100 Stufen über der Polizeiarbeit stand, nicht in Frage. "Nein. Ich will hier sein, wenn etwas ist. Ich will euch nicht alleine lassen."
    Die beiden Eltern konnten die Diskussion nicht fortsetzen, denn es klopfte an der Tür, und der Arzt trat in das Zimmer. Seine Miene war finster, jedenfalls kam es Semir so vor, er trug eine Akte in der Hand und rümpfte kurz die Nase. "Herr und Frau Gerkhan? Ich müsste kurz mit ihnen reden.", sagte er, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Dabei setzte er sich an den kleinen Tisch, der ihm Krankenzimmer stand und legte dort die Akte vor sich, Semir und Andrea nahmen ebenfalls Platz, beiden schlug das Herz bis zum Hals. Welche Nachrichten hatte der Arzt? Gute und seine Miene täuschte... oder bestätigte sie sich?


    Er schlug die Akte auf, ein Blatt mit Linien, Zeichen und Ziffern, die den beiden Eltern nichts sagten, tat sich vor ihnen offen. "Wir haben bei ihrer Tochter leider festgestellt...", begann er zögerlich, als müsse er überlegen, wie er eine unbequeme Wahrheit möglichst sorgsam verpackt... "... wir haben festgestellt, dass die Hirnströme sich verschlechtert haben. Vermutlich... vermutlich durch das Koma-Mittel in seiner Abhängigkeit zur verabreichten Menge." "Was heißt verschlechert?", fragte Semir mit nervöser Stimme, während Andrea's Hände leicht zu zittern begannen. "Das bedeutet, dass die Aktivität, die für die Vitalfunktionen ausschlaggebend sind, verringert wird. Wenn dies einen Punkt X unterschreitet... dann müssen wir ihre Tochter künstlich beatmen."
    Andrea stand auf und ging schniefend zum Fenster... die gleiche Reaktion, wie gestern als Lilly bei Ayda war, nur diesmal waren die Tränen nicht aus Stolz, sondern nur aus Kummer und Furcht. Semir blieb krampfhaft ruhig, auch wenn er den Arzt gerne anschreien würde, er solle irgendetwas tun. "Aber, das wird sich doch wieder bessern, oder?", versuchte er sich an einen Strohhalm zu klammern, der erst mal gar nicht da war. Der Blick des Arztes, der sich kurz auf den Tisch richtete, war wenig erbauend. "Herr Gerkhan, wir haben mit diesem Mittel nur die Erfahrung der anderen Komakinder. Bei denen, die aufgewacht sind, haben sich die Hirnströme nach 48 Stunden nach Einlieferung verbessert, wobei wir den Zeitpunkt der Injektion nicht wussten. Bei denen, die noch im Koma liegen tat sich nichts, und bei einem Kind haben sich die Hirnströme nach 48 Stunden verschlechtert." Seine Stimme stockte kurz, und Semirs Blick war die Aufforderung weiter zu reden, denn der Polizist ahnte, dass da noch ein entscheidender Satz fehlte... doch als er ihn hörte, wünschte er sich, der Arzt hätte ihn niemals ausgesprochen. "Dieses Kind ist ungefähr 24 Stunden später verstorben." Die braunen Augen des Polizisten richteten sich nach unten auf den Tisch, und seine gespannte Körperhaltung brach langsam zusammen, und er sank vollständig gegen die Lehne, während Andrea leise weinend wieder zu Ayda ans Krankenbett ging.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Krankenhaus - 10:00 Uhr


    Alles fühlte sich taub und unwirklich an. Semir spürte weder den kühlen Wind an seinen Kleidern zerren, noch den Nieselregen, der seine kurz geschorenen Haare nässte, als er gedankenverloren durch den Garten des Krankenhauses ging. Nach der furchtbaren Diagnose des Arztes bzw der Schilderung der momentanen Tatsachen um Ayda, hatte der Polizist das Gefühl, er würde in ein tiefes Loch stürzen. Was hatte er nur verbrochen, dass ihn jemand so sehr strafen wollte, ihm das Liebste nehmen sollte was er neben seiner Frau und seiner zweiten Tochter besaß, und er, Semir, der seine Familie immer schon mit seinem Leben beschützte, könnte jetzt gar nichts tun... nur daneben sitzen und zu schauen, wie seine Tochter im Koma lag und daraus vielleicht nie wieder erwachen würde.
    Soviele gefährliche Situationen hatte der Polizist überstanden, so oft dem Tod ins Auge geblickt. Oft auch wo seine Familie mit beteiligt war, und immer hatte er es geschafft, ihr das Leben zu sichern... und jetzt sollte er überhaupt nichts tun können? Diese Hilflosigkeit, die in Semir aufstieg, zerfrass ihn, ließ ihn gegen die Holzbank treten, an der er gerade vorbeikam, bevor er sich verzweifelt darauf niederließ, die Hände an die hohe Stirn gelegt. Er war niemand, der aufgab, niemand der jammerte und sich selbst bemitleidete. Aber was sollte er jetzt tun? Was konnte er tun? Wo war der Strohhalm der Hoffnung, an den er sich jetzt klammern konnte und wo war die rettende Idee, die ihm oder Ben sonst immer einfiel, wenn sie das Gefühl hatten, dass alles verloren war?


    Es war kein Geistesblitz, der ihn aus der Schockstarre rieß, sondern sein Handy, das in seiner Jeanshose klingelte. Fast mechanisch hob Semir ab und nahm das Gespräch an, nannte seinen Namen und war auf einmal wieder hellwach. Die mechanisch, elektronisch klingende Stimme erkannte er sofort, obwohl sich wohl jeder Anrufer mit Stimmverzerrer so anhörte. "Ich habe gesehen, sie haben ihre Tochter gefunden. Zu spät vermute ich...", feixte sie, und klang doch, trotz Verzerrer, nervöser als vor einigen Tagen. Semir erhob sich empört von der Bank, seine Trauer im Gesicht wich dem Zorn. "Was wollen sie noch?", knurrte er, denn aus irgendeinem Grund musste der Kerl ja anrufen. Wollte er sich nur an Semirs Leid ergötzen? Das würde keinesfalls zu professionellen Kidnappern passen. Oder wollte er noch Geld erpressen, aber wofür? Ayda war nicht mehr in seiner Gewalt. "Woher...?", begann Semir die Frage, warum der Gangster wusste, dass Ayda noch lebte, nachdem er womöglich sein abgefackeltes Versteck gefunden hatte. "Ich habe euch beobachtet, Bulle. Und jetzt zum Geschäftlichen. Du wirst mir meinen Partner liefern, kapiert?"
    Darum ging es dem Kerl also, dachte Semir. Sein Partner schien dem Mann doch eine Menge wert zu sein, dass er das Risiko einging, nochmal mit der Polizei konfrontiert zu werden. "Meinen sie Zange?" Semir sah sich um, damit niemand mit hörte, doch außer ihm war bei diesem widrigen Wetter niemand im Krankenhausgarten unterwegs. "Frag nicht so dämlich, natürlich meine ich Zange.", bellte es elektronisch durch den Hörer, und der Geduldigste schien der Kerl nicht so sein. Jedenfalls war er ruhiger und lockerer beim ersten Telefonat gewesen, das spürte der erfahrene Kommissar genau, als er sich an das Telefonat zurück erinnerte.


    "Warum sollte ich das tun? Ayda ist nicht mehr in ihrer Gewalt. Am besten geben sie auf und...", begann Semir und erntete nur ein heiseres Lachen aus seinem Mobiltelefon. "Guter Versuch, Bulle. Und warum du das tun solltest? Ganz einfach...", sagte die Stimme und dem Polizisten wurde mulmig. Irgendein Druckmittel musste der Kerl noch in der Hinterhand haben, sonst würde er nicht mit solch einer Sicherheit anrufen, und versuchen Semir zu erpressen. "Ich könnte mir vorstellen, dass du an einem Gegenmittel, was deine kleine Tochter wieder ins Leben zurückholt, bevor sie stirbt, sehr interessiert bist." Semirs Herz schlug schneller. Da war er, der rettende Strohhalm, den er ergreifen wollte, an den er sich klammern wollte, die rettende Idee. "Wieso sollte ich ihnen trauen?", fragte der Polizist und spürte, wie seine Hand leicht zitterte und sein Atem schneller wurde, obwohl er stocksteif an einem Platz stand. "Weil ich deine einzige Chance bin, Bulle. Ich weiß was R...", die Stimme stockte kurz. "Ich weiß, was wir ihr gespritzt haben. Es war die hohe Dosis, und sie wird sterben... und du kannst nichts dagegen tun, ausser meine Forderung erfüllen. Wenn du es nicht tust, hast du sie auf dem Gewissen."
    Semirs Augen glitten durch den Garten, als suche er eine schnelle Lösung an diesen Zange heran zu kommen, während er noch immer den Entführer am Ohr hatte. "Na gut...", willigte er ein. "Ich bring ihnen ihren Kollegen. Dafür überlassen sie mir das Gegenmittel." "Das ist der Deal. Und natürlich, dass sie uns unsere Wege gehen lassen.", verlangte der Kerl. "Ich werde ihnen kein Zeitlimit setzen, aber die Tatsache dass ihre Tochter vermutlich nur noch einen Tag zu leben hat, dürfte wohl genügen, dass sie sich beeilen.", klang die sarkastische Stimme aus dem Hörer, und Semir ballte die freie Hand zur Faust, als er knurrte: "Wie kann ich sie erreichen?" "Ich rufe jede Stunde an, bis du Zange bei dir hast. Dann gehts weiter." Ohne weitere Worte beendete der Geiselnehmer das Gespräch.


