Lucky

  • Nach einer Weile öffnete Semir seine Augen wieder, denn Ben hatte sich an seiner Hand festgekrallt und man sah deutlich, dass Muskelkrämpfe durch seinen geschundenen Körper liefen. Voller Besorgnis musterte Semir seinen Freund und fragte dann Sarah: „Was hat er denn jetzt eigentlich? Gerade als du mir das erklären wolltest, habe ich die Verfolgung der Männer aufgenommen, die ihm das angetan haben, aber die haben auch mich ausgeknockt und sind weiterhin auf der Flucht!“ erklärte er zur Entschuldigung, warum er Sarah am Nachmittag am Telefon so abgewimmelt hatte. „Als ich nämlich gestern gegangen bin, hatte ich das Gefühl, ihn hätte es gar nicht so lebensbedrohlich schlimm erwischt, aber was ich jetzt sehe ist ja die reinste Katastrophe!“ sagte er bedrückt und machte sich beinahe Vorwürfe, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte. Andererseits hatte er doch wenigstens versuchen müssen Bruckner und seine Komplizen festzunehmen, denn es ging nicht an, dass die ohne Bestrafung davonkamen. Und das war natürlich nach wie vor sein Ziel-die mussten einfach wieder verhaftet und ihrer gerechten Verurteilung zugeführt werden.
    Allerdings hatte er ja im Transporter, als die Verbrecher gedacht hatten er wäre noch bewusstlos, etwas gehört und hatte durchaus eine Vorstellung wohin die flüchteten und über Strzigowski´s Frau würde er schon herausbekommen, wo genau er suchen musste. Aber er hatte es im Gefühl, dass das nicht eilte-die Verbrecher würden in Polen erst eine Weile versuchen unterzutauchen und zu warten, bis die Wogen sich geglättet hatten. Auch brauchten sie neue Papiere, denn mit ihren Klarnamen würden sie in ganz Europa an jedem Flughafen festgenommen werden. Er hatte der Chefin auf der Herfahrt erzählt, was er vermutete und die hatte alle abgehenden Flüge Richtung Süden unter verschärfte Beobachtung stellen lassen und sogar am Warschauer Flughafen lagen die Beschreibungen und Fahndungsfotos von Bruckner und Dermold bei den Sicherheitsbehörden vor, so einfach kamen die nicht weg! Also hatte er jetzt zumindest eine Verschnaufpause und wenn er selber sich erholt hatte und Ben über dem Berg war, konnte er sich wieder der Verbrecherjagd widmen, aber jetzt und hier war er nicht Polizist, sondern Privatmann und besorgter Freund!


    Sarah war aufgestanden und hatte sich ein wenig die Beine vertreten als Semir sie sozusagen als Händchenhalter abgelöst hatte. Sie grübelte was sie machen sollte. Inzwischen war es nach 22.00 Uhr geworden. Sollte sie nochmals bei Frau Brauner fragen, ob sie Tim abholen sollte, aber der würde dann-falls er schlief-wieder aus dem Traum gerissen werden. Außerdem hätte sie vermutlich zuhause auch keine Ruhe-die Sorge um Ben würde sie kein Auge zutun lassen, obwohl sie gerade ziemlich müde war. Sie ging kurz zur Toilette und vor die Intensiv und beschloss es einfach mal mit einer Nachricht zu versuchen. Immerhin hatte Frau Brauner ein Smartphone und so schrieb sie ihr, wie es denn ginge. Wenig später läutete ihr Handy und die nette Dame war dran: „Bevor ich mich da jetzt verkünstle Sarah und ewig an ner Nachricht rumschreibe-ich bin da nicht so geübt wie ihr jungen Leute, rufe ich gleich an: Also Tim schläft, Frederik besteht darauf vor dem Bett zu liegen und seinen Schlaf zu bewachen. Ich habe jetzt noch ein wenig gelesen, werde aber auch bald schlafen gehen. Falls es unlösbare Probleme geben sollte, dann rufe ich sie an und sonst schauen wir morgen weiter. Ich würde vorschlagen ihr Sohn bleibt jetzt einfach so lange bei mir, bis es seinem Papa besser geht und mit dem Zubehör-das regeln wir morgen. Sie können natürlich gerne kommen und entweder hier ebenfalls übernachten, oder ihn schlafend mitnehmen, aber ich würde ihn jetzt nicht rausreißen, der hatte nen aufregenden Tag und verarbeitet gerade im Traum die ganzen Hundeerlebnisse. Vielleicht schaffen sie es zum Frühstück zu kommen und uns auch ein paar Anziehsachen und vertrautes Spielzeug zu bringen, auch ein paar weitere Windeln wären nicht schlecht, aber wenn nicht, dann kriegen wir das auch so hin-nicht Frederik?“ fragte sie und sah ihren Hund liebevoll an, der ihr zum Telefonieren aus dem Schlafzimmer gefolgt war-sie würde trotz allen Vertrauens nie ein Baby mit einem fremden Hund alleine im Raum lassen-und der goldene Rüde wedelte kurz mit dem Schwanz und sah sein Frauchen freundlich an-fast als würde er lachen.
    Sarah fiel erneut ein Stein vom Herzen. Diese Frau war ein Geschenk Gottes an sie und ihre Familie und sie hatte wirklich das unbedingte Vertrauen, dass es Tim bei ihr gut ging. So schaute sie kurz bei ihren Kollegen im Stationszimmer vorbei, trank einen heißen Tee, wurde von denen noch genötigt wenigstens einen Joghurt zu essen und schob wenig später einen Mobilisationsstuhl, den man auch als Liege verwenden konnte, als ihr Nachtlager in den Raum neben Ben und sagte leise zu Semir, der immer noch besorgt seinen Freund musterte, der gerade ein wenig eingedöst war: „Also du wolltest wissen was Ben eigentlich hat, jetzt erkläre ich dir das grob: Aus irgendeinem Grund, den wir bisher noch nicht kennen, hat sich Ben´s Muskulatur begonnen aufzulösen. Man sagt zu diesem Krankheitsbild, das es in verschieden starken Ausbildungsformen gibt, Rhabdomyolyse. Durch den Abbau des Muskelgewebes kommt es im Körper zu massivem Gewebezerfall und der Organismus wird sozusagen mit den eigenen Abbaustoffen überflutet und vergiftet, was Leber und Niere schädigt. Um dir eine grobe Vorstellung davon zu geben-der Normwert der Creatininkinase im Blut, die immer nach Verletzungen oder Operationen leicht ansteigt, geht bis 170 U/l, Ben hat einen Wert der bei 80 000 U/l liegt. Dazu sind alle Leber-und Nierenwerte entgleist, der Elektrolythaushalt ist regelrecht zusammen gebrochen, er hat massive Durchfälle und der Organismus ist dazu noch stark übersäuert. Zu allem Überfluss hat er anscheinend auch noch eine Wundinfektion und durch eine Therapieversuch mit gemahlenem Kunstharz oral, eine Lungenentzündung!“ beschrieb sie Ben´s Krankheitsbild und Semir, dem es selber durch die Ruhe schon besser ging, starrte sie völlig entsetzt an. „Und was kann man dagegen machen?“ fragte er beinahe panisch, aber Sarah zuckte mit den Schultern: „Es gibt leider keine ursächliche Therapie-wir probieren die Symptome zu lindern und Mängel auszugleichen, man versucht ihm so wenig Medikamente wie möglich zu geben, um die Entgiftungsorgane nicht noch weiter zu belasten und sonst kann man nur abwarten und hoffen, dass der Körper sich selber regeneriert!“ dozierte sie, als würde sie von irgendeinem Fall reden, der sie persönlich nichts anging. Semir packte unbewusst Ben´s Hand fester, wie in dem verzweifelten Bemühen ihn festzuhalten. „Und wie stehen seine Chancen?“ fragte er leise, aber als er Sarah nun prüfend musterte, begannen deren Tränen zu laufen und sie zuckte nur mit den Schultern und wandte voller Kummer den Blick ab.

  • Ben war in einem tiefen Tal des Schmerzes und der Verzweiflung gefangen. Obwohl er immer wieder einen Opiatbolus erhielt, fühlte er sich einfach schrecklich. Ihm war heiß und doch kalt, er wollte sich bewegen-und hatte dann wieder Angst davor, weil es dann vermehrt weh tat. Unter der Atemmaske war es warm und eng und er hatte beinahe ein wenig Platzangst. Wenn die allerdings hin und wieder abgenommen wurde, um sein Gesicht abzuwaschen, seinen Mund mit feuchten wohlschmeckenden Mundpflegestäbchen auszuwischen und die aufgesprungenen Lippen einzucremen, dann merkte er, dass er trotz Sauerstoffbrille in der Nase dann sofort akute Atemnot bekam und Angst hatte zu ersticken. So duldete er das enge Ding um seinen Kopf, denn ohne war es schlechter als mit und das Einzige was ihm wirklich half und Trost spendete war die Anwesenheit von Semir und Sarah, die jeder auf einer Seite seines Betts waren und ihn bewachten und beschützten. Manchmal schoss ihm ein Gedankenblitz durch den Kopf, aber dann war er wieder viel zu müde, um dem nachzugehen. Eigentlich wollte er Semir die ganze Zeit fragen, warum er ebenfalls in einem Krankenhausbett lag, aber dann hatte er wieder überhaupt keine Kraft und außerdem verstand man ihn unter der Atemmaske sowieso fast nicht. So dämmerte er vor sich hin, dann bekam er wieder furchtbare Koliken, die ihn sich unruhig hin-und herwerfen und die Beine an den Bauch ziehen ließen, woraufhin Sarah und die Schwester immer mal wieder an seinem Po herum manipulierten und es dann leichter wurde. Irgendwann fiel er in einen unruhigen Schlaf, aber wieder und wieder stürzten sich dann Castor und Pollux im Traum auf ihn, die seine Phantasie nochmals doppelt so groß erscheinen ließ und aus deren riesigen Mäulern der Geifer tropfte, bevor sie ihn zerreißen wollten und er schrie angstvoll auf. Dann allerdings flog immer ein schmaler grauer Schatten dazwischen und rettete ihn und Ben stieß dann ein dankbares „Lucky!“ hervor und beruhigte sich wieder.


