Wenn die Vergangheit dich einholt

  • Wenn die Vergangenheit dich einholt


    Intro


    Er rannte und rannte. Rannte so schnell er konnte. Bis seine Lungen schmerzen. Schneller und schneller. Immer schneller. Das Auto hinter ihm holte auf. Seine Gedanken rasten. Wohin nur? Wo verstecken? `Halte durch, nicht nachlassen`, spornte er sich selbst an. Doch seine Chancen standen fast aussichtslos. Da vorne war eine Brücke. Vielleicht konnte er die Böschung hinabklettern und so entkommen. Würden sie ihn weiter verfolgen? Er musste es riskieren. `Verdammt, die ist zu Steil! Vielleicht kann ich zur anderen Seite runter´. Er hatte die Brücke schon halb überquert, als der Motor hinter ihm aufheulte. Ein kurzes Gas geben und schon spürte er den Schmerz an seiner Seite, wurde kurz gegen das Geländer gepresst. Er schrie auf. `Das überleb´ ich nicht´, war sein letzter Gedanke. Kurz entschlossen packte er mit beiden Händen fest das Geländer, schwang sich mit letzter Kraft darüber und versank Sekunden später in den Fluten.



    6 Stunden vorher


    „Na, Semir, das war doch ein gelungener Abschluss. Soll´n wir noch einen trinken gehen?“, fragte Alex seinen Partner, der gerade ins Büro kam. „Ne du, lass mal. War ein langer Tag heute. Ich hau mich auf´s Ohr“. „Ach komm schon, Opa. Schlafen kannst du, wenn du tot bist. Ein Bier, das dauert auch nicht lange“, forderte Alex ihn heraus. Er wusste, dass auch Semir seit der Trennung von Andrea seine Abende meist allein verbrachte. Doch auf diesen Fall mussten sie wirklich anstoßen. Ihnen war es gelungen eine Bande dingfest zu machen, hinter der das LKA schon seit Wochen her war. Zufällig ist ihnen bei einer Routinekontrolle der Kopf der Bande in die Finger gekommen. Er wollte zwar türmen und es gab eine erbitterte Verfolgungsjagd auf der Autobahn, die sie allerdings ohne größeren Blechschaden beenden konnten. Zu guter Letzt wurde er verhaftet und wird seine gerechte Strafe bekommen. Auch hatte er gleich vor lauter Wut seine ganzen Anhänger verpfiffen, die dann wenig später ebenfalls verhaftet werden konnten. Semir und Alex hatten somit dafür gesorgt, dass die Straßen von Köln wieder ein wenig sicherer wurden.


    „Na gut, dann los“, wollte sich Semir nicht lumpen lassen. Schließlich gehörte er noch lange nicht zum alten Eisen. Und so saßen die Beiden wenig später in einer Kneipe in der Innenstadt und stießen gemeinsam auf ihren Erfolg an. Sie unterhielten sich noch ein wenig und die Gläser wurden langsam leerer. „So, das war´s für mich Kumpel. Wir seh´n uns morgen wieder“, verabschiedete sich Semir, legte das Geld auf den Tresen und klopfte Alex noch freundschaftlich auf die Schulter. „Mach´s gut“, entgegnete Alex und sah seinem Partner noch nach, wie er die Kneipe verließ, „...und danke für das Feierabendbierchen“, rief er ihm noch zu. Was er allerdings nicht mitbekam, war, dass die Wirtin ihm in dem Augenblick, als er sich umdrehte, unbemerkt ein paar Tropfen klare Flüssigkeit in sein restliches Bier träufelte. Dies geschah im Bruchteil einer Sekunde, so dass auch keiner der anderen Gäste irgend etwas mitbekam. Alex schwenkte sein Glas kurz durch und kippte das Getränk in einem Zug hinunter. Danach drehte er das Glas zwischen seinen Fingern. Die Frage der Wirtin, ob er noch eines wollte, verneinte er allerdings. Er fühlte sich urplötzlich irgendwie nicht gut. Ihm wurde schwindlig und schlecht. Der Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Er versuchte tief durchzuatmen, doch es wurde nicht besser. „Ist Ihnen nicht gut? Die Toilette ist dort hinten“, nahm er die verzerrte Stimme der Wirtin war. Desorientiert torkelte er nach hinten durch. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Kaum hatte Alex die abgegrenzten Räume erreicht, brach er auch schon auf den Fliesen zusammen. Er bemerkte nicht, wie auch zwei Männer aufgestanden waren und ihm unauffällig nach hinten folgten.

  • „Schnappen wir uns den Kerl und dann ab durch die Hintertür, bevor uns noch jemand sieht“, sagte Lars Steiner zu Sven Brügge, als sie auf ihr wehrloses Opfer am Boden blickten. Wie schnell diese speziellen KO-Tropfen doch wirkten. Innerhalb weniger Minuten konnten sie einen gestanden Mann handlungsunfähig machen. Sie packten Alex unter den Armen und schleiften ihn durch die Hintereingang ins Freie. Im Hof war der dunkle Van geparkt. Sie mussten nur die hinteren Türen öffnen und wuchteten ihn zu zweit in den Laderaum. Obwohl Alex wach war und seine Augen geöffnet hatte, bekam er von alle dem nichts mit. Er versuchte hoch zu kommen, doch war er zu schwach und sackte wieder zurück auf die Ladefläche. Die Türen wurden mit einem Knall geschlossen und schon setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Die Fahrt dauerte allerdings nur wenige Minuten und schnell hatten sie ihr Ziel erreicht. „Durchsuch ihn und nimm ihm alle Sachen ab. Du weist ja, was du zu tun hast!“, befahl Lars, stieg aus und ging auf eine am Straßenrand geparkte Mercedes Limousine zu, um sich zu vergewissern, ob ihr Zielobjekt immer noch ebenso betäubt ihm Wagen saß. Durch die Scheibe konnte er ihn genau sehen. Er fragte sich, was ihre Auftraggeberin wohl an diesem älteren Mann gefunden hatte. Denn außer seinem Geld schien er nicht besonders viele Reize zu haben. Svens Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Lars, komm schnell her, wir haben ein Problem!“. Schnellen Schrittes ging er zum Van zurück. „Was ist denn?“. Sven hielt ihm eine Karte vor die Nase. „So ne Scheiße, das ist ein Bulle!“, verkündete er. „Und der hat ne Waffe dabei“. Lars sah verächtlich auf den Mann, der vor ihm lag. Kurz überlegte er. „Egal, wir machen´s trotzdem“, sagte er, „vielleicht is´es sogar von Vorteil... Wir nehmen seine Knarre. Ist sogar besser. Wer glaubt schon einem Bullen, der mit seiner eigenen Waffe einen Unschuldigen umgelegt hat?“, grinste er schief. „Nimm ihm die Fingerabdrücke ab und drück ihm die Waffe in die Hand. Und beeil dich, wir sollten so schnell wie möglich hier verschwinden“.


    Schnell und geschickt brachten sie die Fingerabdrücke von Alex sowohl am Griff als auch an den Seiten der Autotür und am Rahmen an. Es sollte so aussehen, als hätte er die Tür aufgerissen und offen gehalten. Dann maßen sie Alex´ Schulterhöhe und Armlänge und Lars stellte sich in genauem Abstand auf. Alles war perfekt inszeniert. Er hob Alex´ Waffe und Sekunden später hallte ein Schuss durch die Nacht. Lars sah sich um, die Straße hinab, doch nichts rührte sich. Keiner in diesem Industriegebiet hatte von dem Geräusch Kenntnis genommen. In Windeseile waren nun auch Alex Fingerabdrücke am Handschuhfach und an der Geldbörse angebracht, die Lars kurz darauf leerte und hinter den nächsten Busch schmiss. Auch die Waffe wanderte nicht weit hinter ein paar Container. Er schloss die Wagentür wieder und sie machten sich beide zurück zum Van.


    Von Fern hatte Alex einen lauten Knall wahrgenommen. Den Klang einer abgefeuerten Waffe hätte er unter tausenden erkannt, doch sein Verstand war zu benebelt, um es im Moment richtig einordnen zu können. ´Wie bin ich nur hierher gekommen´, fragte er sich, obwohl er nicht einmal wusste, wo ´hier´ eigentlich genau war. Er richtetet sich ein wenig auf und sah zwei Gestalten wie aus einem Tunnel auf sich zukommen. „Verdammt, wie viel hat die ihm gegeben? Der ist mir eindeutig zu wach, nicht das er uns noch erkennt“, sagte Sven zu Lars. „Ach, du siehst doch, der kriegt nichts mit. Ist völlig weggetreten. Und morgen kann er sich sowieso an nichts mehr erinnern!“. „Da wär´ ich mir nicht so sicher“, wand Sven ein. „Vertrau mir, ich kenn mich da aus“. Und schon wurden die hinteren Türen wieder geschlossen und der Wagen setzte sich erneut in Bewegung Richtung Autobahn.


    Alex war so verwirrt und ihm war immer noch so wahnsinnig schlecht. Die Fläche auf die er lag schaukelte hin und her, wie als wenn er auf hoher See wäre. Er versuchte sich aufzurichten, doch seine Beine knickten immer wieder ein. Schmerzvoll viel er immer wieder auf seine Ellenbogen zurück. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er den hinteren Teil des Kastens erreicht. Ein Griff war zu sehen. Mit aller Kraft zog er daran. Die hinteren Türen öffneten sich und er sah den Asphalt wie ein schwarzes Laufband am Boden hinwegziehen. Vor ihm lauter tanzende Lichter. Er hatte immer noch nicht realisiert, in welcher Gefahr er sich befand. Seine Entführer allerdings realisierten schnell. „Scheiße, die Türen sind offen“, rief Sven, der den Van lenkte. Reflexartig bremste er ab und zog auf die rechte Spur. Durch den Ruck des Wechsels wurde Alex Kopf gegen die Seitenwand geschleudert und er schrie auf, als das heiße Blut von seiner Stirn in sein Auge lief. Er fasste sich kurz hin, zog die Hand allerdings sofort wieder weg und betrachtete verwundert das rote Farbenspiel auf seinen Fingern. Ein weiterer Ruck durch das Gefährt brachte ihn wieder zurück. Nun war es reiner Instinkt, der Alex vorantrieb. Er nahm kurz Anlauf und sprang bei voller Fahrt von der Ladefläche. Mit einem Schmerzenslaut rollte er sich ab und sah auch schon weitere Autos auf sich zukommen. Schnell rappelte er sich auf und begann zu laufen.


    Lars und Sven entging diese Aktion nicht. „Schnell, halt an, der haut ab!“. Unter hupen der anderen Verkehrsteilnehmer kamen sie auf dem Seitenstreifen zum stehen und sahen noch, wie ihre kostbare Fracht eine kleine geteerte Straße neben der Autobahn einschlug. Sven legte ohne zu zögern den Rückwärtsgang ein und sie folgten ihm. „Los, mach schon. Der darf uns ja nicht durch die Lappen gehen“.


    Alex rannte und rannte. Rannte so schnell er konnte. Bis seine Lungen schmerzten. Schneller und schneller. Immer schneller. Das Auto hinter ihm holte auf. Seine Gedanken rasten. Wohin nur? Wo verstecken? `Halte durch, nicht nachlassen`, spornte er sich selbst an. Doch seine Chancen standen fast aussichtslos. Da vorne war eine Brücke. Vielleicht konnte er die Böschung hinabklettern und so entkommen. Würden sie ihn weiter verfolgen? Er musste es riskieren. `Verdammt, die ist zu Steil! Vielleicht kann ich zur anderen Seite runter´. Er hatte die Brücke schon halb überquert, als der Motor hinter ihm aufheulte. Ein kurzes Gas geben und schon spürte er den Schmerz an seiner Seite, wurde kurz gegen das Geländer gepresst. Er schrie auf. `Das überleb´ ich nicht´, war sein letzter Gedanke. Kurz entschlossen packte er mit beiden Händen fest das Geländer, schwang sich mit letzter Kraft darüber und versank Sekunden später in den Fluten.


    „Verdammt, du sollst ihn doch nicht gleich umbringen!“, fluchte Lars, riss die Tür auf und stürmte zum Geländer. „Kannst du ihn sehen?“. Sven war ihm gefolgt. So standen sie zu zweit dort oben und suchten den Rand ab. Die Böschung war steil, es hätte keiner sie so schnell erklimmen können. „Der ist bestimmt unter gegangen“, schlussfolgerte Sven nach einigen Minuten, nachdem sie immer noch keine Spur von Alex entdecken konnten. „Das will ich für dich hoffen, sonst geht unser Plan nicht auf und der Auftrag ist in Gefahr!“, schnaubte Lars Sven an. „Komm, lass uns gehen“.