    Semir ließ die Hand mit dem Handy sinken, sein Gehirn war sofort auf Betriebstemperatur. Er wählte die Nummer des Gefängnisses und bekam den Schichtleiter dran, den er kannte. "Peter, hier ist Semir. Ich muss dich um einen Gefallen bitten." Peter, den Semir schon 20 Jahre kannte, begrüßte seinen alten Freund herzlich. "Was kann ich für dich tun, mein Guter.", sagte er offenbar bestens gelaunt, trotz des trüben und schlechten Wetters. "Der Gefangene Dieter Zackowicz sitzt doch bei euch. Ich müsste wissen, ob der heute den ganzen Tag sitzt oder einen Termin zu einem Verhör hat.", sagte der Autobahnpolizist, während er sich langsam in Bewegung setzte, in Richtung Eingang des Krankenhauses. "Warte einen Moment.", sagte Peter Scheuer, und tippte am Computer den Namen in eine Suchmaske. "Der hat heute um 11:30 Uhr eine Vernehmung im LKA Düsseldorf. Wird so gegen halb 11 abgeholt. Warum willst du das wissen?" "Das erkläre ich dir ein ander Mal. Danke, Peter!", sagte der Polizist schnell und hatte schon aufgelegt. Er würde es seinem Freund irgendwann mal erzählen, je nachdem wie die Sache ausgehen würde.
    Mit schnellen Schritten nahm Semir die Treppenstufen nach oben auf die Kinderstation und kam leicht ausser Atem bei Andrea ins Zimmer. Diese blickte von Aydas Bett auf, als sie ihren Mann vernahm. "Der Geiselnehmer hat angerufen. Angeblich hat er ein Gegenmittel... und dafür will er seinen Freund, den wir festgenommen haben.", sagte er ohne Umschweife und Andrea stand wie vom Donner gerührt am Bett. "Ein Gegenmittel... ", fragte sie ein wenig fassungslos. "Aber... wenn das nicht stimmt... was?" "Wir müssen es versuchen. Wenn wir nichts tun, wird Ayda ganz sicher sterben." Die beiden blickten sich kurz in die Augen, und Semir ergriff Andrea's Hände. "Ich werde Ayda retten, mein Schatz." Sie küssten sich kurz, und Andrea wollte gar nicht erst fragen, wie ihr Mann das anstellen wollte, aber sie vertraute ihm so sehr, wie sie keinem Menschen vertraute.


    Den nächsten Anruf, den Semir auf dem Weg nach unten zu seinem Wagen tätigte, ging an seinen besten Freund. "Ben? Was macht ihr grade?", fragte er, als er die Autotür zuschlug. "Wir sind auf Streife, was sollen wir sonst machen? Wie gehts Ayda?", fragte die Stimme von Ben, während dieser ausnahmsweise Beifahrer neben Kevin war. Dabei stellte er die Freisprecheinrichtung auf laut, so dass Kevin mithören konnte. "Schlecht. Ihre Werte haben sich so verschlechtert, wie bei dem Mädchen, das gestorben ist. Die Ärzte geben ihr noch 24 Stunden." Die beiden Polizisten schauten sich betroffen an, doch die gehetzte Stimme von Semir passte überhaupt nicht zu der katastrophalen Nachricht, die er seinen Freunden gerade überbrachte. "Oh... das... das tut...", begann Semirs Partner zu stammeln, wurde aber sofort unterbrochen. "Hört zu! Der Geiselnehmer hat mich angerufen, er will die Herausgabe seines Freundes Zange erpressen. Angeblich hat er ein Gegenmittel, mit dem wir Ayda und die anderen Kinder aus dem Koma holen können." "Und wie sollen wir an Zange rankommen? Der sitzt im Knast, wir können ihn schlecht da zum Ausbruch verhelfen.", sagte Kevin und beide Polizisten wussten nun, warum Semir nicht zu Tode betrübt war. Endlich war eine Lösung, eine Hilfe für Ayda im Blick. "Das ist vielleicht gar nicht nötig, aber ich brauche eure Hilfe... ich würde euch nicht fragen, wenn ich es allein schaffen würde.", sagte Semir, obwohl er wusste, dass weder Ben noch Kevin ihm nicht helfen würden. "Sag an... natürlich helfen wir dir.", sagte Ben und Kevin fuhr rechts ran, falls er schnell irgendwo drehen sollte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Innenstadt - 10:45 Uhr


    Der schwarze Audi, mit dem die beiden LKA-Mitarbeiter, scheinbar Laufburschen der beiden hochnäsigen Ermittler, Zange abholen sollten, war so unauffällig, wie auffällig. Mittlerweile hatte Ben das Gefühl, jeder Verbrecher und jeder Elite-Polizist fuhren diese Karren. Er und Kevin standen mit einigem Abstand vor der JVA, hatten gesehen wie Zange in den hinteren Fahrzeugraum geführt wurde und hatten nun die Verfolgung aufgenommen. Der Plan war simpel... die beiden Autobahnpolizisten sollten einen Unfall provozieren, der die LKA-Beamte dann ablenken sollte. Semir hielt sich zwei Fahrzeuge weiter dahinter in seinem silbernen BMW auf.
    "Wo machen wir es?", fragte Kevin, während er immer mal in den Rückspiegel sah um zu schauen, ob Semir den Anschluß hielt, doch um den erfahrenen Autobahnpolizisten brauchte er sich keinerlei Sorgen zu machen. Der überholte, wenn es nötig wurde mal einen Vordermann, und holte schnell wieder auf, wenn er eine Ampelperiode länger warten musste, als seine Kollegen. "Am besten, du lässt ihn auffahren.", meinte Kevins Partner auf dem Beifahrersitz, und hielt sich mit der rechten Hand am Obergriff fest. Er erntete einen etwas unverständlichen Blick von links, und sah sich zu einer Erklärung genötigt. "Wir können dann beide nötigen, nach unserem Schaden hinten zu schauen, und beide drehen sich dann von ihrem Fahrzeug weg. Ausserdem müsste Semir dann an uns vorbeilaufen." Kevin hatte daran nicht gedacht, und es schien als würde Ben nicht zum ersten Mal einen Unfall fingieren. "Alles klar, Chef.", sagte er grinsend zu seinem Freund, der ebenfalls lächeln musste. "Das lernst du auch noch."


    Die Spannung im Auto stieg, als sie sich durch den dichtesten Verkehr kämpften. Beide Männer hielten den Verkehr im Blick und warteten auf eine günstige Gelegenheit. Sie hatten den Funk auf einen unbenutzten Kanal umgestellt, damit nur sie untereinander kommunizieren können. "Jungs, was ist denn? Vorauf wartet ihr noch?", erklang Semirs ungeduldige Stimme, der natürlich in seinem silbernen BMW wie auf glühenden Kohlen saß. Jede Minute, die verging, war Ayda dem Tod näher als dem Leben, und jede Minute die verging kam Semir vor, als würde er selbst in einen Abgrund gedrückt werden und es wären nur noch wenige Schritte, bis zum Absturz. "Ja Semir. Wir suchen einen geeigneten Punkt.", versuchte Ben seinen besten Freund zu beruhigen. "Das ist keine Wissenschaft für sich. Und der geeignete Punkt ist nicht auf dem Parkplatz des LKA! Nun macht!!", kam es ungeduldig aus dem Lautsprecher. Die beiden Männer blickten sich an und konnten die Eile ihres Partners nachvollziehen. "Okay, nächste Ampel.", gab er durch und nickte Kevin zu: "Kriegst du das hin?" Der junge Polizist sah mit einem schnippischen Lächeln herüber zu Ben: "Na komm... ne Vollbremsung werde ich grade noch hinbekommen."
    Kevin setzte den Blinker und zog mit dem Mercedes auf die Linksabbiegerspur. Gemächlich, ohne Aufsehen zog er an dem schwarzen Audi vorbei um dann, als hätte er sich in der Spur vertan, kurz vor dem Audi wieder einzuscheren und sofort mit allem, was Kevin hatte vor der roten Ampel auf die Bremse zu latschen. Beide machten sich auf den Aufprall gefasst, der auch sofort kam, ein kurzes Quietschen, ein Rucken und Dröhnen, und der Audi hatte seine Front im Kofferraum des Mercedes verewigt.


    Beide Havaristen lenkten ihre Autos auf den Gehweg, Semir parkte mit gebührendem Abstand, und hielt sich bereit. Die beiden LKA-Beamte, relativ junge Typen, begangen sofort den Fehler, auf den die drei Freunde spekuliert hatten... und stiegen beide wild gestikulierend aus. "Was soll denn das?", rief der Fahrer und war sich keiner schuld bewusst. Er blickte sofort auf die verbogene Frontstoßstange des Audis, das Nummernschild war abgefallen und ein Glas des Scheinwerfers gesplittert. Auch Ben und Kevin stiegen aus, ohne irgendeine Rolle abzusprechen. Doch das brauchte Kevin nicht, der sofort wie ein Rohrspatz schimpfte. "Mann Mann, wenn du mir nur einmal vorher sagen würdest, wo du hin willst. Jedes Mal die gleiche Scheisse.", fuhr er Ben an, der etwas überrascht war, dass Kevin auch mehr als drei Sätze am Stück sprechen konnte. "Kauf dir endlich mal nen Stadtplan.", warf der ihm aber gekonnt improvisiert entgegen, und kam zu den beiden LKA-Männern. "Ja tut mir leid. Mein Kollege hier kennt sich noch nicht so gut aus." "Ja, das haben wir gemerkt.", bemerkte der Beifahrer des Audi zynisch.
    "Naja... bei euch scheints ja nicht so schlimm zu sein.", meinte Ben mit einem kurzen Blick auf den Audi. Dann drehte er sich zu dem Benz herum und sah mit Zufriedenheit, dass die Stoßstange zur Hälfte abgefallen war, auf dem Boden schleifte und nur an einer Seite befestigt war. "Das können wir über die Dienststellen regeln.", sagte er und sie zeigten ihren Ausweis. "Dann halten wir uns hier nicht lange auf." Die beiden Polizisten stimmten zu, sie teilten Handynummern und Semir trommelte nervös auf sein Lenkrad.


