VerBrandt

  • VerBrandt


    Wohnung von Semir und Andrea (an einem Freitag um 8:30 Uhr)


    Semir und Andrea wohnten nun seit mehreren Wochen gemeinsam in Semirs Drei-Zimmer-Wohnung in der Kölner Innenstadt. Es war eng für die vierköpfige Familie, aber sie hatte sich mittlerweile darauf eingestellt, nicht mehr ein ganzes Haus zur Verfügung zu haben. Auch Ayda und Lilly kamen gut mit der neuen Situation und dem einen Kinderzimmer zurecht, obwohl es immer wieder mal zu geschwisterlichen Zankereien kam. Viel wichtiger war ihnen doch, wieder mit Mama und Papa zusammen zu leben, denn die Trennung war auch an ihnen nicht spurlos vorüber gegangen. Dass Ayda bereits zur Schule ging und Lilly noch den Kindergarten besuchte, sorgte mitunter für Streit, den Andrea zu schlichten vermochte, indem sie den Kinderschreibtisch kurzerhand ins Wohnzimmer verfrachtete und so zumindest für eine gewisse räumliche Trennung der Mädchen während Aydas Hausaufgaben sorgte.


    Noch oft dachte Andrea an das durch ihre Mitschuld "verlorene" Haus, und sie ertappte sich mitunter dabei, in der Zeitung verstohlen die Angebote von Häusern zu überfliegen. Aber obwohl der Verkauf ihres Eigenheims ein schönes Plus auf ihre Konten gespült hatte, zögerte sie noch, ihren Wunsch laut auszusprechen. Sie wollte die Sache mit Semir nicht überstürzen und sich Zeit lassen. Und ihr gefiel auch die Innenstadtlage der jetzigen Wohnung, das musste sie zugeben. Zwar vermisste sie den Garten, aber der machte auch immer viel Arbeit und kostete Zeit, Zeit, die sie nun auf der Dachterrasse über der Innenstadt von Köln verbringen konnten und welche Andrea in den vergangenen Wochen, die sie nun hier wohnte, mit einigen größeren und kleineren Kübelpflanzen in ein kleines grünes Paradies verwandelt hatte.


    Zu den Nachbarn hatte sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Die, zu denen sie näheren Kontakt hatten, freuten sich mit Semir darüber, dass seine Familie zu ihm zurückgekehrt war. Nadine, die 16-jährige Tochter von Herrn und Frau Vogt, die die Wohnung unter ihnen bewohnten, war ganz vernarrt in Ayda und Lilly und hatte schon öfters stundenweise auf die beiden Mädchen aufgepasst.


    Aber einen Nachteil hatte die Wohnung, auf den Andrea immer wieder unangenehm aufmerksam wurde: Es gab nur einen Stellplatz in der Tiefgarage. Und da stand, wenn Andrea und Semir gemeinsam zuhause waren, der Dienstwagen, damit Semir schnell startklar war, sollte er zu einem Einsatz gerufen werden, und nicht erst zwei, drei Straßen weit zu seinem Auto laufen musste. Diese Extra-Bewegung blieb Andrea vorbehalten, die darüber natürlich nicht immer erfreut war, insbesondere dann, wenn sie mit zwei Kindern und dem Wocheneinkauf nach Hause kam. Sie standen zwar auf der Warteliste für einen weiteren Garagenplatz, aber das könnte noch dauern, hatte ihnen ihr Vermieter vor drei Wochen gerade mal wieder versichert. So war oft das Fahrrad oder der Bus das Transportmittel ihrer Wahl, und wenn Andrea schon mal einen Parkplatz in unmittelbarer Nähe besetzen konnte, war sie nicht bereit, diesen so schnell wieder herzugeben.


    An Robert verschwendete Andrea kaum noch einen Gedanken. Nachdem sie ihre Sachen und die ihrer Töchter aus dem Haus des korrupten ehemaligen Bauamtsmitarbeiters geräumt hatte, war diese Episode für sie abgeschlossen. Sie konnte immer noch nicht ganz begreifen, dass sie mal so viel für diesen Kerl empfunden hatte, dass sie sogar bereit gewesen wäre, ihr Familienglück aufs Spiel zu setzen.


    Mit Semir hatte Andrea sich ausgesprochen, sie hatten ein paar Tage Urlaub zu zweit verbracht und waren sich über ihre Situation und ihre Liebe zueinander klar geworden. Sie hatten beschlossen, aus den beiderseitigen Fehlern zu lernen. Beide hofften, es würde ihnen gelingen, nicht zuletzt für ihre Kinder, wieder eine Familie zu werden.


    An diesem Freitag verließ Semir morgens etwa eine Stunde nach Andrea seine Wohnung und stieg die Treppe zur Tiefgarage hinab, als sein Vermieter ihn abpasste.


    »Herr Gerkan? Haben Sie mal fünf Minuten?« Semir warf einen kurzen Blick auf seine Uhr und nickte dann. »Es geht um Ihre Wohnung.«

  • Vermieter


    »Um meine Wohnung? Hat sich jemand beschwert, sind die Kinder zu laut?« – »Nein, Herr Gerkan, keine Sorge, ganz was anderes. Holger Nagel, ihr direkter Nachbar, hat seine Wohnung gekündigt und zieht in wenigen Monaten aus. Nun ist mir die Idee gekommen, da Ihre Wohnung für eine vierköpfige Familie auch recht knapp bemessen ist, beide Wohnungen auf Ihrer Etage zusammen zu legen. Sie hätten dann zwei Zimmer mehr, die Küche würde sich vergrößern, weil beide Küchen sich zurzeit eine Wand teilen, die ich dann herausreißen würde, und ein zweites Badezimmer ist doch auch nicht zu verachten.« – »Zwei Zimmer mehr, das wäre schon schön«, dachte Semir laut, »Was würde uns das denn kosten?« – »Darüber müssten wir noch im Detail reden, so zwischen zwei- und dreihundert Euro müsste ich schon haben.« Semir zögerte. Er hätte gerne sofort zugesagt, die Vorstellung, wieder in einer geräumigeren Wohnung zu leben, in der auch jeder von ihnen mal die Möglichkeit hätte, sich zurückzuziehen, sie Gäste unterbringen könnten, die Mädchen jeder ihr eigenes Zimmer hätte, war in der Tat reizvoll. Aber er wollte Andrea nicht vor vollendete Tatsachen stellen und antwortete daher nur: »Ich muss erst mit meiner Frau reden, ihr gefällt die Wohnung und ihre Lage, das ist es nicht, aber es gibt da ein kleines Problem, …«


    »Ach, das hatte ich noch gar nicht erwähnt, Herr Gerkan. Ein kleines Schmankerl wäre auch noch dabei: zu der Wohnung von Herrn Nagel gehört ein Stellplatz in der Tiefgarage, den Sie dann übernehmen könnten.« Der Vermieter begann zu grinsen, damit hatte er Semir die Lösung für das angedeutete Problem präsentiert. Semir erkannt diesen Schachzug, und stieg darauf ein. »Der Stellplatz alleine wäre zweihundert Euro wert. Wo soll ich unterschreiben?« – »Wir sollten nichts überstürzen. Besprechen Sie es in aller Ruhe mit Ihrer Frau, dann setzen wir uns nächste Woche mal zusammen und gehen die Pläne durch. Die Bauarbeiten sind ja auch nicht zu unterschätzen.« Semir nickte zustimmend. »So machen wir es, ich melde mich Montag oder Dienstag bei Ihnen.«


    Mit dem Gedanken an das Angebot seines Vermieters fuhr Semir in die PAST. Das Angebot ihres Vermieters klang verlockend. Eine größere Wohnung ohne Umzuziehen - zu schön um wahr zu sein. Er würde gleich am Abend mit Andrea sprechen. Obwohl er wusste, dass sie gerne im Grünen lebte und es für die Kinder natürlich toll wäre, außerhalb der Großstadt in einer grünen und kinderfreundlichen Umgebung aufzuwachsen, hatte doch eine Wohnung in der Innenstadt durchaus auch unschlagbare Vorteile. Und wenn durch diese Gelegenheit auch Andreas tägliches Problem der Parkplatzsuche der Vergangenheit angehörte…?


    Tagsüber wurde die Angelegenheit vom Alltag verdrängt. Alex und Semir fuhren zu einem Einsatz auf einem Rastplatz, wo sich zwei Autos auf dem Parkplatz ineinander verkeilt hatten. Die Fahrer hatten Glück. Der Unfall war schnell aufgenommen, die Schuldfrage rasch geklärt. Genau auf diesem Rastplatz befanden sich Werkstatt, Pannenservice und PKW-Verleih von Sascha Mirnov. Der Wagen des Unfallverursachers war nicht mehr in fahrbereitem Zustand, das Blech des Kotflügels blockierte den rechten Vorderreifen, und so machte Alex ihm den Vorschlag, ihren Wagen doch bei Sascha zu lassen und die Fahrt mit einem der Leihwagen fortzusetzen. Darauf ging der Autofahrer ein und verließ schon bald in einem weißen Golf wieder den Rastplatz. Sascha winkte ihm kurz nach und trat dann zu den beiden Autobahnpolizisten zu einem kurzen Gespräch. »Habt ihr mal einen Moment?« – »Für dich doch immer, Sascha«, lautete Alex‘ Antwort.


    »Passt auf, ich weiß nicht, ob da etwas dran ist, aber ich sehe hier schon seit einiger Zeit öfters einen Transporter, der hier auf dem Parkplatz längere Zeit steht. Und ich sage euch, da gehen merkwürdige Dinge vor.« – »Merkwürdige Dinge?«, fragte Semir, »wo ist der Transporter?« – »Ja, heute ist er nicht da, aber ich habe ihn auch auf Band meiner Überwachungskamera, und ich kann euch das Kennzeichen geben.« – »Was meinst du mit ‚merkwürdige Dinge‘?« – »Na ja, der Transporter steht stundenlang da, dann kommen ab und an PKWs, halten an, unterhalten sich mit den Personen im Transporter, lassen jemanden einsteigen und fahren wieder ab, das sieht mir nicht koscher aus, Semir.« Sascha blickte seinen langjährigen Freund an. Dann zog er einen Block und Kuli aus seiner Brusttasche und notierte aus dem Gedächtnis das Kennzeichen des ihm verdächtig vorkommenden Transporters. Er riss das Blatt ab und reichte es Alex, der es zusammengefaltet in seine Jeans steckte.


    »Cobra 11 für Zentrale!«, klang Susannes Stimme aus dem mit offenen Türen vor der Werkstatt stehenden BMW. Alex ging zum Wagen und beantwortete den Funkspruch. Semir fragte Sascha noch mal: »Bist du dir ganz sicher, Sascha? Mir scheint, du siehst zu viele Krimis. Aber das Kennzeichen werden wir nachher –» – »Semir! Einsatz!«, flötete Alex vom Wagen aus und saß bereits auf dem Beifahrersitz. » – überprüfen«, vollendete Semir den Satz, »Wir müssen los. Wir sehen uns heute Abend auf deiner Party. Ciao!«, und damit war Semir schon hinter seinem Lenkrad verschwunden und startete den Dienstwagen. »Wohin geht’s?«

  • Sascha


    Sascha Mirnov war vier Jahre alt, als seine Eltern mit ihm und seiner älteren Schwester Tonja Anfang der Achtziger Jahre aus Russland fliehen konnten. Sein Vater war Kinderarzt und fand in der Kölner Uni-Klinik eine Anstellung, seine Frau blieb zunächst mit den Kindern zuhause und machte sich später als Übersetzerin und Russisch-Lehrerin selbstständig. Dank der Bemühungen ihrer Eltern, Sascha und Tonja möglichst rasch in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, lernten die Kinder rasch deutsch und fanden im Kindergarten und in der Schule schnell Freunde. Schon bald konnten sie sich an die Umstände ihrer Flucht gar nicht mehr erinnern.


    Tonja ergriff nach ihrem Schulabschluss den Beruf der Erzieherin und arbeitete nunmehr seit über zehn Jahren in einem Kindergarten in Mannheim. Sascha absolvierte eine Kfz-Lehre und ging, nachdem er mehrere Jahre als Geselle gearbeitet hatte, zur Meisterschule, um sich mit dem dort erworbenen Meistertitel selbstständig zu machen. Dieser Traum ging vor mehreren Jahren in Erfüllung. Seitdem ist er im Besitz einer eigenen Werkstatt direkt an der Autobahn. Aufgrund der Nähe zur PAST ist er auch zuständig für Inspektion und Wartung der Dienstfahrzeuge und führt erforderliche Reparaturen aus. Zu seiner Werkstatt gehören neben einer Waschanlage auch ein Pannenservice, ein Abschleppdienst und ein PKW-Verleih. Er konnte liegen gebliebenen Autofahrern einen Rundumservice bieten, defekte Autos abschleppen, Fahrer mit Ersatzfahrzeugen versorgen und die defekten Autos in seiner Werkstatt reparieren.


    Seit acht Jahren war Sascha nun mit Claudia verheiratet, die für ihren Mann die Büroarbeit erledigte, und hat mit ihr zwei Kinder, Lukas und Laura. Laura war gerade acht Monate, Lukas fünf Jahre alt, und er besucht den Kindergarten. Über ihren Mann hat Claudia auch Andrea kennen gelernt und sich mit ihr angefreundet.