  • Gerade im letzten Moment tauchte Alex an der Wasseroberfläche auf. Seine Luft hätte keine Sekunde länger gereicht. Die nassen Klamotten klebten an seinem Körper und versuchten ihn wieder nach unten in den schwarzen Schlund des Flusses zu ziehen. Das kalte Wasser traktierte ihn wie mit kleinen Nadelstichen und legte jeden seiner Gedanken lahm. Allein sein Instinkt trieb ihn vorwärts. Meter um Meter wurde er mit der Strömung mitgerissen und nur mit Mühe konnte er sich an der Oberfläche halten. Er war mit seinen Kräften am Ende. Die Verletzungen vom Aufprall spürte er wegen des eiskalten Wassers gar nicht. Nach für ihn endlosen Minuten hatte Alex endlich die Gelegenheit, näher an die Böschung zu kommen und nur mit großer Mühe schaffte es Alex sich endlich ans Ufer zu retten. Mit der letzten Energie, die er noch aufbringen konnte, zog er sich halbwegs auf den steinigen Untergrund und brach dann völlig erschöpft darauf zusammen.



    Für Nora war es ein langer und anstrengender Arbeitstag gewesen. Der Artikel, an dem sie gearbeitet hatte, war sehr zeitaufwendig, doch er musste fertig werden. Sie war gut in ihrem Job. Deshalb konnte sie den Abgabetermin auch einhalten. Und die letzten anstrengenden Stunden hatten ihr im Nachhinein ein paar freie Tage beschert. So hatte sie trotz der späten Stunde noch ihre Sportsachen gepackt um ein paar Kilometer am Rheinufer entlang zu joggen. Das machte den Kopf frei und sie konnte nochmal so richtig runterkommen und abschalten.


    Nora sog die frische kalte Nachtluft ein. Sie fühlte sich ausgepowert, aber zufrieden. Da es nur noch ein paar Meter zu ihrem Auto war verlangsamte sie ihr Tempo auf Schrittgeschwindigkeit. In dem Moment erweckte irgend etwas ihre Aufmerksamkeit. Sie konnte nicht genau sagen, was es war. Zu dieser Zeit war es hier Menschenleer. Sie hörte nur ihren Atem und den Wind. Dennoch drang ein kurzes Geräusch an ihr Ohr, dass sie stutzig machte. Sie blieb stehen und sah sich um. Schwach beleuchteten die Laternen den Uferweg. Nora konnte nichts entdecken und so wollte sie sich bereits umwenden um weiter zu gehen, als ihr Blick an das sanft dahintreibende Wasser am Ufer viel. Da lag doch etwas? Es schien im ersten Moment wie ein großer schwarzer Sack auszusehen. Unsicher wandte sie sich noch einmal um, doch es war nirgends jemand zu erkennen. Ihre Neugier war geweckt und so ging sie langsam auf das halb im Wasser liegende Objekt zu.


    Je näher sie kam, desto schneller wurden ihre Schritte, denn schon bald erkannte sie, dass es sich um eine Person handelte, die da lag. Angekommen kniete sie sich herunter und drehte den Mann langsam auf die Seite. Er war komplett durchnässt und an seiner Stirn war eine Schramme. Er war ganz allein. „Oh mein Gott. Hallo?... Können Sie mich hören?“, sprach Nora ihn an. „Sind Sie verletzt?“. Der Mann begann leicht zu zittern. Nora wollte gerade seine Atmung überprüfen und beugte sich näher an sein Gesicht, als sie seine leisen Worte vernahm: „Bitte... helfen Sie mir...“. Es war nicht mehr als ein Flüstern, aber sie verstand. „Ich gehe kurz zu meinem Auto und hole mein Handy, damit ich Hilfe rufen kann. Bleiben Sie einfach ganz ruhig liegen, ich bin sofort wieder da“, versicherte sie ihm. Nora wollte sich gerade erheben und zu ihrem Auto sprinten, als der Mann sie mit für seine Situation außergewöhnlicher Kraft am Arm packte und festhielt. Vorher hatte er die Augen geschlossen, aber jetzt sahen sie sie stahlblau an. „Nein, bitte, kein Krankenhaus, keine Polizei“, hauchte er bestimmt. „Aber...“, erwiderte sie, völlig überrascht von seiner Reaktion. Was sollte sie davon halten? War er ein Flüchtling? Gar ein Verbrecher? Er war zwar komplett dunkel gekleidet, erweckte aber nicht den Eindruck irgendwie gefährlich zu sein. Außerdem war er verletzt. „Bitte!“, wiederholte er nochmal mit Nachdruck und sah ihr dabei tief in die Augen. Nora konnte nicht anders. Sie schluckte lang, sah sich nochmal um und wandte sich dann dem hilflosen Mann zu. „Na gut. Können Sie aufstehen? Gleich da vorne steht mein Auto. Ich bringe Sie erst mal ins Warme“. Ob das die richtige Entscheidung war? „Danke“, entgegnete der Unbekannte. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch“. Nora hatte Mühe den großgewachsenen Mann in eine aufrechte Position zu bringen, da er sehr geschwächt war und nicht viel Gegenhilfe zustande kam. Nur langsam bewegten sie sich auf ihr Auto zu und der Mann hielt dabei immer wieder seine linke Seite und stöhnte bei jedem Schritte kurz auf. Endlich hatte sie ihn auf den Beifahrersitz verfrachtet und stieg selbst ein. „Zu meiner Wohnung ist es nur ein paar Minuten“, verkündete sie. Doch der Mann hatte seinen Kopf bereits an das Seitenfenster gelehnt und die Augen geschlossen. Noch einmal atmete Nora tief durch. War das wirklich eine gute Idee?

  • Nora war nassgeschwitzt, als sie endlich ihre Wohnungstür im 2. Stock erreichten. Der Mann war so teilnahmslos und so musste ihn Nora die Stufen hoch fast alleine stemmen. An der Wohnungstür wäre er ihr beinahe entglitten, als sie nach ihrem Schlüssel griff. Er schien wirklich völlig entkräftet zu sein. Nur mit Mühe konnte sie ihn die letzten Schritte zu ihrem Schlafzimmer dirigieren und ihn auf das große Bett verfrachten. Mit kurzem Zögern zog sie ihm dann doch seine gesamten nassen Klamotten aus und warf sie vor den Trockner. Der Unbekannte hatte kein einziges Mal seine Augen geöffnet und stöhnte immer nur kurz auf, wenn sie ihn berührte. Was war nur mit ihm geschehen? In seinen Sachen konnte sie weder ein Portemonnaie noch einen Ausweis oder irgend etwas finden, was auf seine Identität schließen ließe. Und die vielen Verletzungen an seinem Körper, die sich allmählich abzeichneten, waren ihr auch nicht entgangen. Schnell deckte sie ihn zu, da er bereits wieder heftig zu zittern begann und holte aus dem Wohnzimmer noch eine zweite Decke, die sie über ihn warf. Kurz setzte sie sich an den Bettrand und betrachtete sein angespanntes Gesicht. „Wer bist du nur?“, fragte sie leise.
    ...



    Nora schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie hatte ein Poltern vernommen und erinnerte sich sofort an ihren unbekannten Gast. Sie schaltete das kleine Licht an und begab sich leise ins Schlafzimmer. Das Bett war völlig zerwühlt und der Mann hatte begonnen um sich zu schlagen. Die Scherben der Nachttischlampe lagen neben dem Bett am Boden. Er schien in einer Art Alptraum gefangen. Sie trat näher an ihn heran und fasste ihn beim Arm. „Hey, ganz ruhig. Alles ist gut“, wollte sie ihn beruhigen. Er schlug die Augen auf und sah sie fiebrig an. Sein Blick wirkte verängstigt. „Ich muss hier weg“, stotterte er völlig heißer. „Sie müssen sich ausruhen“, erwiderte Nora sanft und hoffte so, er würde ruhiger werden. „Sie sind hinter mir her...“, kam zitternd zurück. „Keine Angst. Sehen Sie mich an! Hier kann ihnen nichts passieren“, versicherte Nora und es schien zu wirken. Schwach sank er in die Kissen zurück. „Sie müssen etwas trinken“. Nora schenkte etwas Tee aus der Thermoskanne ein, den sie vorher noch zubereitet hatte. Kurz überprüfte sie die Temperatur und versuchte ihm ein paar kleine Schluck einzuflößen. Sie hielt seinen Kopf etwas aufrecht, doch nachdem sie merkte, dass er nach zwei kurzen Zügen wieder aufhörte, bettete sie ihn zurück auf die Kissen. Kurz betastete sie mit ihrem Handrücken noch seine Wangen. Sie waren heiß und extrem gerötet. „Wie fühlen Sie sich?“, wollte Nora wissen, doch er war bereits wieder dabei wegzudämmern.


    Wenn es ihm morgen nicht besser gehen würde, müsste sie ihn in ein Krankenhaus bringen. Denn so sehr sie ihm helfen wollte, konnte sie unter keinen Umständen sein Leben riskieren, falls er doch eine ernsthaftere Verletzung erlitten hatte, die man jetzt nicht sah. Sanft strich sie eine Strähne aus seinem fieberverschwitzten Gesicht. Ein Seufzer fuhr über seine Lippen und sein Kopf bewegte sich wieder unruhig auf die andere Seite.

  • „Gerkan, wo ist Brandt?“, kam die Chefin wütend in das Büro gestürmt. Manchmal wirkte die Krüger wie ein wilder Stier. Es fehlte nur noch, dass man das Schnauben aus ihren Nasenlöchern sah. Unverhofft musste Semir schmunzeln. „Was gibt’s da zu lachen?“, wurde sie nur noch wütender. „Entschuldigung Chefin“, lenkte Semir sofort ein, „wir waren gestern Abend noch kurz einen trinken, seitdem habe ich Alex nicht mehr gesehen. An sein Handy geht er auch nicht. Da ist nur die Mailbox dran“. „Hat er etwa zu tief ins Glas geschaut?“, hakte Kim nach. „Das denke ich nicht. Ich fahr mal bei ihm vorbei. Vielleicht hat er einfach den Wecker nicht gehört“. „Tun Sie das“, und schon war Kim Krüger auch wieder in ihrem eigenen Büro verschwunden. Semir griff sich seinen Schlüssel vom Schreibtisch und zog sich die Jacke an. Das Alex gestern zu viel gezecht hatte, konnte sich Semir nicht vorstellen. Wenn er überhaupt trank, dann höchstens ein, zwei Bier. Kontrolle war ihm sehr wichtig. „Ich schau mal bei Alex vorbei. Meldet euch, wenn was ist“, verabschiedete er sich von Susanne und machte sich auf den Weg zu Alex´ Wohnung.


    Dort angekommen läutete Semir mehrmals, doch nichts rührte sich. Er wartete einige Zeit, unschlüssig was er tun sollte. Sollte er einfach wieder fahren? Sollte er sich Zutritt zur Wohnung seines Partners verschaffen? Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Man hörte immer wieder Geschichten, dass jemand im Bad ausgerutscht ist oder man die Treppe hinunterfällt, unfähig sich zu bewegen und keine Hilfe kommt. Wenn Alex allerdings wirklich noch schlafen würde und er Semir dabei ertappen würde, wie er bei ihm „einbricht“, würde das ihrer bisher geschaffenen Basis nicht sehr dienlich sein. Aber Semir war das im Moment egal. Wahrscheinlich brauchte sein Partner seine Hilfe, und deshalb war Semir jedes Mittel dienlich. Wie recht er doch hatte, obwohl Semir noch nicht ahnte, auf welche Weise.


    Geschickt hatte Semir innerhalb weniger Sekunden das Schloss geknackt und betrat vorsichtig Alex Behausung. „Alex?“, rief er in den leeren Raum. Schnell hatte er die untere Etage überprüft und machte sich auf nach oben. Aber auch hier konnte er ihn nicht finden. Das Bett war leer. Kurz zögerte Semir, doch dann streckte er seine Hand uns und betastete die Matratze. Sie war kalt. Anscheinend hatte sein Partner heute hier nicht seine Nacht verbracht. ´Wo bist du nur`, fragte sich Semir und wollte sich umwenden, als das läuten seines Telefons ihn aus den Gedanken riss. „Ja, Gerkan“, meldete er sich. „Hi Semir, ich bin´s, Hartmut. Ich fürchte, ich hab schlechte Neuigkeiten für dich. Kannst du bitte so schnell wie möglich zu mir in die KTU kommen?“. „Was gibt’s denn Hartmut? Kannst du´s mir nicht am Telefon sagten? Geht´s um Alex?“, war sofort seine Befürchtung. „Semir, es ist wirklich besser, wenn du gleich her kommst“. „In Ordnung, ich bin gleich da“, beendete Semir das Gespräch. Warum wollte Hartmut ihm nicht sagen um was es ging? Noch einmal wandte er sich um, verließ dann aber unverrichteter Dinge Alex´ Wohnung.


    Der Morgen dämmerte heran. Was würde dieser neue Tag bringen? Nora erhob sich von ihrem unfreiwilligen Schlafquartier. Ihre Couch war wirklich nicht für Übernachtungsgäste geeignet. Träge streckte sie ihre steifen Glieder und begab sich ins Bad. Erst einmal eine kalte Dusche um ihre Lebensgeister zu wecken.