    "Aber so können wir nicht weiterfahren, Ben. Das Ding schleift doch die Autobahn kaputt.", sagte Kevin dann und wies auf die halbe Stoßstange, die auf der Fahrbahn hing. "Du hast recht. Hey Kollegen... könnt ihr uns mal helfen?", rief er die beiden LKA-Beamten zurück. Die murrten etwas unverständliches, einer warf noch einen kurzen Blick zu Zange und drehte sich dann vom Audi weg. Alle vier fassten in der Hocke an die Stoßstange, Kevin und Ben an der Seite, an der sie noch befestigt war. "Und zieh!!", wobei die beiden eher drückten als zogen. Nebenan rollte der Verkehr vorbei, es war laut was den beiden Männern entgegenkam. Alle vier waren so beschäftigt, die beschädigte Stoßstange von dem Mercedes zu reißen, dass niemand mitbekam als Semir mit schnellen Schritten zu dem Audo lief, die hintere Tür öffnete und Zanges Handschellen, mit denen er an den Obergriff gefesselt war, öffnete. Zange schaute verdutzt und wurde von Semir energisch mit einem Zeigefinger auf den Lippen bedeutet, gefälligst die Schnauze zu halten. Zusammen mit dem Geiselnehmer lief er zurück zum BMW, wo er den Mann dann ebenfalls wieder an den Obergriff fesselte. "ZIIIIEEH! Sag mal, was ziehst du denn, kannst du nicht mal ne Stoßstange von nem Auto reissen?", machte Ben in Kevins Richtung noch mehr Lärm, als sowieso schon war, während die LKA-Beamten etwas verdutzt dieses komische Pärchen von der Autobahnpolizei begutachtete. Semir hatte den Weg nochmal zurückgelegt und sein Taschenmesser in dem rechten Vorderreifen des Audis verewigt.
    Erst als die beiden Polizisten den silbernen BMW an sich vorbeifahren sah, zogen sie einmal mit einem Ruck, und die Stoßstange gab nach. "Puuuh... endlich.", keuchte der Fahrer des Audis und stand auf, während Ben die Stoßstange im Kofferraum verstaute.


    "Oh verdammt... unser Reifen.", stöhnte der Mann und sah den platten linken Vorderreifen. Alle vier Männer beugten sich zu dem Reifen herunter, ohne zu merken, dass das Fahrzeug leer war. "Ja, das kann durch den Aufprall leicht passieren...", stellte Kevin gespielt fachmännisch fest und nickte. Er gab dabei Ben einen unbemerkten Stoß, langsam zu verschwinden, und der nickte. "Passt auf, wir schicken euch den ADAC vorbei. Wenn wir die rufen kommen die normalerweise schneller, als auf normalem Wege. Nichts für ungut.", meinte Ben und gab einem der beiden Ermittler einen kleinen Klaps auf die Schulter. Mit leichtem Laufschritt kehrten die beiden Polizisten zurück in den Mercedes, starteten den Motor und fädelten sich wieder in Verkehr ein. Im Rückspiegel konnte er noch sehen, wie die beiden Männer dem Benz hinterher sahen.
    "Puuh... nicht schlecht.", sagte Kevin und fuhr sich einmal durch die leicht abstehenden Haare. Das hatte ihm Spaß gemacht, das war sein Ding. Nicht einen Moment hatte er heute, seit Semirs Anruf an Drogen, das Mädchen in dem brennenden Haus oder sonstige dunkle Gedanken gehabt. Auch wenn die Sorge um Ayda beide natürlich belastete, für Kevin war das beinahe Ablenkung von eigenen Problemen. "Ja... gut dass wir scheinbar nicht gerade an die hellsten LKA-Typen geraten sind.", meinte Ben lachend. "Ruf Semir an, wo die Übergabe stattfinden soll." Natürlich hatten die beiden den BMW mittlerweile aus den Augen verloren, und Ben wählte Semirs Nummer. Doch das Handy war ausgeschaltet...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienstwagen - 11:15 Uhr


    "Wie, der hat das Handy ausgeschaltet?", fragte Kevin mit überraschendem Blick auf seinen Nebenmann, der ebenfalls verständnislos auf das Display seines Smartphones sah. Sofort wählte er die Wahlwiederholungstaste und probierte es erneut. Doch erneut hörte er sofort Semirs Stimme auf der Mailboxansage. "Das gibts doch nicht.", nuschelte Ben leise und biss sich auf die Lippen. Zog sein Partner das Ding jetzt alleine durch, jetzt wo er Zange hatte? Wollte er seine beiden Freunde nicht in Gefahr bringen? Aber verdammt, Semir wusste doch, dass sie mit ihm durch Dick und Dünn gehen würde, und das Wort "Gefahr" ihnen dann auch fremd war. "Mann, umgekehrt würde er sich jetzt genauso aufregen wie wir darüber, jetzt die Alleinikov-Tour zu fahren.", meckerte der Partner des erfahrenen Kommissars. Kevin meinte mit belegter Stimme: "Und umgekehrt würden wir die Alleinikov-Tour auch fahren, wenn wir es für richtig hielten, oder?" Die Blicke der Männer trafen sich für einen Moment, und Ben konnte seinem jungen Freund nicht widersprechen.
    Dafür zuckte er mit den Schultern: "Und was heißt das jetzt? Dass wir ihn einfach machen lassen sollen." "Natürlich nicht. Versuchs mal über Funk." Ben griff zum Funkgerät, drückte den Senden-Knopf und sprach ins Mikrophon: "Ben für Semir, melde dich. Semir?" Gebannt lauschten beide in die Stille, nur der Motor des Wagens war zu hören, aber keinerlei Funkgeräusche oder Anstalten einer Antwort. "Semir, melde dich bitte.", sagte Ben nun etwas lauter, er hielt das Funkgerät umklammert dass sich weiße Flecken an seiner Haut an der Hand bildeten. "Semir, verdammte Scheisse, melde dich." Kevin schüttelte den Kopf. "Vergiss es."


    Semir hätte ihnen gerne geantwortet... doch er konnte nicht. Kurz nachdem er mit Zange den Unfallort verlassen hatte, durchschritt der Zeige seiner Uhr die 11, und ließ das Handy des Polizisten klingeln. "Na, wie siehts aus?", hörte er die mechanisch verzerrte Stimme am Ohr. "Ich hab ihren Freund. Wie gehts jetzt weiter?", fragte Semir, als er sich wieder in den fließenden Verkehr einfädelte. "Sehr gut...", hörte er und es klang fast ein wenig hämisch. "Regel 1: Du wiederholst den Zielort, den ich dir gleich sage, auf keinen Fall, um über Funk deine Kollegen zu verständigen. Eigentlich kannst du das Spielzeug auch abschalten, sonst ist der Deal geplatzt. Regel 2: Wenn du den Anruf trennst, ist der Deal geplatzt. Wir bleiben in Verbindung, bist du hier bist. Und Regel 3: Du fährst jetzt auf schnellstem Weg zu dem alten Militärkrankenhaus im Wald ausserhalb der Stadt. Weißt du wo das ist?" Semir hätte fluchen können. Weder den Funk, noch sein Handy konnte er jetzt benutzen, um Kevin und Ben weiter anzuleiten. Er war auf sich alleine gestellt. "Ja, ich weiß.", sagte er nur knapp mit zusammengebissenen Zähnen. "Gut. Haupteingang rein, nach links und dann die Treppen nach oben in den zweiten Stock. Und wenn du nicht alleine kommst, siehst du das Gegenmittel niemals, und kannst deiner Tochter schon mal einen hübschen Sarg bestellen." Semirs Hände griffen das Lenkrad fest, als würde er sich eine Kehle vorstellen, die Kehle des Mannes, mit dem er telefonierte, die er zudrücken könnte vor Wut.
    "Hören sie. Wir wollen beide etwas... sie werden nicht ohne ihren Kollegen gehen, sonst wären sie schon längst weg. Sie sind von mir doch genauso abhängig, wie ich von ihnen.", sagte der erfahrene Polizist, um sein Gegenüber zu einer möglichst langen Antwort zu zwingen. Als der Entführer dann begann zu reden, nahm Semir das Handy vom Ohr, schob das Gespräch am Smartphone zur Seite und öffnete WhatsApp. Schnell versuchte er eine Nachricht an Ben zu verfassen.


    "ER SCHREIBT! ER SCHREIBT!", ertönte plötzlich Zanges laute Stimme von hinten, so dass Semir herumfuhr und den am Obergriff gefesselten Geiselnehmer hasserfüllt anblickte. Der schien einen siebten Sinn zu haben, oder wusste genau, wie sein Kollege die Bediengungen für Semir auslegte. Sie standen gerade an einer Ampel, und die Stimme aus der Hörmuschel klang schärfer und drohender als zuvor. "Wenn du versuchst mich hier zu linken, Bulle... ich schwöre dir, ich werde das Gegenmittel vor deinen Augen gegen die Wand werfen. Nimm das scheiss Handy ans Ohr." Langsam, wie in Zeitlupe ohne die Nachricht abgeschickt zu haben, hob der Polizist wieder den Arm mit dem Handy. "Ja, okay.", sagte er nur und fuhr wieder an, als die Ampel auf Grün umsprang. "Tja, dann werde ich dir jetzt noch ein schönes Gespräch halten müssen, bis du da bist.", knarrzte es aus dem Mobilteil, und der Polizist verzog den Mund nach unten. "Belassen sie es einfach beim Atmen, das reicht mir.", meinte er griesgrämig und ärgerte sich. Nun war er auf sich allein gestellt, wenn es zur Übergabe kam, und er betete dass es von Cablonsky kein einfacher Bluff war, und er ein Mittel bekam, das weiß der Teufel was bei Ayda auslösen würde. Aber hatte er eine Wahl? Konnte er noch auf Besserung hoffen, oder mussten er und Andrea dieses Risiko bei ihrer ältesten Tochter einfach eingehen, und die Ärzte bitten, ihr das Mittel zu verabreichen?
    Es würde eine hässliche, eine fürchterliche Entscheidung sein, vor die die beiden als Eltern gestelllt werden, wenn Semir das Mittel erstmal hatten. Die Tochter sich selbst und eventuell dem Tod überlassen, oder ein Mittel spritzen, bei dem nicht sicher war, ob es Leben oder Tod schenken würde.