    Sascha war ein Mann, dem man nicht abnahm, dass er überhaupt jemals in der Lage wäre, schlechtgelaunt zu sein. Stets ein Liedchen summend, verbreitete er auch in der PAST gute Laune, wann immer er dort auftauchte, um die Wagen zur Inspektion abzuholen oder zurückzubringen. Immer hatte er einen Scherz auf den Lippen, er schaffte sogar Dieter Bonrath aufzuheitern, wenn dieser sich gerade mal wieder über den Umgang seiner Kollegen mit ihren Dienstwagen aufregte. Auch an diesem Freitag ließ die Laune des großgewachsenen Polizisten zu wünschen übrig, als Sascha die Dienststelle betrat. »Hallo, Dieter!«, rief er fröhlich durch das Großraumbüro, »Du hattest mich gerufen. Hier bin ich, was kann ich für dich tun?«, ahmte er einen bekannten Schuldnerberater aus dem Fernsehen nach. »Komm mit raus, ich zeig’s dir«, brummte Dieter, stand von seinem Schreibtisch auf und ging mit Sascha auf den Hof vor der PAST. »Sind Alex und Semir noch nicht wieder da?«, fragte Sascha sich umschauend. »Nein, und das ist auch gut so! Ich wüsste nicht, ob ich mich beherrschen könnte …« – »Dieter, so schlimm kann es doch nicht sein.«


    Sie blieben vor dem Mercedes von Hauptkommissar Alex Brandt stehen.


    »Nun sieh dir bitte mal an, was die mit ihrem Dienstwagen angestellt haben. Hier die Beifahrertür!« – »Zerschrammt, wie wunderbar, neue Tür, neue Lackierung«, freute sich Sascha. »Und hier der Kotflügel, verbeult und auch total zerschrammt.« – »Klasse, da kann mein Azubi das Ausbeulen üben.« – »Und die Windschutzscheibe hat auch einen Schmiss«, schimpfte Dieter weiter. »Das freut mich besonders! Dieter, nun sei doch nicht so böse, hast du vielleicht schon mal daran gedacht, dass ich von diesen Aufträgen lebe?« – »Und hast du vielleicht schon mal darüber nachgedacht, wer für diese Schäden bezahlt?« – »Mich interessiert mehr, wer das Geld bekommt. Und das finde ich großartig. Fahrbereit ist der Wagen?« Dieter nickte nur.


    »Warum können wir eigentlich nicht mal einer Meinung sein, Sascha?« – »Ganz einfach, weil wir dann beide unrecht hätten, Dieter«, antwortete Sascha mit seinem umwerfenden Lächeln im Gesicht und hielt die Hand auf, um den Wagenschlüssel entgegen zu nehmen, »wir sehen uns heute Abend?«, wollte er noch von dem großgewachsenen Polizisten wissen. »Ja, aber ich habe Frühschicht morgen, kann daher nicht lange bleiben, aber ich freue mich drauf!«, antwortete Dieter.


    Darauf winkte Sascha seinem Azubi zu, der im Werkstattwagen saß und nun mit leerem Anhänger zurück fuhr, während er selbst den Mercedes startete und einen jetzt doch schmunzelnd mit dem Kopf schüttelnden Dieter Bonrath auf dem Polizeihof stehen ließ.

  • Inspektion


    Als Sascha mit Alex‘ lädiertem Dienstwagen auf den Hof seiner Werkstatt rollte, fiel ihm wieder der Transporter auf, der erneut in derselben Ecke des Parkplatzes stand. Dieses Mal war aber kein Mensch weit und breit zu sehen, so genau Sascha auch etwas zu erkennen versuchte.


    »Was schaust du so in der Gegend herum?«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken, und Sascha fuhr herum. »Ben! Schön, dich zu sehen! Du kommst doch hoffentlich nicht, um für heute Abend abzusagen. Wäre nämlich sehr schade.« – »Nein, was bringst du da? Alex‘ Wagen?« – »Ja, kleiner Blechschaden. Und was machst du hier?« Ben deutete auf seinen Wagen, den er vor der Tür zur Werkstatt abgestellt hatte. »Kannst du dir den Audi mal ansehen, er zieht nicht richtig. Inspektion ist auch fällig. Dann noch eine gründliche Innenreinigung und Wagenwäsche. Ist etwas mit dem Transporter, du siehst da immer wieder hin?«, fragte Ben schließlich, dem Saschas Blicke nicht entgangen waren, »Stört er dich? Darf er dort nicht stehen?« – »Nein, es ist nur…hm…, vielleicht ist auch nichts. Ich sehe halt ab und zu Autos und Menschen.«


    Ben begann zu lachen. »Sascha, du hast eine Autowerkstatt, ein Autoverleih, eine Autowaschanlage direkt an einer Autobahn neben einem Autorastplatz«, Ben betonte jedes Mal den Wortteil »Auto« besonders, »und du wunderst dich, dass du Autos siehst? Mensch Sascha, du lebst doch von Autos! Du solltest froh sein, Autos zu sehen.« – »Ben, du hast ja Recht, aber es ist trotzdem sonderbar.« – »Wenn du dir Sorgen machst, dann solltest du es Alex oder Semir sagen«, schlug Ben vor. »Das habe ich schon heute Morgen versucht, aber die beiden sind zu einem Einsatz gerufen worden und mussten weg. Und Semir hat mich nicht wirklich ernst genommen, glaube ich«, antwortete Sascha und kam dann auf Bens Wagen zurück.


    »Brauchst du einen Leihwagen? Etwas Schickes, Außergewöhnliches?« – »Komm, Sascha, ich kenne deine Flotte, da ist nichts Außergewöhnliches dabei.« – »Ich gebe dir mein bestes Stück, den schwarzen Touareg da hinten. Wie wäre es? Bis Dienstag?« – »Geht klar. Nun erzähl, was hast du beobachtet?« Ben merkte, dass Sascha etwas bedrückte, und er wollte ihm zumindest ein offenes Ohr bieten. Außerdem war seine Neugier geweckt. Wenn jemandem, der die ganze Zeit von Autos umgeben ist, ein Auto besonders auffiel, kann da schon mehr dran sein, und genau das wollte er nun von seinem Freund erfahren. »Nicht nur beobachtet, auch gefilmt. Meine Überwachungskamera hat was aufgezeichnet. Komm rein, ich mache die Papiere fertig.«


    Ben betrat hinter Sascha das kleine Büro und begrüßte Claudia, die an ihrem Schreibtisch saß und Papiere sortierte und abheftete. In der Ecke hinter ihrem Tisch lag Laura in einer Kinderschale und schlief. Die Blondine schaute von ihrer Arbeit auf, als die Männer eintraten. »Hallo Ben! Auto kaputt?« – »Na, ich hoffe doch nicht, eine Kleinigkeit vielleicht. Und die Jahresinspektion ist fällig.«


    Ben nahm auf einem Besucherstuhl Platz. Sascha begann, das Werkstatt-Formular auszufüllen. »Wie lautet dein Kennzeichen?« – »K – BJ 11. So, schieß los, was ist mit dem Transporter?«, forderte er den Werkstattbesitzer erneut auf. Dieser legte seinen Kugelschreiber hin und begann Ben von seinen Beobachtungen zu erzählen.


    »Fast jeden Tag sehe ich den Transporter. Er kommt, fährt in die Ecke des Parkplatzes, wo er auch jetzt steht. Dann wartet er dort, bis andere Wagen kommen, die zu ihm hinfahren. Erst dann öffnen sich die Türen, und aus dem Transporter steigen Menschen in die angekommenen Wagen um und fahren mit diesen weg. Männer, Frauen, auch Kinder dabei, manchmal nur eine Person, manchmal gleich drei oder vier. Dann fährt auch der Transporter wieder weg und kommt am nächsten Tag wieder. Es gibt auch Tage, an denen er nicht herkommt.« – »Vielleicht Arbeiter, eine Fahrgemeinschaft?« – »Und wie erklärst du mir dann, dass ich nie eine Person wieder gesehen habe, sondern immer andere? Niemals jemand ein zweites Mal? Und die Wagen, die sie abgeholt hatten, waren auch alle unterschiedlich. Und der Transporter holt nie welche ab, er bringt immer nur.«Ben grübelte ein wenig, nickte dann. Er stimmte Sascha zu. Das war in der Tat merkwürdig. »Das hast du Semir erzählt?« – »Ja, ich habe Alex das Kennzeichen gegeben, er wollte es überprüfen. Ich sollte mich wieder bei ihnen melden, wenn der Transporter wieder hier ist.« – »Jetzt ist er doch da, ruf doch an.« In diesem Moment hörten sie den Motor des Transporters starten und der Wagen fuhr an der Werkstatt vorbei auf die Autobahn. »Zu spät, aber der kommt wieder!«


    Claudia erhob sich, räumte ihren Schreibtisch auf und nahm den Kindersitz mit ihrer und Saschas Tochter in die Hand. Mit einem Blick zur Wanduhr meinte sie »Ich muss meine Eltern vom Bahnhof abholen. Sie hüten die Kinder heute Abend, damit ich auch mal wieder feiern gehen kann. Du kommst doch, Ben?« – »Als würde ich mir Saschas Geburtstagsfeier entgehen lassen. Natürlich bin ich dabei. 19:30 bei Dimitrij, wie vereinbart.« – »Genau, ich freue mich auf den Abend, aber jetzt muss ich mich schon beeilen, zum Bahnhof, dann Lukas aus dem Kindergarten holen.« Sie verabschiedete sich von Ben mit einer kurzen Umarmung, gab ihrem Mann noch einen Kuss. »Tschüß, bis nachher.« – »Tschüß, mein Schatz. Fahr vorsichtig. Denk daran, du transportierst das Wertvollste, das ich in meinem Leben besitze!«, rief Sascha Claudia mit einem liebevollen Blick auf seine schlafende Tochter nach. »Meine Eltern, meinst du?«, antwortete diese im Umdrehen und lachte. Es war dieses Lachen, welches Sascha von Beginn an in seinen Bann zog und welches er an Claudia so liebte.


    Sascha reichte Ben den Autoschlüssel und die Papiere des Touareg. »Hier, noch zwei Unterschriften, eine für den Werkstattauftrag und eine für den Leihwagen, dann sind wir auch fertig. Dienstag zur selben Zeit kannst du deinen Wagen wieder abholen.«


    Sascha erhob sich und brachte Ben noch vor die Tür. Dieser setzte sich in den geliehenen SUV, während Sascha Alex‘ Dienstwagen in die Halle fuhr.

  • Die Geburtstagsfeier (Freitagabend, 19:30 Uhr)


    Saschas Geburtstagsfeier fand in der Kneipe seines Cousins Dimitrij statt, die direkt an der Rheinpromenade lag. Gegenüber trennte sie nur der Radfahr- und Fußgängerweg und ein breiter Rasenstreifen von der Steinböschung am großen Strom. Bänke gestatteten Spaziergängern, eine gemütliche Rast einzulegen und beim Blick auf vorbeiziehende Frachtschiffe und den ab- und anlegenden Ausflugsdampfern die Seele baumeln zu lassen.


    Er freute sich, sowohl seine Freunde, als auch Familienangehörige zu seiner Party begrüßen zu können. Dimitrij hatte bei einem Partyservice ein Essen bestellt, er in seiner Kneipe selber nur eine kleine Küche besaß, in der er maximal Schinken- und Käsebrote zubereitete, die er zum Bier anbieten konnte. Aber heute Abend gab es eine leckere Suppe, Braten mit Bratkartoffeln, Fisch, Käse, Obst und Desserts, die Dimitrij bei einem Lieferdienst bestellt hatte. Das Essen zog sich über mehrere Stunden hin und mit der Zeit und dem bei einigen Gästen feststellbaren Alkoholpegel stieg die Stimmung.


    Semir war mit Andrea gekommen, die einmal wieder die Nachbarstochter Nadine als Babysitter gewinnen konnte, die es sich auf dem Sofa im Gerkan’schen Wohnzimmer bequem machen und mitgebrachte DVDs schauen wollte. Ayda und Lilly hatten sie schon im Schlafanzug begrüßt und ihren Eltern bei deren Aufbruch hoch und heilig versprochen, ganz brav um 20:00 Uhr im Bett zu sein und Nadine nicht auf den Wecker zu fallen. Andrea war davon überzeugt, dass Nadine das schon irgendwie hinbekommen sollte. Für sie war das Wichtigste, dass die Person, die ihre Kleinen beaufsichtigte, zu verhindern verstand, dass diese nachts die Wohnung verließen, um durch die Nachbarschaft zu streifen, mit Messern und Scheren spielten, ihre Finger in die Steckdosen oder die Wohnung in Brand steckten oder Horrorfilme im Fernsehen sahen, zu denen Andrea mittlerweile auch einen Großteil der Nachrichten zählte. Und in diesen Punkten konnte sie sich auf Nadine verlassen, das hatte die 16-Jährige schon des Öfteren unter Beweis stellen können. Und wenn sie und Semir nach der Feier nach Hause kämen und die Kinder lägen mit einer leeren Packung Schokolade und vollen Mägen auf der Couch, dann würden sie auch damit leben können, dann wäre es eben auch für die Kinder eine Party gewesen. So waren sie ganz beruhigt und amüsierten sich auf Saschas Geburtstagsfeier.


    Susanne freute sich, den Abend mal wieder ausgiebig mit Andrea quatschen zu können. Die beiden Frauen hatten sich länger nicht gesehen und daher viel zu erzählen.