    Langsam öffnete sie die Jalousien ein wenig und lies die Sonne gedämpft in das Zimmer scheinen. Der junge Mann schien noch tief und fest zu schlafen. Sie ging auf das Bett zu, doch langsam begann er sich zu regen. Seine stahlblauen Augen öffneten sich und blickten unsicher umher. „Wo bin ich?“, war seine erste Frage. Er klang immer noch heißer. „Sie sind bei mir Zuhause. Können Sie sich erinnern, was gestern passiert ist?“, fragte Nora sanft und ruhig. Er schüttelte den Kopf und versuchte sich ein wenig aufzurichten. Man sah, dass er versuchte sich zu konzentrieren. „Ich kann... mich nicht erinnern...“, kam schwach über seine Lippen. „Keine Angst, das wird schon wieder“, versicherte Nora ihm, setzte sich neben ihn an die Bettkante und legte eine Hand aufmunternd auf seine Schulter. Er zuckte zurück. Berührungen war er einfach immer noch nicht gewöhnt, nachdem er so viel Zeit in seiner Zelle in Isolation und Einsamkeit verbrecht hatte. „Entschuldigung, ich wollte nicht...“, unwissend nahm sie ihre Hand wieder zurück. „Wie heißen Sie?“, stellte sie nun die Frage, die sie seit gestern so sehr interessierte. Er kniff kurz die Augen zusammen. Sie befürchtete schon, dass auch diese Frage unbeantwortet blieb. „Alex. Alex Brandt“, kam dann allerdings von seiner Seite. „Freut mich. Mein Name ist Nora“, entgegnete sie. „Ich hoffe Sie sind kein Verbrecher oder so“, sagte sie scherzhaft. Alex sah sie kurz verwirrt an. „Nein, ich bin Polizist“.


    Das überraschte Nora. „Ok, und warum haben sie mich gestern dann gebeten weder ihre Kollegen noch einen Rettungswagen zu rufen?“. „Ich weiß es nicht... Was ist überhaupt passiert? Wie bin ich hier her gekommen?“, fragte Alex. Er hatte wirklich keinerlei Erinnerungen an den letzten Abend. So sehr er es auch versuchte, es war alles ein dunkler Sumpf des Unwissens. Außerdem fühlte er sich wirklich elend. „Ich habe Sie gestern Nacht am Rheinufer gefunden. Sie hatten wirklich Glück, dass ich Sie entdeckt habe, sonst wären Sie womöglich die ganze Nacht dort gelegen“. „Danke“, kam nur knapp von ihm, während er versuchte sich in eine andere Position zu richten. Dabei rutschte die Bettdecke ein wenig herunter und er bemerkte, dass er außer seinen Shorts nichts an hatte. Schnell ergriff er einen Zipfel und zog sie wieder höher. „Ihre Klamotten waren völlig durchnässt. Sie waren stark unterkühlt, als ich Sie gefunden habe“, erklärte Nora, nachdem sie seine Reaktion bemerkt hatte. „Wie geht es ihnen jetzt?“.


    Alex hörte in sich hinein. Seine Glieder waren steif und er hatte Schwierigkeiten sich zu bewegen. Er war völlig am Ende, würde das allerdings nie zugeben. „Es geht schon“, log er. Nora betrachtete ihn eingehend. Er wirkte sehr blass, allerdings konnte man an seinen Wangen deutlich sehen, dass er noch immer Temperatur hatte. Die Wunde an seiner Stirn war immer noch gerötet. Und vorhin, als die Decke kurz runtergerutscht war, konnte sie wieder eindeutig die etlichen blaue Flecken erkennen, die sehr schmerzhaft sein mussten. „Soll ich Sie nicht doch zu einem Arzt bringen?“. „Nein“, war die prompte Antwort, „ich muss erst herausfinden, was gestern geschehen ist und warum ich dort gelandet bin, wo sie mich gefunden haben“. Kurz entschlossen schlug er doch die Decke zurück und schwang die Beine über die Kante. Ihm war im Moment egal, dass er nur eine Short anhatte. Alex richtete sich auf, doch im selben Moment begann er gefährlich zu wanken. Nora war sofort zur Stelle und stützte ihn. „Langsam, Sie sind noch sehr geschwächt“. Um Alex herum drehte sich alles. Der ganze Raum schien aus dem Gleichgewicht und er sackte zur Seite. Nora konnte ihn gerade noch abfangen, bevor er an die Bettkante gestürzt wäre. „Sie sollten sich noch ausruhen“. Alex stöhnte gepeinigt auf, als Nora ihm unter den Arm griff um ihm wieder aufs Bett zu helfen. Jetzt konnte man das Ausmaß seiner Verletzungen deutlich sehen, die in allen Farben schimmerten und fast die ganze linke Seite seines Oberkörpers einzunehmen schienen. Routinemäßig griff sie an seine Stirn. Das Fieber war da, aber zum Glück nicht bedrohlich hoch. „Bitte sag mir, dass ich das richtige tue“, flüsterte sie. Alex konnte sich kaum noch wach halten. Alles drehte sich immer noch. Er hasste es, wenn er nicht Herr seiner Sinne war. Dennoch spürte er die kühle Hand an seiner Stirn. Das fühlte sich gut an. Er blinzelte Nora nochmals entgegen. Sie war wunderschön. Selbst durch den Schleier konnte er das erkennen. „Bitte... geh nicht weg“, waren seine letzten Worte, bevor die Dunkelheit ihn wieder einfing.

  • Einige Zeit war Nora noch neben ihrem Besucher gesessen und hatte gewartet, bis er endlich wieder ruhig schlief. Zumindest kannte sie jetzt seinen Namen. Und das er Polizist war, beruhigte sie ein wenig, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, ob sie ihm wirklich glauben konnte. Schließlich hatte sie keine Beweise für seine Identität. Und sie wurde bereits von so vielen enttäuscht, auch von Menschen, die ihr sehr nahe standen. Leise verließ Nora den Raum wieder. Schnell suchte sie ihre Sachen zusammen und zog ihre Jacke an. Sie musste unbedingt einkaufen gehen. Damit er wieder zu Kräften kam, brauchte er eine vernünftige Mahlzeit. Doch ihr Kühlschrank bot wie üblich nicht viel. Und er würde sich wohl kaum mit einigen Diätdrinks, Joghurt oder Salat zufrieden geben. Was er jetzt brauchte war eine kräftige Hühnerbrühe nach Mutters Rezept. Die wirkte manchmal Wunder und half erstaunlich schnell wieder auf die Beine. Kurz schrieb sie noch einen kleinen Zettel und legte ihn neben sein Bett auf das Nachtkästchen, bevor Nora die Wohnung verließ.


    „Was gibt’s denn so wichtiges Hartmut, dass du mir das nicht am Telefon sagen konntest?“, platzte Semir in das Büro des Kriminaltechnikers, ohne eine Begrüßung. „Ich wünsch dir auch einen guten Morgen, Semir“, war deshalb seine Reaktion und er schüttelte den Kopf. Immer das selbe. Warum nahm ihn eigentlich nie jemand für voll? „Es geht um den Fall, den ich heute morgen rein bekommen hab“, fuhr er fort, „ein reicher Bauunternehmer, Georg Gruber, wurde ermordet in seinem Auto vor seiner Firma aufgefunden. Durch Kopfschuss. Auf den ersten Blick sah es wie ein Raubmord aus. Doch das, was ich gefunden habe, wird dir nicht gefallen, Semir“, sagte Hartmut mit traurigem Unterton. „Los, komm zur Sache, Hartmut“, drängte Semir. Hartmut atmete noch einmal tief durch. „So wie´s aussieht ist Alex der Mörder“. Jetzt war es raus. Semir fiel beinahe die Kinnlade runter und er starrte Hartmut nur an. „Wie meinst du das ´es war Alex´?“. Hartmut begann mit seinen Erläuterungen. „Alex´ Fingerabdrücke sind überall, im ganzen Auto. Sogar Hautpartikel und ein Haar wurden an der Kleidung des Opfers gefunden. Der Mann wurde mit Alex´ Waffe erschossen, die etwas weiter hinter einem Container gefunden wurde. Sie trägt nur seine Abdrücke. Und auch die entwendete Brieftasche, die im Gebüsch gefunden wurde. Sie wurde durchwühlt und dann weggeworfen. Das sind zu viele Zufälle, Semir. Im Moment sieht es 100-prozentig danach aus, dass Alex der Täter ist“. Semir sah in immer noch ungläubig an. „Noch was, sein Handy wurde ebenfalls am Tatort gefunden. Es wurde kurz vorher genau dort geortet. Alles spricht dafür...“, Hartmut brach ab. Es fiel ihm so schwer es nochmals auszusprechen. „Grubers Frau hat ihn ebenso heute morgen als vermisst gemeldet. Es tut mir Leid Semir“. Semir ließ sich auf den Stuhl neben Hartmut fallen. „Das kann doch nicht sein... Ich glaub das nicht“. „Im Moment ist es leider so. Ich muss die Krüger informieren“. „Ich mach das“, stand Semir auf, „ich werd´ beweisen, das Alex nichts damit zu tun hat. Ich wusste, dass da was nicht stimmt, nachdem er heute morgen nicht zum Dienst erschienen war“. „Vielleicht hat er sich auch nur versteckt, um...“, Hartmut wurde abrupt von Semir unterbrochen. „Du glaubst doch nicht, das er es war?!“, schrie er ihn an. „Nein... natürlich nicht...“, verteidigte er sich zögerlich. Obwohl er schon so seine Zweifel hatte. Allerdings, warum sollte Alex so etwas tun? Semir hatte bereits sein Handy raus geholt und wählte die Nummer von Kim Krüger. „Sobald du noch was herausfindest, rufst du mich an, verstanden?“. Mit diesen Worten verließ Semir die KTU wieder.
    ...


    Als Alex das nächste mal erwachte, war er allein. Er hoffte so sehr, dass das alles nur ein schlechter Traum war, doch die unbekannte Umgebung zeigte ihm das Gegenteil. Er fühlte sich immer noch sehr schlecht. Eine dicke Erkältung war im Anmarsch, seine Glieder waren steif und in seinem Hals kratzte es fürchterlich. Er setzte sich auf und Schwindel erfasste ihn wieder. Kurz blieb er deshalb sitzen und sein Blick viel auf den kleinen Zettel neben ihm. ´Bin kurz weg – fühlen Sie sich wie zuhause´. Darunter war eine kleine Blume gemalt. Alex musste unweigerlich schmunzeln. Auch stand eine dampfende Kanne frischer Tee bereit. Sie war echt nett. Und sie hatte ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Er konnte sich nicht erinnern, dass er sich schon wirklich aufrichtig bei ihr dafür bedankt hatte. Das musste er unbedingt nachholen. Alex stand auf und ging durch die leere Wohnung. Sie war nicht groß und so hatte er das Bad schnell gefunden. Eine heiße Dusche war jetzt genau das Richtige. Lange ließ er das heiße Wasser über seinen geschundenen Körper laufen. Seine Klamotten waren sauber und ordentlich zusammengelegt neben der Dusche und so schlüpfte er mit zusammengebissenen Zähnen unter Schmerzen in seine Jeans und den Pullover. Im Spiegel besah er sein hageres Ich. Seine Augen waren gerötet, seine Wangen eingefallen und er wirkte unglaublich blass. Der Cut an seiner Stirn war deutlich zu sehen. ´So eine Scheiße´, sagte er zu sich selbst und fuhr sich über das Gesicht. In dem Moment hörte er die Tür.


    „Kommen Sie rein und schließen Sie die Tür“, war die gewohnt kalte Aufforderung von Kim Krüger, als Semir das Büro betrat. „Was gibt es denn so wichtiges, dass Sie sofort mit mir besprechen müssen?... Und wo steckt jetzt eigentlich Brandt überhaupt? Warum erscheint er nicht zum Dienst?“. Kim Krüger hatte nicht aufgesehen, sondern sortierte stoisch einige Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Erst als Semir länger nicht antwortet, sah sie auf. Ihr Kommissar sah etwas mitgenommen aus. Unschlüssig kniff Kim die Augenbrauen zusammen. „Gerkan, was ist los? Raus mit der Sprache!“, forderte sie ihn auf. Semir sah nochmals kurz aus dem Fenster, knetete seine Hände durch und sah seine Vorgesetzte wieder an. Stockend begann er zu berichten. „So wie es aussieht, Chefin, steckt Alex in der Klemme“. „Wie meinen Sie das?“, fragte sie immer noch rätselnd. „Heute Morgen wurde im Industriegebiet eine Leiche gefunden. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass Alex... dass er der Täter ist“. „Was?“, kam sofort entrüstet von Kim. „Ich war gerade in der KTU und habe mit Hartmut gesprochen. Im Moment besteht kein Zweifel“. „Haben Sie Brandt schon ausfindig machen können“. „Nein, noch nicht“, musste Semir zugeben, „sein Handy ist aus und in seiner Wohnung war er nicht. Chefin, ich glaube, dass da was faul ist. Alex würde nie...“, Semir schüttelte den Kopf, weil er es immer noch nicht glauben konnte, „... er würde nie etwas Unrechtes tun“. „Sie sind sich aber darüber bewusst, Gerkan, dass ich den Fall melden muss?“. Die Bürokratie. Warum musste immer alles nach Vorschrift gehen? „Ja, natürlich“, gab Semir klein bei, „aber ich werde sofort die Ermittlungen in dem Fall aufnehmen!“. Semir ließ keinen Widerspruch zu. „Meinetwegen“, erlaubte Kim. „Finden Sie Brandt so schnell wie möglich! Ich muss Frau Schrankmann informieren“. „In Ordnung“, erhob sich Semir, nickte und verließ das Büro wieder.


