Lucky

  • Die Decke hatte man ihm schon zum Umlagern weggenommen, aber obwohl er ja noch Fieber hatte, war ihm trotzdem kalt und er erschauerte, als man nun auch noch sein Hemd hoch schlug. Er kam sich nackt und ausgeliefert vor und sowohl Sarah als auch die anderen Anwesenden bemerkten, was ihm gerade zu schaffen machte. „Herr Jäger-sie bekommen sofort eine warme Decke und genieren müssen sie sich auch nicht, aber wir müssen sie jetzt sachgerecht lagern, damit wir an die Leiste gut rankommen, denn sie sollten dann eine ganze Weile still liegen!“ erklärte die eine Schwester des Katheterlabors sachlich, was Ben innerlich zum Aufseufzen brachte. Die hatte keine Ahnung wie weh seine Wunden am Rücken taten, wenn er da direkt drauf lag und trotz Polsterung war der Tisch doch kalt und härter als sein weiches Bett. Auch der Internist war näher getreten und hatte ihn gemustert. „Ich möchte durch die linke Leiste eingehen, denn nachdem wir rechts ja die Drei-Etagen-Thrombose haben, besteht da die größere Gefahr, dass sich beim Vorschieben der Sonde ein Gerinnsel löst!“ erklärte er und die unsterile assistierende Schwester nickte, drehte das linke Bein ein wenig nach außen, hängte den Katheterbeutel nach rechts und legte als begleitende Maßnahme ein dichtes grünes Tüchlein über seine Scham und nun war Ben irgendwie wohler, auch wenn das eigentlich ein Blödsinn war, denn das medizinische Fachpersonal sah sicher täglich mehr nackte Menschen als er sich vorstellen konnte.
    Unter sein rechtes Bein kam nun eine bequeme Knierolle und auch das linke wurde in dieser Position mit einem flachen Kissen unterstützt, bis der Kardiologe zufrieden war. Mit einem Lächeln holte die Schwester nun eine angewärmte grüne Decke aus dem Wärmeschrank, der sich draußen vor den Behandlungsräumen auf dem Flur befand. Ein wenig Komfort sollten die Patienten schon haben, denn die meisten froren, wenn man manchmal über einen längeren Zeitraum an ihnen herumbastelte und sie dabei still liegen mussten. Damit wurde nun sein Oberkörper bis unterhalb des Bauchnabels zugedeckt und auch über die beiden Beine kam jeweils eine Einzeldecke-falls der Leistenzugang schwierig wurde konnte man nämlich die beiden Beinstützen unabhängig voneinander bewegen. Die Raumtemperatur im Katheterlabor war nicht allzu hoch, weil alle die dort arbeiteten ja durch die Röntgenschürze und zusätzliche sterile Vermummung immer schwitzten.


    Die steril gewaschene Schwester hatte inzwischen ihren Tisch vorbereitet und reichte nun dem Operateur, der zwei Paar Handschuhe übereinander trug, ein Schälchen mit farbigem Desinfektionsmittel in dem mehrere Tupfer schwammen und eine lange Kornzange. Der Kardiologe strich nun sachgerecht von außen nach innen die Leistenregion dreimal ab, zog dann das eine Paar Handschuhe aus und deckte dann gemeinsam mit der steril gewaschenen Schwester den ganzen Patienten mit großen sterilen Tüchern zu. Nur in dem Bereich der Leiste legte man ein gefenstertes Tuch dessen Ränder durchsichtig waren und klebten, so dass der Bereich in dem die Schleuse liegen würde, frei blieb. Nun tastete der Arzt zunächst mal nach der Arterie, weil Arterie und Vene dort-wie fast überall im Körper- direkt übereinander lagen. Falls es schwierig würde, das Gefäß zu punktieren, stand für alle Fälle ein Ultraschallgerät mit ebenfalls steril eingepacktem Schallkopf bereit, aber einem erfahrenen Kardiologen würde das vermutlich keine Mühe bereiten, auch wenn die meisten Gefäßzugänge für Herzkatheteruntersuchungen über die Femoralarterie liefen. Nun reichte ihm die Schwester eine Lokalanästhesie mit einer langen Nadel und mit der Warnung: „Vorsicht-jetzt piekts!“ infiltrierte er sorgfältig die gesamte Leistenregion. Ben spürte zwar schmerzhaft die Nadel mehrfach eindringen, aber dann wurde das ganze Gebiet taub und fühlte sich an wie Holz.
    Noch war das Deckenlicht an, denn das Katheterlabor hatte kein Fenster und so sah Ben noch aus dem Augenwinkel, wie der Arzt nun mit einer ziemlich dicken Nadel das Gefäß aufsuchte, was ihm dank seiner Erfahrung in Windeseile gelang. Nun legte er über einen Seldinger-Führungsdraht dorthinein eine sogenannte Schleuse-das war ein dickes Kunststoffschläuchlein, das aber mit einer Membrane versehen war, damit dort kein Blut herauslaufen konnte und als er die mit einer Annaht in Ben´s Leiste fixiert hatte, ließ er sich die Einführsonde mit dem vorne aufgesetzten zusammengefalteten Cavaschirmchen geben und nachdem er die durch die Membrane, die zusätzlich noch mit einer plastikummantelten Schutzhülle umgeben war, gefädelt hatte, wurde das Deckenlicht gelöscht und nur noch die Bildwandlerschirme, also die direkten Röntgengeräte und die Kontrollmonitore gaben ein geisterhaftes Licht von sich.
    Die ersten Zentimeter schob der Kardiologe die Sonde blind nach oben, dann spritzte die assistierende Schwester immer wieder kleine Mengen Kontrastmittel durch den Zuspritzgang der meterlangen Sonde und so konnte man unter Röntgenkontrolle ihren Weg durch Ben´s Körper verfolgen. Ben bemerkte die Anspannung aller Beteiligten und auch Sarah´s Hand, die die seine tröstend umfasste, war vor Aufregung eiskalt und er merkte, wie sie unbewusst immer wieder den Atem anhielt. Je höher die Sonde kam, desto mehr Thromben in verschiedenen Größen sah man nämlich an den Gefäßwänden hängen. Es wäre fast ein Wunder wenn es gelänge durch das venöse System mitten durch Ben´s Körper, vorbei an den ganzen Bauchorganen und dann entlang der Wirbelsäule bis kurz vors Herz zu kommen, wo dann das Schirmchen, das eigentlich mehr aussah wie ein kleiner Metallquirl, entfaltet werden sollte, ohne dabei mechanisch einen Thrombus zu lösen. Auch der Anästhesist hatte die ganze Zeit den Monitor im Auge, denn falls es zu einer Komplikation kam, müsste er schnell reagieren, aber bisher blieb alles ruhig. Allerdings war es für den Kardiologen teilweise sehr schwierig die richtige Abzweigung zu finden und immer wieder wurde eine kleine Menge Kontrastmittel eingespritzt, wodurch man dann wieder die vor dem Katheter liegenden Gefäße und ihren Verlauf kurz sehen konnte, aber mit der nächsten Pumpwelle des Herzens wurde das Kontrastmittel dann schon wieder in Richtung Körpermitte gezogen und im großen Kreislauf verteilt. Was mit ein Problem darstellte war die Tatsache, dass Ben´s Niere ja sowieso schon geschädigt war und das Kontrastmittel für diese ebenfalls nicht gesund war. Man würde zwar nach dem Eingriff versuchen den Körper mit mehreren Liter Infusionslösung zu spülen, aber trotzdem versuchte der Arzt natürlich so wenig wie möglich von der schädigenden Flüssigkeit zu verwenden.


    Mehrmals probierte er vergeblich eine Kurve zu meistern, aber nachdem das auf Höhe des Zwerchfells mehrfach nicht ging, veränderte man die Neigung des Tisches von außen und Ben fühlte sich, als wenn er aufgeklappt würde wie ein Klappmesser, als das Beinteil und das Kopfteil sich senkten. Ein Aufstöhnen begleitete diese Lagerung und der Narkosearzt beeilte sich, seinem Patienten nun einen Opiatbolus zukommen zu lassen-wenn er sich jetzt bewegte, konnte das sein Todesurteil bedeuten. Nicht nur die Gefahr des sich lösenden Thrombus bestand, sondern die Sonde mit dem Schirmchen daran konnte durch ihre Starrheit auch die Gefäßwand durchstoßen und im Mediastinum, wo sie sich jetzt in unmittelbarer Herznähe befand, lag ein empfindlicheres Organ neben dem anderen. Kam es zu einer arteriellen Verletzung, würde die Blutung vielleicht nicht zu stoppen sein, erwischte man die Luft-oder die Speiseröhre kam es zu meist tödlich verlaufenden Abszessen oder Luftembolien und so atmeten alle Beteiligten auf, als es dem Kardiologen endlich beim wiederholten Anlauf gelang an die richtige Stelle zur Schirmchenplatzierung zu gelangen. Bei der nächsten Kontrastmitteleinspritzung sah man die Herzklappe des rechten Vorhofs unmittelbar vor dem Schirmchen und das Herz beantwortete diese Irritation sofort mit einem Stolpern, das Ben unangenehm mitbekam. Aber als der Kardiologe jetzt seine Sonde einen Zentimeter zurückzog und nun vorsichtig mit viel Routine das Schirmchen entfaltete, das jetzt wie ein kleines Metallgitter einen Schutzwall vor dem Herzen bildete, in dem sich eventuelle Thromben fangen und dort mit der Zeit epithelisiert würden, atmeten alle Beteiligten auf und Ben hätte sich beinahe geregt, so bekam er die Erleichterung aller Zuschauer mit.
    „Halt Ben, ruhig!“ schrie Sarah angstvoll auf, denn erst wenn die Sonde entfernt war, war die Gefahr vorüber und so lag er noch einen kurzen Moment still, währenddessen der Kardiologe, dem im Gegensatz zu Ben, dem immer noch kalt war, die Schweißperlen auf der Stirn standen, die Sonde zurückzog und ans Tageslicht beförderte. Man machte das Deckenlicht an und nun entfernte der Internist noch die Schleuse und drückte eine Weile fest auf Ben´s Leiste, um einen Bluterguss zu verhindern, was dem extrem unangenehm war. Allerdings hatte Sarah nun vor Erleichterung Tränen in den Augen und so beschwerte Ben sich nicht, dem irgendwie erst jetzt durch die Reaktion seiner Behandler bewusst wurde, in welcher Gefahr er in den letzten Stunden geschwebt hatte. „Schatz-du hast es geschafft!“ sagte seine Frau erleichtert und als er wenig später in seinem Bett lag und nun schon wesentlich befreiter auf die Intensiv zurückgefahren wurde, wo man dann noch eine dokumentierende Röntgenaufnahme machte, worauf erstens das Schirmchen und seine korrekte Lage deutlich zu sehen waren und man auch feststellte, dass er keinen sogenannten Pneumothorax hatte, also einen Lufteintritt in den Pleuraraum, der als Komplikation nach diesem Eingriff entstehen konnte, war er selber froh.


    Nun wickelte man das rechte Bein erneut bis obenhin, lagerte es auf eine Schiene, aber man legte nun unter seine Matratze eine zusammengerollte Zudecke, so dass er eine schiefe Ebene erhielt und wenigstens nicht das ganze Gewicht auf dem wunden Rücken ruhte. Auch die Atemmaske schnallte man ihm wieder auf und er bekam vor Erschöpfung kaum noch mit, wie nun Liter um Liter an Infusionslösung angehängt wurde, um die Niere zu spülen. „In ein paar Stunden beginnen wir trotzdem wieder mit der Dialyse-wir haben vermutlich noch nicht alle Reste der Riesenmoleküle ausgewaschen und außerdem entlastet es die Niere, wenn sie nicht die ganze Filterarbeit machen muss!“ beschloss der Intensivarzt und Sarah, der ihre Kollegen gerade einen Kaffee und ein paar Kekse ans Bett gebracht hatten nickte zustimmend. Sie hatte jetzt wieder Hoffnung geschöpft und während Ben nun tatsächlich einschlief, lehnte auch sie sich in ihrem bequemen Stuhl zurück und ruhte sich aus.


    Hildegard hatte inzwischen Konrad überredet mit ihr und Tim noch zur Tierklinik zu fahren und so ging Konrad wenig später mit einem wedelnden Lucky an der Leine nach draußen-ja, ja Hildegard konnte sehr überzeugend sein. Sie und Jo hatten immer schon Hunde gehabt und Ben hatte seinem Vater nach jedem Besuch dort zugesetzt, dass er unbedingt auch einen Hund wollte. „So-du bist also der Lebensretter meines Sohnes!“ sagte Konrad nachdenklich und setzte sich auf eine Bank, woraufhin Lucky kurz seinen Kopf auf seinen Oberschenkel legte und ihn treuherzig ansah. Auch dieser nette Mann roch intensiv nach Herrchen und deswegen mochte Lucky ihn sofort.

  • Semir hatte den Samstagnachmittag mit seiner Familie verbracht. Das milde Frühlingswetter hatte zum draußen Spielen aufgefordert und nachdem er vor einigen Wochen schon die Gartenmöbel aus dem Winterquartier geholt hatte, tranken Andrea und er nun in Ruhe einen Kaffee, während die Kinder im Garten schaukelten, rutschten und im Sand spielten. Später legte er sich in einen Liegestuhl und langsam fielen ihm die Augen zu, denn die vergangenen Tage waren doch anstrengend gewesen und sein Ganzkörpermuskelkater plagte ihn auch noch. Wenigstens war ihm nicht mehr übel und auch die Kopfschmerzen hatten nachgelassen, also war die Gehirnerschütterung anscheinend am Abklingen. Allerdings träumte er unruhig und wieder und wieder sah er vor seinem inneren Auge wie Ben gerade von den Schäferhunden zerfleischt wurde. Dann wieder erlebte das ein-ums andere Mal wie er gerade noch aus den Fängen von Bruckner und seinen Komplizen entkommen konnte und als er wenig später aufwachte, stand sein Entschluss fest: Er würde so bald wie möglich nach Polen reisen und zwar in den Ort dessen Namen er im Transporter aufgeschnappt hatte-Wielkopolski! Nachdem er allerdings selber kein Polnisch sprach und sich dort sicher nicht zurecht finden würde, fiel ihm ein Kollege aus dem Innenstadtrevier ein, mit dem er schon das eine ums andere Mal zusammengearbeitet hatte. Der war halb Deutscher, halb Pole und wurde häufig auch zu Dolmetscherzwecken eingesetzt. Den würde er am Montag kontaktieren, falls ihnen bis dahin noch keine Verhaftung gelungen war und ihn bitten mit ihm in die Heimat seines Vaters zu reisen und die Flüchtigen aufzuspüren!
    Heute und morgen allerdings würde er mit seiner Familie verbringen, Sarah bei Ben entlasten und sich selber restaurieren-so ganz fit war er doch noch nicht! So aßen sie wenig später zu Abend und nach einem kurzen Anruf in der Klinik, wo er erfuhr, dass es Ben den Umständen entsprechend gut ging, legte er sich aufs Sofa und als Andrea ihn lächelnd musterte, ertönte ein sonores Schnarchen-er war schon wieder vor dem Fernseher eingeschlafen!


    Auch die Chefin hatte mit dem Krankenhaus telefoniert und von Sarah, die ihre Kolleginnen ans Telefon geholt hatten erfahren, dass Ben zwar immer noch ernsthaft erkrankt, aber inzwischen stabil war und so gönnte auch sie sich ein freies Wochenende. Hartmut war wieder bei Jenni aufgeschlagen und diesmal plagte ihn kein schlechtes Gewissen wegen Ben mehr und so konnten sie ein gemeinsames Kuschelwochenende verbringen und Jenni erholte sich zusehends von den Folgen des Unfalls, wie auch Bonrath, mit dem sie ebenfalls telefonierten.


    Ben wurde gegen Abend wieder an die Dialyse angeschlossen und diesmal konnte man die Förderrate in einer höheren Geschwindigkeit laufen lassen, ohne dass er kreislaufmäßig reagierte. So war er nach vier Stunden diesmal schon fertig und die Heparinmenge die man unbedingt zum Dialysieren brauchte, war auch gut für die teilweise Auflösung der Thromben. Nur die Lunge machte weiterhin Probleme und so verbrachte Ben die ganze Nacht mit seiner Atemmaske, obwohl das vor dem Gesicht schon sehr eng und unangenehm war. Allerdings war Sarah heute so erschöpft, dass sie fast sofort weg war, als ihre Kollegen ihr den Schlafstuhl neben Ben schoben und der verbrachte Stunden damit seiner Frau beim Schlafen zuzusehen-etwas was er zuhause nie schaffte, weil er spätestens nach einer halben Stunde wegpennte- was er sich jetzt wünschen würde.
    Aber auch diese Nacht ging herum und am nächsten Morgen erkundigte Ben sich beim Waschen, wozu man die Maske abgenommen hatte, nach Tim, denn Sarah hatte morgens schon mit Hildegard telefoniert und dann folgte die unvermeidliche Frage nach Lucky-etwas was er gestern mit der ganzen Aufregung vergessen hatte. „Ben-ich war mit Tim und Hildegard jetzt zweimal bei ihm. Klar ist das ein total lieber Hund, aber als der dann mit nem Schäferhund gespielt hat, sind bei mir alle Alarmglocken losgegangen, ich denke nicht, dass ich mit dem im Park spazieren gehen könnte, ohne dass ich ne Panikattacke kriege, wenn ein Schäferhund um die Ecke biegt-das musst du verstehen!“ erklärte sie und jetzt sah Ben an die Decke und ein großer Kummer erfüllte sein Herz. Aber klar-ohne Sarah´s Einverständnis konnte er sich keinen Hund, egal in welcher Größe anschaffen-manche Wünsche gingen eben nicht in Erfüllung und eigentlich musste er dankbar sein, dass er lebte!

  • Wenig später kam die Visite-weil Sonntag war zwar mit wesentlich kleinerem personellen Aufwand, aber einige Ärzte kamen doch zusammen. Man studierte gemeinsam die aktuellen Werte, stellte fest, dass die Niere mit Hilfe der Dialyse dabei war sich zu erholen und hauptsächlich die Leberwerte und immer noch die Creatinkinase entgleist waren. Das am Vortag angefertigte Röntgenbild wurde nochmals von mehreren Fachärzten stirnrunzelnd begutachtet und man konnte neben dem korrekt liegenden Cavafilter darauf mehrere Verschattungen sehen, die vermutlich von dem Resonium stammten, das Ben aspiriert hatte und dort umschriebene Entzündungen in der Lunge verursachte. Nachdem es ihm aber trotzdem möglich war, kurzzeitig ohne Atemmaske zurecht zu kommen, fiel der Entschluss, eine Bronchoskopie zu machen, um sich die Bronchien soweit möglich von innen anzusehen und zu behandeln. „Herr Jäger, wir werden jetzt erst wieder den Rücken frisch verbinden und dann führen wir ein dünnes Schläuchlein durch ihren Mund in die Lunge ein, um dort vor Ort zu schauen, wie das Lungengewebe aussieht und ob man da vielleicht lokal etwas machen kann!“ wurde er aufgeklärt und Ben lief ein Schauer über den Rücken. Er hatte so gehofft, dass er irgendwann einfach seine Ruhe haben konnte, aber im Augenblick sah das nicht so aus.