    Semir und Sarah, die hilflos den fiebernden Ben betrachteten sahen sich dann immer fragend an. „Was ruft er?“ fragte Semir und Sarah antwortete: „Ich glaube das heißt Lucky!“ und Semir nickte. Er musste sich morgen unbedingt erkundigen ob der Hund die Attacke der beiden Schäferhunde überlebt hatte, denn auch wenn es Ben jetzt sehr schlecht ging-ohne dessen Einsatz wäre er schon nicht mehr am Leben und weil sie ja Zeit hatten, erzählte er Sarah nun im Detail davon, wie er Ben in dem Tierheimbüro aufgefunden hatte und welche Heldentat Lucky vollbracht hatte. Sarah erschauerte und berichtete nun ihrerseits Semir: „Weisst du als es ihm noch besser ging, wollte er mich unbedingt davon überzeugen, dass wir den Hund zu uns nehmen sollen, falls er das überlebt, aber wir haben doch schließlich ein Baby und jeder sagt, dann kann man nur einen Welpen her tun-und außerdem-wenn ich mir an ihm so anschaue was so ein Tier anrichten kann, dann bezweifle ich sowieso, dass ich überhaupt einen Hund möchte!“ versuchte sie nun Semir ihren Standpunkt darzulegen. Der zuckte mit den Schultern: „Letztendlich müsst ihr das ganz alleine entscheiden und erst muss Ben jetzt sowieso gesund werden. Allerdings kenne ich viele Hunde und irgendwann werden wir uns auch einen her tun-es war bisher eher das Problem, dass man dann doch sehr angehängt ist und die Hauptarbeit bei uns dann an Andrea hängenbleiben würde-ich bin einfach viel zu wenig zuhause. Viele meiner Bekannten-auch mit Säuglingen und Kleinkindern- haben einen Hund und da weiss ich nirgendwo von Problemen. Es kommt einfach auch auf den Hund an, die Rasse, das Alter, die Erziehung und solche Dinge. Sieh mal-du steigst jeden Tag ins Auto, ohne dir viel dabei zu denken, dabei ist die Wahrscheinlichkeit damit zu verunglücken wesentlich größer, als von einem Hund gebissen zu werden!“ gab er zu bedenken und weil Ben gerade wieder aufstöhnte, ließen sie nun das Thema und versuchten ihn zu trösten und ihm nahe zu sein.


    Irgendwann wurde er ein wenig ruhiger und nun fielen Semir und Sarah ebenfalls in einen unruhigen Schlaf, der speziell bei Semir alle halbe Stunde unterbrochen wurde, weil ihm jemand in die Augen leuchtete, um seine Pupillen zu kontrollieren, aber danach schlief auch er immer wieder ein-bis zur nächsten Störung. Am nächsten Morgen waren zwar alle drei wie gerädert, aber als Sarah einen beiläufigen Blick auf Ben´s Urinbeutel warf, begann ein wenig Hoffnung in ihr aufzukeimen. Zwar immer noch schmutzig rot und wenig, aber ein bisschen was war in dem Stundenglas und bei der nächsten Kontrolle war das Kalium auch nicht mehr weiter angestiegen. Sarah fuhr nun ihr Behelfsbett zur Seite und begann-unterstützt von Semir dessen Kopfschmerzen deutlich nachgelassen hatten- ihren Partner nun zu waschen und frisch zu machen. „Die Verbände machen wir dann gemeinsam, Sarah-der Oberarzt möchte die Wunden sehen!“ gab ihre Kollegin ihr Bescheid und als Semir nun auch zum Duschen durfte und danach ein Frühstück bekam, war auch er froher Hoffnung bald nach Hause zu dürfen.


    Jenni und Bonrath hatten beide eine relativ ruhige Nacht ohne Komplikationen verbracht und nach der Visite stand fest, dass sie entlassen würden. So rief Jenni Hartmut an und der machte sich sogleich auf den Weg, um die beiden Kollegen, die sich untereinander kurz geschlossen hatten, abzuholen. „Können wir zuvor noch Ben besuchen?“ fragte Bonrath, als sie gemeinsam auf dem Flur auf ein paar Stühlen auf die Abholung warteten, aber ein Pfleger den sie fragten, sah im PC nach und gab dann Bescheid, dass der auf Intensiv lag und dort nur Besuche der nächsten Angehörigen gestattet waren. So kletterten Jenni und Dieter dann noch ein wenig ungelenk wegen der vielen Prellungen in Hartmuts Fahrzeug und als sie Dieter zuhause raus gelassen hatten, fuhren sie weiter zu Jenni´s Wohnung.

  • Jenni bat Hartmut herein, machte erst einmal einen Saft auf und bot auch Hartmut ein Glas an. „Mensch-hast du noch ein wenig Zeit?“ fragte sie dann und Hartmut nickte, er hatte sich nämlich gleich den ganzen Vormittag freigenommen. „Ich habe doch Aurelia versprochen, dass ich ihr ihre Krähe nach Hause bringe, wenn sie entlassen ist! Die weiß ja noch gar nichts davon, dass ich ebenfalls eine Nacht im Krankenhaus verbracht habe!“ überlegte sie und rief dann kurzerhand auf Aurelia´s Handy an. Sie lauschte kurz und sagte dann: „Ist in Ordnung-wir bringen ihnen Agathe-bis später!“ verabschiedete sie sich und sah dann Hartmut an. „Könntest du noch mit mir zur Tierklinik fahren? Dort wird die Krähe gerade noch behandelt, aber Aurelia hat gesagt, in einer halben Stunde ist sie fertig und darf nach Hause. Ich würde ja selber fahren, aber ich habe keinen Käfig oder so und weiß echt nicht, wo ich den Vogel dann im Wagen hintun soll, wenn ich hinterm Steuer sitze!“ vertraute sie Hartmut an und der stand sofort auf und ging, nachdem er seinen Saft ausgetrunken hatte mit seiner Freundin und Kollegin zum Wagen.
    Wenig später waren sie in der Tierklinik und mussten noch einen kleinen Moment warten, bis Agathe´s neuer Flügelverband ausgehärtet war. „Den vorigen hat sie sich in der Nacht abmontiert, aber wir hoffen, dass ihr Frauchen ab jetzt auf sie aufpassen und das verhindern kann!“ sagte die Tierarzthelferin schmunzelnd-sie mochte diese drolligen Rabenvögel und konnte ihnen auch nicht böse sein. So besuchten Hartmut und Jenni erst einmal Lucky, der völlig teilnahmslos ausgestreckt in seiner Krankenbox lag. „Probieren sie es mal-vielleicht frisst er bei ihnen etwas!“ bat die Tierarzthelferin, aber auch als Jenni und Hartmut den großen schlanken Hund streichelten und ihm gut zuredeten, nahm er keinen Leckerbissen aus ihrer Hand. Er hob zwar den Kopf, klopfte zweimal mit dem Schwanz, aber dann lag er wieder teilnahmslos da. „Wenn er nicht bald frisst, wird er sterben, obwohl die Operation eigentlich erfolgreich verlaufen ist und seine Laborwerte dank Bluttransfusionen gar nicht so schlecht sind!“ vertraute die Tierarzthelferin ihnen an und Jenni zerriss es beinahe das Herz, als sie sah, wie traurig dieser Hund, der ja Ben´s Leben gerettet hatte, dalag. „Es liegt sicher auch daran, dass dieser Hund keine Familie hat, die sich um ihn kümmert. Oft gelingt es den Besitzern mit viel Liebe in so einem Fall den Hund wieder zum Fressen und Laufen zu motivieren, aber leider hat Lucky ja kein Herrchen, obwohl er so ein Lieber ist!“ sinnierte die Tierarzthelferin und sah dann in den anderen Behandlungsraum, ob Agathe schon transportfähig war. „Sie können kommen-der Castverband ist fest!“ sagte sie dann und Jenni und Hartmut folgten ihr in das Zimmer.