    „Susanne, ich brauche sofort die Privatadresse vom Bauunternehmer Georg Gruber und alles, was du über ihn herausfinden kannst“, sagte er in Befehlston. „Ja, klar, sofort“, antwortete Susanne etwas unsicher. „Magst du mir auch sagen worum es geht?“. „Später“, speiste er sie ab, „in 10 Minuten auf meinem Schreibtisch“. „Sehr wohl der Herr“, parierte Susanne etwas genervt. Manchmal wünschte sie sich, dass ihre Arbeit etwas mehr gewürdigt würde, auch wenn sie nur eine Sekretärin war. „Was hat der denn heute gefrühstückt?“, fragte Jenny in Susannes Richtung. Diese zuckte nur mit den Schultern.



    Kurze Zeit später stand Semir vor einer noblen Stadtvilla. „Gerkan, Kripo Autobahn“, stellte er sich vor, als eine Frau Anfang 40, sehr elegant gekleidet, aber mit verweinten Augen, die Tür öffnete. „Die Polizei war doch bereits da“, schluchzte sie. „Ja, aber ich hätte noch einige Fragen an Sie. Darf ich kurz reinkommen?“. „Bitte“, gab Helena Gruber den Weg frei und deutete auf das Wohnzimmer. Man sah sofort, dass beim Bau dieser Villa Profis am Werk waren. Alles war sehr pompös, aber gut abgestimmt. Die Einrichtung war modern und zeugte davon, dass die Inhaber wohl sehr vermögend waren. Nichts anderes hätte Semir von einem Bauherren erwartet, da er ja auch die Residenz von Bens Vater gut kannte, der ja auch ein bedeutender Bauunternehmer war. „Bitte nehmen Sie Platz“, deutete Frau Gruber auf das gemütliche, weiche, weiße Sofa. Sie setzte sich ebenfalls und tupfte sich mit dem Tuch in ihrer Hand nochmals unter die Augen. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie mit tränenerstickter Stimme. „Frau Gruber“, begann Semir, „können Sie sich vorstellen, warum jemand ihrem Mann so etwas angetan haben sollte?“. Sie überlegte kurz. „Nein, beim besten Willen nicht. Wer sollte denn so etwas tun?“. „Hatte ihr Mann Feinde?“, war seine nächste Frage. Kurz atmete Helena durch. „Mein Mann hatte viele Feinde. Er ist ein hartes Geschäft, müssen Sie wissen. Letztes Jahr musste er einige seiner Angestellten entlassen. Vielleicht hat ja einer von denen etwas damit zu tun. Aber ist das nicht Ihre Aufgabe das herauszufinden?“, sah sie Semir herausfordernd an. „Wir sind gerade dabei“, antwortete Semir patzig. Irgend etwas an ihrer Art gefiel Semir nicht. Sie war auch um einiges jünger gewesen als ihr Mann. Solche Frauen waren Semir immer etwas suspekt. Es erweckte den Eindruck, als seien diese Frauen nur hinter dem Geld ihrer wohlhabenden Männer her. „Hatte Ihr Mann eine Lebensversicherung?“, war deshalb seine nächste Frage. „Ich weiß es nicht“, sagte sie nach einer kurzen Pause und schon kullerten auch wieder ein paar Tränen über ihr Gesicht. Schnell hatte sie sich wieder gefasst. „Finden Sie diesen Kerl, der meinem Mann das angetan hat. Er soll dafür büßen. Mein Mann war völlig unschuldig, Herr Gott nochmal. Er hatte es nicht verdient zu sterben“, schluchzte sie und hielt sich eine Hand vor den Mund, um ihre Trauer nochmals zu untermalen. „Natürlich, ich werde der Sache nach gehen“, versicherte Semir, ohne zu erwähnen, wer in diesem Fall der Hauptverdächtige war. Wenn er gesagt hätte, dass es sich um seinen Partner handelt, hätte Frau Gruber ihn wahrscheinlich hochkant wieder hinaus befördert. „Das war´s erst mal. Ich finde allein hinaus, danke“, erhob sich Semir und verließ die Villa wieder.


    „Behaltet ihn im Auge, der stellt mir zu viele Fragen. Nicht, dass er uns noch Schwierigkeiten macht“, sagte Helena zu Lars Steiner, der in diesem Moment aus der nicht einsehbaren Nische des Nebenzimmers heraustrat. „Keine Sorge, ich hab alles im Griff“, versicherte er und folgte Semir unauffällig nach draußen.

  • Alex trat aus dem Badezimmer. „Hallo“, sagte er und Nora ließ beinahe ihre Einkaufstüte fallen. „Haben Sie mich erschreckt“, lächelte sie verlegen und stellt ihre Tüten auf den Tisch. „Ich wollte Ihnen noch etwas zu Essen machen, damit Sie zu Kräften kommen“. Alex fasste Nora am Arm und drehte sie langsam zu sich um. „Ich wollte noch Danke sagen...“. Er sah ihr tief in die Augen. „Was du für mich getan hast, war wirklich mutig und selbstlos... Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken kann“. Das zu sagen kostete Alex einige Überwindung. Normalerweise war er immer auf sich allein gestellt. Und jetzt hatte er ihr einiges zu verdanken. Nora registrierte, dass Alex zum Du übergegangen war. „Das ist doch selbstverständlich“, entgegnete sie. „Wie ich sehe, geht’s dir besser. Was macht die Temperatur?“. „Geht schon“, antwortete er, wandte sich um und ließ sich aufs Sofa fallen. Nora gefiel es, dass er sich wohl fühlte und begann die Suppe zuzubereiten. „Wie soll´s weitergehen?“, fragte sie über die Schulter hinweg, während sie das Gemüse klein schnitt. „Ich weiß es nicht“, entgegnete Alex, „ich muss nachdenken“. Er legte sich lang, behielt eine Hand auf der Stirn und schloss die Augen. Als jedoch sein Arm nach einigen Minuten erschlaffte, wusste Nora, dass er wieder eingeschlafen war. Ihm ging es bestimmt schlechter, als er zugeben wollte. Leise stellte sie das Radio an und widmete sich wieder ihrer Arbeit, nicht ohne sich ab und zu nach Alex umzudrehen, um zu sehen, ob er noch schlief. Er schien unruhig zu träumen, denn seine Augenlider zuckten mit der Zeit immer mehr unruhig hin und her.


    Kalte Fliesen, die seine Wange berührten... Er wurde hochgehoben und fortgeschleift... Konnte sich nicht wehren... Konnte nichts tun... Steiniger Untergrund... Ein Knall... Und dann, nur noch Wasser... Wasser überall... Er glaubte zu ertrinken... Mit einem Schreck fuhr Alex hoch. Rang nach Luft. Auch Nora hatte sich so erschreckt, dass sie ihr Messer fallen gelassen hatte. Für eine Schreckenssekunde stand sie da und starrte ihn ein. „Nur ein Traum“, sagte er mit belegter Stimme. In dem Moment hörten sie die Meldung im Radio:


    „Und nun zu den Lokalmeldungen: Gesucht wird ein 36-jähriger Mann. Sein Name ist Alex Brandt, er ist 1,80cm groß, hat braune kurze Haare, blaue Augen und ist mit einer dunklen Hose und einer schwarzen Lederjacke bekleidet. Er wurde gestern im Bereich der Kölner Innenstadt gesehen. Der Mann ist möglicherweise gewalttätig und äußerst gefährlich. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. Und nun zum Wetter...“.


    Im Bruchteil einer Sekunde hatte Nora das Messer aufgehoben und richtete es nun auf Alex. „Was hast du getan?“, fragte sie mit zitternder Stimme, „...die Polizei ist hinter dir her? War es das, was du gestern Nacht meintest? Sie verfolgen dich? Sag mir, was hast du getan?“. „Ich weiß es nicht“, antwortete Alex. „Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, was letzte Nacht geschehen ist. Aber ich kann es nicht. Es ist alles weg“. „Wie soll ich dir vertrauen?“, fragte sie, als Alex langsam aufstand und auf sie zu kam. Er legte seine Hand auf ihre und senkte sie langsam, zusammen mit dem Messer. „Ich kann dir nur mein Wort geben“. Alex sah ihr dabei tief in die Augen. Konnten diese Augen lügen? Sie zögerte einen Moment, lies dann allerdings das Messer ganz sinken. „In Ordnung. Ich glaube dir... Ich werde dir helfen, herauszufinden wer dir das angetan hat“, und deutete auf seine linke Seite. Alex nahm sie bei den Schultern und legte seine Stirn auf ihre. Sie konnte seine Wärme spüren. „Danke“, sagte er leise. Auch sie legte die Hände an seine Oberarme und drückte sie ganz leicht, doch in dem Moment zuckte er zusammen. „Ah verdammt“, kam von seiner Seite und er kniff die Augen zusammen. „Entschuldige bitte!“, reagierte Nora erschrocken. Sie hatte im Augenblick nicht an seine Verletzung gedacht. „Komm, setz dich“. Und schon war der vertraute Moment auch wieder verflogen.


    „Es ist nett, dass du mir helfen willst, aber dass muss ich alleine machen. Ich muss hier weg. Ich will dich nicht in Gefahr bringen“. „Das tust du nicht“, entgegnete Nora, „ich kann dir helfen“. „Nein, ich mach das alleine“. Nora schüttelte den Kopf. „Sie dich doch mal an, du kannst kaum alleine stehen. Wie willst du etwas ausrichten?“. ´Verdammt, sie hatte so recht´. „Ich möchte dich da nicht mit rein ziehen“. Alex war es gewohnt, seine Entscheidungen selbst zu treffen. Die Dinge selbst zu regeln. Regeln, die er im Knast gelernt hatte. Die ihm halfen, zu überleben. „Ich stecke doch schon mitten drin“, belehrte sie ihn eines bessern, „..also, was sollen wir tun?“. „Wir müssen Semir anrufen!“.


    Semir wollte gerade das Grundstück verlassen, als sein Handy klingelte. Unbekannter Anrufer. „Gerkan“, meldete er sich wie gewohnt. Abrupt blieb er stehen. „Alex?! Mein Gott, wo bist du? Was ist passiert?“. Gebannt lauschte er der Stimme am anderen Ende. „Wo soll´n wir uns treffen?... Ok, in einer Stunde im Park an der Friedrichstraße... Keine Sorge, ich bin da!... Bis später“. Er legte auf und marschierte schnellen Schrittes zu seinem Wagen. Kurz sah er sich nochmal zu der Villa um, stieg dann ein und fuhr davon. Was er nicht bemerkte war, dass er belauscht wurde. Lars trat aus dem nebengelegenen Teil des Gartens hinter der Hecke hervor. Er sah dem BMW nach und machte sich sofort zurück ins Haus. „Frau Gruber, unser Zielobjekt ist wieder aufgetaucht. Er scheint ein Bekannter von diesem Gerkan zu sein, der gerade hier war“. Helena saß in ihrem Sessel, schaute durch die riesige Fensterfront nach draußen auf den Teich und drehte eine Zigarette in ihren Fingern. „Dann kümmert euch darum!“, befahl sie nur, ohne ihn anzusehen, „...ich muss Ihnen wohl nicht erklären, was es bedeutet, wenn irgend jemand seiner Aussage glauben schenkt“. „Natürlich“, entgegnete Lars, „ich mache mich sofort auf den Weg und regle das“. „Wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gibt, werde ich Sie dran hängen, das ist Ihnen ja wohl klar“. „Natürlich“, erwiderte Lars nochmals, „glauben Sie mir, es wird alles zu Ihrer Zufriedenheit sein“. Er grinste schief und verließ das Gebäude.
    ...


    Semir machte sich natürlich so schnell es ging auf den Weg zu seinem Partner. Der Anruf vorhin hatte ihn mehr als beunruhigt. Die Worte hallten immer noch in seinem Kopf nach. ´Semir, bitte, du musst mir helfen... Irgendwas stimmt hier nicht... Ich bin da in was reingeraten... Können wir uns treffen?´. Alex klang so verzweifelt. Semir war sich nun um so sicherer, dass er unschuldig ist. Aber wo hielt er sich versteckt? Er hatte keine Freunde mehr hier in der Stadt. War er die ganze Nacht umhergeirrt? Schon bald würde er die Antworten bekommen.

  • Zur gleichen Zeit standen Alex und Nora bereits an der verabredeten Stelle und warteten. Ein eisiger Wind wehte ihnen um die Ohren. Der Herbst verabschiedete sich langsam und man konnte spüren, dass der Winter nahte. Nora trat von einem Fuß auf den anderen. Sie betrachtete Alex, der ganz in Gedanken versunken war. Er war groß und gut gebaut. Eigentlich gar nicht so übel. Alex drehte plötzlich den Kopf und blickte sie an. Verlegen sah sie sofort weg. „Bist du sicher, dass er kommt?“, lenkte sie ab. „Ganz sicher“, antwortete Alex und sah nochmals die Straße rauf und wieder hinunter, „auf Semir kann ich mich immer verlassen“. Ein Gefühl, dass für ihn in den letzten Jahren selten geworden war. Alex zog seine Jacke enger. Er fror erbärmlich, obwohl er gleichzeitig das Gefühl hatte, von innen zu verbrennen. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch am liebsten würde er sich auf der Stelle auf den kalten Gehsteig legen und weiter schlafen. Die Suppe vorhin hatte gut getan, aber er fühlte sich immer noch völlig entkräftet und ausgelaugt. Eine Erkältung konnte er nicht mehr leugnen. Wieso war er nur ins Wasser gestürzt? Was war gestern passiert? Er hoffte so sehr mit Semirs Hilfe nun näheres in Erfahrung bringen zu können. Alex sah sich noch einmal um, als sich ein dunkler Van von der anderen Seite der Straße schnell näherte.