    So drehte man ihn kurze Zeit später wieder auf den Bauch und auch wenn es heute schon nochmals besser war als am Vortag und auch die Wunden jetzt schon größtenteils rosig aussahen und auch nicht mehr angefrischt werden mussten, stöhnte er dennoch schmerzvoll auf, als man die Jodoformtamponaden zog und das erneute Ausstopfen der Löcher war wiederum eine Tortur, bei der er beinahe an die Decke gegangen wäre-da half es auch nicht, dass ihm sowohl Sarah als auch der Chirurg, der das durchführte versicherten, dass die Wundkrater schon bloß noch halb so tief waren. Allerdings entleerte sich immer noch Eiter und so hatte man eine Erklärung für das leichte Fieber um 38,5°C, das sich hartnäckig hielt. „Übrigens sind die Ergebnisse der Abstriche da-wir liegen mit der Antibiose genau richtig!“ freute sich der Arzt noch, während er den großflächigen Verband festklebte und Ben hätte beinahe verächtlich aufgeseufzt. Das war ja sehr schön, aber irgendwie wünschte er sich gerade auf eine einsame Insel und Sarah´s Entscheidung zu Lucky hatte seine Laune auch nicht gerade verbessert.


    Als die Wundtoilette fertig war, legte man ihm noch für eine halbe Stunde die Atemmaske an und danach beobachtete er misstrauisch, wie ein Wägelchen mit einer Kaltlichtquelle und einem dünnen Endoskop daran herein gefahren wurde. Das Zimmer wurde verdunkelt und ihn brachte man in eine halb sitzende Position. „Herr Jäger-das wird jetzt zwar etwas unangenehm, aber sie müssen mir glauben-sie werden immer genug Luft bekommen und der Hustenreiz wird sich beruhigen, wenn sie sich an das Gefühl des Schlauches in ihren Bronchien gewöhnt haben!“ beschwor ihn der untersuchende Pulmologe, also Lungenfacharzt und bat ihn zunächst einmal den Mund weit aufzumachen. Er sprühte ihm in den Rachen ein Lokalanästhetikum und wenig später merkte Ben, wie dort hinten alles taub wurde. „Bitte die nächsten Stunden nichts essen oder trinken, denn der Schluckakt ist durch die Betäubung gestört!“ wurde er noch aufgeklärt und wenn er nicht so Angst vor der Untersuchung gehabt hätte, dann hätte er jetzt dem Arzt schon mitgeteilt, dass er sich nur noch nebulös daran erinnern konnte, was Essen und Trinken überhaupt war, aber er musste jetzt aufhören solche Gedanken zu denken, denn sein augenblicklicher Zynismus machte seine Lage nicht besser und zog ihn höchstens psychisch noch runter.
    Er bekam jetzt einen Beißring in den Mund eingelegt, damit er das wertvolle Endoskop nicht versehentlich zerstörte und dann ging es auch schon los. „Einfach ruhig weiteratmen!“ wurde er aufgefordert und erst einmal musste er trotz Betäubung zunächst würgen und dann husten, als das Gerät an seinem Rachen anstieß. Der Hustenreiz war so schlimm, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb und wenn nicht auf der einen Seite Sarah und auf der anderen seine betreuende Schwester seine Hände festgehalten hätten, hätte er sich das Ding vermutlich sofort aus dem Hals gerissen, aber so blieb ihm nichts anderes übrig als zu tun, was ihm der Arzt wieder und wieder gebetsmühlenartig vorsagte. „Ruhig ein –und ausatmen, sie bekommen genug Luft!“ predigte der und tatsächlich-langsam gewöhnte sich sein Körper an diesen Fremdkörper und der Husten-und Würgereiz ließ nach. Entsetzt sog Sarah die Luft ein, als der Arzt sie kurz durch die Optik sehen ließ. „Wir haben hier lauter kleine Abszesse in der Lunge, wo sich der Körper gegen das Kunstharz wehrt!“ stellte der Lungenfacharzt begeistert fest-das war mal ein Befund der wirklich sehenswert war-schade dass er kein Videobronchoskop hatte, aber so musste er sich auf den direkten Anblick durch die Optik verlassen und jetzt übernahm Sarah beide Hände und die Intensivschwester musste assisitieren und verschiedene Dinge anreichen. Mit langen dünnen Sonden die durch den Arbeitsgang des Bronchoskops geführt wurden eröffnete man die Abszesse, mit winzigen Zängchen wurde defektes Gewebe entfernt und zuletzt der Bronchus in dem der Arzt gerade arbeitete saubergespült und freigesaugt, was Ben dann immer wieder verzweifelt zum Husten brachte. Die Tortur dauerte insgesamt fast eine halbe Stunde und zweimal hätte Ben es ohne Opiatbolus nicht mehr ausgehalten, der da weniger gegen den Schmerz, sondern mehr gegen den Hustenreiz wirkte. Endlich war der Pulmologe zufrieden und zog das Instrument heraus, woraufhin Ben noch keuchend eine Menge hellrot blutigen Auswurf zutage brachte. Sarah dankte jetzt Gott für das Cavaschirmchen, denn wenn sich jetzt bei diesem angestrengten Husten kein Thrombus gelöst hatte, dann wäre das fast ein Wunder gewesen. Aber als sie den Monitor beobachtete war zwar die Sauerstoffsättigung logischerweise gefallen, aber ansonsten waren keine Auffälligkeiten zu bemerken.

    So drehten dann die Schwester und sie, nachdem man das Zimmer wieder erhellt hatte, den Kranken leicht auf die Seite, setzten ihm die Atemmaske wieder auf und nun schlief Ben völlig erschöpft ein wenig ein, während Sarah von ihren Kollegen zum Frühstück eingeladen wurde. Einer der Pfleger erzählte kleine Anekdoten über seinen jungen Hund, den er seit drei Monaten hatte und Sarah wollte am liebsten nicht zuhören, denn sie hatte an seiner Reaktion durchaus bemerkt, was Ben jetzt psychisch so belastete: Die Sache mit Lucky und daran war sie ja nicht unschuldig.

  • Ben konnte es fast nicht glauben-obwohl mitten am Vormittag hatte er tief und erholsam geschlafen und als er erwachte, fühlte er sich besser. Als Sarah die Atemmaske abnahm, die ihm inzwischen schon Druckstellen im Gesicht beschert hatte, blieb die Sättigung stabil, die Blutgase waren mit Sauerstoffbrille beinahe im Normbereich und auch das Fieber war im Sinken begriffen. Der Stationsarzt nahm ebenfalls erfreut die Besserung zur Kenntnis und fragte: „Wenn sie möchten können sie versuchen etwas zu essen und zu trinken-im Augenblick spricht nichts dagegen!“ sagte er und nun überzog ein Lächeln das Gesicht des Polizisten. Als es ihm so massiv schlecht gegangen war, hatte er keinerlei Interesse daran gehabt, aber jetzt war das eine Option, die er doch gerne annahm.
    „Ben-versuch es erst einmal mit einem Naturjoghurt-falls du dich mit dem verschluckst, ist das nicht so schlimm, der richtet nämlich in der Lunge keinen Schaden an!“ bat Sarah und holte auch gleich einen Becher aus dem Patientenkühlschrank. Tatschlich verputzte Ben den ganzen Becher ohne Verschlucken, nur als er versuchte selber den Löffel zum Mund zu führen, zitterte seine Hand dermaßen, dass es ihm nicht gelang auch nur einen Bissen alleine zu essen. Sarah die das schon erwartet hatte musste lächeln, während sie den Löffel wieder übernahm und ihm den Rest des Bechers eingab-der Ausdruck „Füttern“ war in der Krankenpflege sehr verpönt, aber Ben, der damit ja kein Problem hatte sagte: „Sarah-da kommt jetzt etwas auf dich zu. Wir werden jetzt einen zweiten Stuhl mit so nem Tischchen vorne brauchen, da setzen Tim und ich uns dann nebeneinander und du darfst uns dann parallel füttern-ein Löffelchen für Tim und zwei für Papa!“ ging seine Phantasie schon wieder mit ihm durch und Sarah verpasste ihm einen liebevollen Stoß. „Das würde dir so passen und am besten haue ich das Essen zuvor noch durch den Mixer, damit du auch auf gar keinen Fall kauen musst!“ spann sie seinen Gedanken weiter. „Ach fürs Erste gehen auch so Babygläschen-die schmecken ganz gut!“ befand Ben, der immer die Reste auffutterte wenn Tim nicht seine ganze Portion schaffte. „Da liegst du aber falsch-du wirst jetzt gefälligst Physiotherapie machen, damit du wieder zu Kräften kommst und wehe du strengst dich nicht an!“ drohte ihm Sarah und bot ihm dann stilles Wasser zu trinken an. Auch das funktionierte ohne Verschlucken und nun waren die beiden sehr froh, dass er tatsächlich auf dem aufsteigenden Ast war.


    Ben sah nun seine Frau liebevoll an: „Wie du siehst geht’s mir ganz ordentlich und ich bin hier ja gut versorgt. Tust du mir den Gefallen und fährst zu Hildegard und schaust nach Tim? Ich möchte mich auch nochmals extra bei dir entschuldigen, dass ich deiner Menschenkenntnis nicht vertraut habe, aber jetzt weiß ich, dass unser Sohn bestens betreut wird-trotzdem braucht er die Mama-und auch den Papa!“ fügte er nach kurzem Zögern und einer kleinen Pause hinzu. Wie leicht hätte es geschehen können, dass er seinen Sohn nicht aufwachsen sah, aber jetzt fühlte er seine Kräfte zurückkehren-alles würde gut werden, er wusste es einfach!
    Sarah erhob sich und nickte. „Und bitte Schatz-iss was und achte auch auf dich-du siehst ebenfalls ganz schön fertig aus!“ befand Ben und nun drohte ihm Sarah, die im Augenblick auch froh war, dass er das Thema Hund mit keinem Wort erwähnte-irgendwie war das gerade ein Tabuthema zwischen ihnen. „Willst du damit behaupten, ich sehe nicht gut aus?“ fragte sie mit erhobenem Zeigefinger und strengem lehrerhaften Blick und Ben duckte sich, soweit es seine körperlichen Fähigkeiten ermöglichten. „Natürlich nicht-du bist die schönste Frau, die ich je zu Gesicht bekommen habe! Nur solltest du dir auch ein wenig Ruhe und Ablenkung gönnen, nicht dass jetzt du zusammenklappst!“ gab er zurück und Sarah nickte. „Ich fahre jetzt zu Frau Br-äh-Hildegard, es fiel ihr noch schwer die ältere Frau nur mit dem Vornamen zu titulieren-und verbringe den Nachmittag mit Tim. Ich komme auf jeden Fall heute Abend wieder, wenn er ins Bett gegangen ist, aber du hast schon Recht, unser Kleiner denkt sonst, wir schieben ihn ab!“ überlegte sie und Ben nickte.
    Sarah holte auf seine Bitte hin noch einen MP3-Player aus dem Wagen-er hatte da in jedem Fahrzeug einen liegen auf dem seine Lieblingsmusik und eigene Songs gespeichert waren und als sie sich ein letztes Mal umdrehte, bevor sie die Intensivstation endgültig verließ, lag er ganz entspannt mit geschlossenen Augen da und lauschte der Musik, die aus dem Knopf in seinem Ohr ertönte. Es ging tatsächlich aufwärts-wenn Ben wieder Interesse an Essen und Mucke hatte, dann war er auf dem Wege der Genesung!

  • Semir fühlte sich ebenfalls besser. Er hatte in der Nacht noch ausgiebig geschlafen, hatte den Sonntagvormittag ruhig verbracht und nach dem Mittagessen war er sozusagen wieder ganz der Alte. „Andrea-meinst du, du könntest mich zur PASt bringen, damit ich meinen Wagen holen kann?“ fragte er Andrea und die zog fragend eine Augenbraue hoch. „Meinst du, dass die den schon repariert haben?“ fragte sie, denn das hatte ihr Susanne schon erzählt, dass der Wagen mit dem Semir die Verbrecher verfolgt hatte nicht mehr ganz taufrisch war. „Das war ja Ben´s Mercedes, den ich geschrottet habe-mein Baby müsste unversehrt auf dem Parkplatz der PASt stehen!“ frolockte Semir, bis ihm plötzlich etwas durch den Kopf schoss. „Oh nein-das stimmt ja gar nicht-dem hat ja Frau Krüger den Garaus gemacht!“ fiel ihm dann ein. „Sie hat zwar behauptet, es wäre gar nicht so viel kaputt, aber das sagen Frauen immer!“ befand er und so brachte Andrea ihn trotzdem zur PASt und welch ein Wunder-in der Werkstatt hatten sie eine Sonderschicht eingelegt und tatsächlich den BMW wieder hergerichtet. Als Semir seinen Wagen umrundete erkannte er zwar durchaus, dass der nicht mehr fabrikneu war, aber wenn er jetzt noch fahrtüchtig war, dann war er zufrieden. Die diensthabende Sekretärin der Autobahnpolizei begrüßte Semir mit einem Lächeln und bestätigte, dass der BMW repariert war und so war wenig später Semir im eigenen Dienstfahrzeug unterwegs zu Ben ins Krankenhaus. Er atmete tief durch, wenn er sich weiter so gut fühlte, würde er morgen nach Polen reisen und dann gnade Gott den Übeltätern!


    Sarah war inzwischen bei Hildegard angelangt. Aus dem Garten drangen Stimmen einer angeregten Unterhaltung und Tim´s Plappern, der so tat als könne er schon sprechen und seine Tonlage danach modulierte, wie die Menschen um ihn herum, war weithin zu hören. Ein Lächeln überzog Sarah´s Gesicht-ihr Sohn war hier wirklich in den besten Händen. Auf ihr Läuten öffnete Hildegard und bat sie freundlich herein. „Sehen sie mal, welch lieben Besuch wir bekommen haben und wen der mitgebracht hat!“ sagte sie und nun wurde Sarah ganz blass, denn kein anderer als der Hundeführer der Polizei war mit Arco bei Frau Brauner zu Besuch. Er hatte seinen jüngsten Sohn mitgebracht, mit dem sich Tim gerade angeregt unterhielt und der Fünfjährige reichte ihm immer Spielsachen, die Tim dann in seinem Hochstuhl sitzend zu Boden pfefferte, worüber die beiden immer fürchterlich lachen mussten und der ältere Junge sie wieder aufhob. Frederik und Arco spielten inzwischen und jagten sich gegenseitig durch den Garten. Alle beide hatten gerade gar keine Zeit für die Menschen, denn auch ein Hund brauchte einmal eine Auszeit und diese zwei so hervorragend erzogenen und sozialisierten Rüden, die sogar noch gleich groß waren, hatten sich von Anfang an verstanden.


    „Unser Polizeihundeführer hilft mir immer mal aus, wenn ich im bunten Kreis mit der tiergestützten Therapie aussetzen muss, was ja gerade der Fall ist. Sein Arco ist ebenfalls so ein lieber Hund und die Kinder sind immer ganz begeistert, wenn er eine Vorführung macht!“ erzählte Frau Brauner ungezwungen und bot Sarah einen Stuhl am Gartentisch an, auf dem leckere Teilchen und eine große Kanne Kaffee standen. Ihr war zwar sofort aufgefallen wie Sarah sich beim Anblick des Schäferhunds versteift hatte, aber sie tat nun einfach so, als hätte sie nichts bemerkt. Ihr war völlig klar, warum Sarah so abgestanden war und nur deshalb noch nicht ihr Kind gepackt und die Flucht ergriffen hatte, weil Tim doch sicher am Tisch in seinem Hochstuhl saß. Genau das war das Thema gewesen, worüber sie gerade mit dem Polizisten gesprochen hatte und weil dem auch Lucky´s Zukunft und sein Wohlergehen am Herzen lagen, hatte der ihr telefonisch zugesagt wenigstens zu versuchen Sarah die Angst vor Schäferhunden zu nehmen. Dass Sarah gerade jetzt dazu gestoßen war, war eher Zufall gewesen, aber seine älteren Kinder waren heute mit seiner Frau unterwegs und so hatte er den Sonntag genutzt, alleine mit seinem Jüngsten etwas zu unternehmen und war so bei Frau Brauner gelandet.
    Sarah trank zwar jetzt eine Tasse Kaffee und aß auch ein Teilchen, aber sie ließ nebenbei den Schäferhund nie aus den Augen und war sehr angespannt. Tim hatte zwar geduldet, dass die Mama ihm ein Küsschen gab, sich aber dann wieder voller Freude dem Spiel mit dem älteren Jungen gewidmet-da war Sarah aktuell beinahe ein wenig abgeschrieben. Die beiden Hunde hatten sich inzwischen hechelnd erst am Wassernapf bedient und lagen jetzt im Schatten eines Baumes und ruhten sich aus.