    Agathe hatte die Fachfrau misstrauisch beäugt und ein zorniges Krächzen ausgestoßen, als die an ihren eingegipsten Flügel fasste. Als sie allerdings nun Jenni sah, begann sie aufgeregt auf ihrer Stange im Käfig herum zu hüpfen und stieß freudige Rufe aus. Jenni musste sich ein Lachen verkneifen. „Agathe-wie siehst du denn aus?“ rief sie und öffnete die Käfigtür, woraufhin die Krähe so schnell sie konnte auf ihren Arm stieg, hinauflief und auf ihrer Schulter Platz nahm. Der eine Flügel war mit einem grell pinken Castverband versorgt und Agathe streckte ihn anklagend weg. „Agathe-wir fahren jetzt zu deinem Frauchen, das wartet schon auf dich!“ sagte Jenni nun und hatte das Gefühl, die Krähe verstünde jedes Wort. Der Tierarzt der auch noch schnell um die Ecke gesehen hatte, sagte: „Wie wir mit der Besitzerin schon telefonisch vereinbart haben, soll Agathe in zwei Wochen wieder zum Nachschauen kommen-wenn sie den Verband natürlich wieder nicht dran lässt, dann sofort. Der Flügel kann nur heilen, wenn er ruhig gestellt wird, aber so ein Tier versteht das natürlich nicht!“ erklärte er. „Allerdings kann es natürlich auch daran liegen, dass bei uns ein verletzter Vogel im Käfig bleiben muss und das ist diese junge Dame hier überhaupt nicht gewohnt!“ sagte er und begann nun Agathe sanft am feinen Bauchgefieder zu streicheln. Sie stieß einen zufriedenen Laut aus und der Tierarzt lachte. „Da hast du´s schon gut getroffen mit deinem Frauchen und ihren Freunden-machs gut du Süße!“ sagte er und als er seine Hand wegnahm, stieß der große schwarze Vogel einen enttäuschtes Krächzen aus. So stieg Jenni wenig später mit Agathe auf der Schulter in Hartmut´s Wagen ein und der musste ihr erst mal unter viel Verrenkungen und Gelächter beim Anschnallen helfen und lachte sich später beinahe scheckig, als die entgegenkommenden Autofahrer verdutzt schauten, was denn bei ihm auf dem Beifahrersitz saß.
    So kamen sie kurz darauf bei Aurelia an und die öffnete die Tür und Agathe wechselte nun sofort zu Aurelia und begann, bei seinem Frauchen auf der gesunden Schulter sitzend, deren Ohr zärtlich abzuknabbern und gurrende Freundschaftslaute auszustoßen. „Das hätte ich nie gedacht, dass ein Vogel so lieb sein kann und intelligent ist die auch!“ sagte Jenni und als Aurelia jetzt erst bemerkte, dass auch Jenni ein wenig lahm ging und grün und blau war, erkundigte sie sich besorgt, was ihr denn zugestoßen war. „Leider sind die Verbrecher nach ihrer Verhaftung nach einem Verkehrsunfall, bei dem mein Kollege und ich ebenfalls Opfer waren, entkommen und befinden sich auf der Flucht!“ teilte nun Jenni der netten Hexe mit und ein Schatten flog über deren Gesicht. „Hört das denn nie auf?“ seufzte sie, aber Jenni beruhigte sie ein wenig. „Soweit wir wissen befinden sich die beiden Männer nicht mehr in Köln-ich denke nicht, dass die noch eine Gefahr für sie darstellen!“ erklärte sie und Aurelia nickte. „Ich habe jetzt auch nichts mehr, was ihnen gefährlich werden könnte, dann hoffe ich mal, dass sie Recht haben!“ sagte sie und nach einer herzlichen Verabschiedung machten sich Jenni und Hartmut wieder auf den Heimweg zu Jenni´s Wohnung. „Ich glaube, wenn ich mal mehr zuhause bin, möchte ich auch so einen zahmen Raben!“ beschloss Jenni und als Hartmut sie prüfend musterte, bekam sie einen roten Kopf. „Ich meine, wenn ich mal Familie und Kinder habe-dann will ich schon ein paar Jahre daheim bleiben, oder wenigstens nur Teilzeit arbeiten, wenn es finanziell irgendwie geht!“ erklärte sie und Hartmut sagte voller Wärme: „Da hast du völlig Recht!“ denn genau das war auch sein Plan.


    Auch bei Semir war nun die Visite angekommen und die Kopfbogenintervalle wurden auf zweistündlich verlängert. „Allerdings ist aus haftungsrechtlichen Gründen eine reguläre Entlassung erst 24 Stunden nach dem Unfall möglich-wenn sie früher gehen wollen, dann auf eigene Verantwortung gegen Unterschrift!“ klärte ihn der behandelnde Arzt auf und Semir beeilte sich nun zu versichern, dass er das natürlich nicht tun würde. Sowohl seine Frau als auch seine Chefin würden ihn ansonsten einen Kopf kürzer machen und das konnte er sich bei seiner Größe nicht erlauben, wie er Sarah und den umstehenden Ärzten mitteilte, die sich daraufhin ein Lachen nicht verkneifen konnten und sogar Ben verzog die Mundwinkel unter seiner Atemmaske. Als sich nun allerdings die Aufmerksamkeit der Visitierenden auf ihn richtete, war es schnell vorbei mit der Fröhlichkeit und nachdem man ihn in 135° Lage beinahe auf den Bauch gelagert hatte, erwartete Ben voller Angst, was man nun schon wieder mit ihm vorhatte.

  • Zunächst wurden die Verbände an Ben´s Rücken abgenommen. Die umstehenden Ärzte, Praktikanten und Schwestern wechselten betroffene Blicke. Das sah nicht gut aus! Die Wunden waren teigig aufgeschwollen und von einem flächigen grauen Belag bedeckt. Aus den Wundhöhlen am Po lief trotz der Antibiose, die natürlich weitergegangen war, gelber, rahmiger Eiter und die Wundränder waren hochrot und entzündet. Der Oberarzt hatte sich sterile Handschuhe und eine Pinzette geben lassen und entfernte nun die Tamponaden, was Ben unter seiner Atemmaske ein verzweifeltes Ächzen entlockte. Obwohl man ihm einen Opiatbolus gegeben hatte, kam das Mittel gegen diese Qualität der Schmerzen nicht an.
    Semir und Sarah beobachteten mitleidvoll die Quälerei. Semir sah von seinem Bett, das man inzwischen wieder an seinen Platz geschoben hatte, aus zu und Sarah stand am Kopfende und hatte Ben´s gesunde Hand fest gefasst. Ach wenn sie ihm nur die Schmerzen abnehmen könnte, ihm irgendwie Linderung verschaffen, oder sonst etwas tun könnte! Aber mehr als da sein, ihm gut zureden und seine Hand halten war auch ihr nicht möglich. Auch der Oberarzt hätte nichts lieber getan, als die Wunden in Narkose zu reinigen und zu spülen, aber genau das war ja durch die Grunderkrankung nicht möglich! Wenn man allerdings eine Heilung ermöglichen wollte, dann musste genau das gemacht werden-allerdings wäre das eine größere Aktion, die im Rahmen der Visite zu umfangreich würde. Darum legte man nur nachlässig ein steriles Tuch auf den geschundenen Rücken, drehte Ben dann wieder auf die Seite zurück und besah sich nacheinander den operierten Arm und den Hals. Der Arm sah Gott sei Dank einigermaßen gut aus, aber auch aus der Halsverletzung floss der Eiter. Das einzig Positive was zu vermelden war, war dass die Niere langsam wieder ansprang und die Stundenportionen im Urinbeutel langsam größer wurden und das Kalium nicht mehr weiter angestiegen war. Man hatte Ben auch dermaßen viele Infusionen gegeben, dass er dadurch ziemlich prall war, was allerdings für die Lunge wieder nicht so gut war. Man musste einen Mittelweg finden-die Niere brauchte Flüssigkeit, die Atmungsorgane weniger und so beschloss man, ihm ein Schleifendiuretikum zu verabreichen, was in der Literatur auch empfohlen wurde.


    „Herr Jäger-ich beende jetzt die Visite mit meinen Kollegen und komme dann mit einem Assistenten wieder und dann säubern wir ihre Wunden gründlich, damit das heilen kann!“ sagte der Oberarzt freundlich, aber Ben war sich nicht sicher, ob das nicht eher eine Drohung war! Der Ärztepulk zog weiter und Semir, der die Verletzungen Ben´s ja gesehen hatte, als die ganz frisch gewesen waren, musste seine Gesichtszüge kontrollieren, damit Ben nicht mitbekam, wie entsetzt er war. Er hatte ja da schon gedacht, wie arg das aussah und wie weh das tun musste, aber dieser Anblick war noch um ein Vielfaches schlimmer. Sarah nahm Ben nochmals kurz die Atemmaske ab, wusch liebevoll sein Gesicht und machte den Mund frisch, aber wieder fiel die Sättigung dabei stark ab und ließ ihn nach Atem ringen, so dass sie die Maske schleunigst wieder festschnallte. Hoffentlich wurde das bald besser, sonst würde man ohne invasive Beatmung nicht auskommen und das konnte ihm seinerseits den Todesstoß versetzen.