    Alles geschah in Bruchteilen einer Sekunde. Der Van blieb mit quitschenden Reifen neben ihnen stehen und die Türe wurde aufgerissen. Ein Mann mit Maske sprang heraus, packte Alex und wollte ihn in den Laderaum ziehen. Dieser wehrte sich natürlich mit allen Mitteln, doch war die Gegenwehr leider nicht besonders wirkungsvoll, aufgrund seines Zustandes. Der Angreifer holte nur einmal kurz mit der Faust aus und schlug Alex mit einem Hieb zu Boden. Dieser blieb benommen liegen. Mit einem Tritt in den Bauch setzte er nochmals nach. Nora hatte die Situation sofort erfasst und handelte umgehend. Ohne an die Folgen zu denken stürzte sie sich auf den Mann. „Geh sofort weg von ihm!“, schrie sie und trat ihm anschließend gegen das Knie. Er schrie auf. „Verdammte Schlampe, na warte“, drohte er, packte Nora grob an den Armen und schleuderte sie auf die Ladefläche. Da er viel stärker war, konnte Nora leider nicht viel gegen ihn ausrichten. Sie stand auf und wollte den Van wieder verlassen, da trat der Angreifer gegen ihren Bauch und stieß sie zurück, weiter in das Gefährt hinein. „Mach schon, wir müssen los!“, kam es aus der Fahrerkabine. Der Mann packte Alex am Jackenkragen und hievte ihn ebenfalls auf die Ladefläche. Alex war immer noch so benommen, dass er sich nicht wehren konnte. Die Wunde an seiner Stirn war von dem Schlag wieder aufgeplatzt und auch seine Lippe blutete nun. Die Seitentür wurde mit einem Ruck verriegelt, der Mann stieg auf der Beifahrerseite ein und schon brauste der Van davon.


    Semir konnte seinen Augen nicht trauen. Ein wenig zu früh war er am vereinbarten Treffpunkt angekommen und bog gerade in die Straße ein, als er einen dunklen Van dort stehen sah. Er verlangsamte seine Fahrt. Irgend etwas ging dort vor. Plötzlich erkannte der Alex, der dort vor einem schwarz gekleideten Mann mit Maske am Boden lag. „Alex!“, stieß er aus und war geschockt, was er eben beobachtete. Alex schien verletzt zu sein, denn er wehrte sich nicht, sondern lag nur am Boden und krümmte sich. Er wurde von dem Mann hoch gezerrt und nun sag Semir deutlich das Blut an seiner Stirn und dass er kaum bei Bewusstsein war. „Was..?“, bevor Semir richtig realisiert hatte, hatte der Maskierte Alex bereits in den Van befördert, die Tür geschlossen und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Schnell merkte sich Semir noch das Kennzeichen und nahm die Verfolgung auf. Den unscheinbaren Aufkleber an der Hintertür registrierte er nur im Unterbewusstsein. „Zentrale für Cobra 11 – Ich verfolge einen schwarzen Mercedes Van mit dem Kennzeichen K-XX 123 in der Friedrichstraße Richtung Innenstadt. Bitte um sofortige Verstärkung! Ende“. Das sich Alex in dem Fahrzeug befand, erwähnte er vorerst nicht. Vielleicht konnte er die Täter ja alleine stellen.


    „Verdammt, die Polizei“, erkannte Sven, als er in den Rückspiegel sah, „wie kommen die hier her?“. „Das muss der Partner von unserem Gast dort hinten sein. Die wollten sich hier treffen. Er ist zu früh... Aber keine Sorge, den hängen wir gleich ab“, sagte Lars und trat aufs Gaspedal. In einer waghalsigen Verfolgungsjagd schlängelten sie sich durch mehrere Straßen und Gassen. Immer weiter wurde der Abstand zu ihrem Verfolger. Plötzlich kam ein Müllwagen aus einer Seitenstraße gerollt. Lars nutzte die Gelegenheit und zog noch um Haaresbreite an ihm vorbei. Semir allerdings musste eine Vollbremsung hinlegen. „So ein Mist... Fahr doch weg!“, zürnte er, doch der Fahrer hatte kein Verständnis, schüttelte nur mit dem Kopf und setzt langsam nach hinten. Semir umfuhr nun das Fahrzeug, doch von den Verdächtigen war keine Spur zu sehen. „Verdammt!“, fluchte er und schlug auf das Lenkrad. Er fuhr noch die Straße ab, blickte in jede Abzweigung, doch sie waren spurlos verschwunden.


    Währenddessen versuchte Nora in dem schaukelnden Gefährt irgendwie halt zu finden. Der Laderaum war ansonsten völlig leer und es gab keine Möglichkeit, sich irgendwo fest zu halten. Sie kniete neben Alex und nahm sein Gesicht in beide Hände. Sie sah das Blut an seiner Stirn und auch die aufgeplatzte Lippe. „Alex, wach auf“, sprach sie ihn verzweifelt an, doch er regte sich nicht. „Was mach´ ich denn jetzt?... Komm schon, wach auf...“, rüttelte sie nochmals an seinen Schultern. Doch außer einem Stöhnen kam weiterhin keine Reaktion.


    Nach einer gefühlten Ewigkeit ging ein Ruck durch das Fahrzeug. Es stoppte und der Motor wurde aus gestellt. Nora hörte Schritte auf Kies und dann wurden die hinteren Flügeltüren aufgerissen. Für einen kurzen Moment war sie so geblendet, als einer der Männer, immer noch maskiert, sie am Handgelenk packte und mit einem Ruck aus dem Fahrzeug zog. „Lass mich los!“, protestierte sie, doch konnte nichts ausrichten. Sie war dem Mann einfach nicht gewachsen. Schnell sondierte sie die Umgebung, als sie unerbittlich weiter gestoßen wurde. Sie befanden sich auf einem riesigen Hof, so ähnlich wie ein alter Bauernhof. Aber er war verlassen, kein Mensch war zu sehen. Auf der einen Seite waren Stallungen, auf der anderen Seite ein großes altes Haus. Hier schien seit längerem keiner gewesen zu sein. Nora wandte sich nochmal zum Fahrzeug um. „Alex!“, stieß sie panisch aus, als sie sah, wie der andere Maskierte Alex an den Beinen packte und ohne Rücksicht von der Ladefläche zog. Er knallte ungebremst mit dem Oberkörper und dem Kopf auf den Kies. Ein Aufschrei von Alex war zu hören. Unbeeindruckt wurde er weiter geschleift, ebenfalls in Richtung der Stallungen. Nora wand sich in dem festen Griff. „Seid ihr verrückt? Lasst ihn sofort los! Seht ihr nicht, dass es ihm schlecht geht?“, schimpfte sie wutentbrannt. „Halt den Mund!“, bekam sie völlig teilnahmslos als Antwort und wurde einfach weitergezogen. „Da rein!“. Nora wurde in eine der Boxen geschoben. Gleich darauf kam der zweite Mann, immer noch mit Alex im Schlepptau, zog ihn ebenfalls in die Box und ließ ihn dort achtlos fallen. Schnell war das Gatter geschlossen und das Schloss verriegelt. „Was soll das? Ihr könnt uns doch nicht einfach hier lassen?“, versuchte es Nora erneut. Doch eigentlich wusste sie, dass sie keine Chance hatten. „Doch wir können“, wandte sich einer der Männer nochmals um und zog dabei seine Maske vom Kopf. ´Das bedeutet nichts Gutes´, dachte Nora, als sie in das Gesicht des Mannes starrte.


    Nora sah sich um. Die Box war nicht besonders groß, wie eine normale Pferdebox. Auf der linken Seite war eine kleine Pritsche aufgestellt, wie ein Feldbett. Zwei Decken lagen darauf. Ansonsten war sie leer. Durch die kleinen Oberfenster drang Licht in die Stallungen. In den diffusen Strahlen tanze der Staub. Keine besonders behagliche Umgebung. Langsam beugte Nora sich zu Alex hinab. Er war dabei, wieder zu sich zu kommen. „Hey Alex, alles in Ordnung?“, sprach sie ihn an und strich ihm sanft durch das Haar. „Wo sind wir?“, war er noch völlig desorientiert. Schließlich hatte er von der Fahrt nichts mitbekommen. „Irgendwo... ich weiß es nicht genau. Komm erst mal hoch, der Boden ist eiskalt“, half sie ihm hoch, doch er knickte beim ersten Versuch wieder ein. Mit einiger Mühe konnte sie Alex auf die Pritsche helfen. Nun saß er dort, aufrecht an die Wand gelehnt und sah sie mit glasigen Augen an. „Wie geht es dir? Alles ok?“, fragte Nora nochmals, nachdem sie vorher keine Antwort erhalten hatte. „Geht schon“, wurde sie wieder abgespeist. „Du siehst aber nicht so aus“, und strich vorsichtig am Rand seiner Schramme entlang, worauf er zusammen zuckte. „Ist nur ein Kratzer“, tat Alex ab und versuchte sich in eine bequemere Position zu richten. Seine Rippen schmerzten noch mehr, nachdem der Angreifer vorhin ihn in die Seite getreten hatte. Nora beobachtete seinen Versuch besorgt. „Was ist denn los mit dir? Irgendwas stimmt doch nicht?“. Alex drehte seinen Kopf zur Seite um seine Stirn an dem kalten Metall neben ihm zu kühlen. Nora betastete seine Wange. „Du glühst ja schon wieder“, stellte sie fest. Alex sagte kein Wort, atmete nur tief durch und schloss die Augen. Nora nahm eine der Decken und breitete sie über ihm aus. „Was wollen die nur von dir?“

  • Unruhig wanderte Nora in ihrer Zelle umher. Ein kurzer Blick im Dämmerlicht zeigte ihr, dass Alex wieder in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Es ging ihm weitaus schlechter, als er zugeben wollt. Das Fieber war wieder gestiegen und sie hatte nichts, um es zu senken. In dem Stall war es bitterkalt, obwohl die Tore geschlossen waren. Aber sie konnten nicht viel von der Kälte abfangen. Langsam wurde es dunkel. Wahrscheinlich mussten sie die Nacht hier verbringen. Nora hatte schon ein paar mal versucht an den Gitter hoch zu kommen oder auf anderem Weg irgendwie über die Wände zu klettern. Allerdings leider ohne Erfolg.


    ...


    Zeitgleich marschierte Sven in dem Raum auf und ab. „Wieso war da noch jemand?... Was sollen wir denn jetzt machen?... Wir haben zu viele Mitwisser...“. Lars beobachtete ihn genervt. „Du hättest die Kleine ja nicht auch noch mitnehmen müssen...“. „Mir blieb gar keine andere Wahl“, verteidigte sich Sven, „die ist auf mich los gegangen wie eine Furie“. „Vielleicht ist das ja auch gar nicht so schlecht“, überlegte Lars. „Was wir brauchen ist ein Geständnis. Und unser sicher sehr integer Polizist wird bestimmt nicht zulassen, dass eine unschuldige Person zu Schaden kommt“, grinste er und schnappte sich die Waffe von der Anrichte. „Komm mit, es gibt Arbeit“. Lars machte sich auf den Weg zu den Stallungen, während Sven ihm getreu folgte, noch unschlüssig, was nun der nächste Schritt war.


    ...