    Nun lenkte der Hundeführer die Aufmerksamkeit seines Sohnes auf sich und fragte: „Daniel-magst du mal den beiden Damen und Tim mit Arco eine Vorführung machen?“ fragte er und Daniel nickte sofort stolz. Die meisten Kinder beneideten ihn um den Beruf seines Vaters und vor allem um Arco, der ihn von seiner ersten Lebensstunde an geliebt und beschützt hatte.So erhob sich der kleine Junge, der ja kaum größer und mit Sicherheit leichter als der eindrucksvolle Rüde war und forderte seinen Hund mit einem „Komm Arco!“ auf, etwas mit ihm zu machen. Sofort erhob sich der Hund, freundlich mit devot gesenktem Schwanz und kam zu Daniel, den er von ganzem Herzen liebte. Daniel ließ Arco nun erst bei Fuß gehen, dann Sitz und Platz machen. Er warf ihm Bälle, die er willig apportierte und auf ein „Aus!“ auch sofort hergab. Dann kamen die speziellen Kunsttstücke-Arco robbte dafür auf dem Bauch, rollte sich auf dem Boden, suchte Daniel, der sich hinter den Büschen versteckte und nur das glückliche Kichern von Daniel, dem das genauso viel Spaß machte wie Arco hallte durch den Garten.
    Sarah hatte derweil Tim aus dem Hochstuhl genommen und saß nun ganz still mit ihrem Sohn auf dem Schoß da. Irgendwann stand der Hundeführer auf, brach eine frühe Rose von einem Strauch, gab sie Arco ins Maul-natürlich nachdem er zuvor die Dornen entfernt hatte- und nur auf Blick-und Handzeichen robbte Arco vorsichtig zu Sarah, erhob sich vor ihr in Sitzposition und streckte ihr die Pfote hin, wie sein Herrchen ihm in stillem Einverständnis und Gehorsam signalisierte. Sarah atmete tief durch, streckte zögernd die Hand aus und nahm die Pfote und in diesem Augenblick ließ sich Tim mit entzücktem Lachen vornüberfallen und vergrub seinen Kopf und beide kleinen Fäuste in Arco´s Fell, der das ohne Murren über sich ergehen ließ. In einer Schrecksekunde riss Sarah Tim wieder hoch, aber Arco saß immer noch völlig unbeeindruckt vor ihr und hielt die Rose in seinem Maul. „Sie müssen sein Geschenk annehmen, sonst ist er traurig!“ sagte der Hundeführer mit weicher Stimme, denn er war irre stolz auf seinen Hund und so nahm Sarah nun doch die Rose entgegen und hielt die danach gedankenverloren in ihrer Hand, während Arco nun wieder zu Daniel lief und Frau Brauner ihr einen frischen Kaffee eingoss.

  • Ben hatte erst einmal gar nichts gehört. So sehr hatte er sich auf seine Musik konzentriert, dass er fast erschrak, als ihn plötzlich jemand am Arm berührte. Als er aber die Augen öffnete, überzog ein Lächeln seine Züge: „Hey!“ sagte er und Semir erwiderte den Gruß. „Dir scheints besser zu gehen!“ bemerkte Semir und Ben nickte. „Die haben mich gestern, nachdem du weg warst und heute früh zwar noch ganz schön geschunden, aber so wie es aussieht mit Erfolg!“ erzählte er und Semir zog sich nun einen Stuhl näher. „Und wie geht´s dir?“ fragte er nun seinerseits seinen Freund und der nickte nun: „Auch wieder gut!“ und damit war im Augenblick alles Wichtige die Erkrankungen betreffend, gesagt. Nach einer Weile gemeinsamen Schweigens, das aber nicht irgendwie quälend oder langweilig war-zu viel Zeit hatten sie die letzten Jahre einfach miteinander verbracht-fing Ben an, sich im Detail für Semir´s Erlebnisse zu interessieren und wollte auch wissen, ob Bruckner und Dermold jetzt sicher hinter Schloss und Riegel saßen, aber Semir schüttelte den Kopf. Klar hatte Ben da irgendwie nur immer Bruchstücke von Unterhaltungen mitbekommen, sich daraus etwas zusammengereimt und nachdem er selber sowieso nicht aktiv werden konnte, war die Überführung der Täter momentan ins Hintertreffen geraten, aber nun erzählte er ihm detailliert, was geschehen war, seitdem er das Krankenhaus am Tag des Attentats verlassen hatte.
    „Mann-hoffentlich gibt’s von deiner wilden Verfolgungsjagd quer durch Köln noch Aufzeichnungen des Fernsehsenders-das würde ich mir zu gerne ansehen-und das Gesicht der Chefin hätte ich auch gerne angeschaut, als ausnahmsweise mal sie hinter dem Steuer eines Verfolgerfahrzeugs saß und das auch ziemlich kaputt gemacht hat!“ schwärmte er und wäre am liebsten gleich aus dem Bett gesprungen. Allerdings musste er dann doch Semir bitten den MP3-Player auszuschalten und ihn aus der bereitstehenden Schnabeltasse trinken zu lassen-seine Hände machten feinmotorisch und kräftemäßig einfach noch nicht mit. Das Schlucken aber klappte und als er Semir nun von seiner Vision mit dem Babystuhl erzählte, musste der alleine von der Vorstellung ziemlich schmunzeln.
    „Aber Ben sei froh, dass es dir schon so geht, wie es dir im Augenblick geht-wenn ich denke, dass Sarah und ich gestern noch Sorge hatten dich zu verlieren, dann hast du jetzt einen Riesenschritt nach vorne gemacht!“ beschwor ihn Semir und Ben blieb nichts übrig als zuzustimmen. Als jetzt eine junge hübsche Schwester ins Zimmer kam, eine neue Infusion anhängte und Ben fragte, ob er was brauche und auch gleich noch das Noradrenalin ausschaltete, das man die letzten Stunden ständig hatte reduzieren können, da schenkte er ihr ein hinreißendes Lächeln und antwortete: „Nein vielen Dank Schwester-ich bin sozusagen wunschlos glücklich!“ und Semir musste fast ein wenig grinsen, als die für einen Augenblick errötete und dann mit einem Kopfneigen das Zimmer wieder verließ. „Lass das bloß nicht Sarah sehen, dass du schon wieder flirten kannst, sonst macht die dich einen Kopf kürzer!“ warnte Semir und Ben sah ihn nun unschuldig an. „Ich habe überhaupt nicht geflirtet-ich war nur freundlich!“ bemerkte er und Semir grinste und sagte nur: „Na ja?“ woraufhin Ben empört den Kopf schüttelte. „Hör mal vor dir liegt sozusagen ein ziemlich ramponiertes Stück Fleisch das schon Probleme hat sich alleine umzudrehen, geschweige denn selber aufs Klo zu gehen und statt dessen überall Schläuche und Kabel stecken hat-sogar im Hintern-was soll daran attraktiv sein?“ fragte er nun und Semir grinste frech weiter: „Ja aber deine Klappe und dein Aussehen sind schon wieder dabei sich zu normalisieren, das genügt bei den Frauen anscheinend!“ stieß er ihm Bescheid und nun schmunzelte auch sein Freund in sich hinein.


    Nach einer Weile erneuten Schweigens erzählte Semir nun von seinem Plan, am nächsten Morgen den Halbpolen aus dem Innenstadtrevier zu dingen und mit dem nach Polen zu fahren, um die Verbrecher aufzuspüren und zu verhaften. „Ach Mann Semir-wie gerne würde ich dich unterstützen-und am besten würden wir noch Lucky mitnehmen, der anscheinend auch über dem Berg ist und der würde seine Peiniger überall finden und zur Strecke bringen!“ schwärmte Ben, aber dann überzog ein Schatten sein Gesicht. „Leider befürchte ich, das mit Lucky wird nichts werden, denn Sarah hat anscheinend panische Angst vor Schäferhunden und vielleicht auch anderen großen Hunden-die würde vermutlich nur so ne Fußhupe akzeptieren, wenn überhaupt und sie ist strikt dagegen, dass wir meinen Lebensretter zu uns nehmen. Ich kann da auch nicht über ihren Kopf hinweg entscheiden, denn sind wir mal ehrlich-wenn ich im Dienst bin hätte sie trotzdem die Hauptarbeit mit nem Hund, den meisten Dreck und gegen die Ängste kann ich auch nichts machen-ich weiss ja selber nicht, wie ich mich beim Anblick eines Schäferhunds fühlen werde. Allerdings hat ja Hartmut herausgefunden, dass die Tiere mit einer Substanz so aggressiv gemacht wurden und da denke ich mir, ohne dieses Mittel wären Castor und Pollux vielleicht gar nicht so gefährlich gewesen, aber das ist wie mit vielen Dingen im Leben-eine Waffe ist auch nicht per se schlecht-nur wenn man sie zu verbrecherischen Zwecken einsetzt und nicht um Menschen zu retten und Verbrecher festzunehmen, dann ist sie sozusagen böse und so stelle ich mir das eben auch mit Hunden vor. In der ganzen Zeit im Tierheim waren alle Hunde dort nur total freundlich und nett zu mir, obwohl die nicht aus den Zwingern kamen und mich locker hätten zerfleischen können. Die haben mich alle geliebt-und Lucky eben ganz besonders und ich würde nicht hier liegen, wenn er nicht sein Leben riskiert hätte, um mich zu retten!“ erzählte er unglücklich, aber Semir wusste auch keinen Ausweg aus dem Dilemma.
    „Ich werde mal mit Sarah reden!“ bot er Ben an, aber der schüttelte den Kopf. „Semir, das bringt doch nichts-wenn Sarah da Bedenken hat und Lucky nicht will, dann können wir beide reden so viel wir wollen-weisst du ich kenne sie, die kann auch stur sein!“ erklärte er und nun wusste Semir auch nicht mehr, was er noch unternehmen sollte.


    „Meinst du nicht, ihr könntet Lucky vielleicht nehmen, immerhin hättet ihr ja auch einen Garten?“ fragte Ben nun seinen Freund hoffnungsvoll, aber Semir schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass sich Andrea da drauf einlässt-die arbeitet ja schließlich vormittags und bis sie morgens die Kinder fertig gemacht und in Schule und Kindergarten gebracht hat, hat sie genug Arbeit-da braucht sie nicht noch nen Hund dazu. Und mit unserem Schichtdienst-du weisst doch selber wie oft wir eben nicht nach acht Stunden Feierabend haben. Nein-der Wunsch nach einem Hund müsste von Andrea und den Kindern kommen, nur dann funktioniert sowas!“ erklärte er und nun musste Ben ihm unglücklich zustimmen. Vor seinem inneren Auge erschien der freundlich wedelnde graue Riese und nun sagte er nur gedankenverloren: „Ach Lucky!“ um sich dann ein wenig anders hinzulegen und die Wand anzustarren.
    Nach einer Weile verabschiedete sich nun Semir, auch weil zwei Schwestern kamen um Ben nochmals frisch zu machen und zu lagern, bevor noch für einige Stunden die Dialyse angeschlossen werden würde. „Ich packe jetzt meine Sachen und dann versuche ich die nächsten Tage die Typen, die dir das angetan haben, festzunehmen. Ich werde immer mal anrufen und mich nach dir erkundigen-halt die Ohren steif und werde einfach so schnell wie möglich wieder gesund, damit wir wieder gemeinsam auf Verbrecherjagd gehen können!“ ordnete er sozusagen an und Ben versprach, sich Mühe zu geben. Fast ein wenig teilnahmslos-so sehr erfüllte der Kummer und die Sehnsucht nach diesem tollen grauen Hund sein Herz-ließ er sich versorgen und als die Dialyse begann, versuchte er zu schlafen, damit die trüben Gedanken endlich aus seinem Kopf verschwanden.


    Sarah hatte inzwischen immer wieder gedankenverloren die beiden Hunde beobachtet. Es stimmte-so wahnsinnig gefährlich schien auch Arco nicht zu sein, obwohl er ein Schutzhund und Deutscher Schäferhund war, aber trotzdem blieben Vorbehalte. Als sie allerdings immer wieder die Rose betrachtete, die Hildegard inzwischen in einem kleinen Väschen auf den Tisch gestellt hatte, musste sie lächeln. Das war schon sehr süß gewesen, diese Szene, ach sie wusste doch selber nicht, was sie machen sollte. Ein wenig später verabschiedete sie sich für eine Weile von Hildegard und dem Hundeführer. „Ich würde gerne bis zum Abend mit Tim nach Hause gehen, um ein wenig Normalität zu haben-wenn ich darf, würde ich ihn aber zum Schlafen wieder bringen und die Nacht bei meinem Mann verbringen!“ bat sie und Hildegard versicherte ihr, dass das kein Problem darstellte. Der Hundeführer baute noch den Kindersitz von Hildegard´s in ihr Auto um und Arco saß artig und ohne sich zu bewegen daneben und beobachtete das, sogar als sein Freund Frederik ihn mit der Nase anstieß und zum Spielen aufforderte. Arco blieb allerdings sitzen und bevor sie einstieg, fasste Sarah sich noch ein Herz und sagte: „Auf Wiedersehen Arco!“ und strich ihm zart über den Kopf, woraufhin er freundlich wedelte und die Ohren nach hinten wegknickte-jetzt sah er schon nicht mehr so gefährlich aus!

  • Sarah nahm Tim mit in die Wohnung, lüftete da erst einmal kräftig durch und räumte ein wenig auf, während Tim brabbelnd durchs Wohnzimmer krabbelte und schon hin und wieder begann, sich an Stühlen und Tischen hochzuziehen. Er spielte so selbstvergessen mit seinen Spielsachen und war zufrieden und glücklich-ihm schien das wirklich nicht zu schaden, dass er die letzten Tage bei Hildegard verbracht hatte. Als er ein kleines Nickerchen machte, setzte Sarah sich an den Laptop, um etwas nachzusehen-eigentlich wann Kinder denn üblicherweise zu laufen begannen und ob die da gleich Schuhe brauchten-da stieß sie in dem Kinderforum in dem sie immer las, auf einen Artikel über Kinder und Haustiere. Dort wurde auf Studien hingewiesen, dass Kinder die in Haushalten mit Haustieren aufwuchsen seltener krank waren und auch Allergien dort weniger verbreitet waren, natürlich nur, wenn keine gegen Tierhaare bestand, aber da waren sie alle drei nicht behaftet. Die Theorie der einen Studie besagte, dass dadurch so eine Keimvielfalt geboten war, dass die bösen Keime sozusagen von den Guten in Schach gehalten wurden. Es wurde auch beteuert, dass es keine Rolle spielte, wenn Kinder auch ihren Hund oder die Katze mit ins Bett nahmen und die Vorteile für eine bessere Sozialentwicklung, Kontaktfähigkeit und Ausbildung von Verantwortungsbewusstsein wurden auch hervorgehoben. Man betonte auch, dass der Abhärtungseffekt ebenfalls zum Tragen kam, weil man mit Hunden eben regelmäßig auch bei schlechtem Wetter nach draußen ging und zum Ende des Kapitels waren noch mehrere entzückende Fotos von Kindern unterschiedlichen Alters mit ihren Haustieren zu sehen.


    Sarah dachte nun intensiv nach-sie hatte gemerkt, dass es sozusagen Ben´s größter Wunsch war, Lucky herzuholen, wenn er wieder gesund war. Aber sie rechnete es ihm hoch an, dass er deswegen kein Streitgespräch mit ihr begonnen hatte, sondern anscheinend bereit war, sich ihrem bisherigen Entschluss zu beugen. Aber Hilfe-sie hatte eigentlich gar keine Ahnung von Hunden und was man da machen musste, wie viel und was die fraßen und wie man die pflegte. So landete sie auf einer Deerhoundseite und studierte die nächste Viertelstunde bis Tim erwachte, die Besonderheiten dieser Rasse. Überall wurde hervorgehoben was für noble Hunde das waren, die zu jedermann freundlich und höflich waren. Allerdings waren die von ihrer Abstammung her Hetzjäger und waren eigentlich in Schottland und England gezüchtet worden, um die Hirsche und anderes Wild auf die Jäger zuzutreiben. Was tat man mit einem Hetzhund in der Stadt-und wie sollte der genügend Auslauf bekommen? Sie las auch noch, dass diese Deerhounds den Windhunden näher standen als anderen Hunderassen und auch da so manche Besonderheiten zu beachten waren.
    Oh Gott-was sollte sie nur tun? Sie spielte noch mit Tim, ging mit dem auch ein wenig in den Park, der gleich bei ihnen um die Ecke war und dort fielen ihr nun besonders die Hunde auf, die dort mit ihren Besitzern Gassi gingen. Tim deutete von seinem Kinderbuggy aus auf alles was vier Beine hatte und stieß geschäftige Laute aus-wenn man den fragen könnte, der würde sofort einen Hund wollen, aber dazu war er nun eindeutig noch zu klein. Nach ihrem Ausflug badete Sarah ihren Sohn noch, gab ihm die abendliche Flasche und zog ihm gleich einen Schlafanzug an. Als sie gegen acht vor Hildegards Haustür stand, war er im Auto eingeschlafen und schlafend trug sie ihn in sein Reisebettchen. Hildegard musterte sie mit einem Lächeln: „Sarah-sie sehen besser aus als heute Mittag, ich hoffe, sie haben sich ein wenig erholt!“ bemerkte sie und Sarah nickte. Beiläufig erwähnte sie dann noch: „Die haben von der Tierklinik angerufen, dass Lucky schon wieder nicht fressen will-unser netter Polizist ist da mit Arco noch hingefahren-vielleicht funktioniert der Trick mit dem Futterneid nochmals!“ bemerkte sie und verabschiedete dann Sarah, die es wieder zu ihrem Mann ins Krankenhaus zog. Frederik stand ebenfalls wedelnd in der Tür und mit dem hatte Sarah ja nun gar keine Probleme, den begrüßte sie ohne Vorbehalte und hatte auch keine Angst vor ihm, obwohl das ja auch ein großer Hund war. Allerdings sahen die Goldies so harmlos aus, dass die wenigsten Menschen denen zutrauten, dass die aggressiv werden könnten und das war ja auch im Rasseziel nicht verankert. Nur gab es natürlich auch da Einzelexemplare die eben nicht so nett und wohl erzogen waren wie ihre Geschwister, aber sowas gab es überall in der Tierwelt-und bei den Menschen waren auch nicht alle lieb, nett und freundlich, wie gerade ein Polizist und eine Krankenschwester sehr wohl wussten. Hildegard seufzte, als sie Sarah nachsah wie die davonfuhr-das Problem mit Lucky lastete schwer auch auf ihrer Seele, was konnte sie nur tun?


    Als Sarah im Krankenhaus eintraf war gerade die Dialyse abgehängt worden und mit Freude sah sie, dass das Noradrenalin draußen war-das war ein Riesenschritt in Richtung Besserung und in dem Stuhldrainagenbeutel war auch nichts mehr nachgelaufen. Langsam begann sie zu hoffen, dass der entscheidende Durchbruch gekommen war und es jetzt steil aufwärts ging mit ihrem Ben, der sie lächelnd und mit einem Küsschen begrüßte. Sie gab ihm noch eine Suppe ein und ließ ihn trinken und als er danach wieder versuchte, selber seine Zähne zu putzen, klappte das schon viel besser-so langsam kam die Kraft zurück!