    Wenig später kam erst ihre Kollegin und spritzte Ben 10mg Furosemid zum Ausschwemmen, fuhr dann den Eingriffswagen herein und kurz darauf wurde das Intensivzimmer in eine Art kleinen OP verwandelt, in dem grün vermummte Gestalten ihre Arbeit taten und Ben meinte aus der Haut fahren zu müssen, so weh tat das! Der Oberarzt und sein Assistent hatten sich steril angezogen, Spüllösung und Sauger vorbereiten lassen und versuchten nun zunächst mit Lokalanästhetikum dem größten Wundschmerz beizukommen. Semir sah mit Grausen von seinem Beobachtungsposten aus, wie die Nadel wieder und wieder in Ben´s Rücken verschwand und man versuchte, gerade die tiefen Wundhöhlen zu infiltrieren. Allerdings wirkte das Mittel an vielen Stellen nicht, wie jeder wusste, der schon mal beim Zahnarzt eine Einspritzung an einem entzündeten Zahn bekommen hatte. Die Entzündung im Gewebe mit ihrem Druck und der Ausschüttung von Gewebshormonen verhinderte leider, dass die Betäubung wie gewünscht wirkte und so spürte Ben, der sich vorkam wie in seinem eigenen, höchst privaten Alptraum, jeden Nadelstich und was noch viel schlimmer war, danach jedes Schaben mit dem scharfen Löffel und jeden Schnitt mit dem Skalpell, mit dem man das abgestorbene Gewebe entfernte. Es blieb auch nichts anderes übrig als die Wunden so anzufrischen, dass es blutete und nur noch gesundes Gewebe übrig blieb, das eine Chance zu heilen hatte.
    Ben klammerte sich verzweifelt an Sarah´s Hand fest, die selber ganz blass war, als sie sah, welche Tortur ihr Mann gerade auszuhalten hatte. Ihre Kollegin hatte ihm schon großzügig Opiate aus dem Perfusor zukommen lassen, aber man konnte auch nicht riskieren, dass seine Atmung aussetzte. Rasch und geschickt reinigte der Oberarzt, der sich selber gerade wie ein Folterknecht vorkam die Wunden. Wie gerne hätte er diese ganze Aktion in Narkose durchgeführt, aber es blieb nichts anderes übrig als das so durchzuziehen, wenn man das Leben des Patienten retten wollte. Man hatte vor Beginn der Reinigungsaktion auch nochmals Abstriche entnommen, um zu kontrollieren, ob das Antibiotikum das Keimspektrum abdeckte-die Befunde der initialen Abstriche würden vermutlich heute im Laufe des Tages eintreffen und man hatte auch Trachealsekret, das Ben hochgehustet hatte, eingeschickt. Antibiotika waren so ziemlich die einzigen Medikamente die man ihm gerade zukommen ließ, denn auch wenn die ebenfalls verstoffwechselt werden mussten, sie waren lebensrettend und man passte eben die Dosis an die Nierenfunktion an.
    Der Sauger sprang schlürfend an und nun spülte man die Wunden noch mit steriler Ringerlösung und brachte danach diesmal feuchte Verbände auf, damit die nicht so stark mit dem Untergrund verklebten. Die Wundhöhlen hatte man natürlich wieder austamponiert und besonders die Wunde am Gesäß hatte schlimm ausgesehen, weil die durch den Stuhlgang mit seinen Colibakterien massiv verunreinigt gewesen war. Die liegende Stuhldrainage war allerdings segensreich und war inzwischen wieder dauerhaft auf Ablauf, so dass Ben wenigstens nicht mehr mit den heftigen Bauchkrämpfen zu kämpfen hatte. Nun drehte man ihn auf die Seite zurück und unterzog die infizierte Wunde an seinem Hals noch der gleichen Behandlung, aber dann war er endlich fertig. Der Arm war nur frisch trocken verbunden worden und die Schiene wieder ordentlich angewickelt, das war das kleinste Problem gewesen.
    „Jetzt erholen sie sich erst mal Herr Jäger!“ sagte der Oberarzt begütigend und zog sich die grünen Einmalklamotten aus, während die Intensivschwester und Sarah nun das Zimmer aufräumten und Ben dann noch auf ein frisches kühles Leintuch betteten, da das vorige verschwitzt und besudelt gewesen war. Man deckte den jungen Polizisten dann mit einem dünnen Laken zu, um ihm ein wenig Privatsphäre zu geben und als die ganzen Ärzte-und Schwestern das Zimmer verlassen hatte, blieb ein völlig fertiger Patient zurück, der nun die Augen schloss und vor Erschöpfung binnen Kurzem einschlief.
    Zuvor hatte er noch wissen wollen, wie es Tim ging und Sarah hatte versprochen zu ihm zu gehen und nach ihrem Sohn zu sehen-ohne ihm mitzuteilen wo der war, was Ben mit einem erschöpften Nicken beantwortet hatte.


    „Sarah ich bin bei ihm-kümmere du dich um Tim!“ sagte Semir, der sein Bett wieder direkt neben das seines Freundes manövriert hatte. Seine Infusion hatte man abgestöpselt, er hatte nur noch die EKG-Überwachung und das Blutdruckmessgerät dran, die Schwester hatte gerade eben noch seine Pupillen kontrolliert und so lagen nun die beiden Freunde nebeneinander und auch Semir glitt in einen erholsamen Schlaf, was nach dieser Nacht kein Wunder war.

  • Sarah rief, kaum vor dem Krankenhaus angekommen, erst einmal Frau Brauner an. Es war inzwischen kurz vor neun geworden und am anderen Ende der Leitung hörte man einen deutlich gut gelaunten Tim aufgeregt glucksen. „Wir hatten eine ruhige Nacht, Tim hat gut gefrühstückt und jetzt unterhält er sich gerade mit Frederik, wie sie hören können!“ sagte Frau Brauner und Sarah fiel zum wiederholten Male ein Stein vom Herzen. „Wir waren schon mit dem Hund unterwegs und wenn sie möchten, gehen sie doch erst nach Hause und holen ein paar Sachen für uns!“ bot Frau Brauner an. „Wie geht es übrigens ihrem Mann?“ fragte sie dann noch und Sarah überlegte kurz, was sie antworten sollte. „Leider noch nicht sehr gut-er hatte heute Morgen schon eine schmerzhafte Behandlung und schläft jetzt. Sein Freund ist bei ihm und darum habe ich jetzt auch ein wenig Zeit!“ erklärte sie und machte sich dann auf den Weg in ihre Wohnung.
    Dort duschte sie erst einmal und zog sich um, um dann eine Reisetasche mit Sachen für Tim zusammenzupacken. Auch seinen Hochstuhl legte sie ins Auto und einige Babygläschen dazu. Als sie noch bei Andrea anrief wegen dem Reisebettchen ging die nicht ran-die war vermutlich trotzdem zur Arbeit gegangen-wenn sie jedes Mal zuhause bleiben würde, wenn Semir im Krankenhaus lag, dann hätte sie Fehlzeiten ohne Ende, aber nachmittags würde sie die sicher erreichen. Auf dem Weg zu Frau Brauner hielt sie noch an einer Gärtnerei an und kaufte einen wundervollen Blumenstrauß-was diese Frau selbstlos für ihre Familie tat, war einfach wahnsinnig nett und sie wollte ihr wenigstens eine kleine Anerkennung mitbringen. So stand sie wenig später schwer bepackt vor der Haustür der freundlichen Dame und drückte der erst einmal den Blumenstrauß in die Hand, bevor sie Tim, der auf Frau Brauner´s Arm saß, liebevoll in die Arme schloss. Er war ganz vergnügt, kuschelte sich zwar kurz an die Mama, aber dann wollte er sofort wieder auf den Boden zu Frederik und krabbelte dem wie ein Blitz hinterher. Frau Brauner hatte die Tür hinter ihr geschlossen und beobachtete mit einem breiten Lächeln im Gesicht das Baby und den Hund. Frederik spielte ein wenig mit Tim und der jauchzte vor Vergnügen. Nur als nach einer Weile der Hund in seinen Korb ging, hinderte sie Tim daran, dem Tier dorthin zu folgen und nahm ihn wieder hoch. „Das muss Tim lernen, dass der Korb Frederiks Rückzugsmöglichkeit ist und er da seine Ruhe haben möchte!“ erklärte sie und Sarah bewunderte wie ruhig und konsequent diese Frau mit Kind und Tier umging. Tim akzeptierte das auch problemlos und als Sarah Frau Brauner darauf ansprach lächelte die.
    „Kinder-und Hundeerziehung ähneln sich-wenn man wenige klare Regeln aufstellt und deren Befolgung auch strikt durchzieht, haben Kind und Tier einen Rahmen innerhalb dessen sie sich frei bewegen dürfen, der aber Grenzen hat und so Halt und Sicherheit gibt!“ erklärte sie und Sarah seufzte. Sie war nicht immer konsequent und Ben auch nicht-viel zu verliebt waren sie in ihren kleinen Wonneproppen, aber bisher hatte der trotzdem wenig Schwierigkeiten gemacht. „Ich rate immer allen, sich einen Hund zu kaufen, wenn sie lernen wollen konsequent zu sein. Das formt die Persönlichkeit und schult auch Führungsqualitäten, was gerade in der heutigen Zeit sehr wichtig ist!“ erklärte sie, „außerdem lernen Kinder Verantwortungsbewusstsein und Beständigkeit und was auch nicht zu verachten ist-ein Hund ist auch gut für die Gesundheit und zur Abhärtung, weil man mit dem bei jedem Wetter raus muss!“ fügte sie hinzu und Sarah musste nun lächeln. Bei der eindringlichen Rede von Frau Brauner musste sie sich beinahe wundern, wie sie es bisher ohne Hund überhaupt ausgehalten hatten, aber hier sprach eben jemand, der von dem was er sagte völlig überzeugt war.