    Alex war alleine erschienen. Lena, mit der er nach anfänglichen Schwierigkeiten seit einigen Wochen fest zusammen war, hatte eine neue Anstellung im Hotel Maritim gefunden und ausgerechnet an diesem Abend Dienst. Da sie noch neu im Betrieb war, mochte sie noch nicht um eine Änderung im Dienstplan bitten.


    Dieter Bonrath war ebenfalls zur Feier gekommen, musste sich aber schon bald nach dem Essen verabschieden, da er am nächsten Morgen Frühschicht hatte und sich nicht von Jenny den Spruch anhören lassen wollte, wer feiern könne, der könne auch arbeiten. Jenny selbst musste die Einladung von Sascha sehr zu ihrem Bedauern ablehnen, denn sie fiel auf denselben Tag wie der Geburtstag ihrer Mutter, die nur ungern auf die Anwesenheit ihrer Familie zu ihrem Ehrentag verzichtete.


    Ben unterhielt sich den Abend über blendend mit Dimitrij, der vor vielen Jahren selbst einmal in einer Band gespielt hatte und sich nun sehr für Bens Projekte interessierte. Ben lud ihn zu einer der nächsten Band-Proben ein und Dimitrij nahm die Einladung gerne an. Vielleicht würden sie mal einen Song gemeinsam schreiben und spielen, malten sie sich aus.


    Claudia und Sascha genossen ebenfalls den Abend ohne ihre Kinder. Claudias Eltern waren die besten Baby-Sitter, die sie sich vorstellen konnten. Auf sie war Verlass, so dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten. Saschas Familie, darunter seine Schwester Tonja sowie mehrere Cousins und Cousinen, mit Ehepartnern und Kindern verabschiedeten sich deutlich vor Mitternacht, schließlich blieben die PAST-Familie, Sascha und Claudia zurück. Aber allmählich erstarben auch hier die Gespräche und irgendwann nahm einer der Gäste das Wort »Abschied« in den Mund, und niemand widersprach. Sie waren im Begriff, gemeinsam Dimitrijs Kneipe zu verlassen, als aus einer Ecke der Gaststube auf einmal jemand laut rief:


    »Alex?«.


    Alex machte auf dem Absatz kehrt, stutzte einen Augenblick, zeigte dann aber Zeichen des Erkennens. »Stefan? Was machst du denn hier?« – »Bin zu Besuch. Was ist, trinken wir noch ein Bier zusammen?« – »Moment, Stefan. Ben, Semir, ich bleibe noch. Das ist Stefan, ein alter Schulfreund von mir.« – »Alles klar, wir sehen uns dann am Montag im Büro.«

  • Das war Claudia! (kurz nach Mitternacht)


    Außer Alex war die gesamte Feiergesellschaft gemeinsam auf den Bürgersteig getreten und stand noch einen Moment zusammen. Sascha begann die Verabschiedung. »Danke, dass ihr alle da ward. Wir haben unser Auto dort hinten abgestellt«, er wies den Weg am Rhein entlang, »muss noch jemand in die Richtung?« – »Ja, ich«, antwortete Ben, wurde aber von Susanne zurückgehalten. »Ben, dich wollte ich eigentlich fragen, ob du mich noch zu meinem Wagen bringen könntest. Das steht in diesem kleinen Parkhaus in so einer dunklen Gasse, du weißt schon, da gehe ich im Dunkeln ungern alleine hin.« Ben konnte der blonden Sekretärin diese Bitte natürlich nicht abschlagen. »Ich fahre dich dann auch zu deinem Wagen«, versprach Susanne und fing an, sich von ihren Freunden zu verabschieden. »Ihr habt es gut«, meinte sie zu Andrea und Semir, »ihr könnt zu Fuß nach Hause gehen.« Sie setzte sich mit Ben in Bewegung. Exakt die entgegen gesetzte Richtung schlugen Sascha und Claudia ein.


    Susanne hatte recht, Semir und Andrea befanden sich in der komfortablen Situation, dass nicht einmal 15 Minuten Fußweg sie von ihrer kleinen Wohnung in der Altstadt trennte, ein Weg, den Semir an diesem Abend gerne noch etwas hinauszögern wollte. Für ihn war jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, Andrea von den Plänen ihres Vermieters zu unterrichten.


    Er nahm seine Frau an die Hand und steuerte statt der Innenstadt die Wiese am Rhein an. Die Ruhebänke waren um diese Uhrzeit allesamt unbesetzt. »Wollen wir nicht nach Hause?«, fragte Andrea etwas verwundert. »Noch nicht, ich muss dir noch etwas sagen. Komm, wir setzen uns einen Moment.« Semir führte Andrea zu einer Bank. Dort wollte er Andrea davon überzeugen, dass der Vorschlag, ihre Wohnung mit der seines Nachbarn nach dessen Auszug in ein paar Wochen zusammenzulegen, für sie optimal sei.


    »Du Andrea, wir haben uns noch gar nicht darüber unterhalten, ob wir nun dauerhaft hier in der Stadt bleiben oder uns doch wieder nach einem Haus umsehen wollen. Was würde dir denn am besten gefallen?« – »Für die Kinder wäre ein Garten schon schön«, begann Andrea laut zu überlegen, »und wir hätten in einem Haus mehr Platz, denn uns fehlen ja doch ein bis zwei Zimmer. Ich müsste nicht täglich auf Parkplatzsuche gehen und nicht jeden Morgen überlegen, wo ich den Wagen am Vortag abgestellt habe.«


    Semir nickte, er verstand jeden der von Andrea angesprochenen Punkte. »Aber«, fuhr diese fort, »mir gefällt auch die Nähe zur Innenstadt und zum Rhein.« Bei den letzten zwei Wörtern drehte sie ihren Kopf zum Wasser. Semir rückte ein Stück näher an Andrea heran und legte einen Arm um ihre Schultern. »Was würdest du sagen, wenn es eine Möglichkeit gäbe, die von dir angeführten Nachteile auszuräumen, vom fehlenden Garten einmal abgesehen?« Semir grinste verschmitzt, Andrea zog ihre Stirn in Falten. Würde sie darauf kommen? »Du willst innerhalb der Stadt umziehen?« Aus Semirs Grinsen wurde ein Lächeln, und er wollte gerade etwas erwidern, da hörten sie ein entferntes Kreischen. Sie verstummten und starrten sich an. Da wieder, jetzt deutlich als Schrei einer Frau zu deuten.


    »Das war Claudia!«, riefen sie nahezu gleichzeitig.


    Andrea sprang auf, Semir stellte einen Fuß auf die Sitzfläche der Bank und sprang nach hinten über die Lehne. Wieder erklang ein schriller Schrei zu ihnen. »Andrea, hol Alex aus der Kneipe!«, forderte Semir seine Frau auf und setzte sich in Bewegung, »ich laufe schon vor«. Als Andrea kurz darauf Dimitrijs Kneipe betrat und Ausschau nach Semirs Partner hielt, war dieser schon nicht mehr zu sehen. Er war die kleine Straße entlang gerannt, bis er einen Durchgang zu einem Hinterhof erreichte und um die Ecke bog. Was er da sah, ließ ihm das Blut in den Adern stocken.


    Claudia wurde von zwei Männern in Motorradkluft festgehalten und wand sich in deren kräftigen Griffen; mit ungeahnten Kräften, ähnlich denen eines bedrängten Tieres, gelang es ihr beinahe, sich loszureißen, was die Männer allerdings zu verhindern wussten. Sie konnte ihren Blick nicht von dem Geschehen vor ihren Augen abwenden, wo vier weitere Männer auf den bereits regungslos am Boden liegenden Sascha einschlugen und –traten. »Hey!«, entfuhr es Semir, der sich in dem Moment seiner eigenen Unterlegenheit bewusst wurde, als sich gleichzeitig sieben Augenpaare in sein Gesicht bohrten, eines mit Tränen und Entsetzens gefüllt, sechs andere dagegen mit Wut und Hass.

  • Aussichtslos


    Semir erkannte erst jetzt, in welch aussichtsloser Situation er sich befand, unbewaffnet war er hilflos dieser Motorradgang ausgeliefert und bereute augenblicklich sein unüberlegtes Heranstürmen. Er hätte auf Alex warten sollen. Aber Claudias Schreie waren so intensiv an sein Ohr gedrungen, dass er gar nicht anders handeln konnte. Er hoffte nur, Alex würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.


    Einer der schwarz gekleideten Männer trat jetzt näher auf Semir zu, der instinktiv einen Schritt zurück wich. Aus den Augenwinkeln heraus bekam er mit, wie die anderen zur Seite traten, wie sie langsam einen Kreis um ihn herum bildeten. ‚Mist‘, dachte er, ‚ich werde noch genauso enden, wie Sascha, wenn nicht bald jemand vorbei kommt.‘ Er sah auf seinen Freund, der blutüberströmt auf dem Asphalt lag. Dann aber blieben seine Augen an einem Messer hängen, das sein Gegenüber gezogen hatte und nun aufschnappen ließ. Die etwa 15 cm lange Klinge blitzte im gedämmten Licht der Straßenlaterne. »He he«, versuchte er seinen Gegenüber zur Vernunft zu bringen und breitete seine Arme aus, um seinem Gegner mit seinen offenen Handflächen zu zeigen, dass er unbewaffnet war, »es muss niemandem mehr etwas geschehen.« Einzig und allein fixiert auf das Messer, bekam Semir nicht mit, dass die drei Männer hinter ihm um die Hausecke verschwanden und dort ihre Motorräder starteten.


    Die zwei Männer, die eben noch Claudia festhielten, stießen diese nun von sich, woraufhin sie sofort neben Sascha auf die Knie sank und versuchte, ihrem Mann das Blut aus dem Gesicht zu wischen, und traten weiter in die Hofeinfahrt, von wo kurz darauf das Geräusch gestarteter Maschinen drang. Ein leises »Sascha?« entwich aus ihrem Mund. Von dem Zusammengeschlagenen kam keine Reaktion.


    Claudia sah tränenüberströmt und verzweifelt zu Semir, dessen Augen sich nur Bruchteile eines Augenblicks von dem Messer lösten, um sich mit Claudias blauen Augen zu treffen. Er konnte nichts tun. Vor ihm stand ein Kerl wie ein Baum und hielt ihn mit seinem Messer in Schach. Semir blieb nur der Versuch, seinen Gegner zu entwaffnen, indem er ihn mit seinen lange verinnerlichten Methoden angriff. Das Messer fiel auf den Asphalt und zwischen den beiden Männern entstand ein Faustkampf. Semir ahnte die Anwesenheit weiterer Männer dieser Schlägerbande hinter sich, und er begann sich im Kampf umzudrehen, um nicht von ihnen überrascht zu werden. Es dauerte alles nur wenige Sekunden. Von Semir ungesehen, zog einer der Biker hinter ihm plötzlich einen Schlagstock aus der Motorradtasche und schlug gezielt zwei Mal zu. Er traf Semir über dem rechten Ohr und am Hinterkopf. Semir wurde schwarz vor Augen, seine Hände lösten sich von seinem Gegner, und er schlug bewusstlos auf den Asphalt, keine drei Meter entfernt von seinem Freund.


    Claudia schrie wieder auf, auch aus Angst, jetzt wieder alleine mit den Kerlen zu sein.


    »Piet, steig auf«, klang eine Stimme, »wir hauen hier ab!«. Der Angesprochene hob noch sein Messer auf, ließ es zuschnappen und setzte sich hinter seinem Kumpel auf dessen Maschine und bald war die Luft erfüllt vom blauen Qualm und lauten Motorengeräusch mehrerer schwerer Maschinen.


    Claudias Hände waren vergraben in Saschas blutdurchtränktem, blondem Haar, sie weinte jetzt hemmungslos und wiederholte im Schock immer wieder seinen Namen »Sascha«. So fanden sie Alex und Andrea, als sie kaum eine halbe Minute später völlig außer Atem um die Ecke bogen und wie angewurzelt stehen blieben.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Was ist passiert?


    Andrea stürzte sofort zu dem reglos auf dem Boden liegenden Semir und kniete sich neben dessen Kopf. »Semir?«, fragte sie, ohne eine Reaktion ihres Mannes zu erhalten. Sie hob ihren Kopf, starrte auf Claudia und Sascha und formte ein lautloses »Was ist hier passiert?« mit ihren Lippen. Alex erfasste augenblicklich die Situation, hatte sein Handy schon in der Hand, den Notruf bereits gewählt und prüfte gleichzeitig bei Semir die Vitalzeichen. »Beweg ihn nicht«, sagte er leise zu Andrea und legte ihr seine Hand auf die Schulter, »er liegt gut so«, dann hatte er die Leitstelle am Apparat.


    »Brandt hier. Wir brauchen zwei RTW mit Notarzt in die Salzgasse, Höhe Hausnummer 34, zwei Männer sind verletzt und bewusstlos«, er lauschte der Dame in der Leitstelle und flüsterte Andrea und Claudia zu: »Rettung ist unterwegs«, dann wieder in normaler Lautstärke: »Feuerwehr? Nein, es brennt hier ja nicht, Brandt ist mein Name!« Alex verdrehte die Augen und beendete das Telefonat.