  • Semir war am nächsten Morgen erholt erwacht und hatte dann vorsichtshalber gleich eine kleine Reisetasche gepackt und im Auto gelassen. Pünktlich um acht stand er im Büro der Chefin, die ihn erfreut begrüßte: „Ich hätte gar nicht erwartet, dass sie schon wieder dienstfähig sind, Gerkhan-und wie geht es Jäger?“ fragte sie und Semir konnte ihr zunächst berichten, dass der auf dem aufsteigenden Ast war und nicht mehr in akuter Lebensgefahr schwebte, was Kim Krüger sehr freute. „Chefin-nachdem die Kollegen in Polen bisher keine Verhaftung geschafft haben, würde ich gerne selber dorthin reisen. Ich hatte ihnen ja erzählt, dass dieser Strzigowski etwas von einem Dorf bei Wielkopolski erzählt hat und die Kollegen dort fokussieren sich jetzt anscheinend auf einen anderen Ort, nämlich Krakau und das liegt ganz woanders. Im Innenstadtrevier arbeitet ein Kollege, der ist Halbpole und hat mich schon mehrfach als Dolmetscher unterstützt, den würde ich gerne fragen, ob er mit mir dorthin reist und Nachforschungen anstellt!“ bat er die Chefin und die sah ihn ernst an. „Gerkhan, ich bin sogar sehr erfreut, wenn sie das tun, allerdings müssen wir die Behörden dort um Amtshilfe bitten und das kann dauern!“ gab sie zu bedenken, aber Semir zuckte mit den Schultern. „Ich würde aber einfach einen Erholungsurlaub in diesem wunderbaren Naturschutzgebiet antreten-ich denke dazu muss ich die polnischen Kollegen nicht um Erlaubnis fragen!“ erklärte er mit einem Grinsen und nun zuckten auch die Mundwinkel der Chefin. „Also gut-passen sie auf sich auf und klar ist das kein Urlaub, sondern Dienstzeit und die Spesen werden natürlich auch übernommen-ich rufe auch gleich den Leiter des Innenstadtreviers an, ob der für einige Tage den Kollegen ausleihen könnte!“ beschloss sie und griff zum Hörer. Auch sie befürchtete, dass ansonsten Dermold und Bruckner davonkommen würden und die Morde und der Mordversuch an Ben ungesühnt blieben. Auch deuteten inzwischen alle Spuren darauf hin, dass sie für den Tod einer alten Dame unweit des Unfallorts ebenfalls verantwortlich waren und die Spur des Todes zog sich durch deren Leben und solche Verbrecher gehörten hinter Gitter!


    So wurde alles angeleiert und Marek, der nette Kollege stimmte auch sofort zu und machte sich zurück auf den Weg nach Hause, wo er einige Sachen packte und sich von seiner Familie für ein paar Tage verabschiedete. Als Semir noch ein wenig in sein Büro ging, um die Wartezeit zu überbrücken, kamen gerade Jenni und Bonrath, zwar noch ein wenig steif gehend, aber fröhlich zur Chefin. „Mann Jenni-Dieter-ihr kommt auch schon wieder zum Dienst?“ sah er sie fragend an und die beiden lächelten. „Auf Streife können wir noch nicht fahren, aber die Prellungen tun zuhause genauso weh wie im Büro und so dachten wir, wir erledigen wenigstens ein bisschen Schreibkram.“ erklärten sie und nun wurde Kim Krüger schon ein wenig leichter ums Herz. Die ausgedünnte Personaldecke begann sich wieder zu schließen und als wenig später dann Marek auf dem Parkplatz der PASt vorfuhr, lud er sein Gepäck in den BMW um und kurz darauf waren die beiden Polizisten auf dem Weg nach Polen, wo sie im Laufe des Abends eintrafen.


    Marek hatte von unterwegs schon in einem Autoverleih kurz hinter der Grenze einen anderen Wagen bestellt: „Wenn wir mit einem Polizeifahrzeug mit deutschem Kennzeichen dort eintreffen, werden wir nichts erfahren!“ erklärte er Semir und der nickte zustimmend. Sie hatten sich gut unterhalten und als sie noch einige Zeit später mit dem Mietwagen in dem wildromantischen Naturschutzgebiet vorfuhren, besorgte er in einer kleinen Pension in dem Ort, den Leo erwähnt hatte, ein Doppelzimmer, bat Semir so wenig wie möglich zu sprechen und so speisten sie kurz darauf fürstlich im Dorfgasthof und gingen hinterher noch in die Kneipe daneben, wo sie sich das eine oder andere Bier und Wodka gönnten-zumindest Marek, während Semir seinen Schnaps dezent im nächsten Blumentopf entsorgte. Mann waren die alle trinkfest-Semir wäre schon lange schlafend unter dem Tisch gelegen bei diesen Alkoholmengen, aber so schwankte Marek zwar leicht, als sie gegen Mitternacht in ihr Zimmer zurück gingen, aber er hatte schon einen heißen Tipp bekommen. Er hatte sich und Semir als Jagdurlauber aus einem anderen Teil Polens ausgegeben und laut über die Deutschen geschimpft-so hatte man ihm gesteckt, dass zwei arrogante Deutsche in einem Haus untergekommen waren, das sie sich am nächsten Tag einmal genauer ansehen würden. Semir konnte erst nicht einschlafen, weil Marek so laut schnarchte, aber irgendwann war er doch weg und erwachte am nächsten Morgen erholt und voller Tatendrang.


    Am Sonntag waren die gefälschten Papiere von Bruckner und Dermold fertig gewesen und ihr Gastgeber sagte: „Sobald ihr das Geld aufgetrieben habt, buche ich euch einen Flug, aber erst die Kohle und dann alles Weitere-unsere Visagistin wird euch wieder so herrichten, wie auf den Fotos und dann könnt ihr nach Thailand reisen!“ und so hing Bruckner am Montag überwiegend am Telefon, bis es ihm gelang, verstecktes Geld auf das Konto von Leo´s Bruder zu transferieren. Am Dienstag müsste das da sein. „Leo-wenn da irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht und der sich die Kohle selber unter den Nagel reißt, werde ich ihn bestrafen, dass er wünscht, nie geboren zu sein!“ warnte Bruckner und Leo sprach daraufhin ein ernstes Wort mit seinem Bruder, der verdattert nickte. Sie würden alle ihre Bezahlung bekommen und sobald ihre Gäste im Flieger saßen, würde Leo wieder nach Deutschland zurückkehren und behaupten, er wäre nur auf Verwandtenbesuch gewesen-eigentlich konnte man ihm doch nichts nachweisen!

  • Als Leo´s Bruder am Dienstag früh seine Bank kontaktierte, war das Geld eingetroffen und es wurde vereinbart, dass er es ab sofort abholen konnte. Er hatte den Bankangestellten ein Märchen erzählt von einer Erbschaft eines deutschen Onkels und dass er sich gleich ein Wohnmobil davon kaufen würde und das bar bezahlen-so konnte er erklären, warum er 40 000€ sofort brauchte. So stand um sieben die Visagistin auf der Matte und begann die beiden Männer so zu schminken, dass sie den Fotos glichen und Leo recherchierte im Internet, wann heute der nächste Flug nach Thailand ging-und tatsächlich um 14.00 Uhr würde einer von Warschau abgehen. Es war zwar ein asiatischer Billigflieger, in den Bruckner normalerweise keinen Schritt gesetzt hätte, aber jetzt war es ihm egal und er wollte nur weg. Leo reservierte die Tickets auf die gefälschten Papiere, versprach aus besonderen Gründen Barzahlung am Schalter, was in Polen problemlos möglich war und um 12.00 Uhr würden sie einchecken. „Lutz-morgen lassen wir uns schon die thailändische Sonne auf den Bauch scheinen!“ freute Mark sich und nun sahen sie wieder staunend ihrer Verwandlung in zwei völlig andere Menschen zu. Was Perücken, aufgeklebte Bärte, Schaumstoffpolster in den Wangen und Fatsuits so ausrichten konnten-ihre eigene Großmutter hätte sie nicht erkannt! Bruckner sah bedauernd das Fläschchen an, das er mitgenommen hatte-man durfte ja leider keine Flüssigkeiten mit ins Handgepäck nehmen und so konnte er nicht widerstehen, dem eigentlich sehr freundlichen Hofhund seines Gastgebers vor der Abfahrt ein wenig von den aggressiv machenden Tropfen auf einem Stück Wurst zu geben, bevor er den Rest in den Müll warf-der sollte auch einmal erleben, wie sich ein richtiger Hund verhielt, der seinen Besitz bewachte!


    Semir hatte derweil am Morgen Mühe, Marek aus dem Bett zu bekommen-Mann das war genauso schwer, wie Ben zu wecken, der sich auch immer die Decke über den Kopf zog: „Nur ein Viertelstündchen!“ murmelte und sofort wieder tief und fest einschlief. Semir hatte in Etappen geschlafen, denn Marek hatte geschnarcht wie ein Walroß und so war er immer mal wieder aufgewacht und hatte auch das Fenster aufgerissen, sonst wäre er noch von Marek´s Ausatemluft betrunken geworden! Aber endlich um 8.30 Uhr hatte er es geschafft, Marek hatte sich unter die kalte Dusche gestellt und so saßen sie ein Viertelstündchen später beim Frühstück und eine weitere halbe Stunde darauf waren sie unterwegs zu dem etwas außerhalb liegenden Gehöft, wo sich die beiden flüchtigen Verbrecher mutmaßlich verbargen. Auf der letzten größeren Straße kam ihnen ein Fahrzeug entgegen, in dem vier Männer saßen, über die Semir routinemäßig einen Blick streifen ließ, aber keiner davon war ihm bekannt. Gut-der Beifahrer hatte sich gerade gebückt, aber die dicken Männer im Fond mit den Bärten sahen in keinster Weise den Gesuchten ähnlich und so näherten Marek und er sich vorsichtig dem Gehöft, stellten außer Sichtweite ihr Fahrzeug ab und schlichen mit gezogenen Waffen näher.


    Auch Bruckner hatte beiläufig in das andere Auto geblickt und dann hätte ihn beinahe der Schlag getroffen, als er sah, wer da auf dem Fahrersitz thronte. Verdammt-dieser Gerkhan hatte sie ausfindig gemacht! Allerdings war ihre Verkleidung anscheinend wirklich gut, denn kein Hauch des Erkennens war über sein Gesicht gezogen und Leo hatte gerade vom Beifahrersitz aus das Navi programmiert, während sein Bruder den Wagen lenkte-vermutlich hatte Gerkhan den gar nicht gesehen. Trotzdem bat Bruckner den Fahrer ein paar Umwege zu nehmen und beobachtete angestrengt den rückwärtigen Verkehr, aber sie hatten definitiv keinen Verfolger und so waren sie wenig später auf dem Weg zum Warschauer Flughafen, den sie pünktlich noch vor zwölf erreichten und auch sofort problemlos die reservierten Tickets bezahlten, die Passkontrolle durchliefen und eincheckten. Sie hatten nur Handgepäck und mussten daher auch keinen Koffer aufgeben-mit genügend Bargeld in der Tasche konnten sie sich in Thailand alles kaufen, was das Herz begehrte. Trotzdem waren sie auch jetzt noch vorsichtig, verbargen sich in einer Ecke der Lobby und musterten die Zöllner, die Polizisten und auch sonst jeden, der durch die Abflughalle lief, aber anscheinend suchte niemand nach ihnen und die Zeit, bis sie ins Flugzeug konnten verrann und mit jeder Minute wurde ihre Erleichterung größer.
    Leo hatte nach der Ticketbezahlung sein Geld bekommen, er würde nun auch alle anderen auszahlen und dann nach Deutschland zurückkehren. So waren er und sein Bruder dann schon bald wieder auf dem Rückweg und freuten sich über den unerwarteten Geldsegen.


    Semir und Marek, der zwar wieder nüchtern erschien, aber trotzdem in seinen Reaktionen durch den Restalkohol noch verlangsamt war, tasteten sich näher an das Gehöft heran. Sich gegenseitig Deckung gebend erreichten sie die Gebäude, als plötzlich ein riesiger hellbrauner Schatten mit gefährlichem Knurren durch die Luft flog.

  • Marek reagierte einen Tick zu langsam und so warf ihn die Wucht des Aufpralls erst einmal um und er verlor seine Waffe. Semir, der ja einige Meter von ihm entfernt stand hätte zu gerne geschossen, aber es war nicht möglich, ohne Marek zu treffen, der nun vor Entsetzen schrie und von dem wildgewordenen Bernhardinermix gerade schmerzhaft gebissen wurde. Semir stürzte näher-vergessen war im Augenblick die Suche nach Dermold und Bruckner-jetzt galt es das Leben seines Kollegen zu retten. Beherzt griff er zu und schaffte es irgendwie die Kette, die der Hund um seinen Hals trug zu packen. Obwohl der nun wie eine Furie herumfuhr und auch Semir am Unterarm erwischte, hielt der eisern fest und drehte langsam die Kette zu, bis er dem Hund sozusagen die Luft abstellte und der aufhörte um sich zu beißen. In diesem Augenblick kam schon der Hofbesitzer, den die Geräusche aufgeschreckt hatten schreckensbleich dazu und Marek, der jetzt wimmernd am Boden lag und seine Hände auf die blutenden, schmerzenden Bißverletzungen presste, erfasste die Situation und auch dass der Mann misstrauisch die Waffen der beiden Männer musterte und rief ihm nun wieder und wieder auf Polnisch zu, dass sie von der Polizei wären und langsam nickte der, packte nun seinerseits mit ein paar scharfen Worten den Hund am Halsband und schleifte ihn zu einem Zwinger, der in einer Ecke des Hofs stand. Dort warf er ihn hinein, schloss die Tür hinter ihm und während der Hund nun hechelnd wieder zur Besinnung kam, hatte Semir sich schon neben Marek auf den Boden gesetzt und versuchte dessen Blutungen mit seinem Shirt, das er rasch ausgezogen hatte, zu stillen.
    „Schnell wir brauchen einen Krankenwagen!“ rief er entsetzt und der Hofbesitzer, der ein paar Brocken Deutsch verstand nickte stumm mit dem Kopf und zückte dann sein Handy, um die Rettung zu verständigen. Wenig später wimmelte der Hof von Sanitätern und ein Polizeifahrzeug, das den Notruf abgehört hatte war ebenfalls eingetroffen. Marek jammerte abwechselnd auf Deutsch und dann wieder auf Polnisch vor sich hin und wurde nun vom Notarzt erst einmal stabilisiert und mit Schmerzmitteln abgedeckt, bevor man ihn auf eine Trage packte und in den Rettungswagen schob. Der Notarzt sah sich auch die Bißverletzung Semir´s an, die zwar schmerzhaft, aber nicht gefährlich war, reinigte kurz die Wunde mit einem Desinfektionsmittel, so dass Semir ihm beinahe ins Gesicht gesprungen wäre, so brannte das und drückte ihm einen Streifen Antibiotikatabletten in die Hand. „Zweimal täglich einnehmen!“ radebrechte er, denn ein paar Brocken Deutsch verstand auch er und Marek hatte ihm während der Erstversorgung schon erzählt, dass sie beide deutsche Polizisten waren, die flüchtige Verbrecher verfolgten.


    Während Marek nun in die nächste Klinik abtransportiert wurde, näherte sich einer der beiden polnischen Kollegen Semir und fragte in gebrochenem Deutsch: „Kann ich ihnen helfen?“ und Semir nickte. Er zog sein Handy hervor, auf dem er die Bilder von Bruckner, Dermold und auch Leo gespeichert hatte und zeigte die Bilder den Umstehenden. „Ich suche diese Männer, das sind flüchtige Mörder!“ sagte er und nun wurden die Augen des Hofbesitzers groß und er wehrte ab. Ein entsetzter Wortschwall auf Polnisch folgte und der Polizist, der wenigstens ein bisschen Deutsch sprechen konnte, übersetzte für Semir: „Er sagt er hätte ihnen eine Ferienwohnung vermietet, aber keine Ahnung gehabt, dass sie Verbrecher wären!“ und wenig später folgten Semir und die beiden Polizisten dem Hofbesitzer, der schnell einen Ersatzschlüssel geholt hatte, in die Wohnung. Semir war klar, dass nach diesem Tumult jeder am Hof aufgewacht war und er sich nun auch nicht mehr ruhig verhalten musste-vermutlich waren die Gesuchten schon lange, bevor sie eingetroffen waren getürmt-oder alternativ gerade eben in den Wald geflüchtet, der das einsame Gehöft von allen Seiten umschloss. Ein Fahrzeug war jedenfalls nicht weggefahren, seitdem sie eingetroffen waren, aber als sie nun in der Wohnung die Reste von Schminke, falschen Bärten und die Verpackung von zwei Fatsuits fanden, begann es in Semir´s Kopf zu rattern.


    Sollten die Männer in dem Wagen, der ihnen entgegen gekommen war, vielleicht doch die Gesuchten gewesen sein, die perfekt geschminkt ihr Aussehen dermaßen verändert hatten? Aber wohin waren die unterwegs? Moment-sie vermuteten, dass die sich nach Thailand absetzen wollten-von wo würde man abfliegen? Er versuchte das seinen polnischen Kollegen zu erklären, aber so weit reichten die Verständigungsmöglichkeiten doch nicht aus und so nahm Semir sein Handy heraus und rief Susanne im fernen Köln an. Wenig später hatte er die Bestätigung-der nächstgelegene Fernflughafen war Warschau und den konnte man in guten drei Stunden erreichen. Die Flüchtigen hatten zwar einen Vorsprung, aber an diesem Tag ging der nächste Flieger nach Bangkok um 14.00 Uhr-das müsste zu schaffen sein! Allerdings konnten oder wollten die Kollegen ihn nicht begleiten-die hatten hier vor Ort genug Arbeit, wie sie ihm versicherten-und so sprang Semir wenig später in den Mietwagen und gab Gas. An dem Dorfgasthof hielt er noch kurz an und holte seine Tasche aus dem Zimmer, immerhin hatte er so wieder ein frisches Shirt, denn das andere war ja als Verband missbraucht worden und dann benötigte er noch eine Weile, um die Spracheinstellung am Navi zu ändern und den Flughafen einzugeben. Endlich war er startklar und fuhr nun zügig Richtung Warschau.