    Die Augen von Ben wanderten hin und her, in jede Seitenstraße, in jede Abzweigung. "Das kannst du vergessen... Semir hatte soviel Vorsprung, der kann schon längst auf der Autobahn nach Essen sein.", sagte Kevin und schlug ein mal hoffnungslos auf den Lenker. "Verdammt, es hätte jemand von uns bei ihm mitfahren sollen.", sagte Ben und fuhr sich durch die langen Haare, die daraufhin auch nicht mehr ganz geordnet am Kopf lagen. "Das konnte ja keiner ahnen.", versuchte Kevin ihn zu trösten.
    Die Zeit nagte, die Ungeduld wuchs. Ziellos fuhren die beiden Polizisten in der Kölner Innenstadt umher, dann mal ein Stück Autobahn in ländliches Gebiet. Es gab soviele Locations, wo man gefahrlos eine Übergabe einer Person durchführen konnte, einige naheliegende fuhren die beiden Polizisten auch an, doch nirgends konnten sie den silbernen BMW von Semir entdecken. Ben seufzte, und als sie merkten, dass sie an der gleichen Stelle schon das zweite Mal vorbeifuhren, hatten sie das Gefühl, vor Verzweiflung gleich den Verstand zu verlieren. In Kevin wuchs langsam wieder die Erkenntnis, Fehler gemacht zu haben, und auch sein innerer Druck stieg langsam an.


    "Hartmut!", sagte Ben plötzlich und unerwartet. Ein Groschen fiel, ein Licht ging ihm auf, und er ärgerte sich beinahe, dass es ihm so spät aufging. "Was ist?", fragte Kevin etwas verständnislos, als Ben sein Handy zog und schnell die Nummer der KTU wählte. Scheinbar war sein junger Kollege überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen. Nach zwei Freizeichen hob der rothaarige Techniker ab: "Hartmut? Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche sofort eine Ortung von Semirs GPS-Signal am Dienstwagen.", rief Ben ins Telefon, dass das Genie der KTU in erster Reaktion erstmal den Hörer einige Centimeter vom Ohr entfernt hielt. "Wieso? Habt ihr den Kleinen etwa verloren?", ulkte Hartmut, und rollte mit dem Telefon in der Hand von einem Schreibtisch zum anderen. "Beeil dich, es ist dringend.", mahnte Ben zur Eile und schüttelte innerlich den Kopf. Manchmal hatte Hartmut den Humor an Stellen, an denen er nichts verloren hatte. Seine Finger schnellten über die Tastatur, und im Nu hatte er Semirs Position ausfindig gemacht. "Das letzte Signal war im Umkreis des Waldgebietes südlich von Köln. Genauer gehts nicht." "Ist da irgendwas, ein Gebäude, eine Fabrik, ein Gelände?" Mit dem Mausrad zoomte Hartmut die Karte näher, die dann schärfer wurde. "Da ist nichts... ausser... hmm... könnte.... ja, das ist das alte Militärkrankenhaus. Ich schick dir die Koordinaten aufs Handy." "Danke Hartmut, hast was gut." "Jaja, wie immer.", dann trennten die beiden die Verbindung.
    "Südlicher Stadtrand, vielleicht ein altes Krankenhaus... wir müssen umdrehen.", meinte Ben und wurde durch die folgende Vollbremsung vom Gurt aufgehalten. Als der Mercedes zum Stillstand kam, sah Kevin nach hinten, dort war alles frei und die Spur in Gegenrichtung nur durch eine doppelt durchgezogene Linie begrenzt. "Na, dann schauen wir mal, ob das so einfach ist, wie es im Fernsehen immer aussieht.", grinste der junge Polizist, legte den Rückwärtsgang des Mercedes ein und vollführte nach einigen Metern Anlauf eine 180° Grad - Drehung in die von Ben gezeigte Richtung.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • 11:30 - Altes Krankenhaus


    Der Split knirschte unter den Reifen, als Semir den BMW nach dem kurzen Stück durch ein kleines Waldgebiet vor dem düster aussehenden, verkommenen Gebäude anhielt. Das alte Militärkrankenhaus, das bereits seit über 20 Jahren geschlossen und verlassen war, thronte zwischen den Bäumen, und wirkte auf Semir irgendwie erdrückend. Seit es leer stand, nahm die Natur schleichend wieder Besitz von dem Gebäude, es wucherte überall auf dem Gelände, Bäume ließen ihre nun bunt bewachsenen Zweige vor die kaputten Fenster hängen, Sträucher wuchsen vor den Eingängen, und aus den Rissen auf der Treppe, die zu den beiden Flügeltüren des Eingangs führten, spross grünes Gras und Löwenzahn. Das Gebäude war übersät von Graffiti, diente als Austobort für Teenager, die um Mitternacht Mutproben abhielten, ihre Künstlereien auftragen wollten oder ihre Wut an dem alten Gebäude ausließen.
    Beinahe kein einziges der vielen Fenster war noch intakt, wenn dann war es blind und milchig vor Staub. Leichter Regen lag in der frischen Luft, die an Semirs Lederjacke zerrte, es hatte eben erst aufgehört und die Blätter tropften noch, zumindest die, die sich mit letzter Kraft an den Bäumen festhielten. "Los gehts.", sagte er zu Zange, immer noch das Handy mit dem Entführer am Ohr, das er sich jetzt mit der Schulter festhielt, damit er zwei Hände frei hatte um Zange die Handschellen zu öffnen. Allerdings bekam er diese, sobald er von dem Obergriff befreit war, klickten die Handschellen seine Hände wieder auf dem Rücken zusammen, zusätzlich packte Semir den Kerl von hinten am Kragen, und beide steuerten auf das bedrohliche Gebäude zu.


    Als die beiden Männer die Treppen zum Haupteingang hinaufstiegen, stieg ihnen der Geruch von altem Beton in die Nase, überall im Inneren des Krankenhauses bröckelte der Putz, überall bunte Schmierereien an den Wänden. Der Boden war übersät von Schutt und alten Krankenhausutensilien, es sah beinahe so aus, als hätte man dieses Haus Hals über Kopf verlassen, und alles sich selbst überlassen. Die Stimmung hatte etwas apokalyptisches, als dann auch noch der Wind auffrischte und überall die schiefen, nicht mehr richtig befestigten Fenster hin und her klappten, und quietschende schiefe Geräusche verursachten. Schritt für Schritt gingen Semir und sein Austauschobjekt für Aydas Heilung durch die unheimlich wirkenden Gänge. "Wir sind jetzt da. Wo verstecken sie sich?", sagte er ins Handy und bemühte sich um eine feste Stimme. "Zweiter Stock. Ich hoffe, du hast ausser Zange niemanden in deinem Rücken." Fast unweigerlich drehte Semir sich kurz um, und biss die Zähne zusammen. Hoffentlich würden Ben und Kevin auf die Idee kommen, seinen Wagen zu orten...
    Die Stufen der Treppe in den zweiten Stock knarrten und ächzten, und Semir vertraute ihnen nicht, genauso wenig wie diesem ganzen Gebäudekomplex. Er hatte zwar nirgends ein Warnung vor Einstürzen gesehen, aber ständig hatte er das Gefühl, dass der Boden unter ihm nachgeben würde. Mit der linken Hand hielt er Zange am Kragen fest und trieb ihn vor sich her, die andere hatte er fest um den Griff seiner Waffe geklammert, die er aber noch in seinem Holster beließ. Aufmerksam blickte er immer wieder in die Zimmer, an denen sie vorbeikamen. Seine Fantasie spielte ihm Streiche, so hatte er manchmal das Gefühl, dass Ayda im nächsten Zimmer in einem der alten Betten lag und auf ihn wartete, doch immer wieder wenn er zu den Türen hineinblickte sah er Schutt, manchmal ein umgestürztes Bett und Graffiti.


    An der nächsten Biegung des Flurs blieben die beiden Männer ruckartig stehen. Ihnen gegenüber stand ein Mann, der eine Waffe in der Hand hielt und auf beide zielte. Er hatte ausserdem ein Handy am Ohr und hörte sich plötzlich ganz normal an, als er sagte: "Herzlich Willkommen, Herr Gerkhan." Dann ließ er das Handy langsam sinken. Was Semir aber viel mehr verwirrte, war ein zweiter Mann, der vor ihnen auf dem Boden lag. Er lag auf dem Bauch, war aschfahl im etwas zur Seite gedrehten Gesicht und hatte bereits Leichenflecken. Das Blut, dass aus zwei Schusswunden in seinem Rücken gesickert war, war bereits braun gefärbt. Sicher war er schon mindestens einen Tag tot, schätze der erfahrene Kommissar. "Wer ist das?", fragte Semir sofort, bevor er an den Austausch dachte. "Mein Auftraggeber.", sagte Cablonsky unberührt.
    Semir biss die Zähne zusammen und hielt die Hand um Zanges Kragen weiter geschlossen. "Was wird hier gespielt? Warum die Entführungen?" Cablonsky grinste etwas, ging es für ihn doch nur noch darum, mit Zange zu verschwinden, mit dem größtmöglichen Profit, dem Geld das Reuter noch nicht ausgegeben hatte. "Dieser Arzt hat ein neues Heilmittel für Krebs erforscht. Für die Finanzierung hat er Kinder entführt und sie ins Koma gespritzt. Wir haben die Drecksarbeit für ihn erledigt." Semir blickte nach unten auf den toten Mann, neben dem noch ein Koffer stand. "Krebsmittel? Warum muss man dazu Kinder entführen?", fragte er verwirrt. "Weil er ein Irrer war. Die Forschung hatte seine Theorie abgelehnt, aber er wollte sein Mittel unbedingt durchbringen um es allen zu zeigen. Wir haben nur für das Geld, das wir bekommen haben, unsere Arbeit getan." "Und warum haben sie ihn dann erschossen?" "Weil er meinen Freund einfach im Knast verschimmeln lassen wollte."