    Andrea hatte ihre Jacke ausgezogen und Semirs Kopf darauf gebettet. Sie strich ihm über den Kopf und redete leise auf ihn ein, als hoffte sie, ihn damit aus seiner Ohnmacht locken zu können. Als Alex sah, dass Andrea sich um Semir kümmerte, ging er zu Claudia und kniete hinter ihr nieder. »Was ist hier passiert, Claudia? Wer war das?« Sie sah Alex ins Gesicht und fing an zu zittern, er umfasste ihre Schultern, als könnte er ihr Beben dadurch unterbinden. »Kannst du dich erinnern?« Claudia strich Sascha eine blutige Haarsträhne aus dem einen Auge und dachte angestrengt nach. Dann hatte sie die Szenen wieder vor ihrem geistigen Auge, die sich nur vor etwas mehr als zehn Minuten zugetragen hatten.


    Sie und Sascha schlenderten Hand in Hand die Straße entlang auf dem Weg zu ihrem einige hundert Meter entfernt abgestellten Wagen. Links von ihnen verlief die schmale Gasse, die zu dieser Uhrzeit nahezu menschenleer war, rechts von ihnen die Häuserzeile, nur unterbrochen von dunklen Durchfahrten, die in noch dunklere Hinterhöfe oder kleinere Gärten führten, gerade breit genug für die Autos, die die kleinen Stellplätze oder Garagen in den Höfen nutzen wollten. Nachdem es tagsüber immer wieder etwas geregnet hatte, war die Straße nun wieder trocken. Lediglich die Pfützen auf dem Gehweg und den asphaltierten Durchfahrten erinnerte sie an das wechselhafte Wetter der letzten Tage.


    Sie gingen schweigsam nebeneinander her, waren glücklich. Der Abend im Kreis ihrer Freunde und Familie war laut und feuchtfröhlich, ohne dass allzu viel Alkohol geflossen wäre. Immerhin waren doch viele mit dem Auto gekommen, und die Polizei saß in nicht zu unterschätzender Anzahl mit am Tisch, was sicher auch einige vom Trinken abgehalten hatte. Nun genossen auch Claudia und Sascha die Stille nach der Feier.


    Plötzlich wurde diese unterbrochen vom lauten Röhren mehrerer Motorräder, vier Stück brausten an dem Pärchen vorbei. Claudia stutzte und stieß Sascha in die Seite. »Schau mal…«


    Claudia blickte erstmals aus ihren Gedanken gerissen auf und sah Alex ins Gesicht: »Vier Motorräder, die eine war eine rote Honda Rebel. So eine hatte ich auch mal, bevor ich sie gegen Lukas‘ Kinderwagen eintauschte«, sie schaute Alex an, der ihr aufmunternd zunickte, »eine andere hatte eine auffällige Lackierung auf der Verkleidung, Flammen oder Feuer, und der Fahrer trug einen blau-weißen Helm.« Ihre Stimme wurde leiser, und Alex drückte ihre Schulter kurz. »Du machst das gut«, er legte Sascha eine Hand auf den Bauch, um dessen Atmung zu kontrollieren und nickte, »der Arzt wird gleich hier sein, versuch dich weiter zu erinnern, ist dir noch etwas aufgefallen?«, sagte er leise, sah dann zu Andrea, die ihm zunickte, nachdem sie bei Semir ebenfalls eine regelmäßige Atmung hatte feststellen können.


    ‚Wo bleiben denn bloß die Rettungswagen‘, überlegte Alex mit einem Blick auf seine Uhr, auf der allerdings erst vier Minuten seit seinem Anruf vergangen waren. Er senkte seinen Blick auf Sascha und Semir, die immer noch reglos, so wie sie sie vorgefunden hatten, auf dem harten Untergrund lagen, dann blieb sein Blick längere Zeit auf Andrea haften, die leise ununterbrochen auf Semir einredete, während ihr die Tränen über das Gesicht rannen.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Fahndung


    Claudia versuchte sich weiter zu erinnern.

    Sechs Männer saßen auf den vier Maschinen, die an ihnen vorbeifuhren. Zwei davon bogen in eine der Durchfahrten vor ihnen, die anderen stellten ihre Bikes auf dem Bürgersteig davor hin. Sie stiegen ab und zogen ihre Helme von ihren Köpfen, darunter trugen sie schwarze Sturmmasken, die nur Öffnungen für die Augen besaßen. Sascha und Claudia fühlten sich zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs beachtet oder gar bedroht, als sie an den Bikern vorbeigingen. Erst als die Fahrer der zuvor in die Tordurchfahrt abgebogenen Maschinen jetzt aus dieser wieder heraustraten und sich ihnen in den Weg stellten, wurde Claudia mulmig zumute, und sie drückte Saschas Hand fester. Sie blickten sich verstohlen um und sahen sich eingekesselt. Nachdem die Männer sie gemeinsam in die dunkle Durchfahrt bugsiert hatten, haben zwei von ihnen blitzschnell Claudia gegriffen. Als die erste Faust in Saschas Magengrube landete und er wie ein Klappmesser zusammenklappte, schrie Claudia laut auf und spürte sofort eine Hand vor ihrem Mund, die weitere Schreie unterdrücken oder zumindest dämpfen sollte. Sie wehrte sich, so gut sie gute, und es gelang ihr, einen oder zwei weitere Schreie auszustoßen, während die anderen vier Männer weiter auf Sascha eindroschen, der keinerlei Chance gegen die Übermacht der Biker hatte. Er lag mittlerweile auf dem Asphalt und versuchte seinen Kopf und Oberkörper so gut es ging mit seinen Armen zu schützen. Doch er konnte nicht vermeiden, dass ihn einige Tritte und Schläge auch am Kopf trafen. Irgendwann regte er sich nicht mehr. Doch die Angreifer ließen noch immer nicht von ihm ab.


    Dann trat Semir um die Ecke und zog die Aufmerksamkeit der Biker auf sich. Claudia wurde jetzt losgelassen und stürzte sofort zu ihrem Mann. Die Biker, deren Motorräder im Hinterhof abgestellt waren, holten diese in die Durchfahrt, auch die Maschinen, die auf dem Bürgersteig standen, wurden gestartet, während Semir versuchte, einen Messerangriff auf sich abzuwehren. Dann wurde auch er niedergeschlagen und die Motorradfahrer ließen sie zurück.


    »In unterschiedliche Richtungen, sie fuhren in unterschiedliche Richtungen davon«, äußerte Claudia laut ihre Erinnerungen. Alex nickte und blickte Andrea fragend an, die mit einem Kopfschütteln verneinte. Semir regte sich noch immer nicht, lag aber stabil auf der Seite und zeigte durch Bewegung seines Brustkorbes, dass er atmete. Seit dem Notruf waren acht Minuten vergangen. Alex rief in der PAST an und hatte bald Erik am Apparat, der Nachtdienst in der Zentrale hatte.


    »Erik? Pass auf, gib sofort eine Fahndung raus nach vier Motorrädern, eine davon eine ‚Honda Rebel‘ in rot und eine andere mit einer auffälligen Flammen-Lackierung auf der Verkleidung, ein Fahrer trägt einen blau-weißen Helm. Sie müssen nicht mehr in einer Gruppe fahren, können sich auch getrennt haben. … Ja, ich weiß, das ist dürftig, aber ich habe nicht mehr, wichtig ist, dass es schnell geht. Sie haben Sascha und Claudia überfallen, Sascha übel zusammengetreten und Semir auch niedergeschlagen. … Richtung weiß ich nicht, leg einen weiten Ring um die Salzgasse.« Alex erhoffte sich nicht viel von der Fahndung, er durfte sie aber natürlich nicht unversucht lassen.


    An der Tordurchfahrt fuhr ein roter Kleinwagen vorbei, bremste und kam kurz darauf rückwärts erneut in ihr Blickfeld. Alex wollte schon aufspringen, um den Fahrer zurecht zu weisen, wenn er eines am wenigsten gebrauchen konnte, dann waren es Schaulustige, die die Rettungsarbeiten behinderten, davon gab es auf der Autobahn täglich genug. Dann aber erkannte er Susannes Wagen, aus dem jetzt auch die Eigentümerin und Ben sprangen und zu ihren Freunden eilten.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Rettung


    Ben erschrak ebenso wie zuvor Alex und Andrea, als er den blutüberströmten Sascha auf dem Boden liegen sah, an dessen Kopfende sich Claudia niedergelassen hatte und von Alex im Arm gehalten wurde, der versuchte sie zu beruhigen. Susanne fiel sofort Andreas Blick auf, dem große Verzweiflung innewohnte, und mit wenigen Schritten war sie bei ihrer Freundin. Ben ließ sich bei Semir nieder und vergewisserte sich, dass dieser regelmäßig atmete. Er strich ihm zaghaft über den Kopf und stellte Andrea dann die Frage, die wohl jeden der Anwesenden beschäftigte. »Was ist passiert?« Andrea sammelte sich und erzählte mit bebender Stimme. »Wir saßen unten am Rhein und haben Claudia schreien hören. Semir ist hergerannt, ich habe Alex aus der Kneipe geholt. Als wir hier ankamen, lagen beide auf dem Boden und die Schläger waren weg.« Es tat Andrea gut, Ben alles zu erzählen, nur kam jetzt der erste Schreck erneut in ihr hoch und sie schluchzte. Susanne schloss sie in ihre Arme, um sie zu beruhigen.


    Aus der Ferne waren rasch näherkommende Martinshörner wahrzunehmen. Ben flüsterte: »Jetzt kommt endlich Hilfe.« Alex ließ Claudia los und trat auf die Straße, um die Einsatzwagen einzuweisen, damit diese nicht erst die richtige Hausnummer suchen mussten. Zwei Rettungswagen, zwei Notarztwagen und ein Streifenwagen des Innenstadtreviers hielten an und spuckten eine Vielzahl an Einsatzkräften aus.


    Nachdem diese sich einen kurzen Überblick verschafft hatten, trat Alex zu seinen uniformierten Kollegen, um sie über das Geschehene zu unterrichten. Er wies sich als Kollege aus, deutete dabei auch auf Semir, schloss ihn in seine Vorstellung mit ein und erzählte, er habe bereits die Fahndung nach den Tätern ausgelöst. Sie einigten sich darauf, die einzelnen Aussagen der Beteiligten gemeinsam aufzunehmen, sobald die Zeugen dazu in der Lage wären.


    Ein Notarzt ließ sich mit einem Rettungssanitäter bei Semir nieder, der jetzt langsam wieder zu sich kam. Sie drehten ihn vorsichtig auf den Rücken. Ben ließ sich nicht vom Kopfende seines Freundes verscheuchen, hatte eine Hand auf Semirs Schulter gelegt. Andrea ließ seine Hand nicht los. »Was ist passiert?«, fragte der Arzt in einem bestimmten Tonfall. Ben übernahm die Antwort »Er ist mit einem Schlagstock niedergeschlagen worden, am Kopf« - »Wie lange war er ohne Bewusstsein?«, lautete die nächste Frage des Arztes, und er blickte Andrea an. Andrea hatte gar nicht mit Fragen gerechnet, antwortete daher mit einigen Sekunden Verzögerung, in denen der Arzt von ihrem zu Bens Gesicht und wieder zurück blickte. »Etwa zehn Minuten.« Sie schaute fragend in Claudias Richtung, die allerdings ihren Blick nicht erwiderte, weil ein anderes Rettungsteam sich fieberhaft um Sascha kümmerte. »Gehen Sie ein Stück zur Seite, bitte? Wie ist sein Name?« – »Gerkan«, antwortete Ben. »Herr Gerkan? Ich bin Dr. Ernst. Können Sie mich hören? Können Sie Ihre Augen öffnen?« Nur zögernd und langsam folgte Semir der Bitte des Arztes, es war als wären seine Augenlider bleischwer und zudem verklebt, wie durch einen Schleier betrachtete er die Menschen um sich herum. Als der Arzt mit seiner Lampe die Pupillenreflexe prüfte, kniff er die Augen wieder zu, öffnete sie aber gleich darauf wieder. »Können Sie Ihre Füße bewegen? Haben Sie noch weitere Schmerzen, außer am Kopf?« Semir wollte mit dem Kopf schütteln, brach den Versuch allerdings gleich wieder ab, und sprach daher nur ein leises »Nein«. Er konnte auch leichte Fragen nach wer, wo und dem Wochentag zur Zufriedenheit des Arztes beantworten, der daraufhin die Rettungssanitäter anwies, ihn auf die Trage zu legen und in den Rettungswagen zu schieben. Dr. Ernst redete noch etwas in medizinischer Fachsprache, was Andrea und Ben nur teilweise verstanden, mit den Sanitätern. Das einzige Wort, das durch ihre Ohren bis in den Kopf drang, war »Schädel-Hirn-Trauma«, und das setzte in Andrea längst überstanden geglaubte Erinnerungen an einen Unfall frei, bei dem Semir und Ben während einer Einsatzfahrt im BMW von einem LKW gerammt wurden und er mehrere Tage auf der Intensivstation liegen musste.


    »Schädel-Hirn-Trauma?«, entfuhr es ihr.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Ab in die Klinik


    »…aber er war doch eben noch bei Bewusstsein und hat sogar mit uns gesprochen?«, fügte Andrea noch hinzu.