    Susanne hatte derweil erstens Marek´s Familie verständigt und dann auch am Flughafen versucht etwas herauszubekommen. Aber ohne neue Namen oder eine detaillierte Personenbeschreibung konnte auch die Flughafensicherung dort nichts ausrichten-Semir musste versuchen die Passagiere vor Ort zu identifizieren-immerhin hatte er ja eine grobe Vorstellung davon, wie die Flüchtigen jetzt aussahen!
    Nach etwa der Hälfte der Strecke-Semir hatte gut Gas gegeben, wurde er von einem Polizeiwagen überholt und zum Anhalten gezwungen. Leider sprach keiner der beiden Polizisten auch nur einen Brocken Deutsch und erst das Vorzeigen seines deutschen Polizeiausweises brachte sie ein wenig weiter. Trotzdem dauerte es-wiederum mit Hilfe Susannes und eines Sprachcomputerprogramms- eine Weile, bis sie ihn weiterfahren ließen und jetzt wurde die Zeit langsam knapp. Es war bereits fünfzehn Minuten vor der Abflugzeit, die Passagiere saßen sicher schon im Flieger, erreichte Semir den Flughafen, fuhr mit dem Wagen so weit wie möglich ran und ließ das Fahrzeug dann einfach stehen. Wie von Furien gehetzt rannte er in die Abfertigungshalle, hatte zwar mit einem Blick die Startbahn und die Nummer des Flugzeugs von der Anzeigetafel entnommen, aber dann standen die Kollegen von der Flughafensicherung wie eine Mauer vor ihm und wollten wissen, ob er der Besitzer des widerrechtlich geparkten Fahrzeugs draußen war. Obwohl Semir verzweifelt versuchte sein Anliegen zu erklären, wurde er erst einmal grob gepackt und in deren Büro geschleift und wieder dauerte es einige Minuten, bis man jemanden hergeholt hatte, der fließend Deutsch sprach und nun begann zu übersetzen. Man brachte Semir nun zwar zum Flugfeld, aber gerade war die Gangway weggerollt worden und der Flieger machte sich startklar. Mit einem bedauernden Schulterzucken kapitulierten die Kollegen der Flughafenpolizei, nur Semir konnte jetzt nicht einsehen, dass die Verbrecher einfach so davonkommen sollten. Die Männer erklärten, dass es doch ganz einfach sei die Mörder bei der Landung zu verhaften, aber Semir versuchte ihnen verzweifelt zu erklären, dass er ja nach seinem flüchtigen Blick keine genaue Beschreibung hatte und auch nicht wusste, unter welchen Namen die eingecheckt hatten. Er musste den Start des Flugzeugs verhindern, an Bord gehen und sie persönlich identifizieren-nur so würde es klappen!
    Gerade fuhr langsam ein Fahrzeug an ihm vorbei, das die Koffer zu den Laderäumen des nächsten wartenden Fliegers bringen sollte und als niemand ihm entgegenkommen und etwas unternehmen wollte, sprang Semir plötzlich auf das Fahrzeug, zog den verdutzen Lademeister vom Sitz herunter und gab nun einfach Gas. Die Turbinen des Flugzeugs waren angelaufen und gerade begann der Flieger sich in Bewegung zu setzen. Semir drückte den Schnellauf des Elektromobils so weit herunter, wie es möglich war, aber trotzdem setzte sich das voll beladene Fahrzeug nur langsam in Bewegung. Seine Kollegen schrien ihm entsetzt und händeringend etwas zu, aber Semir ließ sich nicht aufhalten. Langsam wurde das Elektromobil schneller und Semir lenkte in Richtung Startbahn, aber genau in diesem Moment gewann der Flieger an Fahrt, hob wenig später ab und verschwand am Horizont. Bruckner, der einen Fensterplatz ergattert hatte, atmete erleichtert auf. Als er Gerkhan erkannt hatte, hatte er das Schlimmste befürchtet, aber jetzt lehnte er sich zufrieden zurück und ließ sich von der hübschen asiatischen Stewardess nach seinen Wünschen fragen.

  • Semir fluchte, aber es war nicht zu leugnen-Bruckner war weg! Er war zu spät gekommen um Ben und alle anderen zu rächen! So stieg er langsam vom Elektromobil und seine polnischen Kollegen der Flughafensicherheit rügten ihn zunächst noch wegen seines versuchten Eingriffs in den Luftverkehr, aber Semir winkte ärgerlich ab-immerhin war niemand zu Schaden gekommen und so saß er wenig später wieder in dem Mietwagen und fuhr in den Naturpark zurück. Susanne hatte die Klinik ausfindig gemacht, wo Marek behandelt wurde und so stattete er ihm noch einen Besuch ab. Der war zwar immer noch blass und hatte viele Verbände, aber er erzählte Semir, nachdem er von dem gescheiterten Verhaftungsversuch gehört hatte, dass seine Frau anreisen und sich um ihn kümmern würde, bis er entlassen werden konnte. Er fühlte sich zwar noch schwach, aber die Schmerzmittel wirkten, er bekam intravenöse Antibiose und würde voraussichtlich noch einige Tage bleiben müssen. Man hatte die Wunden in Narkose gereinigt, aber es waren keine lebenswichtigen Organe betroffen und so würde das schon wieder werden.
    Nach einer Weile verabschiedete sich Semir und kehrte zu der Pension zurück, wo er nach kurzer Überlegung die Rechnung bezahlte und sich dann gen deutsche Grenze aufmachte. Wenigstens ein Stück weit würde er jetzt noch Richtung Heimat fahren, denn vor lauter Frust konnte er heute sicher nicht schlafen und es zog ihn jetzt nur noch nach Hause zu seiner Familie und zu Ben. So gab er noch am Abend den Mietwagen zurück und fuhr dann in seinem vertrauten BMW eine Strecke, bis er, als die Müdigkeit ihn einholte, an einem Motel anhielt und sich dort für ein paar Stunden aufs Ohr legte.


    Bei Ben kamen derweil die Kräfte zurück. Nachdem er zum ersten Mal wieder erholsam geschlafen hatte, sich jetzt selber drehen und auch alleine trinken konnte, hatte Sarah ihm am Montagmorgen noch bei der Wundtoilette beigestanden und sich dann auf seine Anweisung hin zu Hildegard und Tim aufgemacht. Tim krabbelte gerade fröhlich krähend hinter Frederik her durchs Wohnzimmer, der freundlich mit dem Schwanz schlug und regelrecht mitspielte, aber Frau Brauner hatte kurz zuvor einen Anruf erhalten, der ihr zu schaffen machte.
    „Sarah-der Hundeführer war gestern bei Lucky in der Klinik, aber der war auch mit allerlei Tricks und nicht einmal über Futterneid zum Fressen zu bewegen. Heute früh hat er sich wieder nach ihm erkundigt und die haben gesagt, Lucky würde einfach so verlöschen. Er hat anscheinend jeglichen Lebensmut verloren und liegt nur noch teilnahmslos in der Box. Aus medizinischer Sicht könnte er entlassen werden, aber wenn man ihn jetzt in ein Tierheim bringt, dann unterschreibt man sozusagen sein Todesurteil. Dieser noble Hund ist sehr sensibel und hat in seinem Leben vermutlich schon so viel mitgemacht, dass er jetzt einfach nicht mehr kann. Ich werde das aber nicht zulassen, dass so ein Lebensretter einfach aufgegeben wird und habe jetzt beschlossen, ihn zu mir zu holen, bis wir eine Lösung gefunden haben!“ erklärte sie und vermied es peinlichst, Sarah jetzt zu irgendetwas zu überreden. Gerade hatte sie nochmals mit dem Hundeführer darüber diskutiert, aber auch der war der Meinung gewesen, dass Sarah zwar auf einem guten Weg war, aber wenn man sie jetzt unter Druck setzte, dann würde sie sich vermutlich endgültig gegen Lucky entscheiden. Das, was sie jetzt eigentlich brauchten war Zeit-aber genau die hatten sie nicht, denn sonst war Lucky tot!
    Sarah schwieg eine Weile-ihr war klar, was man jetzt eigentlich von ihr erwartete, aber sie brachte es nicht fertig, jetzt einfach so zu sagen-„Na gut, dann nehmen wir ihn eben-halten wir noch kurz im Zoofachgeschäft an und kaufen ein wenig Zubehör!“ und dann waren sie Hundebesitzer. Diese Situation überforderte sie völlig und sie hätte am liebsten jetzt Tim gepackt, wäre in ihre Wohnung geflohen und hätte den Gedanken beiseitegeschoben, bis zumindest Ben wieder zuhause war. So aber konnte sie nur zu Hildegards Entscheidung nicken und während die kurz danach zur Klinik aufbrach, um Lucky abzuholen, blieb sie mit Tim im Haus ihrer Gastgeberin zurück. Frederik hatte man in den Garten gesperrt, der lag dort friedlich schlummernd vor der Terrassentür und nun spielte Sarah ein wenig mit ihrem Sohn, bis der wenig später müde wurde und einschlief.


    Bei Ben war inzwischen die Stuhldrainage entfernt worden und jetzt sprach nichts mehr dagegen, ihn zumindest einmal an den Bettrand zu mobilisieren. Der Physiotherapeut massierte zuvor seine schmerzhaft verkrampften Muskeln, in denen immer noch massiv viele Abbaustoffe auf ihren Abtransport warteten, aber sein Körper lief auf Höchsttouren die zu resorbieren und so war er wenig später zum ersten Mal seit Tagen in einer aufrechten Position, auch wenn er sich fühlte, als hätte er gerade einen Achttausender bezwungen. Nach etwa zwei Minuten war er froh, wieder liegen zu dürfen, aber nun war er selber der Überzeugung: Es ging aufwärts!

  • Etwa eine Stunde nach ihrer Abfahrt war Frau Brauner mit Lucky zurück. Er war mit hängendem Kopf hinter ihr hergeschlichen und sie hatte ihm ein wenig beim Einsteigen ins Auto helfen müssen, aber auch in ihrer Gegenwart hatte er keinen Bissen zu sich genommen und auch nichts getrunken. Sie war freundlich zu ihm, er war artig, aber desinteressiert. Der behandelnde Tierarzt, der mit zum Auto gekommen war und ihr auch noch Spezialaufbaufutter mitgegeben hatte, wiegte zweifelnd den Kopf. „Ich weiss nicht ob er es schafft. Körperlich kommt er eigentlich wieder langsam auf den Damm, aber wenn er nicht freiwillig frisst und säuft wird er die nächsten Tage dennoch nicht überleben-wir können ihn ja schließlich nicht dauerhaft zwangsernähren. Ich bin mit meiner Weisheit am Ende und wenn es so eine Diagnose bei Hunden gäbe würde ich sagen, er ist schwer depressiv. Vielleicht hilft es ihm in einer normalen Umgebung mit liebevoller Betreuung, einem Garten und einem freundlichen anderen Hund wieder auf die Beine zu kommen, aber wenn es nicht klappt, dann haben wir es wenigstens versucht!“ erklärte er und Hildegard nickte.


    Als sie an ihrem Haus ankam, war Tim gerade im Bett und machte ein Schläfchen und Sarah wartete unruhig und zweifelnd auf ihre Ankunft. Würde der Rüde wild sein und Tim umwerfen, würde sie Angst um ihr Kind haben, wenn dieser Hund mit im Raum war-ach sie wusste so überhaupt nicht, was auf sie zukommen würde! Als die erfahrene Hundefrau nun Lucky an die Leine nahm und aus dem Auto lockte, stieg er zwar vorsichtig mit aus, begrüßte auch Sarah, indem er zweimal mit der Rute klopfte und sie kurz mit der Nase anstupste, aber als Frau Brauner ihn in den Flur führte und ihm dort ein großes Hundebett zeigte, das sie vom Dachboden geholt hatte, denn auch Frederik sollte nicht eifersüchtig werden, schnupperte er kurz und rollte sich dann darin teilnahmslos zusammen. Die beiden Frauen versuchten ihn in die Küche zu locken, damit er dort am Hundefressplatz aß oder trank, aber er steckte desinteressiert seine Nase unter seinen Schwanz, seufzte tief auf und schloss die Augen. Sarah, bei der nun die Krankenschwester durchkam holte ein paar Leckerbissen und setzte sich vor ihm auf den Boden. Sie sprach mit ihm, streichelte ihn zärtlich und versuchte ihn zu überreden, doch ein paar Bissen zu essen. Allerdings war das Einzige was Lucky interessierte der Geruch ihres T-Shirts, denn das roch nach dem Menschen, nach dem er sich vor Sehnsucht verzehrte. Er vergrub seine Nase darin und inhalierte den Duft, aber sonst kam keine Reaktion.
    Hildegard ließ nun Frederik herein und der lief auch sofort zu seinem neuen Freund, der zwar devot die Ohren zur Seite klappte um dem Hausherrn zu zeigen, dass er sich unterordnete, aber auch Frederik brachte ihn nicht dazu freiwillig aufzustehen und zu fressen. Bald verlor Frederik das Interesse und brachte Sarah einen Ball, den sie ihm werfen sollte. Lucky beobachtete zwar kurz das Schauspiel, schloss aber dann die Augen und dämmerte vor sich hin. „Der Tierarzt hat gemeint, wenn er nicht bald aktiv wird, wird er sterben!“ sagte Hildegard traurig und nun kamen Sarah beinahe die Tränen. Ihre Gefühle als der Hund jetzt da war, waren so ganz anders als sie das erwartet hatte. Sie hatte ein wenig Angst gehabt, aber jetzt war das eine gezeichnete leidende Kreatur und sie war erfüllt von Mitleid und ja-da war noch etwas in ihrem Herzen-war das Liebe? Auf jeden Fall eine große Dankbarkeit, denn nur weil dieser Hund sein Leben riskiert hatte, lebte Ben überhaupt noch!


    Wenig später erwachte Tim und als er frisch gewickelt sein Mittagessen verlangte, entdeckte er plötzlich Lucky in seinem Korb. Er streckte beide Händchen nach dem grauen Riesen aus und gab aufgeregte Laute von sich. Als man ihn nun zunächst in der Wohnküche in den Hochstuhl setzte und dort sein Babygläschen fütterte, erhob sich Lucky anscheinend unter Schmerzen-klar, auch er hatte ja immer noch überall Narben und trug auch eine Art Anzug-und schlich in die Küche. Dort rollte er sich direkt unter Tim´s Hochstuhl auf den Fliesen zusammen und das Einzige was er dann doch zu sich nahm, waren die Reste von Tim´s Essen, als der ihm seine Patschhändchen entgegenstreckte, mit denen er natürlich geschafft hatte, darin herum zu manschen. Sarah kam sich vor wie im Traum, denn nie hätte sie gedacht, dass sie so überhaupt keine Angst hatte, als Tim nach dem Händewaschen forderte auf den Boden gesetzt zu werden und zu seinem neuen Freund wollte. Freundlich wedelnd erhob sich Lucky und nahm nun liebevollen intensiven Kontakt mit dem Krabbelbaby auf. Tief in seinem Innersten wusste er, dass dieses Kind ein wichtiger Teil des Menschenrudels war und auch der Geruch sagte eindeutig aus, dass das ein Stück von dem Menschen war, den er so furchtbar vermisste. Wenig später allerdings lag Lucky wieder dösend in seinem Korb, Hildegard bemerkte zweifelnd: „Der ist noch nicht über dem Berg!“ und Sarah musste ihr leider zustimmen.
    Auch als sie in den Garten umzogen und dort in der warmen Frühlingsluft ein leichtes Mittagessen einnahmen, das Hildegard schnell zusammengerührt hatte, kam er zwar mit raus, aber sogar als man ihm ein wenig Pasta mit Tomatensauce anbot, in der Hoffnung dass er wenigstens irgendetwas fraß, wandte er den Kopf ab. Nur Frederik war begeistert-endlich kapierten die Menschen mal, was einem Hund so schmeckte-denn er bekam natürlich dann die Reste, die Lucky verschmäht hatte.


    Sarah fuhr später noch ein paar Stunden mit Tim in die Wohnung und ertappte sich schon, dass sie überlegte, wo man denn Lucky´s Bett hinstellen sollte. Aber erst einmal musste der das überleben und auch Ben wieder nach Hause kommen! Als sie am frühen Abend Tim wieder bei Hildegard abgab, probierten sie nochmals gemeinsam den Deerhound davon zu überzeugen, dass er wenigstens trinken musste, aber er schlappte zweimal müde aus dem Wassernapf, wandte sich voller Ekel von der Futterschüssel ab und auch die angebotene Milch verschmähte er. So war Sarah ziemlich traurig als sie zu Ben ins Krankenhaus fuhr, wenn nicht ein Wunder geschah, würde Lucky in wenigen Tagen nicht mehr da sein!


    Bei Ben war es inzwischen zügig aufwärts gegangen. Mittags hatte man ihn schon in einen Mobilisationsstuhl gesetzt, in dem er guten Halt hatte. Er hatte zwar noch Pudding in den Knien und große Mühe die beim Umsetzen nur durchgedrückt zu halten, aber er schaffte es und auch mit der Rumpfstabilität hatte er keine Probleme mehr. Es dauerte zwar ewig, bis er die Suppe und den Kartoffelbrei mit Sauce gegessen hatte, weil seine Feinmotorik immer noch zu wünschen übrig ließ, aber konzentriert verfolgte er sein Ziel-das ging doch nicht an, dass er sozusagen vor dem gefüllten Teller verhungerte! Nachdem die Suppe eine Tomatensuppe gewesen war, begann Sarah´s Kollegin, die nachsah ob sie ihm helfen musste, schallend zu lachen als sie ihn im Anschluss betrachtete. „Ben-tut mir leid, aber ich bin gerade froh, dass Sarah dich im Augenblick nicht zu Sehen kriegt! Du siehst aus, als wenn du in nem Draculastreifen mitspielen würdest!“ gluckste sie-es war die Kollegin, die auch auf ihrer Hochzeit gewesen war- und immer noch grinsend holte sie einen Spiegel aus der Schublade des Nachtkästchens. Ben betrachtete sich und musste dann selber lachen-ja so sah Tim auch immer aus, wenn sie beim Füttern nicht aufpassten. So wurde er wie ein kleines Kind abgewaschen, bekam ein frisches Hemd und er fühlte sich schon viel wohler, als er mit vollem Bauch nachher im Bett lag, wo er sich komplett alleine drehen konnte und sein Mittagsschläfchen machte. Nachmittags kam Konrad vorbei und hatte Julia mitgebracht, die zwar einen Mundschutz gegen die Ansteckungsgefahr trug, aber sonst übers Wochenende wieder genesen war. Mit angeregten Gesprächen verging die Zeit und als Konrad ihm erzählte, dass er sogar Lucky schon kennen gelernt hatte, begann Ben wieder ein wenig Hoffnung zu schöpfen-vielleicht fanden sie da doch irgendeine Lösung?