    Nun fiel ihr etwas ein. Ben hatte in der Nacht immer wieder von Lucky phantasiert-es war nur recht und billig wenn sie nachfragte, wie es dem Hund, der sein Leben gerettet hatte, ging und ihm dann Bescheid sagte. So erklärte sie das kurz Frau Brauner und rief dann in der PASt an. Susanne war am Apparat und erkundigte sich natürlich erst einmal wie es Ben ginge und Sarah gab ihr Auskunft. Dann erwähnte sie noch, dass auch Semir bei ihm war, sich der aber auf dem aufsteigenden Ast befand, was man bei Ben nicht behaupten konnte. Zu viele Komplikationen gefährdeten sein Leben, er war einfach noch nicht über dem Berg. Susanne bedankte sich für die Auskunft und versprach, das auch an Frau Krüger weiterzugeben und als Sarah nun nach Lucky fragte, gab sie ihr bereitwillig die Adresse und Telefonnummer der Tierklinik in der er versorgt wurde.
    „Das ist die Klinik in der ich auch mit Frederik immer bin. Der geht da sehr gerne hin, weil die Tierarzthelferinnen immer Leckerchen und Streicheleinheiten für ihn übrig haben!“ erklärte Frau Brauner „und jeder der einen Labrador oder einen Goldie hat, kann ein Lied davon singen, wie verfressen die sind! Wir sind immer im Kampf gegen die Pfunde-da geht es Frederik genauso wie mir!“ erzählte sie sympathisch und Sarah befand, dass alle beide eine sehr gute Figur hatten, was Frau Brauner wiederum freute. Nun rief sie in der Klinik an und sagte: „Ich hätte mich gerne nach einem Hund namens Lucky erkundigt. Er hat meinem Mann das Leben gerettet und nun möchten wir wissen, wie es ihm geht!“ erklärte sie und als sie auf die Antwort lauschte, flog ein Schatten über ihr Gesicht. Als sie aufgelegt hatte sah sie zu Boden und sagte: „Die Frau, die am Apparat war hat gemeint, dass es dem Hund sehr schlecht geht. Er hat die Operation zwar überstanden, aber er mag nicht fressen und wird vermutlich die nächsten Tage nicht überleben!“ berichtete sie und nun erhob sich Frau Brauner resolut. „Sarah-sie können jetzt tun oder sagen was sie wollen, aber ich für meinen Teil möchte diesen Lebensretter kennenlernen. Ich brauche sowieso wieder Wurmtabletten für meinen Hund und würde vorschlagen, wir packen jetzt Tim und Frederik ein und fahren einfach in die Klinik!“ sagte sie und Sarah, die das eigentlich nicht vorgehabt hatte, beugte sich der klaren Ansage der älteren Frau. Irgendwie war da was dran mit den Führungsqualitäten, wie sie innerlich schmunzelnd zur Kenntnis nehmen musste.


    Der Einfachheit halber bauten sie nun Tim´s Kindersitz um, denn Frau Brauner hatte in ihrem Caddy eine fest eingebaute Hundebox in die Frederik voller Freude hinein sprang. „Er liebt das Autofahren!“ erklärte sie und als Tim fest in seinem Sitz verschnallt war, setzte sich Sarah neben ihn und Frau Brauner fuhr los. Wenig später waren sie in der Klinik angekommen-Tim hatte unterwegs ein kleines Schläfchen gemacht und saß nun noch ein wenig müde auf Mamas Arm und musterte mit großen Augen die ganzen Tiere die dort überall herumwuselten. Frederik sprang voller Begeisterung heraus, hatte gleich das erste Leckerchen an der Rezeption abgestaubt und wurde auch schon gestreichelt. „Hallo Frederik-schön dass du uns mal wieder besuchst!“ lächelte die Tierarzthelferin und als Sarah den Grund ihres Besuchs erwähnte, erhob sie sich und ging voraus zu den Krankenboxen. „Lucky ist ein richtiger Held, aber er hat überhaupt keinen Lebensmut, dabei ist er so ein lieber, anständiger Hund mit einem erstklassigen Charakter. Wir haben schon alles versucht, aber er mag nicht fressen und ist anscheinend schwer depressiv!“ erzählte sie. „Der würde einfach eine Familie brauchen, die sich um ihn kümmert, wenn der wieder in ein Tierheim kommt-gesetzt den Fall er überlebt das irgendwie-dann geht er dort vor Kummer ein-ach es ist alles so schrecklich, wenn ich nicht schon zwei Hunde hätte, würde ich ihn sofort mit nach Hause nehmen!“ plapperte die Frau, während sie schon die Tür zur großen Krankenbox öffnete.


    Sarah´s Blick fiel auf den großen grauen Riesen, der lang ausgestreckt auf der Seite lag. Er hatte eine Art Anzug um den Bauch, vermutlich damit er nicht an die Operationswunden ging und sein zottiges kurzes Fell war matt und ungepflegt. Tim nuckelte an seinem Schnuller und streckte die Ärmchen nach dem Hund aus. „Meinen sie ich kann ihn streicheln, oder beißt der?“ fragte Sarah ein wenig unsicher. Immerhin war das ein großes Tier und gegen Tim war er wirklich riesig, wie man sogar im Liegen sehen konnte. Die Tierarzthelferin hatte sich vor Lucky auf den Knien niedergelassen: „Dieser Hund würde niemals einen Menschen ohne Grund beißen-er hat schon viele schmerzhafte Behandlungen und Verbandwechsel über sich ergehen lassen müssen, aber noch nicht einmal geknurrt!“ erklärte sie und kraulte das Tier liebevoll, was ihr einen dankbaren Blick einbrachte. „Der schaut irgendwie ganz lieb!“ befand Sarah, die ja mit Hunden nicht so viel Erfahrung hatte und streckte vorsichtig ihre Hand aus, woraufhin Lucky die genauestens beroch und dann kurz mit der Zunge darüberfuhr. Ganz vorsichtig begann Sarah, die in die Hocke gegangen war, nun den grauen Riesen zu streicheln. Die Tierarzthelferin hatte sich ein wenig zurückgezogen und beobachtete schweigend gemeinsam mit Frau Brauner diese erste Kontaktaufnahme. Ganz konzentriert strich Sarah dem Hund über das zottige Fell, kraulte ihn hinter den Ohren, woraufhin er genüsslich die Augen schloss und als Sarah da gar nicht darauf achtete, hatte auch Tim schon zugefasst und seine kleinen Fäuste im Fell des Tieres vergraben. Sarah erschrak und wollte im ersten Reflex Tim zurückreißen und aufspringen, aber der Hund zuckte nicht einmal zusammen, sondern hob nur seinen Kopf ein wenig und roch nun an den kleinen Babyfäusten, die aber schon wieder losgelassen hatten. „Sehen sie-ich habe es ja gesagt-er tut nichts!“ sagte die Tierarzthelferin fast triumphierend und nun wurde Sarah ein bisschen lockerer.
    Frederik hatte vor der Krankenbox Sitz gemacht, beäugte aber die ganze Zeit sehnsuchtsvoll den mit Leckerbissen gefüllten Hundenapf, der unberührt vor Lucky stand. „Versuchen sie mal-vielleicht frisst er bei ihnen was!“ sagte die Tierarzthelferin hoffnungsvoll, aber auch als Sarah Lucky einen Happen anbot, wandte er den Blick ab, ohne das Fressen anzurühren. Nun war Frederiks große Stunde gekommen. Das ging doch nicht, dass man das gute Futter schlecht werden ließ! Rücksichtslos drängelte er sich in die Box, so dass Sarah von dem Schubs auf ihrem Hinterteil landete und erschrocken Tim erst mal festhielt, damit der nicht ebenfalls zu Boden plumpste. Als sich nun aber der Goldie wie ein Staubsauger über das Futter hermachte, obwohl Frau Brauner ärgerlich: „Nein Frederik!“ rief, kam auf einmal Leben in Lucky. Mühsam erhob er sich und während Frau Brauner Frederik am Halsband packte und vom Napf wegzog, schlang er alles in sich hinein, was der Retriever noch übrig gelassen hatte. „Gott sei Dank-er frisst!“ rief die Tierarzthelferin glücklich und nun sah sogar einer der Tierärzte aus einem Behandlungsraum. „Dem Himmel sei Dank-jetzt glaube ich daran, dass er es schaffen wird!“ sagte auch der zufrieden und Sarah, die sich inzwischen wieder hochgerappelt hatte, hatte nun plötzlich einen grauen Schatten am Bein kleben. Diese nette Frau und das Baby rochen nach seinem Herrchen-an die würde er sich halten, dann würde er zu dem Menschen kommen, nach dem er sich vor Sehnsucht verzehrte!
    Sie nahmen nun Lucky an die Leine und führten ihn vorsichtig auf das Gelände vor der Klinik, wo Sandflächen und Rasen sich abwechselten. Freundlich wedelnd folgte ihnen Frederik und Lucky begann nun zum ersten Mal interessiert herumzuschnüffeln und sich nach einer Weile zu lösen. „Wenn er so weiter macht kann Lucky in ein paar Tagen entlassen werden-nur wohin dann?“ fragte die Tierarzthelferin und Sarah, die ganz still geworden war, sagte erst einmal gar nichts, fragte aber dann: „Können wir morgen wiederkommen und ihn besuchen?“ und die Helferin nickte lächelnd. Hoffentlich würde das was werden-der Hund, der nun traurig den Besuchern nachsah als die abfuhren, hätte es verdient eine eigene Familie zu haben!