    Während die Sanitäter Semir in den Rettungswagen verfrachteten, drehte sich der Arzt zu Andrea um. »Frau Gerkan, jede Gehirnerschütterung, und sei sie noch so schwach, ist ein Schädel-Hirn-Trauma. Ihr Mann ist orientiert, konnte alle Fragen beantworten, sich bewegen, war auch nicht sehr lange bewusstlos. Ich denke, wir haben es mit einem leichten Schädel-Hirn-Trauma zu tun. Wir bringen ihn ins Marienkrankenhaus, überwachen ihn dort 2-3 Tage. Sollte sich keine Komplikation einstellen, ist er in 1-2 Wochen wieder ganz fit und der Vorgang für ihn vergessen.«


    Ben blickte vom Arzt zu Andrea, nahm ihre erste Erleichterung beruhigt in sich auf, sein Blick schweifte aber weiter zu Sascha, wo sich der zweite Notarzt mit zwei weiteren Rettungssanitätern bemühte, ihren Freund zu stabilisieren und transportfähig zu machen, während Alex sich um Claudia kümmerte, die kurz vor dem Kollabieren stand. Seine und Bens Blicke trafen sich.


    »Das glaube ich nicht«, war dann auch Bens Antwort auf die Anmerkung des Arztes, der Semir versorgt hatte, »das wird nicht so schnell vergessen sein.« – »Möchte einer von Ihnen mitfahren? Frau Gerkan?« Andrea sah zu Ben, der nickte. »Fahr nur, Andrea, ich komme nach.« Und Susanne ergänzte noch: »Soll ich euren Babysitter ablösen?« – »Susanne! Wo du das sagst! Nadine! Da habe ich gar nicht dran gedacht. Machst du das? Das wäre total lieb, ich komme so bald ich kann.« – »Lass dir nur Zeit. Bleib bei Semir.«


    Die Sanitäter traten jetzt dazwischen und schlossen die hinteren Türen des Rettungswagens, der sich Augenblicke später in Bewegung setzte und Susanne und Ben hinterherblickend zurück ließ.


    Das andere Rettungsteam war noch mit Sascha beschäftigt, der immer noch nicht wieder bei Bewusstsein war. Es wurde so intensiv von ihrem Patienten in Anspruch genommen, dass Claudia sich nicht traute, an ihren Mann heran zu treten, sondern sich in die Arme ihrer Freunde flüchtete. Es gelang den dreien, sie zum Rettungswagen zu bugsieren, wo sie sich hinten auf die Ladeklappe setzen konnte. Einer der Sanitäter trat zu der Gruppe. »Wir sind gleich soweit, machen Sie bitte etwas Platz?«, fragte er und fügte, als er Claudia ansah, besorgt hinzu, »sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?« Claudia wirkte völlig apathisch und konnte ihren Blick nicht von ihren Händen lösen, die sie unaufhaltsam knetete, dabei immer an ihrem Ehering drehend. »Setzen Sie sich auch in den Wagen, wir nehmen Sie besser auch gleich mit.« – »Wird er es schaffen?«, fragte Claudia leise, an keinen Bestimmten gerichtet, es war einfach ein halblaut ausgesprochener Gedanke, »und was ist, wenn nicht?« Susanne legte ihren Arm um Claudias Schultern und half ihrer Freundin beim Einsteigen. Sie stellte sich die ganze Zeit dieselbe Frage und wusste keine passende Antwort. Der Sanitäter kam ihnen zuvor. »Zunächst ist er stabil für die Fahrt in die Uni-Klinik. Sie können sich darauf verlassen, dass wir alles in unserer Macht stehende tun, um Ihrem Mann zu helfen. Er wird bestmöglich versorgt werden.« Es war sicher nicht das erste Mal, dass er diesen Satz zu einem sich sorgenden Angehörigen sagte, aber was lange einstudiert war, verfehlte seine Wirkung nicht, und Claudia ließ sich auf den Sitz neben dem Platz für die Trage nieder.


    Nachdem auch Sascha hineingeschoben wurde, dauerte es keine zwei Minuten und auch der zweite Rettungswagen hatte den Ort des nächtlichen Schreckens mit dem Ziel der Klinik verlassen.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Zurückgeblieben


    Zurück blieben Alex, Ben, Susanne und die Streifenwagenbesatzung des Innenstadtreviers, die nun begannen, ihre Fragen zu stellen. Natürlich bräuchten sie auch noch die Aussagen von Claudia und Andrea, sowie Semir und Sascha, sobald diese dazu in der Lage wären. Besonders von Claudias Aussage versprachen sie sich wertvolle Hinweise auf die Täter, weil sie von Beginn an vor Ort gewesen war. Bislang hatten sie folgende Fakten: Vier Motorräder, sechs Männer, eine Maschine war eine Honda Rebel, eine Maschine hatte eine auffällige Lackierung auf der Verkleidung, ein Fahrer trug einen blau-weißen Helm, alle Fahrer waren komplett schwarz gekleidet, auch die Helme der anderen fünf Fahrer waren schwarz. Das war nicht viel, es gab keinen Hinweis auf Kennzeichen.


    Nachdem die Polizisten alle Personalien aufgenommen hatten, verabschiedeten sie sich. Sie wollten beginnen, eventuelle Augenzeugen in den benachbarten Häusern zu finden, vielleicht waren ja doch welche von den Schreien wach geworden, die sogar Semir und Andrea an ihrem Sitzplatz am Rhein zuordnen konnten.


    Alex war der Erste, der sich zu einer Äußerung durchrang: »Was hatte dieser Überfall zu bedeuten? War Sascha nur ein Zufallsopfer? Oder war der Angriff geplant?« – »Ich weiß es nicht«, überlegte Susanne, »Claudia sagte, die hätten sie überholt, angehalten und einfach zugeschlagen. Kein Wort, keine Drohung, kein Raub. Wenn Semir nicht gekommen wäre, hätten sie Sascha vielleicht tot getreten.« Keiner wagte es auszusprechen, aber alle dachten das gleiche, dass ihnen nämlich genau dieses heute vielleicht auch gelungen war. »Ob Sascha sich mit jemandem angelegt hatte?«, dachte Alex laut. Ben griff sich an die Stirn. »Das könnte es sein. Sascha hat doch euch gegenüber den Transporter erwähnt, den er vor seiner Werkstatt beobachtet hatte?« – »Er hat etwas angedeutet, aber wir wurden dann zu einem Einsatz gerufen und mussten los. Wir sind der Sache nicht weiter nachgegangen. Moment..«, Alex kramte in seiner Hosentasche und zog einen zerknitterten Zettel hervor, auf dem Sascha ihm am Morgen das Kennzeichen notiert hatte.. »Ich muss zur PAST«, sagte er zu Ben und Susanne, kann mich jemand von euch hinfahren? Ich habe zu viel getrunken. »Klar, ich fahr dich rum«, bot Ben an.


    Sie stiegen alle gemeinsam in Susannes kleines Auto, die sie zu Bens Wagen brachte. Ben fuhr Alex in die PAST und machte sich dann auf den Weg ins Marienkrankenhaus, um nach Andrea und Semir zu sehen und ihr beizustehen.


    Susanne fuhr in die Gasse, in der Semir und Andrea wohnten und stellte ihren Wagen im Parkverbot ab. Darauf kam es nun heute auch nicht mehr an. Sie begrüßte Nadine, stellte sich als Freundin von Andrea und Semir vor, was sie glaubhaft unterlegte, indem sie auf zwei Fotos an der Flurwand deutete, die dort zwischen anderen Aufnahmen hingen, und sie gemeinsam mit Andrea, Semir und den Kindern zeigte. Schließlich schenkte Nadine ihr Glauben und ging durch das Treppenhaus in die elterliche Wohnung. Susanne warf einen kurzen Blick ins Kinderzimmer und stellte zufrieden fest, dass Ayda und Lilly tief und fest gemeinsam in Aydas Bett schliefen. Sie schmunzelte und ging leise ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch legte und über den Abend nachdachte. Dann nahm sie das Telefon zur Hand und rief Claudias Eltern an, wie sie ihrer Freundin versprochen hatte.


    Ben fand Andrea im ansonsten leeren Wartebereich der Notaufnahme, wo sie ohne wirklich zu lesen durch eine der herumliegenden Zeitschriften blätterte. »Andrea?«, sprach er sie leise an. Andrea blickte auf. »Ben«, sagte sie tonlos, »ehe du fragst, ich weiß noch nichts. Sie untersuchen ihn noch, machen gerade eine Computertomographie. Er wird auf jeden Fall hier bleiben müssen. Die Untersuchung soll dann morgen wiederholt werden, um sie vergleichen zu können. So habe ich es verstanden.« – »Das ist Routine, Andrea. Semir ist hier in guten Händen, da bin ich mir ganz sicher.« Ben setzte sich auf den Stuhl neben Andrea und ergriff ihre Hand die auf ihrem Oberschenkel ruhte. »Sascha haben sie in die Uni-Klinik gefahren. Es sah nicht gut aus.« Andrea nickte traurig und nachdenklich. »Ist jemand bei Claudia?«, wollte sie wissen. »Susanne wollte ihre Eltern anrufen. Die sind doch gerade bei den Kindern in der Wohnung.« – »Ich werde nach ihr sehen, sobald ich hier weg kann.«


    »Frau Gerkan?« Andrea und Ben schauten zum Türdurchgang, der den Wartebereich vom geschäftigen Flur der Notaufnahme trennte. Ein Pfleger stand dort. »Ja? Was ist mit meinem Mann?« – »Er wird gerade auf die Station in ein Zimmer gebracht, das CT war unauffällig, was sehr positiv ist. Sie können auch gleich zu ihm.«

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  • Semir im Krankenhaus


    Semir lag mit leicht erhöhtem Oberkörper dösend im Bett, als Andrea und Ben nach Zimmer betraten. Als sie ihn aber leise ansprach, wandte er sofort seinen Kopf in Richtung der Besucher und öffnete seine Augen. Semir lächelte, doch nur kurz, und klopfte auf seine Bettdecke neben sich. Andrea setzte sich auf die Bettkante, nahm Semirs Hand in ihre und gab ihrem Mann einen Kuss. »Schatz, wie geht es dir? Hast du Schmerzen?« – »Nein, sie haben mir was gegeben dagegen«, er sah hoch zu Ben, der neben Andrea stand, »habt ihr sie?« – »Alex ist dran, die Fahndung läuft.« – »Und Sascha?« Andrea und Ben sahen sich schweigend an, so dass Semir nervös wurde, »Ist er…?« – »Nein, er lebt, sie haben ihn in die Uni-Klinik gebracht. Wir wissen noch nicht, wie es ihm geht, fahren aber gleich hin?«, zerstreute Ben Semirs Befürchtungen. »Der Arzt meinte, du sollst 4-5 Tage hier liegen bleiben, bis sie ganz sicher sind, dass keine Komplikationen mehr auftreten. So eine Schwellung kann auch verspätet auftreten. Ich bring dir morgen«, Andrea sah auf die Uhr, »das heißt nachher ein paar Sachen.« – »Hmm«, lautete Semirs Antwort, »4-5 Tage? So lange?« – »Ja, Semir, mindestens«, behauptete Andrea, »ich denke du solltest jetzt schlafen, ich komme dann gegen Mittag wieder.« Semir nickte müde und schloss die Augen. Andrea verabschiedete sich mit einem Kuss und erhob sich von der Bettkante. Ben berührte nur kurz Semirs Schultern. »Mach’s gut Partner, bis später!«


    Draußen auf dem Krankenhausflur lehnte sich Andrea an die Wand und blickte Ben ins Gesicht. »Warum, Ben?«, fragte sie, »warum muss Semir ständig etwas zustoßen? Irgendwo passiert etwas, und er ist mittendrin. Warum können wir nicht einen Abend mit unseren Freunden verbringen, ohne dass etwas passiert?« Ben schwieg. »Ben?« – »Andrea, ich habe darauf keine Antwort parat, tut mir leid. Es liegt wahrscheinlich daran, dass Semir die Dinge um sich herum nicht einfach geschehen lässt, sondern sich einmischt. Er hätte auch mit dir auf der Bank sitzen bleiben können. Dann wäre er jetzt nicht hier.« – »Aber dann wäre Sascha vermutlich jetzt tot«, warf Andrea entrüstet ein, »das war Claudia, die da geschrien hat, Ben. Aber auch wenn es eine unbekannte Stimme gewesen wäre, wären wir doch nicht sitzen geblieben.« Sie drückte damit auch Bens Gedanken aus. »Genau, das wäre niemand von uns, Andrea. Und wer sich einmischt, begibt sich in Gefahr. Das ist unser Risiko.« Semirs Einschreiten hatte ihm zwar eine saftige Gehirnerschütterung eingebracht, aber wahrscheinlich Saschas Leben gerettet, so er es denn überlebt. Dann fiel ihm noch etwas anderes ein, was er eben im Krankenzimmer nicht ansprechen wollte.


    »Andrea? 4-5 Tage? Der Arzt sagte doch etwas von 2-3 Tagen.« – »Ja, aber das muss Semir ja nicht wissen.« Als Andrea Bens fragenden Blick sah, erklärte sie: »Wenn Semir von 4-5 Tagen ausgeht, hält er die 2-3 Tage viel besser durch und wertet es als großen Erfolg, wenn er die Ärzte auf 2 Tage herunterhandeln kann. Sage ich ihm jetzt 2-3 Tage, hält er nur bis morgen Abend durch, davon kannst du doch wohl ausgehen.« Ben schüttelte lachend den Kopf. »Ihr Frauen seid so clever!« Dem konnte Andrea nur zustimmen.