  • Als Sarah am Abend ins Krankenhaus kam, war sie angenehm überrascht, wie viel besser Ben aussah. Als sie ihm das mitteilte, beschwerte er sich: „Soll das bedeuten, dass ich schon jemals schlecht ausgesehen habe? Also wenn du solche Behauptungen in die Welt setzt, bin ich aber beleidigt!“ gab er ihr eine Retourkutsche und nun überzog ein erleichtertes Lächeln Sarah´s Gesicht. Wenn Ben seinen Humor wiederhatte, dann ging es steil aufwärts. Auch der Stationsarzt der wenig später noch nach seinem Patienten sah, bestätigte das und teilte den beiden zusätzlich noch mit, dass Ben heute Nacht der sogenannte: „Joker“ war, also der Patient der als Erster auf Normalstation verlegt werden würde, wenn ein Zugang kam, der den Bettplatz benötigte und so war es dann kurz nach Mitternacht auch. Man schob Ben´s Bett kurzerhand auf den Flur, von wo er dann von der Schwester von der Normalstation abgeholt wurde, weil zwei Neuzugänge in kritischem Zustand die Bettplätze benötigten. Auch Sarah war hochgeschreckt, hatte den Mobilisationsstuhl, auf dem sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatte, hinausgeschoben und sogar ihren Kollegen noch geholfen, das Zimmer zwischen zu desinfizieren. Voller Mitleid und dann auch wieder bedauernd, dass sie jetzt nicht mithelfen konnte die beiden schwer verletzten Patienten zu versorgen-irgendwie war das einfach in ihr drin und sie liebte ihren Beruf-sah sie gemeinsam mit Ben zu, wie die beiden Betten an ihnen vorbei gefahren wurden und ihr Team die Versorgung übernahm. Als sie draußen an den besorgten Menschen, die in der Wartezone vor der Intensivstation standen, vorbeigingen, sagte sie tröstend: „Ihre Angehörigen sind hier in den besten Händen-wenn man ihnen helfen kann, dann hier!“ und eine Frau, deren Augen vom Weinen gerötet waren, dankte ihr.


    Wenig später waren sie beide wieder auf der Station, auf der Ben schon einmal gewesen war, zwar in einem anderen Zimmer, aber hier hatte Sarah jetzt auch wieder ein echtes bequemes Bett und nachdem die Verlegungsformalitäten erledigt waren, seufzte Ben glücklich auf: „Endlich keine Kabel mehr in denen ich mich verheddern kann!“ und nun lächelte Sarah.
    Sie hatte am Abend erst einmal vermieden Ben wegen Lucky zu beunruhigen und hatte sich lieber von ihm angehört, welche Fortschritte er gemacht hatte, aber jetzt war es Ben selber aufgefallen, dass Sarah so extrem ruhig und ernst war. „Sarah-ist irgendwas? Ist Tim krank und die willst es mir nicht sagen, oder habt ihr etwas Unerfreuliches von Semir gehört?“ verlangte er zu wissen und nach kurzem Zögern erzählte Sarah ihm von Lucky und wie ernst es um den stand. Ben kamen nun beinahe die Tränen und er war eigentlich völlig von den Socken als Sarah ihm auch gleich wie selbstverständlich mitteilte: „Ben-wenn Lucky das schafft, dann steht es außer Frage, dass wir ihn zu uns nehmen-ich habe ihn nach diesem Tag heute schon in mein Herz geschlossen und habe auch aus unerfindlichen Gründen keine Angst mehr deswegen, aber ich glaube der ist im Augenblick kränker als du!“ und so schliefen sie beide zwar wenig später vor Erschöpfung ein, aber Ben träumte wieder und wieder von seinem grauen Schatten, der ihn die letzten Wochen im Tierheim begleitet hatte.


    Bruckner und Dermold hatten es sich in dem Flieger gut gehen lassen. Sie genossen das wohlschmeckende Essen, konsumierten auch das eine oder andere Weinchen und nahmen auch kaum Notiz von den neuen Passagieren die in Moskau bei der Zwischenlandung zugestiegen waren. Nach einem zweistündigen Aufenthalt dort erhob sich der Flieger wieder, um sich auf den neunstündigen Langstreckenflug nach Thailand ab sofort ohne Zwischenlandung zu machen. „Bald sind wir im Land unserer Träume!“ freute sich Bruckner und Dermold, der so verändert aussah mit seiner Maske, dass er sich selber kaum wiedererkannte, feixte: „Morgen Abend liege ich schon mit einem hübschen Thaimädchen im Bett-und ich werde sie nicht fragen wie alt sie ist, oder ob ihr das Spaß macht, was ich mit ihr anstellen werde!“ schwelgte er in Vorfreude und musste dann an etwas anderes denken, denn sonst wurde ihm seine Hose zu eng. Wenig später schliefen sie ein, während der Passagierflieger durch die Nacht flog. Wenn sie genau aufgepasst hätten, wäre ihnen aufgefallen, dass die fünf zugestiegenen Männer sich immer wieder aufgeregte Blicke zuwarfen und gespannt auf die Uhr sahen.

  • Nacheinander gingen die Männer mit ihrem Handgepäck zur Toilette und als der Letzte zurück kam hatten sie aus den mit einem röntgenstrahlenschluckenden Speziallack versehenen Einzelteilen zwei funktionstüchtige Waffen zusammen gebaut und ohne dass die Passagiere das momentan mitbekamen, zunächst einen Flugbegleiter überwältigt und sich danach Zutritt zum Cockpit verschafft. Mit der Waffe am Kopf wurde der Pilot gezwungen umzudrehen und der nächstgelegene Tower bekam von den ukrainischen Aktivisten ein Pamphlet vorgelesen, das die Welt in Aufregung versetzte. Während Semir in seinem Motel friedlich dem Morgen entgegen schlummerte, hielt der gekaperte Flieger Kurs auf den Kreml und in einer Eilsitzung beriet die russische Regierung unter Putin´s Führung, was zu tun sei.


    Als Sarah und Ben am Morgen erwachten, hatten sie beide erst ein paar Sekunden zu tun, sich zu orientieren, aber dann waren sie beide sehr erleichtert, dass sie sich in einem ruhigen Zimmer auf der Normalstation befanden. Ben´s Schmerzen waren in Ruhe durchaus auszuhalten, denn weil sowohl die Leber-als auch die Nierenwerte sich erholt hatten, das CK beeindruckend gefallen war und sich auch sonst so langsam alles wieder begann zu normalisieren, hatte man es gewagt ihm Metamizol in die Infusion zu geben und ihn so mobiler zu machen, weil dadurch die Schmerzen gedämpft wurden. Sarah hatte aus dem Schrank Ben´s Tasche geholt und nach kurzer Überlegung hatte sie ihn zum Waschen in einen Toilettenstuhl gesetzt und ins Bad gefahren. Er hatte seine Zähne und sein Gesicht schon selber gereinigt und beim Rest hatte sie ihm geholfen. Ein weites T-Shirt und eine kurze Sporthose, durch deren weiten Halsausschnitt und Hosenbeine man die verschiedenen Katheter pfriemeln konnte brachten ihn schon ein Stück der Normalität näher und als dann später ein völlig normales Frühstück für sie beide gebracht wurde, saß Ben bereits in einem Rollstuhl am Tisch auf einem Sitzring, damit die Wunden am Gesäß entlastet wurden, aber er packte das gut und biss genüsslich in das Brötchen, das Sarah ihm noch vorbereitet hatte, aber essen konnte er schon alleine.
    Kaum waren sie fertig mit Frühstück kam die ärztliche Visite und der Chirurg besah sich Ben´s Wunden, die aber gut am Abheilen waren. Klar war das noch ein kurzer heftiger Schmerz, als man die beiden Tamponaden wechselte, aber am Rest der Wunden musste man außer einem frischen, trockenen Verband nichts mehr machen, sogar die Gipsschiene am Arm ließ man weg-durch die Operation war ja der Bruch von innen stabilisiert und jetzt hieß es Krankengymnastik und nochmals Krankengymnastik, um wieder mobil zu werden. „Der Dialysekatheter kann raus und wenn sich bis morgen der Zustand weiter stabil hält, ziehen wir auch den zentralen Venenkatheter-so wie ich gehört habe, klappt das ja schon mit dem Essen!“ freute sich der Arzt mit seinem Patienten und als nun Ben noch fragte, ob er denn den blöden Blasenkatheter noch unbedingt brauchte, erlaubte der behandelnde Arzt auch dessen Entfernung. Kaum war die Visite weitergegangen, fragte Ben seine Frau: „Und traust du dich das blöde Ding da unten jetzt rauszuziehen, oder hast du immer noch Angst, was kaputt zu machen?“ worauf sie ihm einen bösen Blick zuwarf. „Mit dem Rausziehen habe ich keine Probleme-ich lege nur einem Angehörigen keinen Katheter, Punkt!“ giftete sie fast ein wenig, aber Ben besänftigte sie sofort. „Schatz, das war nicht so gemeint, ich will den bloß so bald wie möglich loshaben, das musst du doch verstehen!“ und so war er wenig später den ersten Schlauch schon mal los. Den Shaldonkatheter entfernte nun der Arzt, ebenfalls ohne Komplikationen und anstatt der Wicklung des Beins bekam Ben jetzt Antithrombosestrümpfe, was wesentlich angenehmer war als die Kompressionsbinden. „Wenn sich der Zustand weiter verbessert, können wir bald mit der Antikoagulationsbehandlung beginnen!“ kündigte der Doktor noch an, während er eine ganze Weile kräftig auf die Einstichstelle des Dialysekatheters drückte und Ben nickte. Den arteriellen Zugang hatte man noch vor der nächtlichen Verlegung gezogen und so wurden die Schläuche von Stunde zu Stunde weniger.


    Die Normalität rückte in greifbare Nähe, aber jetzt hatte er ein großes Anliegen an seine Frau: „Sarah-ich bin ja in keinster Weise ansteckend oder so, könntest du heute Tim herbringen, ich habe solche Sehnsucht nach ihm?“ bat er und dann äußerte er seine zweite Bitte: „Denkst du, du könntest mich dann mit dem Rollstuhl nach draußen fahren und Lucky ebenfalls mitbringen-ich möchte ihn zumindest noch einmal sehen, bevor er….!“ und nun schluckte er, die Tränen stiegen in seine Augen und er konnte einfach den Satz nicht zu Ende führen. Sarah nickte-genau dasselbe hatte sie auch schon vorgehabt und so verabschiedete sie sich mit einem Küsschen von Ben, der sich nun ein wenig ausruhte und darauf wartete in Kürze seinen Lebensretter wieder zu sehen, bevor der über die Regenbogenbrücke ging.

  • Sarah fuhr nun zu Hildegard, erzählte ihr, dass es Ben besser ging und der dringend Tim und Lucky sehen wollte. Lucky lag zusammengekringelt in dem Korb auf dem Flur und hatte zur Begrüßung nur kurz den Kopf gehoben und zweimal mit dem Schwanz geschlagen, sich aber sonst nicht bewegt. Tim machte gerade sein Vormittagsnickerchen und so setzte Sarah sich erst einmal mit Hildegard an den Küchentisch. „Lucky hat wieder nichts gefressen-ich konnte ihn zwar überreden für sein kleines Geschäft in den Garten zu gehen, aber als ich danach mit Tim im Buggy und Frederik in den Park bin, hat er sich weggedreht und wollte nicht mitgehen, ich glaube er ist auch zu schwach zum Gassi gehen!“ berichtete Frau Brauner unglücklich. Irgendwie hatte sie sich das anders vorgestellt. Im Moment bezweifelte sie, dass es eine so gute Idee gewesen war, den Hund aus der Klinik zu holen. Dort hätte man ihn zumindest zwangsernähren können-obwohl das dauerhaft eben auch keine Lösung war. „Als Tim gefrühstückt hat, hat er wieder seine Hände abgeleckt, aber als ich so versucht habe ihm dieses hochkalorische Spezialfutter unter zu mogeln, hat auch das nicht funktioniert-dazu ist er zu schlau!“ erzählte sie noch und Sarah nickte. Verdammter Mist-jetzt könnte alles so schön sein, aber Ben würde sich vermutlich nur noch von seinem Lebensretter verabschieden können-ob der morgen noch würde laufen können, stand in den Sternen!


    Als Tim dann erwachte, wurde er gewickelt, bekam ein Babygläschen und danach fuhren sie mit zwei Autos-Sarah mit Tim im Kindersitz und Hildegard mit Lucky in der Hundebox, in die sie ihn schon hineinheben mussten, so schwach war er-zur Uniklinik. Sarah bekam ziemlich weit hinten einen Parkplatz und sie bat Hildegard ein wenig abseits im Schatten zu warten. Sie würde jetzt erst mit Tim raufgehen, dann Ben in einen Rollstuhl packen und mit den beiden gemeinsam herunterkommen. Hildegard sollte dann ganz nach vorne fahren, wo eine Ein-und Aussteigebucht war und dort würde man Ben und Lucky zusammenführen. Wenn er dann nicht aussteigen wollte, konnte Ben ihn wenigstens in der Transportbox streicheln und Hildegard hatte vorsichtshalber das Spezialfutter und einen Hundenapf mitgenommen, auch wenn sie es nicht zu hoffen wagte, dass er dann fressen würde. Einen Hundetrinkbehälter mit Wasserreservoir hatte sie sowieso immer im Auto-Frederik, der sich zuhause im Garten die Sonne auf den Bauch scheinen ließ-brauchte immer mal zwischendurch was zu trinken, wenn sie unterwegs waren, da war man als Hundehalter schon darauf eingerichtet.
    Nun ging Sarah mit Tim auf dem Arm, der interessiert die Menschen im Krankenhaus betrachtete, nach oben, traf unterwegs auch noch ein paar Kollegen und Ärzte, die den süßen Tim begrüßten und bewunderten und stand schließlich bei ihrem Mann im Zimmer. Ben, der sich wunderbar ausgeruht hatte und momentan auch kaum Schmerzen hatte, erhob sich und ihm kamen fast die Tränen als Tim die Ärmchen nach ihm ausstreckte, sich in seine Arme fallen ließ und sich ganz eng an den Papa herankuschelte. Ben bedeckte den Nacken seines Sohnes mit kleinen Küsschen und sagte nur immer wieder: „Ach Tim, bin ich froh, dass ich dich wieder in den Armen halten kann!“ und auch Sarah stand die Erleichterung darüber ins Gesicht geschrieben. Nun wollte Tim allerdings erst mal das Bett erkunden und während Sarah den Rollstuhl mit dem Sitzring näherfuhr und vom Stationszimmer noch ein paar sterile Verschlussstopfen für den ZVK holte, hatte Ben alle Hände voll zu tun, seinen kleinen Wirbelwind vor dem Absturz zu bewahren. Das war gerade eine Aufgabe den wieselflinken kleinen Krabbler zu bewachen. Als Sarah zurückkam trank Tim gerade aus der Schnabeltasse und als sie jetzt Ben die Schuhe anzog und ihm half, sich in den Rollstuhl umzusetzen, denn in den Beinen hatte er noch nicht die Kraft zu stehen, setzte sie ihn kurz auf den Boden und wie der Blitz war er schon in die Nasszelle gekrabbelt und begann dort den Mülleimer auszuleeren. „So eingeschränkt wie ich gerade bin, hätte unser Sohn echt leichtes Spiel mit mir-der würde die Wohnung auf den Kopf stellen, ohne dass ich dem was entgegenzusetzen hätte!“ bemerkte Ben und Sarah, die inzwischen den Mülleimer wieder eingeräumt und Tim unter lautem Protest die Hände gewaschen hatte, konnte ihm nur zustimmen.


    „Und-hast du Lucky dabei?“ fragte Ben hoffnungsvoll und auch ein wenig ängstlich, was ihn wohl erwarten würde. „Ja er ist bei Hildegard im Wagen-wir sind vorsichtshalber mit zwei Autos gefahren, dann sind wir unabhängiger!“ erklärte Sarah und Ben nickte. So nahm er nun seinen Sohn auf den Schoß, hielt ihn gut fest, damit der sich nicht vom Acker machte und Sarah schob den Rollstuhl zum Aufzug. Als sie dort drinnen dicht gedrängt standen, dachte sich Ben, dass es durchaus mal interessant war, aus welcher Perspektive ein Kind im Kinderwagen die Umwelt wahrnahm-Ben empfand es so eng als extrem unangenehm-sein Kopf war auf Bauchnabelhöhe der Mitfahrer und alles wirkte auf ihn ziemlich bedrohlich. Tim hingegen strahlte die fremden Menschen einfach an und wenig später überzog alle Gesichter der Menschen im Fahrstuhl ein Lächeln-wie dieser kleine Sonnenschein doch die Welt positiv beeinflusste!


    Wenig später rollten sie durch die Eingangshalle und Sarah zückte das Handy um Hildegard herbeizurufen, die Sekunden später mit ihrem Caddy in eine der Buchten einbog. Ben schlug das Herz bis zum Hals und Sarah übernahm nun Tim, machte die Bremse des Rollstuhls fest und Hildegard lief um das Auto herum und öffnete Ladeklappe und Transportbox. Lucky hatte sich dort teilnahmslos zusammengerollt-sein Leben verlöschte langsam, aber er nahm es hin, als er plötzlich einen vertrauten Geruch wahrnahm und die Stimme hörte, nach der er sich vor Sehnsucht verzehrte. Lucky hob den Kopf, spitzte die Ohren und dann sah er Herrchen! Mit einem Laut, der fast klang wie ein Schrei, sprang Lucky aus der Transportbox, knickte wohl vor Schwäche einen Moment ein, aber noch bevor man ihm eine Leine anlegen konnte stand er vor Ben und leckte dem unter begeistertem Winseln die Tränen vom Gesicht, die ihm einfach aus den Augen schossen, ohne dass er etwas dagegen machen konnte. Ben breitete die Arme aus und der riesige, abgemagerte schmale Hund schmiegte sich an ihn und alle Umstehenden blieben stehen und sahen sich dieses Schauspiel an. Lucky gab Laute von sich, die ein Mix aus Freude, Begeisterung und Rührung waren. Es war kein Winseln, kein Bellen, sondern eher ein Gesang und auch Sarah musste jetzt ein wenig weinen-wie hatte sie nur diesen Hund, der einfach zu Ben gehörte, zunächst ablehnen können! Hildegard hatte jetzt resolut das Futter in den Napf gegeben und als der erste Begrüßungstaumel vorbei war, stellte sie den einfach neben den Rollstuhl auf den Boden und Lucky stürzte sich wie ein halb Verhungerter darauf und leerte ihn komplett. Danach soff er noch Wasser und als Ben jetzt Sarah noch in die Cafeteria schickte, um Nachschub zu holen, verputzte er danach noch zwei Wurstbrötchen mitsamt Salatblatt. „Ich denke es steht außer Frage-Lucky wird leben!“ stellte nun Hildegard fest und Sarah sagte überzeugt: „Ja-die Familie Jäger hat ab sofort einen Hund!“


    Hildegard parkte schnell noch das Auto um-gerade wurde in der ersten Reihe nämlich ein Parkplatz frei- und danach schob Sarah den Rollstuhl noch zu dem kleinen Park mit den Wasserspielen vor der Uniklinik. Man hatte Lucky zwar seine Leine angelegt, aber es wäre nicht nötig gewesen-er lief mit federnden Schritten und stolz neben dem Rollstuhl her. An der kleinen Wiese begann er zu schnüffeln und erledigte auch gleich sein Geschäft, das sofort von Hildegard mit einer speziellen Tüte entsorgt wurde. „Da müsst ihr euch daran gewöhnen-diese Tüten muss man als Hundehalter immer bei sich haben!“ erklärte sie und Ben und Sarah nickten. „Ich glaube, ich werde heute Nachmittag mal einen Großeinkauf im Zoogeschäft machen!“ stellte Sarah fest und Ben stimmte glücklich zu. Lucky sah ihn immer wieder mit einem Blick anbetender Verehrung an, wie nur Hunde schauen können. Auch Tim lachte jedes Mal laut, wenn der graue Riese zu ihm kam und ihn liebevoll anstupste. Allerdings konnte Ben nun beinahe nicht mehr sitzen, sein Gesäß brannte wie Feuer und er musste sich jetzt einfach dringend wieder hinlegen. So gingen sie zurück zum Wagen und Ben schloss Lucky zum Abschied nochmals liebevoll in die Arme. „Bald ist Herrchen zu Hause mein Guter-dann machen wir wundervolle Spaziergänge!“ versprach er ihm und vergrub noch einmal seinen Kopf in dem grauen Fell. Widerstrebend stieg Lucky ein, aber er war brav und als der Caddy dann vom Parkplatz fuhr, schaute der graue Riese sehnsüchtig aus dem Fenster und Ben wäre am liebsten gleich mitgefahren.