  • Sarah saß eine ganze Weile schweigend neben Tim, der sich auch noch einmal nach dem Hund umgedreht hatte, dessen Leine sie der Tierarzthelferin übergeben hatten. „Der ist ganz schön riesig!“ brach sie dann das Schweigen und Frau Brauner nickte. „Stört sie das?“ stellte sie die Gegenfrage, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht!“ stellte sie klar. „Soll ich ihnen meine erste Einschätzung-sozusagen als Hundefrau geben?“ fragte nun Frau Brauner und Sarah nickte: „Das ist ein sehr, sehr lieber, absolut sozialverträglicher Hund mit einem grundanständigen Charakter!“ sagte Frau Brauner und Sarah war nun überrascht: „Und das können sie sagen, nachdem sie den Hund ein einziges Mal für ne halbe Stunde gesehen haben?“ und Frau Brauner nickte zustimmend. „Aber ich würde trotzdem vorschlagen sie besuchen ihn jetzt wenn möglich jeden Tag in der Klinik und versuchen eine Bindung aufzubauen und dann sehen wir weiter. Frederik auf jeden Fall mag ihn schon mal-und das nicht nur wegen dem Fressen-übrigens hätte da so manch anderer Hund zumindest geknurrt, wenn ein Fremder an seine Futterschüssel geht, aber nicht einmal da war er aggressiv!“ gab sie zu bedenken und Sarah nickte. „Auf jeden Fall kann ich meinem Mann jetzt erzählen, dass ich seinen Lebensretter besucht habe, das wird ihn freuen-und alles Weitere lassen wir auf uns zukommen!“ beschloss sie nun und die ältere Frau nickte-das war eine gute Einstellung, so verbaute sich Sarah keinen Weg und nun fiel ihr Blick auf die Uhr und sie stellte fest, dass Mittagessenszeit war.


    „Ich würde vorschlagen wir gehen jetzt miteinander eine Kleinigkeit essen-ich kenne hier in der Nähe ein nettes Gartenlokal wo man draußen sitzen kann. Außerdem gibt’s da Kinderstühle und eine Wickelmöglichkeit-ich befürchte, das ist bei Tim jetzt dann dringend nötig!“ bemerkte sie und nun vernahm Sarah auch erst den verräterischen Geruch. „Na du kleiner Stinker!“ sagt sie liebevoll und als sie beim Lokal angekommen waren, verzog sie sich erst einmal mit ihrem Sohn und der Wickeltasche auf die Toilette und machte ihn und sich frisch. Danach genossen sie ein leichtes, wohlschmeckendes Mittagsmahl und Tim aß eifrig den Kartoffelbrei und die zerdrückten Beilagen, die ihm die beiden Frauen fütterten. „Der mag eigentlich so ziemlich alles und ist überhaupt nicht mäkelig!“ stellte Frau Brauner fest und Sarah lachte. „Auch das hat er von seinem Vater-der isst ebenfalls für sein Leben gern, eigentlich ein Wunder, dass der so schlank ist, bei den Mengen die er jeden Tag in sich hinein schaufelt!“ erzählte sie, aber nun überzog ein sorgenvoller Ausdruck ihr Gesicht. „Ich habe jetzt ganz große Sehnsucht nach ihm und mache mir außerdem Sorgen. Frau Brauner-darf ich ihnen Tim wirklich da lassen? Macht ihnen das keine allzu großen Umstände-ich meine, vielleicht könnte ich jetzt nachmittags meine Freundin fragen, ob sie ihn ein paar Stunden nimmt?“ aber Frau Brauner schüttelte den Kopf. „Erstens macht mir das keine Umstände-ich freue mich sogar, dass ich ihren süßen Sohn betreuen darf, er ist ja wirklich lieb und unkompliziert und ihre Situation ist eine absolute Notlage, da musste es jetzt einfach ohne Eingewöhnung gehen-und wie man sieht, es hat geklappt!“ sagte sie. „Natürlich ist das ihre Entscheidung, aber ich würde ihn im Augenblick nicht von unterschiedlichen Leuten fremdbetreuen lassen. Tim kann bei mir bleiben, bis sein Papa soweit fit ist, dass sie sich nicht mehr die meiste Zeit im Krankenhaus aufhalten müssen. Ich habe bereits alle Termine für die nächsten Tage abgesagt und kann mich voll dem kleinen Mann widmen!“ erklärte sie und erneut dankte ihr Sarah mit Tränen in den Augen und nachdem sie die Rechnung bezahlt hatte, was die ältere Frau zum Protestieren brachte, fuhren sie zurück zu Frau Brauner´s Haus und Tim war schon unterwegs tief und fest eingeschlafen und wurde nun schlafend ins Haus getragen und ins Ehebett gelegt.


    Bevor sie nun aber zum Krankenhaus aufbrach, rief sie zunächst noch Andrea an. „Andrea-hast du schon etwas von Semir gehört?“ fragte sie schuldbewusst, dass sie sich nicht eher erkundigt hatte, ob sie ihrer Freundin helfen konnte. „Ich habe vorhin gerade mit ihm telefoniert. Die Schwester war so nett ihm ein Telefon ans Bett zu bringen. Ihm geht es soweit gut, aber er wird erst heute Abend entlassen und bräuchte ein paar Sachen. Allerdings dürfen die Mädchen nicht mit auf die Intensiv-ich weiß gar nicht wie ich das machen soll!“ erklärte ihr Andrea unglücklich. Sarah war aber froh, dass das so war und kleine Kinder nicht auf die Intensivstation als Besucher durften. Erstens war ihr Immunsystem noch unreif und bei den ganzen üblen Keimen, wie sie da z. B. auf Ben herum wuselten, war die Gefahr einfach zu groß, dass die sich was einfingen und außerdem wäre es für die Kinder viel zu belastend, ihren Patenonkel in diesem Zustand zu sehen. Klar war das in ihrem Job fast jede Woche einmal eine Diskussionsgrundlage mit Angehörigen, die nicht verstehen konnten, warum es diese Regelung gab. Die meisten waren nämlich der Meinung die diene zum Schutz der Patienten wegen Kinderkrankheiten und wenn die Kinder gesund wären, bestünde da kein Grund, aber vor den Keimen die die Kinder mitbrachten hatte man weniger Angst-mehr vor denen, die sie mit nach Hause nahmen!


    „Andrea-Frau Brauner zu der du mich gestern wegen dem Hund geschickt hast- ist so nett, Tim bei sich zuhause zu betreuen. Ich bräuchte deshalb das Reisebettchen, damit der einen sicheren Schlafplatz hat. Ich würde vorschlagen ich komme zu dir nach Hause, hole das Bettchen und passe dann eine Weile auf die Mädchen auf, damit du zu Semir fahren kannst. Danach liefere ich das Bett ab und gehe selber wieder ins Krankenhaus, um nach unseren Männern zu sehen!“ hatte sie blitzschnell einen Plan erstellt und Andrea dankte ihr glücklich. Gerade hatte sie überlegt und herumtelefoniert welche Freundinnen ihre Töchter nun besuchen könnten, aber wie es manchmal so war-die eine war krank, die andere nicht da-was sonst selten ein Problem darstellte war heute einfach schwierig und so stimmte sie gerne Sarah´s Plan zu.


    Wenig später stand Sarah bei den Gerkhan´s vor der Tür und wurde von den Mädchen sogleich in Beschlag genommen. „Der Papa kommt heute Abend ja schon nach Hause, also nicht traurig sein!“ hatte Andrea sie getröstet und so spielte nun Sarah hingebungsvoll mit den Kindern, während Andrea mit einer kleinen Tasche mit Wäsche, Rasierzeug und Deo in die Klinik aufbrach. Dort wurde sie auch sofort zu ihrem Mann gelassen, der aber eigentlich gar nicht so schlecht aussah-da war sie Schlimmeres gewohnt! Sie begrüßten sich liebevoll und Semir bestätigte ihr auch nochmal, was er ihr am Telefon schon erklärt hatte. Als sie allerdings ihren Blick auf das Nebenbett richtete, in dem Ben halb auf der Seite lag, erschrak sie bis ins Mark. Ehrlich gesagt hätte sie ihn beinahe nicht erkannt, denn er war aufgeschwollen und hatte eine Beatmungsmaske wie einen Rüssel vors Gesicht geschnallt. Er hatte die Augen halb geschlossen, war schweißüberströmt und sein Atem ging stoßweise. Sie trat zu ihm, legte eine Hand auf den einen Arm, der nicht verbunden war und sagte freundlich: „Hallo Ben!“ aber er reagierte nicht und sie war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt wahrgenommen hatte. „Semir was ist mit ihm?“ fragte sie erschrocken und der zuckte mit den Schultern. „Er ist sehr sehr krank und wir können eigentlich nur hoffen und beten!“ beschied er seiner Frau und als die sich wenig später verabschiedete, um Sarah schnellstmöglich wieder zu ihrem Mann kommen zu lassen, war in ihrem Bauch ein Kloß, der auch nicht weg ging, als sie die Intensivstation verlassen hatte. Oh nein-hoffentlich würde Ben das überleben!