    Ein Blick auf die Uhr, die über der Tür zur Station hing, verriet ihnen, dass es mittlerweile 2 Uhr nachts war. »Soll ich dich nach Hause fahren, Andrea?«, bot Ben an. »Ich möchte erst noch nach Claudia sehen und wissen, wie es Sascha geht. Fahren wir gemeinsam in die Uni-Klinik?«

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  • Uni-Klinik


    »Was ist denn das für ein Auto?«, fragte Andrea, als sie in dem schwarzen VW Touareg Platz nahm. »Ein Leihwagen von Sascha, meiner ist zur Inspektion in seiner Werkstatt.« Andrea nickte. »Was wird jetzt aus seiner Firma? Ich meine, es kann doch sicher einige Zeit dauern, bis er wieder ganz fit ist«, fragte sie besorgt. »Sascha hat gute Mitarbeiter, die werden den Betrieb am Laufen halten. Und im Büro kennt sich eh Claudia am besten aus.« Sie schwiegen die weitere Fahrt über bis zur Uni-Klinik. Dort sagte man ihnen am Empfang, dass Sascha zurzeit im OP wäre und seine Frau im dritten Stock im Wartebereich anzutreffen sei. Dort fanden sie Claudia zusammen mit einer älteren, rüstigen Dame auf den mit Kunstleder bezogenen Stühlen.


    Als Andrea und Ben eintraten, stand sie auf und begrüßte Andrea mit einer stummen Umarmung. »Weißt du schon was?«, fragte sie leise. Claudia sagte dazu nichts, ihrem Gesicht waren die Sorgen um ihren Mann deutlich anzusehen. »Das ist meine Mutter«, stellte sie ihre Begleiterin vor, »Mama, das sind Andrea und Ben, Freunde von uns. Andreas Mann ist heute auch niedergeschlagen worden, er kam Sascha zu Hilfe. Wie geht es Semir?«, richtete sie nun eine Frage an Andrea. Andrea zögerte. Sie hätte ihrer Freundin gerne erleichtert erzählt, dass es Semir recht gut ginge und er vielleicht schon übermorgen wieder nach Hause käme, wollte aber angesichts der Tatsache, dass Claudias Mann zur selben Zeit im OP um sein Leben kämpfte, nicht zu erleichtert wirken. Aber musste sie sich dafür schämen, dass Semir dieses Mal offensichtlich Glück gehabt hatte? »Recht gut«, antwortete sie daher etwas einsilbig, »Und Sascha?«, fragte Ben, um das drohende Schweigen zu verhindern. »Sie operieren noch. Schweres Schädel-Hirn-Trauma, Knochenbrüche im Gesicht, Rippenbrüche, ein Arm ist gebrochen ….«, Claudia wurde bei der Aufzählung immer leiser und schließlich erstarb ihre Stimme ganz, und Andrea nahm sie etwas fester in ihre Arme. Sie führte sie zurück zur Sitzbank und nahm mit ihr Platz. Auch Claudias Mutter rückte näher ran und strich ihrer Tochter sanft über den Rücken. Ben setzte sich neben Andrea. Für lange Zeit fiel kein Wort.


    Als ein Arzt den Wartebereich betrat, schaute niemand auf. Er räusperte sich und fragte dann: »Frau Mirnov?« Claudia zuckte zusammen. »Ja?«, fragte sie und löste sich aus Andreas Armen. Vier neugierige Augenpaare blickten dem ernst dreinblickenden Weißkittel entgegen. Der sprach frei heraus, merkte, wie vertraut die Gruppe war, und dass es hier nicht erforderlich war, Claudia für das Gespräch auf die Seite zu bitten. »Die Operation ist zunächst zufriedenstellend verlaufen. Wir haben Ihren Mann auf die Intensivstation gebracht. Von einem Erfolg zu sprechen wäre noch etwas zu früh, aber leise Zuversicht ist schon erlaubt. Jetzt kommt es darauf an, wie er sich die nächsten Stunden und Tage erholt.« – »Kann ich zu ihm?«, wollte Claudia wissen. »Sie alleine ja, und kurz, das geht wohl. Kommen Sie ruhig mit.« Sie nickte und verließ mit dem Arzt den Wartebereich und ging langsam über den gelb gestrichenen Flur in Richtung des Zimmers, in das Sascha nach der Operation gebracht worden war.

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  • Intensivstation


    Einen Mann mit seiner etwa 10-jährigen Tochter, die gerade auf dem Flur den Tod seiner Frau und ihrer Mutter beweinten, die vor wenigen Minuten den Kampf gegen ihre Krankheit verloren hatte, nahm Claudia gar nicht wahr, als sie einen Schritt hinter dem Arzt über den Flur schritt. An diesen ersten Gang als Besucherin auf die Intensivstation würde sie sich später nur noch wie an einen entfernten Traum erinnern können. Sie ahnte noch nicht, dass es der erste von vielen Besuchen auf dieser Station sein würde. Bald würde sie diese gelben Wände, den Wasserspender in der Ecke, den Tresen, der die Station vom Aufenthaltsort der Pflegekräfte trennte, wie ein zweites Zuhause betrachten.


    Doch von der Zukunft ahnte sie in dieser Nacht nichts, als sie die Intensivstation zum ersten Mal betrat. Eine breite Schiebetür trennte den Raum, in dem Sascha lag, vom Gang. Der Raum war in gedämpftes Licht gehüllt. An der rechten Wand standen, durch mobile mit Stoff bezogene Stellwände getrennt, drei Betten, an der linken Wand war eine halbhohe Schrankwand, die als Ablagefläche für zwei flache Bildschirme diente, die zu unsichtbar im Schrank verstauten Computern gehörten. Patientenakten lagen aufgeschlagen neben den Tastaturen und viele Schubfächer beinhalteten allerhand an Material, welches hier auf dieser Station Verwendung fand. Zwei Halogenlampen erleuchteten diese Arbeitsplätze, warfen je einen punktuellen Lichtschein auf jede Tastatur.


    Der Arzt führte Claudia zu dem hintersten Bett, in dem Sascha lag. Das Ärzteteam hatte entschieden, das Aufwachen ihres Patienten noch hinauszuzögern, bis sich seine Werte soweit stabilisiert hätten. So lag er beatmet und reglos in tiefer Narkose, den Kopf dick verbunden, das Gesicht, soweit sichtbar, rot und blau, die Augen zugeschwollen, selbst Claudia hatte Schwierigkeiten, ihn zu erkennen. Sein Körper war lediglich von einem Krankenhauslaken bedeckt, der Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, was er der Maschine neben seinem Bett zu verdanken hatte. Ein Monitor links von seinem Kopfende zeigte eine Reihe von Werten an, Claudia vermutete Blutdruck, Temperatur, Sauerstoffsättigung, die anderen Zahlen konnte sie nicht zuordnen. Auf der rechten Seite war ein Ständer, von dem mehrere Medikamente über Schläuche Sascha zugeführt wurden.


    Schon bald würde sie wissen, welche Mittel es waren, und sie würde auch nicht mehr vor Schreck auffahren, wenn ein Signal ertönte, das die Schwestern aufforderte, einen leeren Spender auszutauschen. Aber als sie jetzt zum ersten Mal diese Station sah, erschreckte sie vor der ganzen Technik und den ganzen Maschinen, von denen das Überleben der Patienten, das Überleben ihres Saschas in der nächsten Zeit abhängen würde.


    Sie trat vorsichtig an das Bett heran und streichelte Sascha über den linken Unterarm, der auf der dünnen Decke ruhte, aufmerksam darauf bedacht, keine der Schläuche oder Kabel zu berühren. Der rechte Arm war mit Hilfe einer Schiene ruhig gestellt. Sascha reagierte nicht auf ihre sanften Berührungen, so gern sie es gehabt hätte. Auch ihre leise Ansprache war mehr für sie selbst gedacht, als für ihren Mann. »Sascha?«, flüsterte Claudia, »ich bin jetzt da. Du schaffst es, hörst du? Du musst es schaffen.«


    ***


    »Hört er mich?«, richtete sie leise eine Frage an den Arzt. Der zuckte mit seinen Schultern. »Ich glaube nicht, dazu ist die Narkose wohl noch zu tief. Aber reden Sie ruhig weiter mit ihm. Das tut auch Ihnen gut.« Der junge Mediziner erklärte Claudia noch die einzelnen Angaben auf dem Monitor und die einzelnen Mittel, die Sascha die Schmerzen nahmen und ihn tief schlafen ließen. »Sie können ihn jederzeit besuchen, wir sind Tag und Nacht hier, ich gebe Ihnen auch unsere Telefonnummer, falls sie sich nach ihm erkundigen wollen. Ihre Rufnummer haben wir ja schon. Wir melden uns, sobald sich irgendetwas an seinem Zustand ändert. Sie sollten aber auch bald nach Hause gehen, Sie werden in der nächsten Zeit ebenso viel Kraft brauchen wie ihr Mann. Aber ein paar Minuten können Sie gerne noch hierbleiben. Wenn Sie mich suchen, ich bin gleich nebenan oder fragen Sie eine der Schwestern oder Pfleger, die finden mich dann schon.« Er drückte Claudia noch ermutigend mit einem Kopfnicken die Hand.


    Claudia blieb noch etwa zwanzig Minuten bei Sascha und redete mit ihm, allmählich entspannte sie sich, und eine bleierne Müdigkeit machte sich bei ihr bemerkbar und hängte sich an ihre Augenlider. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn zum Abschied, drückte seinen Arm zärtlich, erhob sich von dem Kunststoffstuhl, den sie sich an das Bett gestellt hatte, und verließ die Intensivstation.


    »Mama, ich will nach Hause.« Claudia war wieder im Wartebereich der Klinik eingetroffen, in dem sie ihre Mutter, Andrea und Ben zurück gelassen hatte. Mit der Zeit war die Aufregung der Nacht auch von ihnen abgefallen und hatte Platz gemacht für ein schläfriges Schweigen, dem sie sich hingegeben hatten. Claudias plötzlichen Worte ließ sie alle hochfahren, ihre Mutter stand sofort auf und trat zu ihrer Tochter. »Bringst du mich heim?«


    Ben und Andrea erhoben sich auch langsam von ihren Sitzen. Andrea nahm Claudia in ihren Arm. »Wenn irgendetwas ist, oder ich irgendetwas für dich tun kann, sagst du Bescheid, ja?« Die Umarmung löste in Claudia die lange zurück gehaltene Tränenflut aus, und sie begann in den Armen ihrer Freundin zu schluchzen. Ihre Schultern bebten. Nach einigen Minuten löste sie sich von Andrea, wischte sich mit ihrem Ärmel die Tränen vom Gesicht. »Ich will jetzt nach Hause. Die Kinder … danke, dass ihr hier wart.« Sie schaute dabei Andrea und Ben nacheinander an und wurde auch von Ben noch einmal in den Arm genommen.


    Dann machte Claudia sich mit ihrer Mutter, die einen Arm um ihre Tochter gelegt hatte, auf den Weg nach Hause, wo ihr Vater mit den beiden Kindern wartete, welche den Abend, den Vorfall und die Nacht friedlich verschlafen durften. Claudia wusste, dass sie etwas Schlaf brauchte, um die nächste Zeit gut zu überstehen. Am Vormittag wollte sie wieder in die Klinik kommen.


    Saschas Eltern und Schwester musste sie auch noch anrufen, das würde sie gleich nach dem Frühstück machen, Herr und Frau Mirnov befanden sich im Urlaub in der Toskana und würden sich sicher gleich auf die Rückreise nach Köln machen. Vorher brauchte sie selbst aber noch ein paar Stunden Schlaf, wenn es ihr denn gelänge, einzuschlafen.


    »Komm, Andrea, ich bring dich nach Hause«, riss Ben Andrea aus ihren Gedanken. »Hmm. Wir müssen Claudia im Auge behalten. Das Ganze könnte ihr über den Kopf wachsen. Ich werde morgen wieder nach ihr sehen.« – »Wir werden sie alle unterstützen, aber jetzt brauchen dich auch deine Kinder, Susanne wird auch wissen wollen, wie es Semir und Sascha geht.«

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • PAST


    Während Semir im Krankenhaus einer hoffentlich schnellen Genesung entgegen schlief, setzte sich Alex in der PAST an den Computer. Er hielt Kontakt mit den Streifenwagen, von denen er sich einen möglichst baldigen Fahndungserfolg erhoffte. Sie hatten nicht gerade viele Fakten: Vier Motorräder, sechs Personen, die eventuell nicht einmal gemeinsam in einer Gruppe anzutreffen sein werden, ein blau-weißer Helm und eine auffällige Lackierung. Und er hatte das Kennzeichen des Transporters, den Sascha vor seiner Werkstatt auf dem Parkplatz beobachtet hatte. Alex gab die Buchstaben-Zahlen-Kombination in seinen PC ein und erhielt kurz darauf ein Ergebnis. »Mist!«, fluchte er laut. Das Auto, das auf die Nummer zugelassen war, war ein weißer Opel Corsa. Das Kennzeichen war also eine Fälschung oder gestohlen. Er gab das Kennzeichen erneut in den Computer ein, um einen Tippfehler auszuschließen, aber das Ergebnis war eindeutig. An den Fahrer des Transporters kamen sie so nicht ran. Oder sollte der eventuell sein Kennzeichen vor den Aktionen einfach vom Opel Corsa an den Transporter angeschraubt haben? Sicherheitshalber notierte sich Alex die Daten, das könnte Susanne am Montag überprüfen. Nicht gerade ein Fahndungserfolg, aber für Alex stand nun fest, dass der Fahrer oder Halter des Transporters Dreck am Stecken hat. Und wenn ein Mann zusammengeschlagen wird, der eine kriminelle Handlung vor seiner Haustür beobachtet hat, muss man schon ein ganz schlechter Polizist sein, um hier keinen Zusammenhang zu vermuten.