    So allerdings kehrten sie zum Zimmer zurück, wo inzwischen gerade das Mittagessen ausgeteilt worden war. Sarah hatte ja eine Begleitperson gebucht und so hatte sie ebenfalls ihr Tablett dort stehen. Allerdings musste Ben sich nun wirklich erst hinlegen und nachdem Sarah den Mülleimer hochgestellt hatte ließ sie Tim wieder krabbeln und brachte Ben erst einmal ins Bett und schloss die Infusion mit dem Schmerzmittel darin an. Dann richtete sie ihm soweit alles her und er nahm sein Mittagessen heute einmal auf der Seite liegend ein, aber auch das funktionierte. „Hey wie bei den alten Römern-die sind auch zu Tische gelegen!“ erinnerte sich Ben. Tim futterte auch von den Tabletts beider Eltern, woraufhin Ben bemerkte: „Ganz der Papa!“ und Sarah ihm einfach zustimmen musste. Nach dem Essen machte Ben seinen Mittagsschlaf und auch Sarah und Tim legten sich gemeinsam ins zweite Bett und taten dasselbe-gut dass es da Bettgitter gab! Nach einem erholsamen Schlaf klopfte es an der Tür und nun gaben sich die Besucher die Klinke in die Hand-es hatte sich nach einem Anruf der Chefin nämlich herumgesprochen, dass Ben nicht mehr auf Intensiv lag und Besuche empfangen konnte. Sarah wickelte Tim noch und machte sich dann auf den Weg ins Zoofachgeschäft, während Ben sich angeregt mit Hartmut und Jenni unterhielt, die den Besuchsreigen eröffnet hatten.

  • Nacheinander trudelten eine Menge Besucher ein und gaben sich die Klinke in die Hand und als dann noch der Physiotherapeut kam und Übungen mit Ben machte und seine durch die Abbaustoffe immer noch verkrampften Muskeln massierte und lockerte, merkte Ben selber, dass er langsam begann gesund zu werden und eine große Dankbarkeit erfüllte ihn. Und wenn er nach Hause kam, würde er einen Hund haben-etwas, was er sich schon als kleiner Junge gewünscht hatte!


    Sarah verfiel derweil in dem großen Zoofachgeschäft beinahe einem Kaufrausch und der Verkäufer der sie sachkundig beriet, baute danach auch gleich noch die Hundebox hinten im Wagen ein. Gott sei Dank war ihre Familienkutsche groß genug, dass trotzdem dort noch der Kinderwagen, das neue Hundebett und auch Einkäufe Platz hatten. Tim hatte mit großen Augen die Fische hinter den Glasscheiben gemustert und beim Anblick der Häschen und Meerschweinchen hatte er entzückt gejuchzt und die Arme ausgebreitet. „Nein Tim-für sowas bist du noch zu klein-vielleicht später einmal!“ sagte sie und Tim hätte beinahe enttäuscht zu weinen begonnen, als er weiter getragen wurde, aber dann zeigte ihm Sarah die Wellensittiche und die Kanarienvögel und gleich war der Kummer vergessen. Sarah brachte die Sachen auch sofort nach Hause und ein hilfsbereiter Nachbar half ihr, die von der Tiefgarage in ihre Wohnung zu bringen. „Na was kriegen sie denn für einen Hund?“ wollte er dann freundlich wissen, denn auch er hatte einen und zwar einen winzigen Prager Rattler, ein Weibchen das quirlig und unerzogen war und auch des Öfteren kläffte, was Sarah und Ben aber noch nie gestört hatte. „Einen Deerhound!“ erklärte Sarah und nun zog der Nachbar die Stirne kraus. Er hatte ehrlich gesagt keine Ahnung wie diese Rasse aussah, die würde er nachher mal googeln.
    Sarah bedankte sich für seine Hilfe und nachdem es jetzt dem Abend zuging, badete sie Tim noch und machte sich mit ihm im Schlafanzug dann auf den Weg zu Hildegard. Dort tollten die beiden Hunde gerade im Garten und Frau Brauner saß im Liegestuhl daneben und hatte ein glückliches Lächeln im Gesicht. „Seit er Ben gesehen hat ist Lucky wie ausgewechselt! Er war vorhin nochmals mit im Park Gassi und da hat er übrigens hervorragend gefolgt-ich habe ihn nämlich von der Leine gelassen, obwohl ich das eigentlich nicht vorhatte. Aber da lief ein anderer Hund frei rum, den ich nicht kannte und hat verschiedene Hunde provoziert, aber Lucky war da überaus souverän und hat dasselbe gemacht wie Frederik-den keines Blickes gewürdigt-das ist echt ein toller Hund!“ schwärmte Hildegard und Sarah streichelte nun den grauen Riesen, der sich hechelnd zu ihren Füßen niederließ. Auch sie erzählte von ihrem Großeinkauf und Hildegard lachte: „Oh ja-das ist gefährlich-ich bringe auch immer ne Menge Sachen heim, die man vielleicht nicht unbedingt bräuchte, wenn ich in den Zoofachhandel gehe!“ erklärte sie und als Sarah nun die beiden Kauknochen hervorholte, die sie für Lucky und Frederik mitgebracht hatte, waren die beiden Hunde bald mit glücklichem Kauen und Nagen beschäftigt, während Sarah Tim nun noch sein Abendfläschchen gab und ihn dann ins Bett legte.„Hildegard-nachdem es Ben so viel besser geht, denke ich, das wird die letzte Nacht sein, die Tim bei dir schläft-ich hoffe für uns alle, dass bald wieder ein wenig Normalität in unser Leben einkehrt!“ teilte sie dann der älteren Frau mit, die sie schon sehr ins Herz geschlossen hatte.
    Nun zog unbewusst ein Schatten über Hildegard´s Gesicht. „Ich wünsche euch natürlich, dass Ben bald wieder gesund und der Alte ist, aber ich muss gestehen-ich werde Tim sehr vermissen!“ gestand sie nun und nun legte Sarah ihr die Hand auf den Arm. „Hildegard-ich wollte dich schon die ganze Zeit etwas fragen, aber es gab jetzt erst einmal wichtigere Dinge. Könntest du dir vorstellen, Tim und Lucky immer mal wieder tageweise zu betreuen-meine ehemalige Chefin in der Arbeit hat mich nämlich angesprochen, ob ich nicht ein paar Stunden die Woche arbeiten möchte. Bei uns sieht das so aus, dass man da immer volle Schichten arbeitet, dafür aber dann nur wenige Tage im Monat. Eigentlich wollte ich die ersten drei Jahre komplett bei Tim zuhause bleiben und eine Krippe kommt für mich nicht in Frage. Wenn du dich allerdings bereit erklären würdest, die beiden an diesen Tagen zu nehmen, könnte ich mich mal mit Ben drüber unterhalten, aber er hat glaube ich schon gemerkt, dass das Krankenhaus eben meine Welt ist und ich so ganz ohne nicht zufrieden bin!“ versuchte sie zu erklären und nun lächelte Hildegard glücklich. „Sarah ich würde das sehr gerne machen, diese beiden Goldstücke weiter zu betreuen-sprich mit Ben darüber und dann sehen wir weiter-ich muss sagen, ich kann es mir ohne den kleinen Sonnenschein Tim schon gar nicht mehr vorstellen und Frederik findet seinen neuen Kumpel auch sehr nett-also von meiner Seite aus ginge das in Ordnung!“ sagte sie und als Sarah nun aufstand, musste sie die ältere Frau einfach mal kurz in den Arm nehmen und fest drücken. Manche Dinge im Leben waren einfach ein Geschenk und Hildegard zählte da ohne Zweifel dazu!


    Das gekaperte Flugzeug nahm nun Kurs auf den Kreml und die ukrainischen Aktivisten hatten ihre Forderungen verkündet. „Wir verlangen, dass sofort unsere inhaftierten Freunde und politischen Führer frei gelassen werden, sonst wird die Weltöffentlichkeit erleben, wie der altehrwürdige Kreml in Schutt und Asche gelegt wird und viele unschuldige Menschen sterben!“ hatten sie verkündet und so langsam begann sich in der Maschine selber nun Unruhe breit zu machen, denn das Flugzeug flog in die verkehrte Richtung und die Flugbegleiter sahen alle irgendwie ängstlich und gehetzt aus. Bruckner schüttelte Dermold, der in der Ersten Klasse neben ihm eingeschlafen war. „Lutz-irgendetwas stimmt hier nicht-ich weiss nur noch nicht was!“ flüsterte er und wich dann dem Blick eines Mannes aus, der von vorne gekommen war und nun durchs Flugzeug marschierte und unverfroren die Passagiere mit dem Handy filmte. Er würde das Video dann sofort an seine Verbündeten auf dem Boden senden, die sollten politischen Druck machen-ihnen konnte eigentlich nichts passieren-Putin konnte nicht diese ganzen unschuldigen Männer, Frauen und Kinder opfern, die sie ganz zufällig ausgesucht hatten. Bald würden die Inhaftierten frei sein!

  • In der Eilsitzung im Kreml wurden die Forderungen der Entführer verlesen und Putin sagte daraufhin mit harter Stimme: „Der russische Staat lässt sich nicht erpressen und sowas wie den Amis mit ihren Twin Towers und beinahe dem Weißen Haus passiert uns nicht-wir wissen uns zu schützen!“ und die Delegierten, die es nie wagen würden, gegen ihren Präsidenten zu stimmen, nickten zustimmend. So startete vom nächstgelegenen Militärflughafen eine Flotte MiG 29, eines der wendigsten Kampfflugzeuge der Welt, um sich dem entführten Flugzeug zu nähern, das mit hoher Geschwindigkeit Richtung Moskau flog. „Errechnete Ankunftszeit in einer Stunde 45 Minuten!“ gab der Luftfahrtexperte, den man dazu geholt hatte, bekannt und damit war der Zeitpunkt gemeint, wann das Flugzeug bei unverminderter Geschwindigkeit auf den Kreml aufschlagen würde. „Wenn die Terroristen in einer Stunde 30 Minuten nicht vernünftig werden, holen wir sie runter!“ erteilte der Präsident mit fester Stimme den Abschussbefehl. „Bevor es mehr Tote gibt, als nur die Flugzeuginsassen!“ denn dann wäre der Flieger noch außerhalb Moskaus und seinem dicht besiedelten Umland.


    Im Flugzeug hatte inzwischen einer der ukrainischen Entführer zum Mikrophon gegriffen und zuerst auf Russisch und dann auf Englisch den Flugzeuginsassen mitgeteilt, dass sie Entführungsopfer wären und ihr Leben in den Händen der russischen Regierung läge. „Wir möchten nur unsere unschuldig inhaftierten Mitstreiter frei haben und wenn das zugesichert ist, dreht der Flieger wieder bei und bringt sie in ihren wohlverdienten Urlaub.“ versicherte er und während Frauen und Kinder nun zu weinen begannen, drehte sich Bruckner leichenblass zu Dermold: „Das werden die Russen nie tun!“ vermutete er und als sie eine Weile später das Brummen mehrere leistungsstarker Motoren hörten und durch die Bullaugen das Näherkommen der russischen Kampfjets beobachten konnten, lehnte er sich mit einem Aufstöhnen zurück. „Verdammt-das wird schiefgehen!“ murmelte er und der Angstschweiß begann ihm auszubrechen. Trotzdem verhielten sie beide sich unauffällig, während die restlichen Passagiere überwiegend panisch zu weinen und zu betteln begannen, wiederum gefilmt von den vermummten Aktivisten, einer mit Kamera und einer mit Waffe im Anschlag, die die Videos sofort an ihre Verbündeten am Boden sandten. In vielen Nachrichtensendern, mit denen sich die Aktivisten in Verbindung setzten, wurde das Programm zu einer Liveschaltung unterbrochen und die Weltöffentlichkeit nahm Anteil am Schicksal der entführten Passagiere, während der Sprecher der Regierung in Moskau seinerseits Statements verlas, dass der russische Staat an einer friedlichen Beilegung des Konflikts interessiert sei, sich aber verständlicherweise nicht erpressen ließe.


    Auch in der PASt, wo man natürlich die Flugnummer die Semir durchgegeben hatte, verfolgte, schlug die Nachricht ein wie eine Bombe und so läutete wenig später Semir´s Telefon, der sich in seinem Motel im ersten Tiefschlaf befand. Stöhnend erwachte er und wusste erst überhaupt nicht, wo er war und was geschehen war. Als allerdings die Nachtschicht, die die Telefonzentrale von Susanne übernommen hatte, ihm die neuesten Informationen durchgab, schaltete er sofort n-tv ein und musterte fassungslos die Bilder, die über den Bildschirm flackerten.


    Sarah hatte sich inzwischen im fernen Köln wieder zu ihrem Mann begeben und voller Dankbarkeit festgestellt, dass es ihm weiterhin besser ging und ihm der Ausflug mit dem Rollstuhl auch nicht geschadet hatte. Im Gegenteil-er war von neuem Mut erfüllt, hörte sich interessiert an, was Sarah so alles eingekauft hatte und sagte nur sehnsüchtig: „Ich möchte jetzt so bald wie möglich nach Hause-zu euch und zu Lucky!“ und Sarah küsste ihn daraufhin zärtlich. „Das wird nicht mehr lange dauern, wenn du so weiter machst!“ sagte sie glücklich und weil sie gerade schon dabei war, unterbreitete sie ihm auch gleich noch ihre Absicht, wieder ein wenig arbeiten zu gehen. „Wenn Hildegard das mit der Kinderbetreuung machen kann und will, finde ich das sogar gut-ich habe doch gesehen, wie sehr du diese Welt hier vermisst, während ich da dankend darauf verzichten könnte!“ sagte er verständnisvoll, denn auch ihm fehlte ja sein Beruf immer nach kurzer Zeit. „Dann wäre ja alles geklärt!“ sagte Sarah zufrieden und nach der Abendtoilette legten sie sich in ihre Betten und schliefen tief und erholsam, was beide auch dringend brauchten.

  • Immer wieder kamen in dem Nachrichtensender die Bilder aus der gekaperten Maschine. Die Weltöffentlichkeit sah die Angst der Passagiere und auch Semir´s Herz zog sich vor Mitleid und Kummer zusammen. Der Nachrichtensprecher verlas das Statement der russischen Regierung dazu, die zwar beteuerte, sich in Verhandlungen mit den Entführern zu befinden, aber auch nicht gewillt sei, sich erpressen zu lassen. So umschrieb der Sprecher sozusagen das Todesurteil für diese armen Menschen. Wenn Semir sich vorstellte, dass da gerade seine Familie oder seine Freunde drinsitzen könnten, die auf dem Weg zu einem erholsamen Thailandurlaub wären und dann geschah so etwas-er durfte gar nicht daran denken! Als die Kamera dann durch die erste Klasse schwenkte, erkannte er die beiden Männer, die in dem Wagen auf dem Rücksitz gesessen hatten. Sie hatten zwar kaum Ähnlichkeit mit dem Bruckner und dem Dermold die er kannte, aber wenn er sich nun die Gesichtspolster wegdachte, das Fatsuit vor seinem inneren Auge auszog und die Brillen, Perücken und falschen Bärte im Geiste abnahm, dann war es möglich-nein sogar wahrscheinlich, dass sie es waren. Sicher konnte Hartmut anhand des Bildmaterials und eines Computerprogramms die Identifizierung eindeutig vornehmen, aber was half das den unschuldigen Touristen in der Maschine? Das einzige was Semir auch auffiel war, dass die beiden relativ ruhig wirkten, im Gegensatz zu den meisten anderen Passagieren, die in Angst und Panik verharrten und sich gegenseitig damit noch ansteckten.