  • Bruckner, Dermold und Strzigowski hatten inzwischen mit dem gestohlenen Wohnmobil auf vielerlei Umwegen das Heimatdorf des Polen erreicht. Er läutete kurzerhand an der Haustür seines Bruders, der das elterliche Anwesen übernommen hatte und der begrüßte erst einmal freudig überrascht seinen Verwandten und dessen Begleiter. Man trank Wodka, es wurde aufgetischt und nach einer Weile rückte Leo mit seinem Anliegen heraus: „Wir müssten uns für einige Tage oder Wochen verstecken, das Wohnmobil muss verschwinden und dann bräuchten meine Begleiter neue Papiere, damit sie sich in den Süden absetzen können. Meinst du, du könntest da was organisieren?“ fragte er und sein Bruder grinste wissend und holte schon sein Handy heraus. Wenig später fuhr das Wohnmobil vom Hof und der Bruder brachte die drei Flüchtigen höchstpersönlich zum Haus eines Bekannten, der eine möblierte Einliegerwohnung darin frei hatte und die zu einem angemessenen Preis, der seinen Monatslohn weit überstieg, vermieten würde. Sie konnten für Einkäufe auch dessen Wagen ausleihen und so zogen sie sich wenig später in ihr Versteck zurück.
    „Verständige bitte meine Frau und richte ihr aus, dass es mir gut geht und dass ich zuhause ein wenig Urlaub mache!“ bläute Leo noch seinem Bruder ein. „Aber bitte von einem Handy aus, das auf niemanden von der Familie zugelassen ist und auch von einem weiter entfernten Ort!“ und so kam es, dass wenig später eine entfernte Cousine Leo´s von Krakau aus seine Frau auf einen kleinen Plausch anrief und so nebenbei erwähnte, dass Leo in der Heimat ein wenig Urlaub mache und es ihm gut ginge.
    Frau Krüger, die selbstverständlich das Telefon der Ehefrau weiter hatte überwachen lassen, ließ auch in der Zusammenarbeit mit den polnischen Behörden das Handysignal orten und der Sprachcomputer übersetzte das Telefongespräch. So wurde die Fahndung nach den flüchtigen Verbrechern durch die polnischen Behörden rund um Krakau intensiviert, der Krakauer Johannes Paul der Zweite-Flughafen überwacht und in der gemieteten Einliegerwohnung an einem ganz anderen Ort erschien eine Maskenbildnerin und schminkte Bruckner und Dermold, dass ihre eigene Großmutter sie nicht mehr erkannt hätte. Dann kam ein anderer Mann, machte biometrische Fotos und ein Fälscher begann kurz danach damit, neue Papiere für die beiden Ganoven anzufertigen. „Der Erlös für das Wohnmobil, das schon in lauter Einzelteile zerlegt ist und so verkauft wird, deckt aber die Unkosten bei weitem nicht! Außerdem muss ich vermutlich mit Ärger durch die deutschen Behörden rechnen, auch wenn ich nach eurer Abreise einfach zurückfahren und erklären werde, dass ich nen Heimaturlaub gemacht habe und ihr nach dem Kidnapping des Polizisten- gegen das ich heftig protestiert hätte, von euch aber gezwungen wurde mitzumachen- einfach mit dem Wohnmobil verschwunden seid und ich per Anhalter weitergefahren bin!“ verhandelte nun der polnische Fahrer. Der Preis für Leo´s Kooperation wurde auf 20 000€ festgesetzt, zuzüglich die Unkosten für die Papiere etc. und so beschloss Bruckner an einem der nächsten Tage eine Postanweisung von einem seiner Konten im Ausland zu starten. Aber erst mal hieß es abwarten und untertauchen und obwohl Dermold in dem Dorf in dem wunderbaren Naturschutzgebiet unbestritten viel zu viel Natur und zu wenig willfährige Mädchen waren, hielt auch er die Füße still und wartete ab-immerhin war es hier besser als in Ossendorf und eine wundervolle Zukunft winkte-sie mussten nur abwarten können!


    Andrea war derweil eilig zu Sarah und ihren Kindern zurückgekehrt. Sarah war innerlich bereits voller Unruhe, aber sie lenkte sich im Spiel mit den Mädchen ab, so gut es ging. Andrea war schneller zurück als sie erwartet hatte und sagte: „Sarah-ich war echt erschrocken wie schlecht Ben aussieht-ich bin sehr froh, dass du eine Betreuung für Tim gefunden hast, sonst hätten wir aber sicher auch eine andere Lösung gefunden-du allerdings gehörst jetzt an die Seite deines Mannes bis es ihm wieder besser geht!“ bestimmte sie und Sarah packte nun nur noch das Reisebettchen ein, gab das schnell bei Frau Brauner ab, wo Tim immer noch ein ausgiebiges Mittagsschläfchen machte und fuhr dann so zügig wie möglich zum Krankenhaus, voller Sorge, was sie da erwarten würde.

  • Sarah war kaum auf der Intensiv angekommen, da hielt sie schon der Stationsarzt auf und hielt sie am Arm fest. „Gerade wollten wir dich anrufen, denn sein Zustand verschlechtert sich rapide. Wir wissen aber auch nicht, was das für eine Ursache hat. Er bekommt aktuell noch Ausschlag dazu und wir haben keine Ahnung wo der herkommt!“ informierte er sie und Sarah starrte ihn einen kurzen Augenblick erschrocken an, riss sich dann los und stürzte zu Ben und Semir ins Zimmer. Semir war vom Monitor befreit, hatte einen Jogginganzug an und saß neben Ben`s Bett und hielt besorgt dessen Hand. Er erhob sich sofort und sagte erleichtert: „Gut dass du kommst, ihm geht es von Stunde zu Stunde schlechter!“ und Sarah beugte sich nun über ihren geliebten Mann und machte sich Vorwürfe, ihn überhaupt alleine gelassen zu haben.
    Allerdings hatte sie, als sie gegangen war, die Situation lange nicht mehr so bedenklich eingestuft, sonst wäre sie doch keinen Schritt von seiner Seite gewichen! Sie hatte nach der Wundtoilette gedacht, dass er nun erholsam schlafen würde, die Werte sich stabilisieren und die Infektion in seinem Körper besser werden würde, aber nun lag vor ihr ein hoch fieberndes Häufchen Elend, dessen Brust sich mühsam hob und senkte, bei dem verzweifelten Versuch mit Hilfe der Maschine genügend Luft in seinen Organismus zu bekommen und das sich unruhig hin und her warf. Das Fieber war wieder um die vierzig und ihre Kollegen hatten mit Wadenwickeln versucht die Temperatur zu senken. Als Sarah, die zuallererst einen verzweifelten Kuss auf seine Stirn gedrückt hatte und geflüstert hatte: „Schatz-ich bin wieder da!“ was ihm lediglich ein kleines Zwinkern entlockte, allerdings an seine Füße fasste, waren die eiskalt, obwohl der Rest des Körpers glühte. Man hatte mit dem Noradrenalin um mehrere Punkte höher gehen müssen und das machte natürlich die Peripherie zu, so dass Wadenwickel in diesem Fall kontraindiziert waren. Sarah nahm die weg und warf dann einen Blick zu Semir, der wieder in sein Bett geschlüpft war und von dort sorgenvoll die Szene im Nebenbett beobachtete. Der erwiderte ihren Blick und fragte leise: „Was meinst du? Irgendwie scheinen die Ärzte und Schwestern nicht genau zu wissen, was sie noch tun sollen!“ und Sarah zuckte ebenfalls mit den Schultern und sah hilflos auf ihren sterbenskranken Partner. Nun war sein Körper von oben bis unten noch mit roten Flecken bedeckt-eindeutig eine allergische Reaktion auf irgendetwas. Nur hatte Sarah keinen Schimmer worauf, denn er bekam ja eigentlich nichts, kein Medikament, kein Nahrungsmittel und kein Körperpflegemittel, das irgendwie allergieauslösend war. Man hatte keine ätherischen Öle oder Waschlotionen verwendet, was manchmal allergische Ausschläge hervorrief und es war relativ unwahrscheinlich, dass er auf das Waschmittel der Krankenhauswäsche reagierte-zu oft war er doch schon Patient gewesen und nie hatte er Symptome gezeigt. Vielleicht das Lokalanästhetikum? Gut das wäre möglich, allerdings war auch das merkwürdig, weil er doch bei der Erstbehandlung und schon so viele Male vorher damit in Berührung gekommen war, ohne nur im Geringsten darauf zu reagieren.
    Gerade regte sich Ben und versuchte sich zu kratzen-oh je, anscheinend juckte das auch noch schrecklich! Ihr armer Schatz-was musste er nur gerade aushalten? Sarah erhob sich, holte die Waschschüssel aus dem Nachtkästchen, füllte sie mit Leitungswasser und begann nun einfach mit einem Waschlappen das klare kühle Nass auf seinem Körper wieder und wieder zu verteilen und an der Luft trocknen zu lassen. Erstens war das angenehm und durch die Verdunstungskälte kam es zu einem temperatursenkenden Effekt und zweitens nahm es wenigstens ein wenig den Juckreiz und Ben hatte nun die Augen aufgemacht und sah sie dankbar an, während er ganz still lag.