    Semirs Atem ging schneller. Ein Arzt, und zwei Profi-Kidnapper, die gemeinsame Sache machten, um eine illegale Forschung für einen guten Zweck voranzutreiben steckte also hinter der Geschichte der Komakinder. Kinder, die als Kolleteralschaden eingeplant waren, auf dem Weg zu einer besseren Zukunft ohne Krebs. Doch im Moment interessierte ihn nur Ayda, und das Gegenmittel, das ihr das Leben retten würde. "Okay... ihr interessiert mich einen Scheissdreck. Ich will nur das Gegenmittel für meine Tochter." Natürlich hätten ihn noch die Frage interessiert, wie sie sich darauf einlassen konnten, und warum der plötzliche Sinneswandel. Aber Zange und Cablonsky waren scheinbar zwei einfache skrupellose Söldner, die für den richtigen Sold alles tun würden... auch Kinder entführen, solange die Kasse stimmte.
    "Lassen sie Zange zu mir herüber. Öffnen sie ihm die Handschellen, und ausserdem werfen sie ihre Waffe weg." Mit grimmigen Gesichtsausdruck gehorchte Semir, trennte sich von seinem einzigen Schutz und öffnete Zange langsam die Handschellen, hielt ihn aber noch fest. "Das Gegenmittel!", rief er nochmals und Cablonsky griff hinter seinen Rücken. Hervor brachte er aus der Gesäßtasche ein Lederband, an dem drei Ampullen mit einer gelblichen Flüssigkeit befestigt waren. "Der Doktor hatte sie mal erwähnt, und ich habe sie an mich genommen. Dachte, die könnten uns nochmal Geld bringen, wenn das Ganze hier vorbei ist.", grinste Cablonsky und hielt die Ampullen in die Luft. Semir hatte keine Wahl... ein Wurf, und das Gegenmittel wäre verloren. Er öffnete die Hand, mit der er Zange weiter festhielt.


    "Fessel ihn an den Heizkörper.", sagte Cablonsky dann in Zanges Richtung und der nahm nun die Handschellen, die ihn eben gesichert hatten, und kettete Semir so an den Heizkörper. "Was soll das?", fragte der erbost. "Ich verschaffe mir nur einen Vorsprung.", sagte der Geiselnehmer, kam zu dem Polizisten und nahm das Handy aus seiner Jeanstasche. Er legte es ausserhalb von Semirs Radius auf den Boden. "Deine Kollegen werden dich ja sicher irgendwann finden. Bis dahin sind wir weg." Semir Herz schlug schneller... diese Zeit hatte Ayda nicht. "Bitte... lassen sie mich frei. Ich möchte nur meine Tochter retten, alles andere interessiert mich nicht... bitte.", flehte der Kommissar und zog an dem stählernen Ring, der seine Handschellen darstellte.
    Cablonsky lächelte nur zu Semir auf den Boden herab, das Lederband noch in der Hand. Er beugte sich zu Semir herunter und flüsterte: "Dann müssen sich deine Kollegen halt beeilen..." Ein diablolisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er mit Zange einige Schritte von Semir wegging, der wild begann an den Fesseln zu zerren. "HEY!", brüllte er. "Lassen sie mir das Gegenmittel! Ich hab den Teil der Abmachung erfüllt!" Cablonsky blieb gespielt ruckhaft stehen, als hätte er etwas vergessen. "Achja, richtig...", sagte er, und sein Blick fiel durch das zersplitterte Fenster nach draussen. Das Gesicht des Geiselnehmers verfinsterte sich, als er sah dass ein grauer Benz neben dem BMW anhielt. Dann blickte er zu Semir. "Diesmal waren deine Kollegen zu schnell...", sagte er und steckte das Band mit dem Gegenmittel wieder ein. "Fick dich, Bulle..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Altes Krankenhaus - 11:45 Uhr


    Kevin konnte den silbernen BMW unter den Bäumen bereits sehen, als sie noch auf der Landstraße fuhren, mit einer Vollbremsung und quietschenden Reifen bog der Mercedes seinerseits in den Waldweg ab und kam mit blockierenden Rädern neben dem Dienstwagen ihres Kollegen zum Stehen. "Netter Ort...", meinte Ben ein wenig beeindruckt, als sie ausstiegen und erstmal den Blick über den gesamten Komplex streifen ließen. Auch sie nahm die beklemmende Stimmung der rauschenden Bäume, des feinen Regens und des bedrohlich wirkenden Hauses komplett ein. Sie versuchten irgendwo Bewegungen hinter den zersplitterten Scheiben aus zu machen, ein Gesicht, ein Kopf... irgendwas. "Lass uns reingehen.", meinte Kevin und beide Polizisten zückten ihre Pistolen und entsicherten sie.
    Drinnen war der Wind stiller und langsam tasteten sich die zwei Polizisten Stück für Stück über Geröll und Schutt. Sie versuchten, so leise wie möglich zu sein, unnötige Geräusche zu vermeiden und seinerseits auf Geräusche zu achten, die die Position der Geiselnehmer oder der von Semir verraten würde. "Das Ding ist riesig. Sollen wir uns trennen?", fragte Kevin flüsternd und sein Partner legte den Kopf ein wenig zur Seite. "Ich weiß nicht... ich finde, wir...", bis er von einem rasselnden Geräusch unterbrochen wurde. Es klang durch das Auge des Treppenhauses nach unten und hörte sich an, wie Geisterketten. Ben hätte es niemals zugegeben, schon gar nicht vor Kevin, aber für einen Moment befiel ihn eine Gänsehaut. Wortlos schritten die beiden Polizisten die Treppen hinauf, von wo sie das Geräusch gehört hatten.


    Gerade als sie am oberen Ende der Treppe angekommen waren, lief Zange um die Ecke. "Scheisse, sie sind schon drin!!", rief der hinter sich bevor er kehrt machte. Scheinbar war er unbewaffnet und lief wieder um die Ecke des Flurs zurück, von wo er gekommen war. "Stehenbleiben!!", schrie Ben und verfiel sofort in einen Sprint, Kevin verfolgte ihn. An der Ecke, an der der Flur eine Kurve machte blieb Ben stehen und lugte erst um die Ecke. Die Falle, die die beiden Gangster ihnen stellen wollten, funktionierte nicht, denn sie rechneten mit Unvorsichtigkeit. Cablonsky hatte Stellung bezogen und feuerte mehrere Schüsse in Richtung Ben, der den Kopf sofort wieder zurück zog und sich mit dem Rücken zur Wand stellte. Erst als die Schüsse verhallt waren, legte der Polizist einen nur den Arm an der Wand entlang und schoss blind mehrmals in die Richtung, von der die Schüsse kamen. Doch beide hörten Schritte, schnelle Schritte... Cablonsky und Zange flüchteten den Flur entlang, was Ben sofort sah, als er nochmal um die Wand sah. "Komm!!", rief er noch, was völlig unnötig war, denn Kevin folgte ihm auf dem Fuß.
    Beide Gangster rannten, und der Polizist mit dem Wuschelkopf erkannte an einer Heizung Semir sitzen, offenbar gefesselt, der die Geräusche verursachte. Cablonsky lief an Semir vorbei, Zange blieb bei ihm stehen und richtete die Waffe auf Semirs Kopf. Für einen Moment setzte dessen Herzschlag aus, scheinbar wollten die Typen nicht riskieren, dass sie es mit drei, statt nur zwei Polizisten zu tun hatten. Auch Bens Gesichtszug entglitt für einen Moment, doch Kevin, der schräg hinter ihm lief, reagierte beherzter. Im Lauf hob er die Waffe und feuerte eine Kugel, die Zange am Unterarm traf, was zur Folge hatte, dass dieser die Waffe fallen ließ. Ein brennender Schmerz durchzog seinen Arm, und sofort verfiel der Geiselnehmer wieder in Trab und bog ins übernächste Zimmer ab.


    Die beiden Polizisten stoppten bei Semir, Ben sperrte ihm die Handschellen auf. "Ich schnapp mir Zange.", sagte Kevin und rannte wieder los. Die Waffe, die Zange verlor, war Semirs Dienstpistole, und der junge Polizist schubste sie in dessen Richtung, als er an ihr vorbeilief.
    Das Zimmer, in das Zange abgebogen war, war ein alter OP-Saal, in dem noch allerlei Untensilien herumlagen. Zuerst versuchte der Kerl sich hinter einem Schrank zu verstecken, als Kevin das Zimmer betrat, die Hände fest um den Griff der Waffe gelegt. "Komm raus, Zange. Es ist vorbei." Zange war nun nicht mehr so cool, wie noch vor einigen Tagen beim Verhör. Die Sache war schief gelaufen, und nur wenn sie die Polizisten beseitigen würden, könnten sie so schnell wie möglich abhauen... Nach Kuba, wie Cablonsky eben erzählte. "Das... das war alles Cablonskys Idee. Ich... ich wollte gar nicht mehr zurück.", rief er laut und schritt hinterm Schrank hinaus. "Hör auf, Scheisse zu erzählen. Wenn du wirklich hättest aussteigen wollen, hättest du sofort die Schnauze aufgemacht. Hände hinter den Kopf und an die Wand!", sagte der Polizist, der sofort die Waffe auf ihn richtete. Nur einen Sekundenbruchteil sah er etwas blitzen, dass den Wurfarm von Zange verließ und spürte daraufhin einen brennenden Schmerz im Arm, als das rostige Skalpell ihn dort verletzt hatte. Aus Reflex fiel die Waffe klackernd zu Boden und Zange stürzte auf ihn.
    Zange war nicht kräftig, aber gewandt. Dass er im Knast öfters mal Gewalt anwenden musste, spürte Kevin bei den ersten Schlägen, die er im Gesicht spürte, doch der Kickboxer stieß den Angreifer von sich weg. Der griff auf den OP-Tisch zu einer spitzen Schere, mit der er Stichandeutungen machte um den Polizisten auf Distanz zu halten. Doch Kevin war jetzt in seinem Element, im Nahkampf war es ein Fehler ihn zu unterschätzen. Er ließ Zange auf einen halben Meter heran, dann spürte der Verbrecher eine Wucht des Trittes an seiner Hand, die die Schere im hohen Bogen wegschleuderte. Der zweite Tritt, der folgte, traf Zange an der Schulter und ließ ihn zur Seite taumeln. Kevin wollte sofort nachsetzen, doch bekam zwei überraschende Schläge auf die Schläfe. Der Verbrecher wollte die kurze Überlegenheit ausnutzen, und stürzte in Richtung des Kommissars, packte ihn am Kragen und beide Männer stürzten Richtung Boden, der unter dieser Belastung krachend nachgab, zerfressen von Morsch und Feuchtigkeit. In einer Staubwolke und unbändigem Lärm stürzten die Männer, gegenseitig gepackt, ein Stockwerk tiefer in eine Ansammlung alter Tische und Stühle.