    Nora erhob sich, als das Gatter mir einen Schwung aufgerissen wurde und die zwei Männer wieder die Box betraten. Lars stieß Nora grob zur Seite, während er auf Alex zu ging, ihn packte und aufrichtete. Alex war sofort hellwach. Er wollte sich von seinen Verletzungen nichts anmerken lassen, gab jedoch ein Zischen von sich, da seine Seite immer noch sehr schmerzte. Mit rot unterlaufenen Augen sah er Lars direkt an. Wenn er bei Kräften gewesen wäre, hätte er die Männer ohne Mühe überwältigt und wäre geflohen. Doch im Moment war sein Körper wie Blei. Er konnte sich selbst in dem Griff kaum auf den Beinen halten. Er war ihnen schutzlos ausgeliefert. „So, Freundchen, nachdem du uns bereits einmal entwischt bist und uns nicht den Gefallen getan hast einfach zu ertrinken, was wir sehr gut hätten als Selbstmord verkaufen können, darfst du uns jetzt einen anderen Gefallen tun. Zum Glück ist ja dein kleiner türkischer Freund aufgetaucht, so dass wir von deinem Überleben Wind bekommen haben und dich noch rechtzeitig, wie soll ich sagen...“, er überlegte kurz, „... einsammeln konnten“. „Was wollen Sie von mir?“, fragte Alex mit zusammengebissenen Zähnen, immer noch im harten Griff von Lars gefangen. „Du wirst dich nicht mehr erinnern können“, sagte Lars ganz theatralisch, „aber du hast letzte Nacht jemanden umgebracht. Und dafür brauchen wir ein Geständnis. Denn sonst kann die arme reiche Hinterbliebenen nicht auf ihr Erbe hoffen. Und das wäre doch tragisch“. Alex verstand jedoch immer noch nicht. „Ich habe nichts getan“, spie er ihm entgegen. „Tut mir Leid, dass sehen deinen Kollegen aber ganz anders. Alle Tatsachen sprechen dafür. Und wenn wir jetzt auch noch eine Geständnis haben, dann...“, er machte eine kurze Pause, „... Klappe zu“. Alex wusste genau, was das bedeutete. Trotzdem konnte er die Ereignisse immer noch nicht in die richtige Reihenfolge bringen. Sie mussten ihn betäubt haben, um ihm dann einen Mord anzuhängen. Langsam begriff er das ganze Ausmaß. „Das könnt ihr vergessen“, sagte Alex bestimmt. Lars drückte ihn zurück auf die Pritsche, holte einen Briefbogen samt Stift hervor und drückte ihm diese in die Hand. „Wenn ich bitten darf?“, sagte Lars ganz ironisch. „Niemals“, kam standhaft von Alex zurück. In dem Moment lud Lars seine Waffe durch und zielte damit direkt auf Noras Kopf. „Wenn ich bitten darf?“, wiederholte er nochmals mit Nachdruck. Alex Augen weiteten sich. Damit hatte er nicht gerechnet. Nora stand wie versteinert in der Ecke. Sie hatte alles mit angehört und langsam wurde ihr klar, wie sich alles zusammenfügte. Dennoch war sie nun zur Untätigkeit verbannt und starrte in den Lauf der Waffe.


    „Wird´s bald?“, forderte Lars nochmals auf und drückte zum Nachdruck seine Waffe noch fester an Noras Schläfe, deren andere Seite des Kopfes bereits gegen die Bretter gedrückt wurde. „Nein“, antwortete Alex, jedoch nun unsicherer. Er wollte auf keinen Fall Noras Leben gefährden, konnte sich aber auch nicht einfach so geschlagen geben. Doch als Lars ausholte und Nora mit der Waffe am Kopf traf, worauf hin sie mit einem Schmerz zu Boden sank und ein Schwall Blut durch ihre Finger sickerte, gab sich Alex geschlagen und schrieb die diktierten Wort auf das blanke Blatt nieder. Als er fertig war, unterschrieb er noch das Geständnis und reichte es Sven zu. „Wir haben zu danken“, verabschiedeten sie sich und ließen die beiden wieder allein.


    „Geht´s dir gut?“, war sofort Alex Frage und beugte sich zu Nora hinab, die immer noch ihre Stirn hielt. „Ja, alles klar“, sagte sie etwas zitternd, aber entschlossen. „Zeig mal...“, Alex untersuchte kurz die Wunde. „Sie ist nicht sehr tief. Ist dir schwindelig?“. „Nein, wirklich, alles in Ordnung“, wehrte Nora ab und richtete sich auch schon wieder auf. „Ich war einfach nur überrascht“. Alex richtete sich ebenfalls auf, doch wieder etwas zu schnell und es erfasste ihn der Schwindel. Er versuchte an der Wand halt zu finden, glitt jedoch ab und fiel direkt in Noras Arme. „Vorsicht. Setzt dich lieber wieder“, half sie ihm wieder auf die Pritsche zurück. „Dir geht es wirklich nicht gut“, stellte sie zum wiederholten mal fest. „Ich weiß“, war Alex diesmal wenigstens ein klein wenig ehrlich. „Was denkst du haben sie vor?“, fragte sie, als sie ihm die Decke wieder richtete. „Ich bin mir nicht sicher. Die wollen mir einen Mord anhängen, den ich nicht begangen habe. Nur das Problem ist...“, er sah bitter zur Seite, „... ich wurde bereits einmal verurteilt. Zwar unschuldig, aber nicht ohne Folgen. Ich saß drei Jahre“. Traurig sah Nora ihn an. Sie hatte bereits bemerkt, dass Alex kein Mann vieler Worte war. Doch diese paar Sätze verrieten viel über ihn und sein Leben. Verständnisvoll legte sie ihre Hand auf seine. „Jeder hat seine Vergangenheit. Wichtig ist allerdings, was du aus deiner Zukunft machst. Dann kannst du die Vergangenheit hinter dir lassen“. Diese Worte konnten ihn leider nicht aufbauen. „Aber was, wenn sie dich immer wieder einholt?“. Er dachte an die Vorurteile, die ihm Semir am Anfang entgegenbrachte und die vielen Situationen, bei der ihm seine Vergangenheit bereits im Weg stand. „Ich muss versuchen uns hier raus zu bekommen“, wechselte er das Thema und wollte wieder aufstehen. „Ich habe es bereits versucht“, deutete Nora mit dem Kopf an das Gatter, „keine Chance“. Resigniert ließ Alex sich wieder sinken. „Semir wird uns finden, vertrau mir“. „Hoffentlich, denn ich weiß keinen Ausweg mehr“, musste Nora zugeben. „Das ist nicht deine Aufgabe“, lächelte Alex mild, verfing sich allerdings in einem Hustenanfall. „Heute schon“, erwiderte sie.

  • „Frau Krüger, haben Sie kurz Zeit?“, streckte Semir seinen Kopf in ihr Büro. „Kommen Sie rein“. Semir schloss die Tür und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Alex hat sich gemeldet“, begann er sofort. Kim legte ihren Stift beiseite, verschränkte die Hände vor der Brust und lehnte sich zurück, gespannt, was jetzt folgen würde. Semir berichtete, was geschehen war. „Ich war bei Frau Gruber, um sie nochmals zu befragen. Als ich das Haus verließ bekam ich einen unbekannten Anruf. Alex war am Apparat. Er sagte, dass er in irgend etwas rein geraten war und wir uns treffen sollten. Doch zu dem Treffen kam es nicht“. „Was war passiert?“, fragte Kim neugierig. „Als ich am vereinbarten Treffpunkt ankam, hatte ein maskierter Mann gerade Alex überwältigt und in ein Fahrzeug gezerrt. Ich wollte sie verfolgen, wurde allerdings abgehängt“. „Konnten Sie das Kennzeichen erkennen?“. „Ja. Allerdings hat die Fahndung bisher nichts ergeben. Es war nicht gemeldet“, sagte Semir traurig. Kim Krüger überlegte. „Sind Sie sich sicher, dass es sich um eine Entführung handelt?“, wollte sie nochmals wissen. „Ganz sicher, Frau Krüger, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Denken Sie etwa...“, Semir sah sie an, nicht in der Lage, den Satz zu Ende zu formulieren. „Wir haben bisher nur Beweise, die gegen Herrn Brandt sprechen“, sagte sie hart. „Nein, das glaube ich nicht“, widerlegte Semir, „er wurde in den Wagen gezerrt, da bin ich mir sicher. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er sich gewehrt hat“. Zur Untermalung schlug er mit der Hand auf den Tisch, erhob sich und verließ frustriert das Büro wieder. Wie konnte Frau Krüger nur an seiner Beobachtung zweifeln? Gut, sie war immer sehr realistisch und im Moment sprachen wirklich alle Beweise gegen Alex. Aber was er gesehen hatte, hatte er gesehen. Und er glaubte an Alex Unschuld. Sollte er sich so täuschen?


    „Susanne, legst du mit bitte alles über das Bauunternehmen Gruber und seine Privatangelegenheiten auf den Tisch. Alles was du finden kannst. Ehemalige Mitarbeiter, Geschäfte, Finanzen, die Versicherungen, einfach alles. So schnell wie möglich“. „Natürlich“, antwortete Susanne, immer noch im Unklaren, was hier eigentlich vor sich ging. Auch sie fragte sich, wo Alex steckte, ebenso wie die anderen Kollegen. Doch bisher waren noch keine Informationen durchgesickert. Doch an Semirs Gesichtsausdruck konnte sie sehen, dass irgend etwas ganz und gar nicht stimmte.
    ...


    Nur eine Stunde später sollte die ganze Situation eine Wende nehmen, als Helena Gruber gefolgt von ihrem Anwalt die PAST betraten. Kim Krüger bat sie in ihr Büro und deutete Semir an, der Sitzung ebenfalls beizuwohnen. „Frau Gruber kennen Sie ja bereits“, stellte Kim vor, „und das ist ihr Anwalt, Lars Steiner“. Semir gab ihm die Hand, doch sogleich beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er stellte sich nahe der Tür auf und lauschte den Worten, die jetzt folgten. „Was kann ich für Sie tun, Frau Gruber“, fragte Kim höflich. Doch statt ihr, ergriff ihr Anwalt das Wort. „Uns wurde ein Schriftstück zugestellt, dass den von Ihnen behandelten Fall bezüglich meiner Mandantin wohl aufklärt“. Er griff in seine Tasche und holte einen Umschlag heraus, den er Kim reichte. Sie drehte ihn einmal in der Hand, öffnete ihn und entfaltete das einzelne Blatt, das darin lag. Je länger sie las, desto mehr veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Nachdem sie fertig war, reichte sie das Blatt kommentarlos an Semir weiter. „Woher haben sie den Brief?“, fragte Kim. „Er wurde meiner Mandantin zugestellt. Wie Sie sich sicher denken können, war meine Mandantin sehr schockiert, als Sie erfahren hat, dass ihr Partner“, und damit drehte er sich Semir zu, „schuld ist am Tod ihres geliebten Mannes“. Semir hatte mittlerweile den Brief ebenfalls zu Ende gelesen und knüllte ihn in der einen Hand zusammen. Es war ein Geständnis. Von Alex. „Das ist doch völliger Schwachsinn!“, fuhr er Lars an, „Alex würde so etwas nie tun!“. „Gerkan!“, erhob Kim ihre Stimme, um ihren Kommisaren wieder ein wenig zu beruhigen. „Frau Gruber, ich versichere Ihnen, dass ich alles notwendige in die Wege leiten werden. Nach Herrn Brandt wird bereits gefahndet. Wir werden diesen Fall aufklären, darauf gebe ich Ihnen mein Wort“. „Das will ich hoffen“, verabschiedete sich Helena Gruber, wischte noch eine imaginäre Träne aus ihrem Gesicht und erhob sich. Lars folgte ihr hinaus.


    Mit einen Knall landete der Brief auf Frau Krügers Tisch. „Sie wissen, dass das nicht echt ist“, schnaubte Semir wütend. „Können Sie bezeugen, dass das Brandt´ Handschrift ist?“. „Ja, natürlich ist das seine Handschrift“. „Somit sind die Beweise klar“, schlussfolgerte Kim. „Heißt das, dass Sie denken, er war es wirklich?“, fragte Semir ungläubig. „Das heißt, dass mir im Moment die Hände gebunden sind. Wir haben mehrere eindeutige Indizien. Die Staatsanwaltschaft wird hier kurzen Prozess machen“. „Dann sagen Sie denen, dass das alles eine Falle ist und er es nicht war“. „Keine Chance, wir haben ein Geständnis“, hob sie nochmals den Brief hoch. „Ja, aber nur, weil die ihn erpressen! Die halten ihn womöglich als Geisel!“. „Wer sind ´die´?“, war die Gegenfrage. „Das weiß ich noch nicht“, musste Semir zugeben, „aber ich werde es herausfinden. Und ich werde Alex finden“. „Tut mir Leid, Gerkan, aber Sie sind raus“. Semir sah sie mit großen Augen an. „Chefin, das können Sie nicht machen“. Kim sah ihn eindringlich an und Semir wusste das zu deuten. „Sie sind offiziell raus“, sagte sie, „was Sie in Ihrer Freizeit machen, kann ich nicht beeinflussen“. „Danke, Chefin“, verließ auch er das Büro wieder. Er ahnte, diese Gruber, Steiner und eventuelle Komplizen steckten alle unter einer Decke. Doch wie Beweisen? Wo suchen? Und wie sollte er Alex finden? Fragen, auf die er im Moment noch keine Antwort hatte.


    „Das lief ja wie am Schnürchen“, sagte Lars zu Helena, als sie wieder ins Auto stiegen. „Dann sorgen Sie dafür, dass alles weiterhin so glatt läuft. Ich will mein Geld haben“. Lars grinste. „Dem steht nichts mehr im Weg. Ich werde gleich bei der Versicherung anrufen. Wenn ich die Kopie des Briefes vorlege, haben sie spätestens nächste Woche die Millionen auf ihrem Konto“. „Wunderbar“, nickte Helena zufrieden. „Und noch was, Steiner... Lassen Sie die Kleine verschwinden. Wir können keine Störungen mehr gebrauchen. Verstanden?“. „Natürlich“, entgegnete er.