    Sechs Männer hatten Sascha und Claudia aufgelauert, sie in eine dunkle Straßenecke bugsiert und Sascha fast zu Tode geschlagen und getreten. Der Totschlag wäre ihnen wahrscheinlich auch geglückt, wenn Semir sie nicht überrascht hätte. Ob sie jetzt von einem Erfolg ihres Überfalls ausgingen? Wie würden sie reagieren, wenn sie erführen, dass Sascha den Angriff überlebt hat und in der Uni-Klinik lag? Benötigte er eventuell Polizeischutz? Die Presse würde am nächsten Tag sicher von dem Überfall berichten und erwähnen, dass das Opfer schwer verletzt in die Klinik eingeliefert wurde. Je mehr Alex darüber nachdachte, desto mehr reifte in ihm der Entschluss, eine Überwachung zu veranlassen.


    Als er sich in den frühen Morgenstunden – nachdem er auf dem Sofa im Büro ein paar Stunden Schlaf gesammelt hatte – in der Küche einen Kaffee holte, hatten die Beamten in der Zentrale noch keine Erfolgsmeldung für ihn. Die Biker waren ihnen trotz der nur Minuten nach dem Überfall angeleierten Fahndung durch ihr Netz geschlüpft. Ein Grund mehr, umgehend für den Schutz von Sascha zu sorgen. Da kamen ihm Jenny und Dieter, die just zu dieser Zeit ihre Frühschicht beginnen wollten, gerade recht. »Morgen Dieter, du ich habe …«, weiter kam Alex nicht, da wurde er von dem hochgewachsenen Polizisten unterbrochen, »Alex? Was machst du denn hier? Ihr habt doch heute frei, ist Semir auch da?« – »Nein, Semir wird auch die nächsten Tage wohl nicht herkommen.« Auf Dieters und Jennys fragende Gesichter hin, schilderte Alex kurz die Geschehnisse der letzten Nacht. Dieter war ja gegen 22:00 Uhr bereits nach Hause gefahren, etwa zwei Stunden vor dem Überfall, und hatte von alldem noch nichts erfahren. »Jetzt müssen wir davon ausgehen, dass Sascha auch im Krankenhaus nicht sicher ist. Darf ich euch bitten, dort für heute Vormittag aufzupassen? Ich kümmere mich im Verlauf des Tages um Ablösung.« – »Weiß die Chefin Bescheid?«, fragte Jenny. »Noch nicht, ich rufe sie später an, jetzt fahrt los, bevor die Nachricht in allen Zeitungen steht.«


    Gegen 9:00 Uhr rief Alex bei Andrea an und war erfreut zu hören, dass es Semir nicht ganz so schlimm ging, wie die Situation am Tatort es noch vermuten ließ. Sie wollte gleich nach dem Frühstück mit den Kindern ins Krankenhaus fahren. Nachdem sie spät in der Nacht nach Hause gekommen war und Susanne sich verabschiedet hatte, hatte sie ganze viereinhalb Stunden Schlaf bekommen, dann standen Ayda und Lilly im Schlafzimmer und forderten Aufmerksamkeit. Die Abwesenheit ihres Vaters nahmen sie zwar wahr, aber das waren sie gewohnt. Aber Andrea entschied sich, sie gleich darüber in Kenntnis zu setzen, dass Semir im Krankenhaus lag, denn schließlich würden sie heute mit hinfahren müssen. Sie wollte nicht schon wieder irgendeine Betreuung organisieren.

    "Ich will mit Alex arbeiten - oder gar nicht!"

  • Alex und Semir


    Semir freute sich über den Besuch seiner Familie, und wenn er ruckartige Bewegungen vermied, konnte er sogar für ein paar Minuten das Bett verlassen. Andrea hatte ihm etwas Bequemes zum Anziehen mitgebracht, und so saßen sie um den kleinen Tisch herum. Sie erzählte ihrem Mann von der Zeit, die sie in der Nacht mit Ben bei Claudia in der Uni-Klinik verbracht hatte. Dann fiel ihr etwas ein. »Du Semir?« – »Hmm?« – »Du wolltest mir gestern nach der Feier am Rhein noch etwas erzählen, als wir von Claudias Schreien unterbrochen wurden. Irgendetwas mit unserer Wohnung.« – »Ja, stimmt. Ich hatte ein Gespräch mit unserem Vermieter. Wir haben uns morgens im Treppenhaus getroffen und …« Es klopfte, und Alex betrat das Krankenzimmer. Er trat neben Andrea, begrüßte sie mit einer kurzen Umarmung und klopfte Semir zur Begrüßung auf die Schulter »Hi, Partner! Du bist schon auf?« Dann drehte er den Kopf zu Ayda und Lilly, die sich am Tisch mit einem Puzzle die Zeit vertrieben, und nickte ihnen ein »Mädels« zu, was die beiden zum Kichern brachte. »Mädels!«, äffte Ayda ihn in einer gespielt tiefen Tonlage nach, und jetzt alberten die beiden Kinder noch mehr und steckten auch die Erwachsenen mit ihrem Lachen an. Alex schüttelte seinen Kopf und wunderte sich. »Habe ich irgendwas gesagt?«


    Semir zuckte mit den Schultern.»Und Semir, wie geht es dir? Besser?« Er hatte es zwar schon von Andrea am Telefon erfahren, wollte es aber auch aus dem Mund seines Partners hören. »Wird schon«, lautete dessen Befund, »heute Morgen war mir noch etwas schwindelig, aber ich denke, das wird sich auch bald geben. Was macht die Fahndung?« Alex zuckte mit seinen Schultern und schüttelte mit bedauerndem Gesichtsausdruck sein Haupt. »Nichts. Die sind uns einfach durch die Lappen gegangen. Aber kannst du dich an das Gespräch mit Sascha gestern Morgen erinnern, als er uns von dem Transporter erzählte? Ich habe das Kennzeichen mal durch den Computer gejagt und siehe da, es ist gefälscht. Sascha hatte also recht gehabt, da stimmt etwas nicht.« – »Mist. Und ich habe ihm noch vorgeworfen, er würde zu viele Krimis sehen. Und jetzt liegt er im Koma. Hätten wir doch nur gleich reagiert.« – »Koma?« Andrea nickte zustimmend. »Ja, künstliches Koma. Sie werden ihn erst mal nicht aufwecken, die Verletzungen sind zu schwer.« Alex atmete hörbar aus. »Das hört sich nicht gut an.« – »Ganz und gar nicht«, stimmte Semir ihm zu, »und wir müssen von einem Zusammenhang ausgehen zwischen diesem Transporter und dem Überfall gestern Nacht.« Alex nickte. »Ja, ich habe schon Jenny und Dieter in die Uni-Klinik geschickt, falls sie auf die Idee kommen, ihre Tat zu vollenden.« – »Was mag da in diesem Transporter vor sich gehen?«, fragte Semir mehr sich selbst als Alex. Dann stand er langsam auf und ging die zwei Schritte zu seinem Bett, um sich hinzulegen.


    »Sollen wir lieber gehen? Möchtest du deine Ruhe haben?«, fragte Andrea besorgt, doch Semir winkte ab. »Nein, ich wollte mich nur wieder hinlegen.« Dann sah er wieder Alex an. »Was willst du jetzt unternehmen?« – »Sascha hat doch von der Überwachungskamera gesprochen. Wir brauchen die Aufzeichnungen, ich fahre gleich hin und sehe, was ich kriegen kann.« – »Tu das, beim Anschauen kann ich vielleicht auch helfen.« – »Du?«, mischte sich Andrea ein, »du hast Fernsehverbot in den nächsten Tagen!«, erinnerte sie ihn an die Worte des Arztes. »Andrea!«, entrüstete sich Semir, »dann schaue ich mir die Filme eben auf dem Laptop an.« – »Ich gebe es auf. Kommt Kinder, wir gehen kurz an die frische Luft und schauen mal nach, was der Kiosk in seiner Truhe für uns bereithält. Euer Vater ist mal wieder unvernünftig.« Semir und Alex sahen sich an, dann schaute Alex zu Andrea. »Findest du? Ich finde ihn eigentlich wie immer. Sei doch froh, dass er nicht aufspringt und selber losfährt, um die Überwachungsbänder zu holen«, beschwichtigte er sie.


    Nachdem Andrea mit den Kindern Semirs Zimmer verlassen hatte, wandten sie sich wieder dem Überfall zu. »Ich denke, die Biker waren nur Handlanger oder Auftragsschläger, so wie die vorgegangen sind. Ist dir noch irgendetwas aufgefallen, bevor du niedergeschlagen wurdest?« – »Nein, ich kann mich nur an den Kerl erinnern, der mich mit dem Messer bedrohte und angriff, er war groß, größer als ich.« Semir bemerkte den Blick von Alex und ergänzte: »Okay, das schränkt die Treffermenge nun nicht unbedingt ein, aber über 1,80m war er auf jeden Fall, vielleicht sogar 1,90m, aber nicht so groß wie Bonrath. Er trug eine Sturmhaube und Handschuhe. Dann kam plötzlich hinter mir noch jemand, ich hörte noch eine Stimme »Nick, steig auf, wir hauen ab!« oder so ähnlich, es kann auch Mick oder Pit gewesen sein. Dann wurde ich niedergeschlagen und kam erst wieder zu mir, als der Rettungswagen da war.« – »Claudia sagte mir, die Biker wären in unterschiedliche Richtungen weggefahren, kann natürlich sein, dass sie sich zwei Straßen weiter wieder getroffen haben. Sie konnte zwei Maschinen näher beschreiben. Und …« Semir hob eine Hand, um Alex‘ Rede zu unterbrechen. »Gab es da vielleicht auch Kameras?« – »Kameras?« – »Ja, Alex. Diese Dinger, hinten Okular, vorne Objektiv und dazwischen Film oder Sensor. Verkehrsüberwachung vielleicht. Lass das doch Hartmut mal checken, ob es so was gab.« – »Ich werde dem nachgehen.«

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  • Telefonate


    Alex verabschiedete sich von Semir und trat auf den Krankenhausflur, wo ihm Andrea, Ayda und Lilly entgegenkamen, die beiden Kinder mit je einem Eis in der Hand. »Du willst wieder los?« – »Ja, ich muss dringend telefonieren, Frau Krüger weiß noch nichts, Hartmut muss ich um etwas bitten, Jenny und Dieter brauchen Ablösung in der Uni-Klinik und bei Lena muss ich mich auch melden.« – »Oha, das klingt nach Arbeit.« – »Ich sollte mir eine Liste machen, mach’s gut, Andrea. Wie lange meinst du, muss Semir hier bleiben?« – »Wahrscheinlich bis Montag, dann aber mindestens eine Woche zuhause.« – »Okay, ich melde mich wieder. Tschüß Andrea«, er umarmte Semirs Frau kurz zum Abschied, zeigte dann mit seinen beiden Zeigefingern auf Ayda und Lilly und sagte kurz »Mädels!«, um sie erneut zum Kichern zu bringen, was ihm auch gelang.


    In seinem Auto angekommen, rief Alex zunächst Kim Krüger an. Kim verbrachte das Wochenende faul zu Hause. Sie hatte eine anstrengende Woche hinter sich und gönnte es sich, diesen Samstag einfach mal auf der Couch zu liegen und einen Film aus ihrer DVD-Sammlung anzuschauen, den sie seit Jahren nicht mehr betrachtet hatte. Als sie auf dem Display ihres Telefons sah, wer anrief, seufzte sie auf. ‚Oh Nein‘, dachte sie. »Krüger«, meldete sie sich kurz. »Hier Brandt. Entschuldigen Sie die Störung, Frau Krüger.« – »Herr Brandt, was ist passiert?«, kam die Dienststellenleiterin der Autobahnpolizei ohne Umschweife zur Sache, und auch Alex hielt sich nicht lange mit Vorreden auf. »Semir liegt mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus.« – »Bitte? Wieso das?« – »Er kam Sascha, sie wissen schon, Sascha Mirnov von unserer Werkstatt, zu Hilfe, als dieser überfallen und zusammengeschlagen wurden. Sascha ist in der Uni-Klinik auf der Intensivstation. Ich habe Dieter und Jenny zur Überwachung hingeschickt, weil ich vermute, dass die Schläger ihre Tat vollenden wollen, wenn sie erfahren, dass er überlebt hat.« – »Sie meinen, die wollten Sascha töten und Semir hat sie dabei gestört?« - »So sieht es für mich aus, Frau Krüger, wir wollen jetzt sämtliche Überwachungskameras überprüfen, die in der Nähe angebracht waren, vielleicht haben wir die Täter irgendwo drauf.« Kim Krüger überschlug im Kopf den drohenden Arbeitsaufwand. »Wieso sehen Sie dabei unsere Zuständigkeit? Wo ist der Überfall passiert?« – »In der Salzgasse«, gab Alex Auskunft, »das Motiv könnte aber an unserer Autobahn liegen, außerdem sind Sascha und Semir meine Freunde, so sehe ich es schon als eigenen Fall an.« – »Trotzdem sollten Sie die Unterstützung des Innenstadtreviers in Anspruch nehmen, vielleicht können Beamte von dort Dieter und Jenny ablösen? Brauchen Sie mich in der Dienststelle? Ich könnte in einer Stunde dort sein.« – »Nein, Frau Krüger, momentan sehe ich noch keinen Bedarf. Wenn wir das ganze Filmmaterial auswerten müssen, könnte es sein, dass ich auf Ihr Angebot zurückkommen werde.« – »Ich schaue dann später in der PAST vorbei. Wie geht es Gerkan?« – »Ich war gerade bei ihm. Er soll wohl zwei, drei Tage im Krankenhaus bleiben, dann noch eine Woche zuhause, aber ich fürchte, da wird Andrea ihn schon festbinden müssen.« Alex glaubte, Kim durch das Telefon hindurch Schmunzeln zu hören. So schätzte sie den erfahrenen Hauptkommissar auch ein. Sie verabschiedeten sich voneinander. Alex versprach, sich zu melden, sobald ihm das Filmmaterial vorläge.