    "Wo bleibt ihr denn so lange?", fragte Semir in Bens Richtung, nachdem dieser die Handschellen geöffnet hatte und seinem Partner auf die Beine half. Ben machte eher ein unverständliches Gesicht, doch für lange Diskussionen blieb keine Zeit. Semir klaubte seine Waffe vom Boden und beide rannten dem flüchtenden Cablonsky hinterher, der mittlerweile ein Stockwerk tiefer geflüchtet war. Dort verschanzte er sich hinter einem umgestürzten Bett auf dem Flur und ließ sofort die Waffe aufbellen, als Semir und Ben an der Treppe erschienen. Während Ben ein paar Schritte zurücktaumelte, wuchtete sich Semir über das Treppengeländer und stürzte einige Meter tiefer, landete aber zum Glück auf den Beinen und fand dort Deckung am Abgang hinunter ins Erdgeschoss. "Cablonsky!!! Ich will nur das Gegenmittel!!", schrie Semir, als der Kerl gerade eine Feuerpause einlegte.
    Auch Ben wartete einen Moment damit, zurück zu schiessen. "Das Gegenmittel wollen sie? Kein Problem.", schrie Cablonsky und Semir sah das erste Fläschchen über die Deckung fliegen und konnte nur noch hören, wie es mit einem klirrenden Geräusch auf dem Geröllboden zerbrach. "NEEEIN! Hören sie auf!", schrie Semir entsetzt, als er die einzige Chance, Ayda zu retten, auf dem Boden versickern sah. "Wir lassen sie gehen... geben sie mir das Gegenmittel." Hinter der Deckung von Cablonsky hörte Semir nur schallendes Gelächter...



    Krankenhaus - Gleiche Zeit


    Anna Engelhardt hatte einen Blumenstrauß dabei, Jenny Dorn einen kleinen Teddybär, den sie Ayda ins Bett legte. Beide redeten Andrea gut zu, wollten versuchen sie moralisch zu stützen. Auch Bonrath und Herzberger in Uniform waren bei dem Besuch dabei, die Dienststelle war gut besetzt so dass sie es sich für eine Stunde leisten konnten, die kleine Ayda im Krankenhaus besuchen zu gehen. Andrea gelang sogar ein Lächeln, hatte sie die schlimmen Nachrichten von heute Morgen noch nicht ganz verdaut und ausserdem war sie etwas in Sorge um Semir. Allerdings erwähnte sie die erneute Erpressung mit keinem Wort, denn scheinbar wusste von der restlichen Dienststelle niemand etwas davon.
    Gerade, als sie etwas vom Bett weg saßen, begann das Diagnosegerät an Aydas Bett zu piepen. Sofort richteten sich die sorgenvollen Blicke auf das Mädchen, das krampfhaft versuchte zu atmen, was scheinbar nicht mehr gelang. Der Puls stieg an und wurde unregelmäßig, es schien als könne Aydas Körper das selbstständige Atmen nicht mehr aufrecht erhalten. Andrea lief sofort panisch zu Ayda, während Hotte einen kühlen Kopf behielt und sofort auf den Flur ging und laut nach einem Arzt rief. Es dauerte nur wenige Sekunden, und mehrere Krankenschwestern, sowie ein Arzt kamen ins Zimmer gelaufen. Anna Engelhardt umfasste die völlig aufgelöste Andrea sanft an den Schultern und zog sie von Bett, damit die Ärzte arbeiten konnten, während Jenny mit Tränen in den Augen bei Dieter und Hotte standen und hilflos zusehen mussten, wie die Mutter von Ayda hemmungslos weinte, während Ayda nun künstlich beatmet werden musste. "Es dauert nicht mehr lange...", hörten sie den Arzt leise und hoffnungslos sagen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Altes Krankenhaus / Krankenhaus - 12:00 Uhr



    Kevin und Zange landeten in Staub und Geröll gehüllt im 1.Obergeschoss des Krankenhauses. Der junge Polizist fiel auf den Rücken, so unglücklich, dass ihm kurzzeitig die Luft zum Atmen wegblieb. Ausserdem hörte er dumpf, wie der Boden unter ihm bedrohlich knackte, und er meinte, auch eine leichte Stauchung zu vernehmen. Alles an diesem Haus war morsch und baufällig, wenn nicht sogar einsturzgefährdet. Auch Zange brauchte einen kurzen Moment, bis er sich erholt hatte, allerdings war er halb auf Kevin gelandet und weniger hart aufgeschlagen. Der Verbrecher rappelte sich langsam wieder auf die Beine, ein wenig schwindelig, doch sein Blick lag klar auf dem Mann, der hustend und keuchend auf dem Rücken lag, und nach oben zu Zange blickte.
    "Jetzt bist du fällig...", knurrte er und wankte langsam zu den Möbeln, die noch in dem Raum standen. Das Gebälk ätzte und keuchte unter Kevin, es hatte sicherlich etwas abbekommen von dem Aufprall. Zange krallte einen Stuhl an der Lehne und hob ihn drohend, um Kevin damit den Schädel einzuschlagen. "Lass es, Mann...", sagte der Polizist, als es unter ihm erneut bedrohlich knackte. Sein Rücken fühlte sich taub an, aus einem Kratzer an der Stirn spürte er warmes Blut in die Haare rinnen. "Was ist? Hä? Kannst du nicht mehr aufstehen?", schrie Zange der ebenfalls im Gesicht blutete und langsam auf den hilflos wirkenden Polizisten zu kam. Dessen Herz schlug, er spürte, wie das Gebälk unter ihm immer bedrohlicher knackte, je näher Zange kam. In dem Moment, in dem Zange mit wilden Aufschrei den Stuhl nach unten sausen ließ und dazu noch einen Schritt nach vorne machte, mobilisierte Kevin alle Kräfte in seinem Körper und rollte sich zur Seite in Richtung Wand. Die Wucht in Zanges Schlag war so enorm, dass der stabile Metallstuhl die Zwischendecke endgültig zum Einsturz brachte und Zange im sinkenden Boden und einer Wolke aus Staub laut schreiend versank. Durch seinen Schritt nach vorne fiel er kopfüber, ein Bett das in der Nähe stand wurde auch noch mitgerissen und fiel hinter Zange her. Für einen Moment blieb Kevin laut keuchend mit dem Rücken zum Loch liegen, bis er sich aufrappelte und sich zum Loch vortastete. Zange lag im Erdgeschoss, das Bettgestell halb über seinem zerschmetterten Gesicht, eingehüllt in eine große Blutlache.



    Es war für Andrea fast nicht zu ertragen, ihr kleine Tochter da liegen zu sehen. Es war bereits schlimm, die ganze Zeit über, nichts tun zu können, doch war zumindest der Anblick ein friedlicher, wie sie da lag und schlief, als würde sie ganz gesund zu Hause in ihrem Bett liegen. Doch jetzt hatte sie eine Maske auf dem Gesicht, ein Apparat zur Beatmung lief neben ihr und das Gerät zur Überwachung des Herzschlages gab nur noch unkonstante Töne von sich. Zwei Krankenschwestern und mittlerweile zwei Ärzte standen um das Bett herum, sie messten, untersuchten, sie klebten Pade mit Kabeln an den kleinen Körper und eine Schwester hatte für den absoluten Notfall bereits einen Defibrillator beigestellt, weil man von dem anderen Komakind wusste, dass nach dem künstlichen Beatmen als nächstes zu einem Kammerflimmern kommen könnte.
    Der Anblick des Gerätes machte Andrea rasend, sie hatte das Gefühl, dass ihr die Beine versagen wollten und weinend klammerte sie sich an ihre langjährige Chefin, die in diesem Moment der Felsen war, der sonst Semir war. Doch Semir war nicht da. Seine Tochter kämpfte um ihr Leben, und nur Andrea wusste in diesem Moment wo ihr Mann war, als die Chefin leise fragte, wo Semir denn sei? Nur bruchstückhaft, nur stockend und mit völlig verweinter Stimme brachte Andrea hervor, dass er dabei ist, dass Gegenmittel zu holen, um Ayda das Leben zu retten. Am liebsten hätte Anna Engelhardt sofort Bonrath, Hotte und Jenny zur Unterstützung geschickt, doch sie wusste überhaupt nicht, wo sich Semir aufhielt. "Wir können seinen Wagen orten.", sagte Jenny sofort und die beiden Streifenpolizisten nickten. "Wir sind schon unterwegs, Chefin.", sagte Hotte, auch wenn er Andrea jetzt ungern alleine ließ... aber er konnte sich darauf verlassen, dass die Chefin die Souveränität behielt, und hier die Kontrolle.



    Die Kugeln schlugen immer wieder dicht bei Ben und Semir ein, von Cablonsky abgefeuert. Semir war kaum an sich zu halten, am liebsten wäre er durch das Dauerfeuer gelaufen um ihm das letzte verbliebende Fläschchen abzunehmen. "Was ist, Bulle? Komm her, hol es dir.", rief Cablonsky hinter seiner Deckung und wedelte mit der Hand und dem letzten Fläschchen mit dem gelben, für Ayda lebensrettenden Inhalt. Sofort stoppten beide Polizisten mit Schüssen, um nicht aus Versehen den kleinen Glasbehälter zu trefen. Semir blickte verzweifelt in Bens Richtung, der ihm mit den Fingern ein Zeichen gab. Sie waren so lange Partner, waren bei sovielen Schiessereien und verstanden sich blind... oder eben mit Zeichensprache.
    Semir nickte, er verstand, was Ben vor hatte. Er lud sein Magazin voll, um genügend Schuss zu haben, dann gab er Ben das Startsignal. "Na schön! Hier, fang wenn du kannst.", schrie Cablonsky in diesem Moment, als Ben losrannte. Das Fläschchen flog hinter der Deckung hervor, Semir begann ohne Unterbrechung Schüsse abzufeuern, die an Cablonskys Deckung abprallten. Ben rannte, sah das fliegende Fläschchen und hechtete, als Cablonsky sich erhob und in Bens Richtung schoß, der eine Kugel an seinem Ohr vorbeijagen spürte. Darauf, dass Cablonsky die Deckung verließ, hatte Semir gewartet und traf den Verbrecher mit zwei Kugeln im Oberkörper. Ben prallte auf dem schmutzigen Boden, doch seine linke Hand hatte kurz vor dem Aufprall etwas Hartes, glattes, kaltes gegriffen und hielt es fest umklammert, während der Verbrecher stöhnend zu Boden ging.