  • „Alex, wach auf“, drang die Stimme zu ihm durch und ließ ihn hoch schrecken. Alles war verschwommen und er fühlte sich desorientiert. „Hattest du wieder einen Alptraum?“, bemerkte er Nora an seiner Seite. Kraftlos nickte er und fuhr sich mit den Händen über sein Gesicht. Der Schweiß hatte schon wieder einen Film gebildet und ließ auch sein Shirt an seinem Körper kleben. Sein Hals schmerzte, seine Augen brannten und er hatte Schwierigkeiten richtig Luft zu holen. Ob von der Erkältung oder von den Tritten konnte er im Moment nicht genau sagen. Außerdem suchen ihn im Traum diverse Bilder heim, die er immer noch nicht in die richtige Reihenfolge bringen konnte. Nora sah, dass er in Gedanken war. „Es heißt, Träume verraten einem Dinge, die man vor sich selbst verheimlicht. Manchmal auch Dinge, die man vergessen will“. Alex sah sie an. Sie hatte wieder mal genau den Punkt getroffen. „Ich lege mich schlafen, um zu vergessen, weil ich die ganze Zeit damit verbringe, zu versuchen, mich zu erinnern. Aber es gelingt mir nicht“, sagte er resigniert. „Warte ab, es wird wieder kommen“, wollte sie ihn aufmuntern. „Aber was, wenn nicht? Wenn ich verurteilt werde, weil ich mich nicht erinnern kann? Weil ich mich nicht verteidigen kann?“. Nora sah, dass Alex sehr mit sich kämpfte. „Jeder, der dich kennt, wird bezeugen können, dass du mutig und loyal bist. Hab keine Angst, es wird sich alles aufklären“, versicherte sie ihm. „Danke, dass du mich unterstützt. Du hast es nicht verdient mit mir hier zu sein... Es tut mir unendlich Leid, dass du in diese Situation geraten bist“. „Wir kommen hier raus“, sagte Nora überzeugt, „und jetzt, schlaf noch ein wenig. Wer weiß, was uns morgen erwartet“. Das ließ sich Alex nicht zweimal sagen, denn sein Körper verlange bereits wieder seinen Tribut. Jedoch musste Nora erschreckt feststellen, dass es ihm von Stunde zu Stunde schlechter ging. Und die Entführer hatten sich seitdem auch nicht mehr blicken lassen.
    ...


    Es war schon weit nach Mitternacht und Semir saß immer noch an seinem Schreibtisch, unschlüssig, was er als nächstes tun sollte. Die Fahndung nach dem Kennzeichen war ins Leere gelaufen. Immer wieder ging er im Kopf die Geschehnisse durch und spielte dabei unbewusst mit seinem Modellauto auf dem Schreibtisch. Irgend etwas war ihm entgangen. Aber was? Plötzlich fiel es ihm wieder ein! Er hatte an der Hintertür des Van einen Aufkleber gesehen. Darauf war ein Pferdekopf abgebildet, mit einer kleinen Mühle im Hintergrund. Nur schwach konnte er sich an die genauen Details erinnern. Dennoch musste er dem Hinweis nachgehen und fing an zu googlen.


    Seit einiger Zeit lag Alex nur noch so da und war wie im Delirium. Seine Stirn glüht, er schwitzte und zitterte in wechselnden Abständen und war kaum mehr noch ansprechbar. Wütend und frustriert rüttelte Nora abermals an den Gitterstäben des Gatters. „Warum helft ihr ihm den nicht?“, schrie sie vor Wut so laut sie konnte. „Wir brauchen Wasser, verdammt noch mal! Er stirbt hier! Wie könnt ihr nur so herzlos sein?“. Doch ihre Rufe blieben unbeantwortet. Keiner kam. Besorgt wandte sie sich wieder Alex zu. Nora fühlte nochmals seinen Puls. Er war sehr schwach, aber zumindest regelmäßig. Vorsichtig zog sie die Decke etwas höher, betrachtete seine angespannten Gesichtszüge. Normalerweise war sie nicht der Mensch, der sich einer Situation ergab oder jemals dachte, dass irgend etwas aussichtslos sein könnte. Aber je länger sie hier neben Alex saß, desto aufgewühlter wurde sie, denn sie konnte ihm nicht helfen. Sie konnte nichts tun. Und diese Verdammnis ließ sie so stark zweifeln, dass die Tränen stumm, wie ein heißer Strom, über ihr Gesicht liefen, während sie seine Hand hielt. So versuchte sie ihm wenigstens ein bisschen Kraft zu geben, auch wenn sie wusste, dass er davon wahrscheinlich sowieso nichts mitbekam.


    Semir wollte schon aufgeben, als er nach langer Suche endlich einen Treffer landen konnte. Er hatte das Logo tatsächlich gefunden. Es führte ihn auf die Seite des Gestüts „Alte Mühle“. Dort las Semir, dass es bereits seit 4 Jahren nicht mehr im Betrieb war, weil die Besitzer Bankrott gegangen waren und so verkaufen mussten. Semir befürchtete schon wieder in einer Sackgasse gelandet zu sein. Doch er wollte nicht aufgeben und sah zusätzlich noch in der Datenbank nach, um den jetzigen Besitzer ausfindig zu machen. Als er endlich fündig wurde und den Namen las, verschlug es ihm fast die Sprache. Lars Steiner. Das Gestüt gehörte doch tatsächlich dem Anwalt von Helena Gruber. Angestrengt überlegte Semir weiter, bis sich alles allmählich zu einem Bild zusammen fügte. Er holte sich einige Akten und untersuchte weitere Fälle. Die meisten, die von Lars Steiner betreut wurden, standen immer damit in Verbindung, dass der Versicherungsnehmer nach kurzer Zeit verstarb. Entweder kam er durch einen Verkehrsunfall ums Leben, wurden Opfer eines Verbrechens oder erlagen einem bis dahin unbekannten Herz-Kreislauf-Leiden. Und jedes Mal wurde den Hinterbliebenen die volle Versicherungssumme zugesprochen. „Die haben ihnen mit der Lebensversicherung auch gleich noch den Tod mit verkauft“, flüsterte Semir ungläubig vor sich hin. Über so viel Skrupellosigkeit konnte er wirklich nur den Kopf schütteln. Was war das für eine Welt? Hier handelte es sich nicht nur um Betrug, sondern um Auftragsmord. Und wie es aussah, war Alex ungewollt mitten hinein geraten.
    ...


    Der Morgen brach heran und für Semir bestand kein Zweifel mehr, dass Alex in diesem Gestüt festgehalten wurde. Zumindest musste er das überprüfen, denn außer diesem Standort besaß Lars Steiner nur noch zwei einzelne Stadtvillen. Und Alex dort gefangen zu halten wäre wahrscheinlich zu auffällig gewesen. Das Anwesen war abgelegen und freistehend. Der ideale Ort um eine Geisel versteckt zu halten. Sobald Kim Krüger das Büro betrat nahm Semir sie in Beschlag und berichtete ihr von seinen Recherchen. „Frau Krüger, ich bin mir sicher, dass wir ihn dort finden werden. Bitte schicken Sie mir ein Team mit, damit ich das überprüfen kann“, flehte Semir eindringlich. „Sie wissen, dass ich das eigentlich nicht tun darf. Sie sind raus“. Kim stand wieder genau in der Mitte. Eigentlich wollte sie auf keinen Fall das Leben ihres Kommissaren gefährden, andererseits konnte sie sich auch nicht immer über die Anweisungen der Staatsanwaltschaft hinweg setzten. Aber im Moment war ihr das Egal. „Ok, ich gebe ihnen eine Einheit mit. Wenn er dort ist, holen sie ihn da raus“. Semir bedankte sich über die Maßen. „Aber Gerkan... wenn sie dort nichts finden, bleibt das eine Sache zwischen uns. Niemand darf es erfahren“. Semir nickte. „Natürlich Chefin. Von mir erfährt keiner etwas. Ich mache mich sofort auf den Weg“, und schon war Semir auch schon wieder verschwunden. Sie durften keine Zeit verlieren. „Viel Glück“, flüsterte Kim ihm noch nach.

  • Sven rannte schnell die Treppen hinunter und hämmerte an die Zimmertür. „Lars! Schnell, wach auf! Die Polizei ist auf dem Weg hier her!“, rief er panisch. Lars öffnete verschlafen die Tür. „Was willst du?“. „Ich wollte mich gerade anziehen und hab zufällig aus dem Fenster gesehen. Über die Landstraße kommt eine Einheit, mehrere dunkle Wagen, eines mit Blaulicht. Ich glaube, wir sind aufgeflogen“, sagte er ganz aufgeregt. „Scheiße“, erwiderte Lars, „ich dachte nicht, dass es so schnell geht. Los! Pack deine Sachen, wir haben nur ein paar Minuten, bis sie hier sind. Hinterlass keine Spuren. Wir treffen uns unten im Stall. Beeil dich!“. Schnell raffte auch Lars seine Sachen zusammen in seine Tasche. Vom Gestüt aus konnte man die Landstraße gut überblicken. Zum Glück hatte Sven die Bullen bemerkt, sonst wäre es wahrscheinlich sehr schwer geworden noch zu fliehen. Sie würden gleich hier sein. Die Boxen befanden sich in hinteren Teil des Hofes, etwas abgelegen. Wenn sie Glück hatten, würde das SEK zuerst den vorderen Teil und die Wohngebäude durchsuchen und sie konnten über den Feldweg nach hinten raus entkommen. Sven war gerade zu ihm gestoßen. Er sollte den Wagen schon mal nach hinten bringen. Lars öffnete die Stalltür mit einem Ruck. Mit wenigen Schritten war er an der Box angekommen. Verächtlich sah er hinein. Die Frau war aufgestanden, der Mann allerdings lag noch auf der Pritsche und rührte sich nicht. Er war ganz blass. „Los, mitkommen!“, befahl er ohne Umschweife, packte Nora am Arm und zog sie mit sich. „Was soll das? Lassen Sie mich los!“, protestierte sie. Die Entführer hatte sich die ganze Nacht nicht blicken lassen und nun kam einer der beiden einfach so hereingestürmt und zog sie mit sich. Sie machte sich Sorgen um Alex. „Was wollen sie von uns? Sehen Sie nicht, dass es ihm schlecht geht?“, versuchte sie erneut. Doch Nora wurde einfach wieder in den Van gestoßen. Um sie in Schach zu halten kam Sven um den Wagen und bedrohte sie mit der Waffe, damit sie nicht wieder ausstieg. Lars kam zur Box zurück, riss die Decke von Alex runter und schrie ihn an. „Los, aufstehen! Wird´s bald?“. Lars packte seine Schulter, rüttelte hart daran und gab ihm ein zwei Ohrfeigen. Doch Alex rührte sich nicht. Nicht einmal ein Stöhnen kam über seine Lippen. Lars spürte die Hitze, die er ausstrahlte. Er musste schnell handeln. Im Hof quietschten bereits die Reifen auf dem Kies und Türen wurden geschlagen. Das SEK war da! Er hatte keine Zeit mehr. Er versuchte Alex hoch zu ziehen, doch er war zu schwer. Er hing da, wie ein nasser Sack. Frustriert ließ Lars ihn wieder zurück fallen. Sollte er einen halb Toten mitschleifen? Das würde sie nur behindern. Verächtlich sah er noch einmal auf Alex hinab, wandte sich dann allerdings um, schloss die Box und verschwand. Er stieg zu Sven ins Auto. „Fahr los!“, befahl er. „Was ist mit dem Typen?“. „Wir lassen ihn hier. Er ist eh schon fast tot. Und für unser Püppchen überlegen wir uns noch was. Fahr!“. Um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, rollten sie langsam auf dem Feldweg in den Wald und verschwanden ohne aufsehen.
    ...


    Zügig waren die zwei großen Gebäude durchsucht, doch sie konnten nichts finden. Einer der Räume sah so aus, als wäre vor kurzem jemand hier gewesen, denn das Bett war noch warm. Aber sonst fanden sie keine Spur. Frustriert drehte Semir die Waffe in seiner Hand und steckte sie ins Holster zurück. Er hatte so sehr gehofft Alex hier zu finden. Das SEK machte sich bereits wieder auf den Weg zurück zu den Autos. Semir trat wieder ins Freie und sah sich um. Er wollte nichts übersehen oder auslassen. Er ging über den Hof und sah sich jedes Gebäude noch einmal genau an. Was hatte er übersehen? Semir ging weiter nach hinten und kam an eine Stallung. Waren Sie hier gewesen? Das große Tor öffnend ging er hinein und sah sich um. Es war kalt und still. Reflexartig zog er seine Jacke enger.