    In der KTU erreichte Alex niemanden, so dass er die private Nummer von Hartmut Freund wählte und nur wenige Augenblicke später den Kriminaltechniker aus der KTU am Apparat hatte. »Alex, Nein! Ich habe Wochenende. Bitte, wenn ihr nicht persönlich betroffen seid, dann lasst mich heute daraus« – »Sind wir, Hartmut, Semir liegt im Krankenhaus, und wir müssen die Typen finden, die ihn niedergeschlagen haben. Und Sascha liegt sogar auf der Intensivstation der Uni-Klinik.« – »Was ist passiert? Wie kann ich euch helfen? Ich mache mich auf den Weg.« Alex schilderte nun zum wiederholten Male die Vorkommnisse der vergangenen Nacht. Hartmut sagte zu, sich um alle möglichen Überwachungskameras zu kümmern, die in der Nähe des Tatorts installiert waren.


    Der Vorsteher des Innenstadtreviers kam Alex nach einer kurzen Unterredung entgegen und stellte zwei Beamte zur Verfügung, die Dieter und Jenny um 14:00 Uhr in der Uni-Klinik ablösen sollten. Dort wollte Alex als nächstes vorbeischauen und sich ein aktuelles Bild der Situation machen. Seine uniformierten Kollegen saßen alleine auf dem Flur der Intensivstation. Claudia war für ein paar Stunden nach Hause gefahren, um mit ihren Kindern und ihren Eltern gemeinsam zu Mittag zu essen. Jenny sagte Alex, Saschas Zustand sei unverändert kritisch. Zu Sascha selbst vorgelassen wurde Alex nicht, das sei den Angehörigen vorbehalten und so kündigte er Jenny und Dieter nur noch die baldige Ablösung durch zwei Beamte des Innenstadtreviers an und machte sich auf den Weg in die PAST.


    Unterwegs telefonierte er noch mit Lena, die nach ihrer Nachtschicht gerade halbwegs ausgeschlafen hatte. »Hi, habe ich dich geweckt?« – »Nein Alex, ich bin schon auf. Ich dachte, du wolltest heute vorbeikommen. Wie war eure Feier gestern?« – »Die Feier war sehr schön, aber dann …« In knappen Worten erfuhr nun auch Alex‘ Freundin von dem Überfall. »Oh mein Gott, das ist ja schrecklich. Und jetzt wollt ihr natürlich die Täter schnappen. Das kann ich verstehen. Dann kommst du heute eher nicht vorbei?« – »Lena, das kann ich noch nicht sagen, vielleicht heute Abend, ich melde mich auf jeden Fall noch mal.« – »Mach das, ich muss erst am Montag wieder arbeiten. Soll ich vielleicht mal bei Andrea vorbei schauen?« – »Da würde sie sich bestimmt freuen. Ich muss jetzt auflegen, bis später. Ich liebe dich.« – »Ich dich auch.«


    Alex lenkte den Wagen auf den Parkplatz der PAST und wartete im Büro auf die ersten Ergebnisse von Hartmut.

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  • Filme


    Zwei Stunden später stand Hartmut in Alex‘ Büro und präsentierte die Ergebnisse. Und die waren mehr als ernüchternd. Es gab eine Verkehrsüberwachung an einer Kreuzung in der Nähe des Tatorts, die Kamera einer Bank und eine mobile Geschwindigkeitsüberwachungskamera an der Rheinstraße.


    Die Geschwindigkeitsüberwachung hatte zur fraglichen Zeit, also etwa eine Stunde vor bis 1 Stunde nach dem Überfall auf Sascha und Claudia kein einziges Motorrad geblitzt.


    Die Bänder der Bank zeigten lediglich den Eingang und den Geldautomaten, sowie Teile des Bürgersteigs, die Straße selbst lag außerhalb des Aufnahmewinkels der Kamera. Die Verkehrsüberwachung hatte zwar vier Motorräder mit sechs Personen gefilmt, doch leider nur von vorne, so dass kein Nummernschild erkennbar war. Dass es sich um die Täter handeln musste, schloss Alex daraus, dass sie die Kamera genau fünf Minuten nach der Tat passierten und die auffällige Lackierung der einen Maschine sogar auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen deutlich zu erkennen war. Aber kein Hinweis auf die Identität der Täter.


    »Mist!«, Alex schlug vor Wut mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch. »Da schaut man stundenlang auf diese Glotze, und was ist? Nichts!« Hartmut konnte ihm da nur zustimmen. »Aber hatte Sascha nicht etwas von seinen Kameras erzählt, die sein Werkstattgelände und den Parkplatz zeigen?« – »Ja, das könnte eine Möglichkeit sein. Da wir von einem Zusammenhang zwischen dem Überfall und dieser Transporter-Geschichte ausgehen, sollten wir uns die Bänder auch mal ansehen. Ich fahre in die Werkstatt.« Alex schaltete seinen Monitor aus, stand auf, griff sich seine Jacke und verließ gemeinsam mit Hartmut die PAST. »Tschüß, Hartmut. Falls du weitere Aufzeichnungen findest, rufst du mich an, okay?« – »Alles klar, Alex.«


    Alex wusste, dass Saschas Werkstatt und Pannendienst einen 7/24-Service bot, also musste auch an diesem Samstag-Nachmittag jemand anwesend sein, zumindest in der Schadensannahme. Und so war es auch. Georg, ein langjähriger Mitarbeiter Saschas kam nach vorne, als er die Türklingel hörte. »Alex!«, rief er vergnügt, »wieder Probleme? Dein Auto ist noch nicht fertig, falls du deswegen hergekommen bist.« Alex musste etwas schlucken, es hatte sich also noch nicht bis in Saschas Firma herumgesprochen. Damit hatte er rechnen müssen, Claudia hatte sicher noch keinen freien Kopf für den Gedanken, die Angestellten ihrer Firma darüber in Kenntnis zu setzen, dass ihr Chef auf der Intensivstation der Uni-Klinik mit dem Tod rang, weil eine Gruppe Biker ihm aufgelauert und zusammen geschlagen hatte. Der Autobahnpolizist holte tief Luft und sprach dann mit ernster Stimme. »Nein, ich bin nicht wegen des Autos hier. Sascha ist letzte Nacht überfallen worden und liegt mit schweren Verletzungen im Krankenhaus. Es kann sein, dass die Täter vorher schon mal hier waren und vielleicht von eurer Überwachungskamera gefilmt wurden. Ich brauch die Aufzeichnungen der letzten Wochen.« Georgs gute Laune war wie weggeblasen. Er konnte nicht glauben, was er gerade erfahren hatte. Sascha im Krankenhaus? »Georg? Die Bänder?«, holte Alex den Kfz-Meister in die Realität zurück. »Alex!«, stieß er aus, zurück in die Gegenwart geholt, »die Bänder, kriegst du, sofort!«


    Georg verschwand und kam kurze Zeit später mit einer Spindel etlicher DVDs wieder. »Das sind alle, die wir hier haben. Vier Wochen insgesamt. Im Krankenhaus, sagtest du? Wie geht es ihm? Er wird doch wieder gesund?«, wollte er noch von Alex wissen, der ihm jedoch keine Auskunft geben konnte. »Georg, ich weiß es nicht. Ich habe heute Semir besucht, zu Sascha bin ich noch nicht gekommen.« – »Semir?« – »Ach, das hatte ich nicht erwähnt. Semir kam Sascha zu Hilfe und wurde auch niedergeschlagen. Er hat aber Glück gehabt und wird bald wieder fit sein. Zum Glück hat Claudia gerade ihre Eltern zu Besuch und dadurch Unterstützung.« Alex griff sich die DVDs. »Also Georg, dann werde ich mal wieder. Meint ihr, dass ihr die Werkstatt führen könnt, bis Sascha wieder da ist?« – »Das kriegen wir sicher hin. Ich werde Montag früh mit der Belegschaft und vorher noch mit Claudia sprechen.« - »Dann bin ich beruhigt«, Alex wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal um, »ach noch was. Sascha sagte etwas von einem Transporter, der ihm verdächtigt vorgekommen war, hast du den auch gesehen?« – »Transporter? Nein, davon weiß ich nichts. Vielleicht ist er nur vom Büro aus zu sehen gewesen? Und da bin ich nicht sehr oft. Wolltest du deshalb die Aufnahmen haben?« Alex nickte bedeutend. »Genau deshalb, und jetzt mache ich mir einen netten Kino-Abend.«

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  • 672 Stunden


    Alex schmiss die DVD-Spindel auf den Beifahrersitz. Sie waren alle ordentlich mit Datum versehen und enthielten die Aufzeichnungen der vergangenen vier Wochen. 28 Tage, jeweils 24 Stunden immer in derselben Kameraeinstellung. Im Kopf rechnete Alex schnell aus: 672 Stunden Filmmaterial, selbst wenn er sie im Schnelldurchlauf ansehen würde, konnte er damit ein ganzes Team mehrere Tage beschäftigen. Es müsste ein Programm geben, dass die Filme automatisch durchsucht und wenn sich an dem Parkplatz was tut, oder der Transporter austaucht, die Stelle im Film markiert, eine Art Bewegungsmelder sozusagen. Ob Hartmut sowas kennt? Semir wollte er trotz dessen bekundeter Bereitschaft nicht den Konsum stundenlanger Überwachungsbilder zumuten. Der sollte sich in Ruhe von seiner Gehirnerschütterung erholen. So fuhr Alex zunächst mit seinem Anliegen in die KTU.


    »Eine Bewegungsmelder-Software für Filme? Was soll denn das sein? Nein, Alex, so etwas kenne ich nicht. Außerdem, am Tag tut sich doch bestimmt ständig etwas auf dem Gelände, die Hälfte der Aufnahmen müsstest du dann eh durchschauen. Du suchst doch den Transporter, oder?« – »Genau, und ich will wissen, was das für Fahrzeuge sind, die mit dem Fahrer des Transporters in Kontakt treten.« – »Das dauert sicher länger als ein paar Sekunden, ich denke eher mehrere Minuten?« – »Worauf willst du hinaus, Hartmut?« – »Ich werde aus den Filmen Standbilder erstellen lassen, alle drei Minuten eines, das sind dann pro Tag 480 Bilder, verkleinere sie so, dass 20 auf einen A4-Boden passen, dann hast du 24 Seiten pro Tag, da genügt ein Blick, und du erkennst, ob irgendwann der Transporter dort steht, markierst die Bilder auf dem Ausdruck und ich schneide dir die ganze Sequenz aus dem Film aus.« – »Statt 672 Stunden Film bleiben uns also 672 Blatt Papier, okay, die kann ich gut auf alle Leute in der PAST verteilen, dauert immer noch mehrere Stunden, aber keine Tage.« Alex überlegte, wer ihm für diese Arbeit alles zur Verfügung stehen könnte und kam neben ihm selbst auf drei bis vier Personen, die am Samstag in der PAST Dienst hatten. Mit etwas Glück hätten sie nach dem Zusammenschneiden aller Szenen mit dem Transporter einen Ansatzpunkt, Kennzeichen vielleicht, zu erkennende Gesichter, irgendetwas, wo sie mit ihren Ermittlungen ansetzen könnten.


    Es dauerte mehrere Stunden, dann hatte ein Computerprogramm eine Standbild-Datei erstellt, die von Hartmut nun chronologisch ausgedruckt wurde. ‚Vielleicht hätten auch fünf Bilder pro Stunde gereicht, statt zwanzig?‘, überlegte er , dann wäre es ein Viertel der Ausdrucke, aber dazu war es nun zu spät. Jedes Blatt war mit dem entsprechendem Datum und der Uhrzeit versehen, um die Filmsequenzen später leichter finden zu können. Der KTU-Beamte packte den Stapel in einen Karton und rief Alex an, der noch mal zu Semir ins Krankenhaus gefahren war. Der war nach den letzten Untersuchungen zuversichtlich, das Krankenhaus spätestens am Montag verlassen zu können. »Herumliegen und mich erholen, kann ich doch auch zu Hause.« Alex erzählte ihm von dem gesamten Filmmaterial und Hartmuts Aufgabe, aus 672 Stunden Film ein Bilderbuch mit 13.440 Bildern zu basteln.

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