    Einer der beiden Ärzte entfernte sich von den Untersuchungen um Ayda, und ging zu den beiden Frauen, von denen eine, Andrea, völlig fertig in den Armen der Chefin lag. "Frau Gerkhan... ihre Tochter ist jetzt in einem sehr kritischen Zustand. Sie ist zwar stabil, aber sie schwebt in Lebensgefahr.", versuchte er möglichst ruhig und sachlich zu sein. Die Mutter konnte mit dieser Sachlichkeit in diesem Moment nicht umgehen, und der erfahrene Arzt kannte vieler solcher Reaktionen in diesem Augenblick. "Retten sie meine Tochter. Ich flehe sie an, retten sie meine Tochter.", schluchzte Andrea und packte den Mann am Kragen der weißen Jacke, bevor sie von der Chefin sanft aber bestimmend wieder etwas zurück gezogen wurde. "Wir haben ihr ein Medikament gegeben, wir werden sie jetzt künstlich beatmen. Aber... das ist nur ein Hinauszögern."
    Die Chefin sah den Arzt mit ihrem strengen Blick an wie ihre Mitarbeiter, wenn mal wieder etwas schief gelaufen war oder sie anderweitig zu einer Standpauke ansetzte. "Nun sagen sie schon auf Deutsch: Welche Chance hat Ayda, und was können sie jetzt noch tun?" Der Arzt seufzte und sah für einen Moment zu Boden. "Tun können wir nichts mehr. Wenn ihr Herz aussetzt, wie bei dem Komakinder, das gestorben ist, können wir nur noch versuchen, die wieder zu beleben. Das kann vielleicht nochmal funktionieren, würde es aber nur herauszögern. Welche bleibenden Schäden auftreten oder schon aufgetreten sind, kann ich nicht sagen." Anna Engelhardt spürte, wie ihre Sekretärin ihre Finger in ihre Arme krallte und ihre Knie einknickten. Langsam geleiteten beide die weinende Mutter zu einem Stuhl. "Es tut mir wirklich leid, Frau Gerkhan. Aber das Koma-Mittel scheint bei ihrer Tochter stärker dosiert gewesen zu sein, als bei den anderen. Es tut mir leid."



    "Ben?", rief Semir, als die Schüsse verhallt waren, und der Qualm, durch die vielen abgefeuerten Schüsse seinerseits sich etwas verzogen hatten. Ben stöhnte, von dem Sturz, aber er hielt die kleine Glasampulle, die letzte, die da war, fest in seiner Hand. Von nebenan hörten sie schnelle Schritte, und Kevin, der den Schüssen gefolgt war, kam in das Treppenhaus gelaufen, wo sich die Schiesserei abgespielt hatte. "Ich habs...", presste Ben hervor und rappelte sich langsam auf. Auch Semir sah das Fläschchen in Bens Hand und kam sofort auf ihn zu. "Oh Gott sei Dank.", sagte er und fiel seinem Partner um den Hals, der sofort einen Schmerzlaut von sich gab und schwer atmete. Langsam kehrten Schmerzempfinden zurück in Bens Körper nach dem kurzen Adrenalinschock und sein bester Freund wich zurück.
    Für einen Moment war es still in dem Treppenhaus, und beide Polizisten starrten zu Ben. Semir hätte sich in diesem Moment eine Nadel in den Arm stechen können, und es hätte nicht geblutet, so geschockt war er und auch Kevins blaue Augen waren weit aufgerissen. Ben erkannte den Grund für sein mühsames Atmen erst, als er wie gebannt an sich herunterblickte. "Oh scheisse... oh scheisse.", stammelte er mühsam. Um eine Schusswunde unterhalb der Brust entstand langsam unter seiner Jacke ein dunkelroter Fleck, der Schmerz beim Einatmen nahm zu. "Semir... ich... ich glaube, der hat mich getroffen.", sagte er mit Panik in den Augen. Angeschossen wurde der Polizist schon öfters, Durchschuss im Arm, Streifschuss am Bein... aber niemals an einer so lebensbedrohlichen Stelle. "Los komm... wir bringen dich ins Krankenhaus. Den Krankenwagen zu rufen, würde zu lange dauern.", sagte Kevin. Er und Semir stützten sofort Ben, der sich nur durch den Adrenalinstoß noch auf den Beinen halten konnte, vorher zog Kevin seine graue Weste aus und drückte sie Ben gegen die Wunde. So schnell es mit den Dreien ging verließen sie das baufällige Gebäude und hetzten auf die Dienstwagen zu. "Bleib du bei ihm hinten, ich fahre.", sagte Semir. So sehr er Kevin vertraute, es zählte nun jede Sekunde... für Ben und für Ayda. Da empfand der Polizist es für wichtiger, wenn er selbst in der Hand hatte, dass sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus fuhren, als dass er jetzt sich selbst um Ben zu kümmern...

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    Wie sie.


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  • Krankenhaus / Dienstwagen - 12:20 Uhr



    Minuten kamen Andrea vor wie Stunden. Die Ärzte hatten die Mutter wieder zu Ayda gelassen, sie hielt die Hand des kleinen Mädchens die sich eiskalt anfühlte. Ihre Tochter war blasser als noch vor einigen Stunden, oder bildete Andrea sich das nur ein. Ach, wenn Semir doch wieder da wäre, mit oder ohne Gegenmittel, hauptsache er wäre jetzt da und könnte Andrea unterstützen. Doch sie wusste nicht, was ihr Mann gerade durchmachte, er wusste nicht, was Andrea gerade durchmachte. Beide durchlebten parallel einen Alptraum, der scheinbar kein Ende zu haben scheint, einen Alptraum wie Semir ihn in den letzten Tagen mehrmals in seinem Haus geträumt hatte.
    Gerade wollte sich die Mutter wieder etwas beruhigen, als das Diagnosegerät erneut begann zu piepen und wild zu blinken. Anna Engelhardt, die sich auf die Zurechnungsfähigkeit ihrer Sekretärin nicht mehr verlassen wollte, griff sofort und geistesgegenwärtig zum Notfallknopf und es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Tür erneut von einigen Helfern aufgestoßen wurde und einer der beiden Ärzte mit zwei Krankenschwestern hereingestürmt kamen. Wieder legte die Chefin die Hände sanft um die Schultern Andrea's, um sie, mit leiser Stimme, von Ayda weg zu holen und den Ärzten Platz zu machen. "Kammerflimmern!", war das Wort des Arztes, das sich tief in Andrea's Gehirn einbrannte, und sie wohl in den nächsten Nächten noch lange verfolgen wird. Die Arzthelferin bereitete den Defibrillator vor, während der Arzt mit einer Herzmassage begann. "Bringen sie die Mutter hier raus!", sagte er zu einer jungen Krankenschwester, die mehr im Weg zu stehen schien und sich nun an Andrea und die Chefin wandte. "Kommen sie... warten sie bitte auf dem Flur.", sagte sie und fasste Andrea sanft am Arm, die sich sofort wütend abschüttelte. "Ich bleibe bei meinem Kind!! Sie können mich nicht einfach rauswerfen!!", schrie sie, bevor sie wieder von einem Weinkrampf ergriffen wurde, als Aydas kleiner Körper von dem Wiederbelebungsgerät erfasst wurde und schlaff zurücksank. Das Piepsen wurde wieder regelmäßiger, bevor es erneut begann, zu stolpern.



    Geschwindigkeitsbeschränkungen interessierten Semir nicht mehr, rote Ampeln in der Innenstadt schon gar nicht. Er hatte so unendlich viele Verfolgungsfahrten erlebt, unendlich mal ist er selbst gejagt worden... aber er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals so sehr ohne Rücksicht auf Verluste gefahren war, als heute. Jede Ausweichaktion glich einem Harakiri, ohne zu bremsen fegte er über eine vielbefahrene Stadtstraße. Seine Tochter lag im Sterben und konnte nur durch das Gegengift in dieser Ampulle gerettet werden und hinter ihm lag sein bester Freund mit einer Kugel im Körper quer auf zwei Sitzen. Semir konnte sein Stöhnen hören, er konnte hören wie sein Atmen immer schneller, immer schnapphafter klang.
    Kevin hatte seine Weste fest auf die Wunde gedrückt, um zumindest zu verhindern, dass Ben verblutete. Jeder Atemzug fiel dem Beamten schwer, jeder Atemzug fühlte sich an, als würde man ihm ein Messer in die Lunge rammen. Aber das Fläschchen hielt er immer noch mit seiner blutverschmierten Hand fest umklammert. Wenn er damit Ayda retten würde, dann war es ihm das wert. Er hoffte, dass er Semir das noch sagen könnte, er hoffte dass er noch mitbekommen würde, ob Ayda wieder wach wurde oder nicht. Immer wieder fiel sein Kopf zur Seite, wollten seine Augenlider zufallen. Er fühlte sich müde, das Atmen war so anstrengend und am liebsten wollte er einfach damit aufhören... einfach aufhören. "Bleib wach, Junge.", sagte Kevin immer wieder, wenn er endlich einschlafen wollte und wackelte kurz an Bens Kopf. Immer wieder wechselte das Auto seine Richtung, wenn Semir eine Abzweigung nahm, Ben konnte zwischen den Vordersitzen aus der Frontscheibe immer mal sehen, wenn sein Partner wild am Lenkrad kurbelte. "Semir...", sagte er keuchend und griff nach dem rechten Arm seines Partners. "Ben halt durch... wir schaffen es.", sagte der erfahrene Polizist. "Du musst Ayda retten... du... du musst deine Tochter retten.", sagte Ben leise.