    Semir ging an einer Reihe von Gattern vorbei. Alle Boxen waren geschlossen, aber leer. Er wollte sich schon nicht die Mühe machen auch noch die auf der anderen Seite zu kontrollieren, da er sie im vorbeigehen schon im Augenwinkel beobachtet hatte. Doch irgend etwas trieb ihn dazu. So ging er die andere Reihe auch noch ab. Vor einer Box blieb Semir stehen und als er hineinsah wich ihm augenblicklich sämtliche Farbe aus seinem Gesicht und seine Knie wurden schwach. „Alex?!“


    Mit dem Knauf seiner Waffe schlug Semir das Schloss auf, rannte zu Alex und kniete sich neben seinen Partner, der auf einer Pritsche lag. Er fasste ihn bei der Schulter und spürte sofort die Wärme, die sein Körper ausstrahlte. Semir war sich sicher, dass er hohes Fieber hatte. Alex´ Augen waren geschlossen und Semir dachte schon, dass er wahrscheinlich bewusstlos wäre. Entgegen seiner Vermutung schlug er sie jedoch langsam und träge auf. Doch er wirkte teilnahmslos und sah Semir auch nicht an, sondern stur geradeaus und stöhnte auf, währende er seine Augen immer wieder kurz schloss. „Alex, kannst du mich hören?“, fragte Semir deshalb, in der Hoffnung irgendeine Reaktion zu erhalten. Sein Freund sah so ausgemergelt aus, sein Gesicht war blass und eingefallen. Er schien aber zum Glück keine offensichtlichen Verletzungen zu haben. „Alex?“, wiederholte Semir nochmals und rüttelte leicht an seiner Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Erst jetzt fing Brandt an seinen Kopf in Semirs Richtung zu bewegen. Seine Augen blickten ihn nun trübe, ungläubig und fieberglänzend an. „Semir?“. Seine Stimme klang völlig heiser und Semir erschrak ein wenig, da sie gar nicht nach seinem sonst so starken Partner anhörte. Seine Lippen waren spröde und eingerissen. „Ja, ich bin´s. Keine Angst Kumpel, du bist jetzt in Sicherheit“, wollte ihm Semir versichern, um ihm das Gefühl zu geben, dass ihm nichts mehr passieren könnte. Alex wandte seinen Kopf allerdings nur suchend um und seine Augen durchschweiften ruhelos den kleinen Raum. „Wo ist sie?“, stotterte er und wurde von einem leichten Husten gepackt. „Wen meinst du?“. Semir wusste natürlich nicht, was sich in den letzten Stunden und Tagen hier abgespielt hatte.


    „Semir, hilf mir hoch!“, forderte Alex und machte Anstalten sich ein wenig hoch zu stemmen und sich leicht aufzurichten. Immer noch neben ihn gekniet betrachtete Semir seinen Versuch besorgt. „Ich denke, dass ist keine besonders gute Idee. Du bist vollkommen dehydriert und entkräftet. Bleib lieber liegen, der Rettungsdienst wird gleich da sein“. Diese Diagnose konnte Semir auch ohne eine fachmännische Ausbildung stellen, denn das war auf den ersten Blick hin sichtbar. „Hilf mir hoch...“, sagte Alex nochmals, was zeigte, dass seine Forderung keinen Widerspruch duldetet. Er konnte manchmal echt ein richtiger Dickkopf sein. „Na gut“, gab Semir nach und versuchte seinen Freund so gut wie möglich zu stützen. Allerdings scheiterte dieser Versuch, wie vorauszusehen war, kläglich. Alex klammerte sich an Semir fest, doch sobald er eine halbwegs aufrechte Position erreicht hatte, protestierten seine Rippen. Ein Schmerzlaut entfuhr ihm und sogleich erfasste ihn auch der Schwindel und er drohte wieder weg zu kippen. „Verdammt, Alex“, tadelte er ihn und versuchte ihn so sanft wie möglich auf die Pritsche zurück zu legen. Alex schien mit seinem Bewusstsein immer weiter abzugleiten. Deshalb versuchte Semir ihm auf die Wange zu tätscheln, damit er bei ihm bliebe. „Alex komm schon, nicht schlapp machen... Du musst wach bleiben...“. Er sah Alex´ verzweifelte Versuche gegen die Bewusstlosigkeit anzukämpfen, sah dann allerdings mit Besorgnis, dass er diesen Kampf nach kurzem verlor. Er blickte noch einige Sekunden ziellos umher, bevor er dann die Augen nach oben verdrehte und sein Kopf zur Seite sackte.

  • Langsam schlug Alex die Augen auf. Verwirrt blickte er sich um. Alles war noch verschwommen, doch das Weiß brannte in seinen Augen. Kurz schloss er sie um den Schleier zu vertreiben. Er sah an sich herunter. Er lag in einem Krankenhausbett in einem dieser schrecklichen Hemdchen, die er so hasste. Eine Infusion steckte in seinem Handrücken. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Er versuchte sich zu räuspern, als er eine Bewegung neben sich vernahm. „Alex, bist du wach?“, war die vertraute Stimme seines Partners. Langsam drehte er den Kopf zur Seite. Jede Bewegung schien ein Kraftakt zu sein. Er blickte in das freudige, aber auch besorgte Gesicht von Semir. „Wie geht es dir?“. In seiner Stimme schwang ebenfalls echte Sorge mit. Alex war es gar nicht mehr gewohnt, das sich jemand so sehr um ihn kümmerte. Jetzt war es schon die zweite Person in so kurzer Zeit, die sich anscheinend ernsthafte Gedanken um ihn machte. Zu ersten Mal antwortete er ehrlich. „Müde und erschöpft“. „Das glaub ich dir gern, Partner“, lächelte Semir ihn an. Alex sah zwar schon ein wenig besser aus, als vor einigen Stunden, als Semir ihn gefunden hatte. Dennoch war er extrem blass und sah krank aus. Alex hasste solche Situationen und wollte sich ein wenig im Bett aufrichten, was allerdings nur dazu führte, dass er sich auf die Lippe biss um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Seine linke Seite bereitete ihm immer noch große Schmerzen und er stöhnte ungewollt auf. „Bleib lieber liegen“, war Semir sofort zur Stelle, „der Arzt sagt, du hättest ganz schön was abbekommen“. „Scheint so“, war Alex´ knappe Antwort. Und so versuchte er gar nicht mehr eine andere Position einzunehmen. „Wie lange war ich weg?“, fragte Alex. „Fast nen ganzen Tag“, sagte Semir immer noch besorgt und legte seine Hand auf Alex Arm. „Was ist passiert?“, war nun die Frage, die Semir so sehr auf der Zunge brannte. Die Frage, die ihn seit Tagen beschäftigte. Die ihm hoffentlich half, Licht auf die ganze Sache zu werfen. Gebannt blickte er in das Gesicht seines Partners, gespannt auf die Worte, die jetzt folgen würden.


    „Semir, ich weiß es nicht. Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun. Das war alles eine Falle“, entgegnete er verzweifelt. „Was meinst du mit ´ich weiß es nicht´?“. Alex erzählte Semir die ganze Geschichte. So weit er sich natürlich erinnern konnte. Von dem Abend in der Kneipe. Das danach seine Erinnerungen aussetzten. Und natürlich von Nora. Wie er in ihrer Wohnung aufgewacht ist. Wie sie angeboten hat ihm zu helfen. Danach hatte Alex ihn ja angerufen und das Treffen vereinbart, zu dem es nicht kam. Alex konnte sich auch nur Bruchstückhaft an das alte Gestüt erinnern. Der Schlag auf den Kopf bei der erneuten Entführung und die grobe Behandlung hatten ihm sehr zugesetzt. Zumal da Alex zuvor sowieso schon in einer sehr schlechten Verfassung war. Dann das erzwungene Geständnis, nachdem er allmählich realisierte hatte, was da eigentlich gespielt wurde. Das Fieber war daraufhin wieder weiter angestiegen und hatte ihm den klaren Verstand geraubt. Es kam ihm alles vor, wie ein schlechter Traum. Doch das er hier war, verriet ihm, dass es grausame Realität war.


    „Wo ist Nora?“, fragte Alex voller Sorge. Semir sah in an, unsicher, was er antworten sollte. „Semir, wo ist sie? Geht es ihr gut?“. Irritiert starrte Semir ihn an. „Als ich dort ankam, warst du allein. Niemand sonst war noch dort. Ich habe alle Räume noch durchsuchen lassen. Alles war verlassen... Ich wusste nicht... “. Alex starrte einige Sekunden nachdenklich an die Wand. „Sie haben sie mitgenommen...“, war seine bittere Erkenntnis. „Ich muss sie finden!“, beschloss er daraufhin und hatte schon seine Hand an die eine Seite der Decke gelegt, um sie zurück zu schlagen, als Semir ihn am Handgelenk packte und ernst ansah. „Du musst gar nichts“, sagte er streng. „Semir...“. „Alex, du wurdest gefangen gehalten, hast eine Unterkühlung und eine schwere Infektion. Du musst dich erst einmal ausruhen“. „Ich kann nicht. Ich kann hier nicht untätig herumliegen, während sie noch immer in Gefahr ist. Meinetwegen. Unschuldig!“. „Aber du hilfst ihr nicht, wenn du jetzt da rausgehst und schon auf dem Gang zusammenklappst!“, wand Semir ein. Alex musste resigniert feststellen, dass er es im Moment wahrscheinlich wirklich nicht einmal bis zur Tür schaffen würde, so ausgelaugt fühlte er sich. „Aber du glaubst mir doch, Semir? Du weißt, dass ich unschuldig bin“, fragte Alex ihn mit flehenden Augen. Semir zögerte einen Moment zu lange. „Alex... ich... wir müssen erst deine Aussage noch eingehender prüfen. Die Beweise sind erdrückend. Aber ich glaube dir, was du mir erzählt hast“. „Schon gut“, schnaubte Alex, drehte seinen Kopf auf die andere Seite und blickte aus dem Fenster. Wie sollte er seine Unschuld beweisen, wenn nicht einmal sein Partner voll und ganz hinter ihm stand. In nächsten Moment öffnete sich die Tür.


    „Schön, Sie wieder bei uns zu haben, Brandt“, kam nun vom Bettende. Kim Krüger war hier. Ob sie hinter ihm stehen würde? „Chefin, Semir kann Sie gleich über alles informieren, was ich weiß. Aber es ist wichtig, dass Sie mich gehen lassen, damit ich die Täter fassen kann“, wurde Krüger sofort überrumpelt. „Brandt, sie stehen unter Mordverdacht. Wir haben ein Geständnis, dass von ihnen unterzeichnet ist. Und solange diese Sache nicht aus der Welt geschafft ist werden Sie dieses Zimmer nicht verlassen. Außerdem muss ich Sie an die Staatsanwaltschaft überstellen, sobald es ihnen besser geht. Haben wir uns da verstanden?“. Jetzt klang sie wieder wie seine Chefin. „Ich lasse mich nicht schon wieder unschuldig verurteilen!“, knirschte er. Es schien, als würde ihn die Vergangenheit wirklich wieder einholen. „Das sagt ja auch keiner, dennoch müssen wir der Sache auf den Grund gehen. Im Moment sprechen noch alle Beweise gegen Sie. Doch Sie können von Glück sagen, dass Gerkan Sie gefunden hat. Lebend. Können Sie uns denn sagen, wie alles dazu kam?“. „Nein, ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich habe manchmal Träume, aber sie sind so vage und verschwommen“. „Das erschwert die Ermittlungen natürlich. Wir werden ihre Aussage aufnehmen und der Sache nachgehen. Und Brandt...“, ihre Stimme wurde auf einmal ganz weich und herzlich, „... ruhen Sie sich derweilen aus. Sie sehen schlecht aus“. Resigniert lies Alex sich tiefer in die Kissen sinken. Ihm fehlte momentan wirklich die Kraft, das spürte Alex ganz deutlich. Doch er konnte nicht einfach hier liegen und nichts tun. Er hatte bereits einen Plan, denn er wusste, er war auf sich allein gestellt.


    Nachdem die Chefin gegangen war, sagte keiner ein Wort. Doch Semir sah, wie anstrengend das Ganze für Alex war. Bereits nach wenigen Minuten fielen Alex immer wieder die Augen zu, obwohl er sich mit Mühe dagegen wehrte. „Ruh dich aus“, riet ihm Semir. „Ich... kann nicht...“, war seine verzweifelte Antwort und Alex versuchte den dicken Kloß im Hals zu überwinden. Doch bereits wenige Sekunden später war er eingeschlafen. Die vergangenen Stunden forderten ihren Tribut. Semir blieb noch eine ganze Weile neben ihm sitzen und lauschte seinem gleichmäßigem Atem. „Schlaf dich gesund, Partner“, waren seine letzten Worte, bevor er spät in der Nacht das Zimmer verließ.



    Nora hatte mehrmals versucht, sich von den Fesseln zu befreien. Vergeblich. Sie hatte sich lediglich die Handgelenke aufgeschürft, bis sie blutig waren und die roten Rinnsale auf das Laken tropften. Sie musste ihre Kräfte sparen. Wenn sie hier wirklich rauskommen wollte, musste sie auf ein Wunder hoffen. Doch dieses Wunder würde nie eintreten. Wenn sie die Augen schloss sah sie nur Alex vor sich, wie er von Fieberkrämpfen geschüttelt vor ihr lag und immer schwächer würde. Sie betet dafür, dass er fliehen konnte, wusste aber selbst wie aussichtslos es war. Diesen Gedanken wollte sie gar nicht zu ende denken, aber sie wollte sich auch nichts vormachen. Er würde dort sterben, wenn er nicht schon tot war.


    Sie hatte schon so viele Menschen verloren, dass sie manchmal dachte der Tod würde an ihr haften. Dass das Unglück mit ihr zieht und auf jeden überspringen würde dem sie sich emotional näherte.


    Nora machte die Augen wieder auf und spürte die pochenden Schläge ihres Herzens, das heftig gegen ihre Brust schlug. Ihre Kehle schnürte sich zu und Tränen sammelten sich in ihren Augen, bahnten sich stumm den Weg über ihre Wangen.

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