    Die beiden Aktivisten im Cockpit, die den Copiloten kurzerhand gefesselt hatten und den Piloten mit der Waffe am Kopf zwangen den Kurs Richtung Moskau zu fliegen, obwohl dem der Schweiß ausgebrochen war, waren erschrocken, als plötzlich das Geschwader MiGs auftauchte. Der Kommandeur schaltete sich kurzerhand direkt in den Funkverkehr ein und sagte in hartem Russisch: „Wenn ihr nicht auf dem nächsten Flughafen landet, werden wir euch abschießen-unser Staat lässt sich nicht erpressen!“ Die Fluglotsen auf der Strecke, die der Pilot zurückflog, hatten ihm eine eigene Flughöhe eingeräumt, denn es bestand sonst immer die Möglichkeit einer Kollision mit einer anderen Maschine, denn die Luftkorridore waren auch nachts viel benutzt. Der Anführer der Aktivisten verlangte Putin selber zu sprechen, aber das wurde ihm versagt. „Unser Präsident ist an einer friedlichen Lösung des Konflikts interessiert, aber er wird nicht zögern sein Volk und seinen Regierungssitz zu schützen. Wir werden sie also alle töten, wenn sie nicht vernünftig werden!“ schnarrte die Stimme des Militärpiloten, nach Weisung aus dem Kreml.
    Dem Anführer der Aktivisten war nun ebenfalls der Schweiß ausgebrochen. Er wollte eigentlich nicht sterben und seine Mitstreiter ebenfalls nicht. Sie waren ja keine islamistischen Selbstmordattentäter, sondern sie hatten das als todsichere Methode gesehen, ihre Waffenbrüder frei zu pressen, denn sie waren bisher fest überzeugt gewesen, dass Putin nicht ein Zivilflugzeug vor den Augen der Öffentlichkeit abschießen würde. Gerade durch die Videokonferenzen und die direkte Bildübermittlung aus dem Passagierraum hatten sie gedacht, dass der Druck auf die Regierung so stark sein würde, dass die nachgaben, aber je näher sie Moskau kamen, desto unsicherer wurden sie. Was würde es ihnen und vor allem ihren inhaftierten Waffenbrüdern nutzen, wenn sie auf dem Boden in einem Feuerball zerschellten? Der Anführer rief seine Mitstreiter nun zurück ins Cockpit und während sie immer wieder furchtsame Blicke zum Fenster hinauswarfen, wo man die Umrisse der MiGs, die wie bedrohliche Wespen die Maschine eskortierten, erkennen konnte, beratschlagten sie, was sie tun sollten. Langsam wurde ihnen klar, dass ihr Plan nicht aufgehen würde. Es blieb ihnen jetzt nichts weiter übrig, als zu versuchen, mit dem Leben davonzukommen. „Wir drehen um und landen in Kiew, dann sind wir in der Heimat und können schnellstmöglich verschwinden!“ beschlossen sie nun und der Anführer teilte das dem Militärkommandanten mit. Inzwischen hatten sie sich Moskau auf 30 Minuten Flugzeit genähert und gerade wollte der Ukrainer den Piloten anweisen umzudrehen, da kam die Stimme des Militärkommandanten aus dem Lautsprecher. „Sie werden die Flugroute nicht nochmals ändern, sondern auf dem Moskauer Zivilflughafen landen und sich ergeben-sonst führe ich den Abschussbefehl in Kürze aus!“ teilte er unmissverständlich nach Rücksprache mit dem Präsidenten mit.


    „Die machen Ernst!“ flüsterte der eine Aktivist, dem die Sache jetzt über den Kopf wuchs. Sie waren bei ihren theoretischen Überlegungen so sicher gewesen, dass es ein Leichtes sein würde, ihre Waffenbrüder ohne Blutvergießen frei zu pressen, aber nun schlug ihr Plan fehl. „Wir werden in Moskau landen und verlangen dann freies Geleit, sonst werden dennoch einige Geiseln sterben!“ versuchte jetzt der Aktivist einen letzten Trumpf auszuspielen, aber aus dem Funk kam keine Antwort. So nahm wenig später der Flieger, eskortiert von den MiGs, Kurs auf den Moskauer Flughafen, wo schon eine Landebahn für ihn freigegeben wurde. Feuerwehr und Militärpolizisten nahmen am Flugfeld Aufstellung und die Aktivisten holten sich nun zwei Geiseln aus dem Passagierraum. Weinende hysterisch schluchzende Frauen und Kinder wären ein zu großes Risiko, deshalb entschieden sie sich für die beiden dicklichen Passagiere aus der ersten Klasse, die relativ ruhig wirkten-das waren sicher Geschäftsleute-die würden die russischen Militärpolizisten schon nicht in Gefahr bringen! Wenig später setzte der Flieger auf und schon standen einige Fernsehteams bereit, denn auch in Russland herrschte inzwischen relative Pressefreiheit.
    Die Weltöffentlichkeit die gebannt auf die Bilder zunächst aus dem Flugzeug und dann vom Flughafen sah, beobachtete wie die Gangway herangefahren wurde und dann kamen als Erste Dermold und Bruckner, die Semir nun zweifelsfrei identifizieren konnte, mit erhobenen Händen, die Waffen am Kopf, heraus. Bevor die Aktivisten sich nun allerdings sammeln und formieren konnten, brach am Moskauer Flughafen ein Inferno los und wenig später lagen die fünf Entführer und auch die beiden Geiseln leblos auf dem Flugfeld. Die Öffentlichkeit schrie auf, aber Semir, dessen Bisswunde am Arm jetzt vermehrt schmerzte, schaltete nachdenklich den Fernseher aus. Sollte es doch noch eine höhere Gerechtigkeit geben?

  • Semir machte sich am Morgen nach wenigen Stunden Schlaf auf nach Hause. Er hatte kaum Appetit und trank nur zwei Tassen Kaffee bevor er aufbrach. Die letzten fünf Stunden Autobahn zogen sich und obwohl er sein Antibiotikum brav genommen hatte, tat sein verletzter Arm unheimlich weh. Irgendwann begann der nun auch noch zu jucken, dass er am liebsten angehalten hätte, um sich die Haut vom Körper zu kratzen, aber er beherrschte sich-seinen Kindern schärfte er immer ein, dass es dann nur schlimmer würde, aber als er endlich gegen Mittag in Köln eintraf war er redlich froh. Kurz überlegte er, ob er noch bei Ben im Krankenhaus vorbeischauen sollte, aber dann wollte er nur noch nach Hause und sich hinlegen.
    Er rief auch die Chefin an, die ebenfalls die Tötung der Geiseln im Fernsehen verfolgt hatte und bereits alles in die Wege geleitet hatte, damit die russischen Behörden über die wahre Identität der Männer aufgeklärt wurden. Die Moskauer Gerichtsmediziner waren schon sehr erstaunt gewesen, als sie die Leichen ausgezogen und festgestellt hatten, dass die professionell geschminkt und verkleidet gewesen waren. Die ersten Verschwörungstheorien waren aufgekommen, dass die beiden angeblichen Geiseln mit den Flugzeugentführern unter einer Decke gesteckt hätten, aber durch die Mitteilung der deutschen Behörden und die Übermittlung der Fingerabdrücke konnten Bruckner und Dermold nun zweifelsfrei identifiziert werden und wenig später informierte auch schon der Kremlsprecher über die überraschende Wendung. Nun verstummte der Aufschrei der Empörung in der Welt, dass die russische Regierung unschuldige Geiseln geopfert habe-dass zwei flüchtigen Mördern jetzt Gerechtigkeit widerfahren war, minderte das Entsetzen über die Unnachgiebigkeit Putin´s.


    Semir indessen meldete sich für den heutigen Tag krank und stand kurz nachdem Andrea mit den Kindern nach Hause gekommen war, dort auf der Matte. „Semir, wie siehst du denn aus?“ fragte Andrea entsetzt, denn ein Ausschlag überzog einen Teil des Körpers ihres Mannes und der verschwand nach einer kurzen Begrüßung sofort im Bett. „Ich muss jetzt dringend ein wenig schlafen-die letzten Tage waren ziemlich anstrengend, ich hab mich krank gemeldet!“ teilte er seiner Frau mit und schüttelte auf die Frage, ob er nicht mit ihnen zu Mittag essen wollte, nur angewidert den Kopf. Nachdem die Kinder gegessen hatten, Lilly noch zu einem Mittagsschläfchen im Kinderzimmer lag und Ayda bereits mit den Hausaufgaben begonnen hatte, ging Andrea nach oben und sah nach Semir, der tief schlafend im Bett lag. Besorgt musterte sie ihn, denn inzwischen war sein ganzer Körper von dem rot fleckigen Ausschlag überzogen. Hatte der vielleicht eine Allergie auf das Antibiotikum? Er hatte ihr in kurzen Worten von den Geschehnissen der letzten Tage berichtet und sie hatte aufgeatmet, dass er einigermaßen unbeschädigt wieder zuhause war, obwohl der Verband an seinem Arm durchaus ein wenig feucht und schmutzig aussah-hatte sich die Wunde vielleicht trotz Antibiose entzündet? Sie ließ ihn allerdings momentan schlafen-Schlaf war doch einfach die beste Medizin und wenn es ihm später nicht besser ging, konnte man immer noch den Hausarzt anrufen!


    Sarah und Ben hatten beide eine erholsame Nacht verbracht. Als sie am Morgen erwachten verschwand erst Sarah im Bad und als sie herauskam, saß Ben schon am Bettrand und fragte: „Hilfst du mir-ich glaube mit ein bisschen Unterstützung könnte ich heute schon ins Bad laufen?“ und sie nickte. Für alle Fälle fuhr sie den Rollstuhl vor ihn, damit er sich an den Handgriffen festhalten konnte und zwar noch mit zitternden Knien, aber stolz und glücklich machte sich Ben dann auf den Weg in die Nasszelle. „Weisst du was-wenn du so beieinander bist, können wir gleich duschen und Haare waschen!“ beschloss Sarah und nachdem sie ihm beim Ausziehen geholfen hatte, löste sie auch noch die Verbände an seinem Rücken, Hals und Arm. „Das ist sogar gut, wenn wir die Wunden mal ordentlich ausduschen!“ stellte sie fest und Ben musste sich zwar in der Dusche noch setzen, aber er genoß es aus vollen Zügen als das lauwarme Wasser auf ihn herunter prasselte und endlich auch seine juckenden Haare gewaschen wurden. Den kurzen Schmerz als Sarah, die sich dafür Einmalhandschuhe angezogen hatte, die Tamponaden herauszog, konnte er gut veratmen und er merkte selber wie wohltuend es war, als die Wunden mit dem klaren Wasser sauber gemacht wurden. Nach der Dusche war Sarah, die eine Leggins und ein Shirt für die Nacht getragen hatte, zwar genauso nass wie ihr Mann, aber so wie er strahlte und sich sichtlich wohl fühlte, war es das wert gewesen! Sie trocknete ihn kurz ab, holte dann noch frisches Verbandszeug im Stationszimmer und als ihr der Stationsarzt da über den Weg lief, dessen Dienst gerade begonnen hatte, lotste sie ihn noch kurz ins Bad, in dem Ben gerade seine Zähne putzte und der begutachtete ebenfalls die Wunden. „Whow-die sind ja seit gestern viel besser geworden, ich denke wir brauchen keine Tamponaden mehr-ein trockener Verband drüber und fertig!“ befand er und Ben, der sich schon innerlich gegen den Schmerz gewappnet hatte, atmete erneut erleichtert auf. Schnell war er frisch verbunden, hatte eine frische Hose und ein weites Shirt an und lief dann auch schon mit Unterstützung zum Bett zurück, wo er sich aufatmend noch kurz flach legte, um Kräfte für das Frühstück zu sammeln.
    Sarah zog sich inzwischen ihre Jeans und ebenfalls ein neues Shirt an und fragte dann: „Ben-was meinst du? Ich denke ich sollte das Essen und das Beistellbett abbestellen und dich ab sofort einfach ganz normal mit Tim besuchen kommen. Dann kann ich nämlich Lucky schon in unsere Wohnung holen und wieder ein wenig Alltag einkehren lassen-ich denke wir haben Hildegard jetzt genug belastet!“ fragte sie ihn und Ben stimmte aus vollem Herzen zu. Sarah hatte ihm am Vortag auch schon seinen Laptop gebracht und in dem Maße wie seine Feinmotorik sich wieder normalisierte, konnte er bereits wieder tippen, ins Internet gehen und sich so problemlos die Zeit vertreiben. „Ich freue mich auf euren Besuch heute Nachmittag, aber mach keinen Stress und kümmere dich jetzt in erster Linie um unser Kind und unseren Hund!“ beauftragte er sie und nach dem Frühstück erledigte Sarah die Formalitäten, fuhr das zweite Bett hinaus und machte sich dann auf den Weg zu Hildegard. Ihr war so leicht ums Herz und auch wenn ihnen sicher noch eine anstrengende und aufregende Zeit bevorstand-es würde alles gut werden, das fühlte sie!

  • Semir erwachte am späten Nachmittag und ihm war hundeelend. Er fühlte sich kraftlos und fertig, sein Arm tat höllisch weh und er merkte-Fieber hatte er auch! Außerdem hatte der Juckreiz zugenommen und als er an sich herunter sah, war sein ganzer Körper von einem merkwürdigen Ausschlag bedeckt-oh je-vermutlich vertrug er wirklich das Antibiotikum nicht! Gerade kam Andrea wieder besorgt ins Schlafzimmer und als sie erkannte, dass er wach war fragte sie ihn: „Semir-wie geht´s dir?“ und er zuckte mit den Schultern. „Ist mir schon mal besser gegangen!“ bemerkte er knapp und nun beschloss Andrea, als sie ihm noch an die Stirn gefasst und festgestellt hatte, wie heiß er war: „So-ich rufe jetzt einen Arzt!“ und dass Semir jetzt nicht protestierte war ein schlechtes Zeichen! Natürlich war der Hauzsarzt schon nicht mehr erreichbar und so dauerte es noch zwei Stunden in denen Semir so vor sich hindämmerte und weder essen noch trinken wollte, bis ein ärztlicher Notdienst endlich an der Tür läutete.
    „So Herr Gerkhan!“ sagte er geschäftig, während er seinen dunkelbraunen Lederkoffer abstellte. „Was haben sie denn für Beschwerden?“ wollte er wissen. „Mir ist hundeelend, ich habe 39°C Fieber-denn natürlich hatte Andrea das nachgemessen-und mein Arm, wo ich gestern Morgen von einem Hund gebissen wurde, tut höllisch weh!“ erklärte er und den Ausschlag hatte der Doktor ja selber gesehen. Die beiden Mädchen standen neugierig in der Tür-natürlich wollten sie zusehen wie der Papa untersucht und behandelt wurde-normalerweise kam ein Doktor nämlich eher zu ihnen ins Haus wenn sie sehr krank waren! Der Arzt wickelte nun zunächst den Verband an Semir´s Oberarm ab und sog dann scharf die Luft ein. „Das sieht übel aus-ich denke wir haben die Ursache für das Fieber gefunden!“ sagte er ernst. „Das muss ordentlich chirurgisch versorgt werden!“ und als er dann noch die Tablettenpackung mit dem polnischen Aufdruck besah, zuckte er mit den Schultern. „Was das für ein Antibiotikum ist, kann ich auch nicht erkennen-mir ist der Handelsname auf Polnisch nicht bekannt-ich werde sie jetzt ins Krankenhaus einweisen-das ist mir für eine häusliche Behandlung zu gefährlich-gerade so Allergien können schnell lebensbedrohlich werden!“ erklärte er entschlossen und machte nur schnell einen lockeren Verband um Semir´s Oberarm. „Kann ihre Frau sie fahren, oder soll ich einen Krankenwagen bestellen?“ fragte er dann, aber Semir winkte ab: „Ich bin heute Morgen noch fünf Stunden mit dem Auto heimgefahren-notfalls könnte ich noch selber in die Klinik kutschen!“ erklärte er dem Arzt, aber als Andrea ihn nun böse ansah, sagte er kleinlaut: „Nein-meine Frau kann mich schon fahren-in welches Krankenhaus soll ich denn gehen, ich war allerdings bis vor vier Tagen in der Uniklinik wegen ner Gehirnerschütterung!“ merkte er noch an und da nickte der Arzt mit dem Kopf. „Dann gehen sie doch da wieder hin-die haben dann schon eine Akte mit frischen Laborwerten-das ist kein Fehler!“ und nun legte Andrea schon ein paar Sachen für Semir in eine kleine Reisetasche zusammen-gerade vorhin hatte sie sie ausgepackt, während er geschlafen hatte und der Arzt füllte seinen Einweisungsschein aus. „Wundinfektion und allergische Reaktion auf unbekanntes Antibiotikum“ war die Einweisungsdiagnose und kurz darauf verabschiedete sich der Doktor.


    Die Mädchen durften mitfahren und saßen schon im Fond des Familienwagens in ihren Sitzen, als Semir, den seine Füße fast nicht trugen, auf dem Po die Treppenstufen runterrutschte-er wäre sonst vor Schwäche die Stufen herunter gedonnert. Unten stützte ihn Andrea die sehr besorgt war, aber irgendwie schafften sie es gemeinsam zum Wagen und während Andrea den Motor anließ, murmelte sie verächtlich: „Ja, ja-mit hohem Fieber noch selber Auto fahren-du wirst auch nicht mehr vernünftig!“ und Semir schwieg nun vorsichtshalber still-sie hatte ja Recht, er war gerade in keiner guten Verfassung!


    Als sie im Krankenhaus ankamen, war zufällig derselbe Arzt in der Notaufnahme, der ihn in der Vorwoche aufgenommen hatte. Man holte ihn erst schon einmal mit dem Rollstuhl aus dem Wagen und dann kam er sofort in ein Bett und die Aufnahmemaschinerie mit Blutabnahme, Untersuchung und Aufnahmegespräch lief ab. „Andrea-fahr mit den Kindern wieder heim-die müssen noch zu Abend essen und dann ins Bett-ich bin hier in guten Händen!“ verabschiedete er sich liebevoll und voller Besorgnis machte Andrea, was er ihr aufgetragen hatte.
    Man versorgte in Lokalanästhesie die Bisswunde, die mit einem grauen schmierigen Belag bedeckt war-der Arzt schnitt die aus, frischte die Wundränder an und wenig später öffnete sich die Tür zu Ben´s Zimmer, der mit Kopfhörern im Ohr gerade auf seinem Laptop einen Film ansah und der hob erstaunt den Blick.
    „Semir-was tust du denn da?“ fragte er überrascht, aber auch erfreut, aber dann auch wieder erschrocken. Sein Freund sah nämlich alles andere als gut aus und die Flecken die seinen Körper-soweit erkennbar- bedeckten, waren auch nicht besonders schön. „Ich wollte dich nicht alleine im Krankenhaus lassen-nicht dass dir langweilig wird!“ antwortete Semir sarkastisch und nun erhob sich Ben, der inzwischen nur noch einen peripheren abgestöpselten Zugang am Arm für die intravenöse Antibiose hatte und ging schon frei zum Bett seines Freundes, um ihn zu begrüßen. „Na dann herzlich willkommen!“ sagte er und drückte ihm die Hand. Wenig später lagen sie wieder nebeneinander in ihren Betten und Semir erzählte Ben, dessen Augen immer größer wurden vor Erstaunen, was in den letzten Tagen geschehen war. „Mann-dass zu der Flugzeugentführung, die ich natürlich in den Nachrichten verfolgt habe, so ein persönlicher Bezug besteht, hätte ich nicht gedacht!“ staunte Ben, war dann aber heilfroh, dass Bruckner und Dermold nun nicht mehr unter den Lebenden weilten. Als wenig später der Arzt im Zimmer stand, sah er ernst aus: „Herr Gerkhan-ihre Laborwerte geben großen Grund zur Besorgnis!“ sagte er und nun lauschten Ben und Semir ängstlich, was der Doktor weiter erklären würde.

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