    Andrea war endgültig zusammengebrochen. Sie konnte sich nicht mehr wehren, sie konnte nicht mehr hinsehen... sie war einfach zu schwach für alles, was auf sie einprasselte. Der Arzt schickte sie nicht mehr raus, nachdem sie einigen Abstand vom Bett genommen hatte und er ausserdem einen verbalen Einlauf von Frau Engelhardt erhalten hatte. Gerade musste er nochmal den Defibrillator bei Ayda einsetzen, einmal, zweimal, bevor sich das wilde Piepsen wieder zu einem regelmäßigen Ton geändert hatte. "Wir können das nicht die ganze Zeit so weitermachen.", stöhnte der Arzt, der Ayda natürlich nicht aufgeben wollte aber irgendwann würde ihr junger Körper das nicht mehr mitmachen.
    Die Chefin hatte Andrea weiter im Arm und sie spürte, dass die unangenehme Wahrheit irgendwann heraus musste. "Andrea... es tut mir unendlich leid, aber wir müssen jetzt entscheiden, was passiert. Die Ärzte können Ayda nicht ewig künstlich am Leben halten." Was meinte sie damit, fragte Andrea sich für einen Moment. Sie konnte doch nicht einfach entscheiden, ob sie Ayda sterben lassen sollten... ohne Semir. Das durfte einfach nicht passieren. Sie mussten sie hier behalten, sie mussten ihre kleine Tochter retten. Andrea war nicht fähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen und blickte herum. Der Blick auf ihre kleine Tochter brach ihr beinahe das Herz.
    Als das Telefon der Chefin klingelte, drehte sich einer der Arzthelfer herum: "Sind sie wahnsinnig? Hier sind Mobiltelefone verboten!", zischte er und die Chefin machte eine abwehrende Handbewegung und hob ab: "Herzberger, was gibts?" "Semir ist uns gerade entgegen gekommen, mit Blaulicht und Vollgas. Es kann nur noch Minuten dauern.", gab der dicke Polizist durch, während im Hintergrund Quietschgeräusche zu hören waren, weil Bonrath den großen Porsche Cayenne wendete. "Danke Herzberger.", sagte die Chefin und legte sofort auf. "Semir wird gleich hier sein. Er hat es bestimmt geschafft. Ayda wird nicht sterben.", sagte sie voll Überzeugung zu Andrea.



    An der Einfahrt zum Krankenhaus nahm Semir einem Audi die Vorfahrt und brauste links am Krankenhaus vorbei, wo sonst nur Zugang für Rettungswagen war. Die Schranke, die die Fahrer der RTWs öffnen und schließen konnten, hielt ihn auch nicht auf, sie zersplitterte in ihre Einzelteile. An der Pforte, wo man sofort zur Intensivstadion gelangte, hielt Semir mit quietschenden Reifen an. "Wir brauchen sofort einen Arzt!!", schrie er laut, nachdem er aus dem Auto gesprungen war und die Tür aufgerissen hatte. Dann rannte er zurück zum Wagen, wo Kevin bereits dabei war, Ben aus dem Auto zu helfen. "Hier Semir... schnell... rette Ayda.", sagte Ben und öffnete erst jetzt die Hand mit dem Glasfläschchen darin. Semirs Atem überschlug sich, er fühlte sich von zwei Mächten hin und her gerissen. "Lauf schon, ich bleib bei Ben.", bekräftigte auch Kevin seinen Partner. Aber Semir hatte plötzlich Angst... Angst davor, Ben nicht lebend wieder zu sehen. "Ich... ich kann dich doch jetzt nicht alleine lassen.", stammelte er, doch plötzlich erwachten in Ben ungeahnte Kräfte, als er mit einer Hand und schmerzverzerrtem Gesicht seinen Partner am Kragen packte. "Und ich sage, du rennst sofort hoch zu deiner Tochter! Sonst mache ich es selbst! Na los!!", sagte er deutlich mit zusammengebissenen Zähnen. Semir nickte... Ben hatte sein Leben riskiert, um Ayda zu retten... und er wollte nicht, dass es umsonst war. "Danke, Partner.", sagte der erfahrene Polizist und drückte Ben einen Kuss auf die Wange, bevor er sich umdrehte und im Sprint durch die Tür raste. "Er muss es schaffen, Kevin...", sagte Ben leise, als ihn zwei Sanitäter langsam auf eine Bahre legten. Das letzte, was Ben zu ihm einige Minuten später auf dem Weg in den OP war, bevor er das Bewusstsein verlor, war: "Wir haben... es geschafft?" Kevin wusste nicht, ob es eine Aussage oder eine Frage war, aber er geriet in Panik, als Bens Kopf zur Seite fiel.



    Der Weg erschien ihm unglaublich lange... da ein Flur, eine Abzweigung, Treppen nach oben, nochmal eine Abzweigung, und nochmal ein langer Flur. Semir hatte Ausdauer für drei beim Laufen, und so schnell rannte ihm keiner davon. Aber jetzt saß ihm der schlimmste Feind im Nacken, den er sich vorstellen konnte... die Angst. Die Angst um seine Tochter, die Angst um sein Kind. Eine Krankenschwester sprang zur Seite, um vom Kommissaren nicht über den Haufen gerannt zu werden, und endlich war er an dem Zimmer seiner Tochter angekommen. Der Polizist drückte die Tür auf und erblickte zuerst seine zusammengesunkene, von der Chefin gehaltene Frau, die jetzt hoffnungsvoll aufblickte, als die Tür sich öffnete. Dann sah er auf das Bett, um das Ärzte und Krankenschwestern standen, an seiner Tochter arbeitend, den Defibrillator in der Hand. Für einen Moment dachte Semir, dass er zu spät sei. "Hier! Spritzen sie ihr das!", sagte er sofort zu einem der Ärzte. "Gehen sie vom Bett weg, lassen sie uns arbeiten.", sagte einer sofort, weil er nicht sofort durchblickte, was Semir wollte. "Spritzen sie ihr das! Ich bin der Vater, damit können sie ihr helfen." Er wusste, dass es keinen Ausweg gab. Entweder sie würde durch das Zeug gerettet... oder sie starb so oder so. Es nutzte nichts, darüber nach zu denken, ob das Zeug wirklich ein Gegengift war oder nicht. "Um Himmels Willen, tun sie was er sagt.", rief Frau Engelhardt aus dem Hintergrund. Die Ärzte sahen einander an, sie hatten ihre Vorschriften, sie würde man verantwortlich machen. Semir zog seine Dienstwaffe, entsicherte sie und zeigte damit Richtung Boden. "Wenn ich sie mit einer Waffe bedrohe, sind sie nicht haftbar zu machen. Jetzt spritzen sie ihr das verdammte Zeug!", schrie er erregt, und der Arzt nickte. Eine Krankenschwester zerbrach den Kopf der Ampulle, und zog die Spritze damit auf, übergab sie dem Arzt, der die Nadel in die Kanüle an Aydas Arm einführte.



    Das Gegenmittel verdrängte das Gift im Blut, und Aydas Körper war an sich gesund. Ihr Gehirn sendete sofort Signale aus, die Vitalfunktion wieder aufrecht zu erhalten, das Mittel, dass dieses Signal langsam ausgeschaltet hatte, wurde langsam verdünnt. Andrea und die Chefin blickten wie gebannt, genau wie die Ärzte und Semir, der dicht bei Ayda war und ihre Hand hielt. "Bitte verlass mich nicht, mein Schatz...", sagte er leise und allmählich fiel das ganze Adrenalin von Semir ab. Das Gerät begann wieder, im Takt Töne von sich zu geben, nach wenigen Minuten stellte sich auch das selbstständige Atmen wieder ein. Die Ärzte sahen einander an, ungläubig aber erfreut. "Was war das? Was haben sie uns da gegeben?", fragte einer von ihnen, und Semir drehte sich um zu ihm. Seine Augen schimmerten voll Tränen als er erschöpft sagte: "Ich habe keine Ahnung... ich... ich habe keine Ahnung." Während dieses Satzes brach er langsam in Tränen aus, Andrea kam sofort zu ihm, ebenfalls weinend und ergriff die Hand ihres Mannes, die die ihrer Tochter hielten. Einer der Ärzte nahm Ayda die Atemmaske ab, und konnten sofort erkennen, dass das Mädchen selbstständig atmete. Die Ampulle war durch eine Spritze nur zu einem Drittel entleert und der Arzt befehligte sofort, das Mittel gleichmäßig gemäß dem Zustand an die restlichen Komakinder zu verteilen.
    Auch Anna Engelhardt, die dicht am Bett nun stand und Semir eine Hand auf die bebende Schulter legte, konnte ihre Rührung nicht zurückhalten. Sie hatte gebangt, und es geschafft, ihre Emotionen zurück zu stecken um somit für Andrea ein Halt zu sein. Jetzt brach auch ihre Schutzwand ein, und sie wischte sich schnell eine Träne aus dem Gesicht.



    Semir legte Aydas Hand, die auf den Druck reagierte und sich sanft schloß, in die seiner Frau. "Ich muss sofort zu Ben...", sagte er und wischte sich die Tränen ab. Er wusste, dass seine Tochter gerettet war... jetzt musste er sofort zu seinem Freund... zu seinem Partner. "Was... was ist mit Ben? Semir!?", sagte Andrea noch, doch ihr Mann hatte das Zimmer bereits verlassen. So schnell ihn seine Füße trugen rannte er die Treppen wieder herunter, nahm die Abzweigungen um wieder zum Ausgangspunkt zu kommen. Ein Sanitäter am Ausgang verwies ihn auf den OP.
    Der Polizist konnte seine Gefühle nicht beschreiben. Sein Herz voll Freude über Ayda, aber voll Sorge über Ben... und die Emotionen die ihn befielen, als er in den Flur gelangte, der erst von der OP-Tür beendet wurde, und er eine an der Wand neben den Stühlen auf dem Boden sitzende Gestalt erblicken konnte, bedeckt von Staub und Dreck mit einem blutenden Cut im Gesicht, blutverschmiertem Oberteil und unendlicher Leere im Gesicht... sie verfolgten Semir noch Wochen. "Kevin?", fragte er beinahe zaghaft, als sein Lauf sich zum Schritttempo verringerte, bis er vor seinem Partner stand. Kevin sah auf den Boden, verloren wie ein zerbrochenes Porzellan... und Semir deutete den Ausblick in seinen Augen, die Emotionen, die den jungen Polizisten geraden befielen. Und alle Freude und Sorge in seinen Herzen waren mit einem Schlag verschwunden, ein Loch im Boden tat sich unter ihm auf und wollte ihn verschlingen. Langsam, wie in Trance, bewegte sich der Kopf des Mannes, der gerade sein Leben für seine Tochter riskiert hatte, nach links und rechts: "Nein... bitte nicht..." und der Blick aus den eiskalt blauen Augen seines Freundes auf dem Boden, trafen Semir bis ins Mark...




    ENDE

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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