    Hartmut hatte indessen mit Jenny noch ein kleines Mittagsmahl beim Italiener um die Ecke eingenommen-er hatte sie eingeladen- und als er sie in die Wohnung zurückgebracht hatte, wo sie sich erschöpft aufs Sofa gelegt hatte, hatte er ihr noch eine Schmerztablette und eine Wasserflasche gebracht und sich mit einem Kuss auf die Stirn von ihr verabschiedet. „Darf ich heute Abend nochmal vorbeikommen?“ fragte er und Jenni nickte und lächelte ihn an: „Ich freu mich!“ sagte sie leise, schloss dann ihre Augen und war fast sofort eingeschlafen, während er leise die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zog.
    Kaum in der KTU angelangt läutete sein Telefon und die Chefin war dran. „Herr Freund-nachdem unsere Personalsituation mehr als angespannt ist, würde ich sie gerne mit in Bruckner´s Haus zu einer groben Durchsuchung mitnehmen. Vielleicht finden wir dort irgendwelche Hinweise, wohin er geflohen ist, oder wenigstens weitere Beweise für seine Machenschaften!“ schlug sie vor und wenig später holte sie den rothaarigen Techniker ab. Sie öffneten mit dem Hausschlüssel, den man Bruckner bei der Verhaftung abgenommen hatte, erst das Tor und dann die Tür des luxuriösen Anwesens und begannen sich umzusehen. Hartmut steckte gleich einmal Computer und Laptop aus und schaffte sie in den Wagen-die Daten darauf würde er sich später in Ruhe ansehen- und dann ging er einfach durch alle Räume, um seinen kriminalistischen Spürsinn anzuregen. Frau Krüger hatte derweil im Arbeitszimmer begonnen systematisch Aktenordner zu öffnen und den Inhalt zu überfliegen, was aber bei der Menge an Akten eine Sisyphusarbeit war und wesentlich mehr Personal erforderte. Hartmut allerdings hatte in der Küche wie zufällig die Schränke geöffnet und als er einen Schrank aufmachte in dem Hundefutter gelagert war, fiel sein Blick auf zwei kleine braune Fläschchen, die je einen Aufkleber in polnischer Sprache enthielten. Was aber sein Interesse weckte war das jeweils handschriftlich daneben aufs Etikett gekritzelte Wort. Auf dem einen Fläschchen stand: „böse“ und auf dem andern „brav“ und nachdenklich nahm Hartmut die mit behandschuhten Händen heraus und tütete sie ein.

  • Nach einiger Zeit gab Frau Krüger auf. „Ich befürchte, wir werden hier auf die Schnelle kaum einen Hinweis finden, wo die beiden Flüchtigen sich aufhalten! Da soll uns morgen ein Spurensicherungsteam unterstützen, da kann ich vielleicht was anfordern!“ sagte sie und machte ein Siegel an die Tür, bevor sie mit Hartmut das Anwesen wieder verließ. Kurz sahen sie sich danach noch in Dermold´s Wohnung um-ebenfalls erfolglos-und kehrten dann zuerst zur PASt zurück, wo Hartmut noch kurz mit reinging, um die Dienstpläne seiner Crew mitzunehmen und dann zur KTU mit den beschlagnahmten PC´s etc. weiterzufahren. Die Krüger hatte in weiser Voraussicht einen Kleinbus genommen, damit die eingepackten Gegenstände Platz hatten, aber Hartmut hatte zuvor mit Entsetzen vernommen, wie Susanne, die gerade mit Andrea, ihrer Freundin telefoniert hatte, von Ben´s miserablem Zustand berichtete. Nachdenklich gelangte er an seinem Labor an und lud die Computer aus Bruckner´s und Dermold´s Wohnungen aus. Dann aber wurde seine Aufmerksamkeit erneut von den beiden Fläschchen gefesselt-egal-er musste jetzt erst wissen was darin war, bevor er mit der Auswertung der Festplatten begann und so ging er ins Labor und begann mit den Analysen.


    Sarah und Semir im Krankenhaus kümmerten sich derweil rührend um Ben, aber dem ging es von Stunde zu Stunde schlechter. Die Atmung wurde immer angestrengter und Sarah getraute sich die Atemmaske gar nicht mehr abzunehmen, weil er sofort mit der Sättigung abfiel, wenn er ohne Maschine atmen musste und kitzeblau wurde. Sein Ausschlag wurde immer schlimmer, das Einzige was jetzt wieder passte, war die Urinmenge, denn die Nieren produzierten jetzt Unmengen an Flüssigkeit und man kam kaum nach, das Stundenglas umzuleeren und den Flüssigkeitsverlust mit Infusionen auszugleichen. Ben war kaum mehr bei sich und spürte mehr, als er es bewusst wahrnahm die Anwesenheit seiner Frau und seines besten Freundes. Man nahm wieder Blut ab, aber die Laborwerte entgleisten immer mehr und als Sarah nur mal kurz nach außen huschte, um zur Toilette zu gehen, hielt sie der Stationsarzt auf dem Flur auf. „Sarah-ich denke du siehst selber wie kritisch es aussieht-falls du noch weiteren Angehörigen Bescheid sagen müsstest, wäre es jetzt an der Zeit!“ sagte er ernst und Sarah starrte ihn fassungslos an.


    Mit einem kurzen Aufschluchzen eilte sie nun schnell vor die Intensivstation und rief Ben´s Vater an, der in Österreich kurz vor dem Vertragsabschluss stand. „Konrad-es steht sehr schlecht um Ben-vielleicht wird er sterben!“ sprach sie das eigentlich unaussprechliche Wort aus und die Tränen begannen ihr herunterzulaufen. Sie kam sich vor wie in einem bösen Traum und hoffte, sie würde jetzt endlich erwachen! Das konnte doch nicht sein-sie hatte erst vor wenigen Tagen die Liebe ihres Lebens geheiratet, hatte mit ihm zusammen alt werden, Tim aufziehen und sogar noch weitere Kinder bekommen wollen und jetzt sollte das Ganze plötzlich vorbei sein? Wie durch Watte vernahm sie Konrad´s erschrockene Stimme, der das Handy auf Vibrationsalarm gehabt hatte und sonst nicht rangegangen wäre-nur Sarah´s Nummer bildete da eine Ausnahme: „Sarah, ich komme so schnell wie möglich-ich mache mich sofort auf den Weg!“ rief er ins Telefon und versprach noch Julia zu verständigen.


    Sarah eilte nun wieder zurück ins Krankenzimmer und als sie den Raum betrat, bildete sie sich schon ein, den eigentümlichen Geruch des Todes wahrzunehmen, den sie als erfahrene Intensivschwester schon allzu oft gerochen hatte. Semir hatte, während sie draußen war, den Platz an Ben´s Seite eingenommen und konnte doch nichts weiter tun, als unglücklich die Hand seines Freundes festzuhalten. „Ben mach keinen Scheiß-dieser Undercovereinsatz, der noch dazu auf meinem Mist gewachsen ist, darf doch jetzt keine so weitreichenden Folgen nach sich ziehen!“ beschwor er ihn, ohne dass Ben reagierte. Als Sarah wenig später wieder ins Zimmer trat und neben ihm Platz nahm, sah er erschrocken, wie lautlose Tränen ihre Wangen hinunterliefen. Er fingerte nach einem Taschentuch und reichte es ihr und als ihre Blicke sich kreuzten, wusste er, was für eine Nachricht sie gerade bekommen hatte und sank regelrecht in sich zusammen.

  • Konrad hatte sich kurz abgewandt, als sein Telefon zu vibrieren begann. Er und zwei weitere Mitbewerber, die in die engste Auswahl gekommen waren, saßen in einem Büro in einem luxuriösen Firmenkomplex und hatten zäh und mit harten Bandagen gegeneinander gefightet. Es ging um einen Millionenauftrag für ein neues, riesiges Bürogebäude und Konrad hatte gekämpft wie ein Löwe, aber langsam bemerkt, dass vermutlich seine Mitbewerber die besseren Karten hatten. Als er von Ben hörte war ihm das aber völlig egal und er verfluchte sich, dass er nicht sofort, als er von dessen Unfall gehört hatte, zurück nach Köln gereist war. Jetzt teilte ihm seine Schwiegertochter etwas Unfassbares mit, gegen das alle anderen Dinge plötzlich in den Hintergrund rückten und er sah nun auf, erhob sich und sagte in die Runde: „Es tut mir leid, aber ich muss sofort zurück nach Köln fliegen-mein Sohn liegt in kritischem Zustand auf der Intensivstation!“ und damit strebte er schon dem Ausgang zu. Der Firmenchef, der gemeinsam mit mehreren Prokuristen, Sachbearbeitern etc. wegen der Auftragsvergabe verhandelt hatte, hielt ihn kurz zurück: „Herr Jäger-warten sie-bis sie einen Linienflug bekommen vergeht viel zu viel Zeit. Ich stelle ihnen unseren firmeneigenen Learjet zur Verfügung-und gute Besserung für ihren Sohn!“ sagte er und Konrad sah seinen bisher knallharten Verhandlungspartner fassungslos an. Er hatte gerade schon überlegt wie viele Stunden es wohl dauern würde, bis er endlich zum großen Flughafen gelangt war, dort einen Linienflug ergattert und dann zurückgereist wäre-evtl. wäre er sogar mit einem Leihwagen schneller, aber das war jetzt ein großherziges Angebot und er sagte leise: „Vielen herzlichen Dank-ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gut machen soll-natürlich bezahle ich dafür, aber jetzt muss ich einfach so schnell wie möglich zu meinem Sohn!“ und nach Erledigung eines kurzen Telefonanrufs durch den Firmeninhaber empfing ein Chauffeur Konrad unten in der Eingangshalle und brachte ihn zum nahe gelegenen Regionalflughafen, wo der abflugbereite Flieger ihn schon erwartete und so war wenig später Konrad ohne Gepäck, aber das war ihm so egal wie nur was, auf dem Weg zurück nach Köln und auch die kurz vorher verständigte Julia quälte sich aus dem Bett, warf Grippemedikamente ein und wollte sich auf den Weg zur Uniklinik machen, aber wegen ihrem schwachen Kreislauf funktionierte das einfach nicht und so sank sie wieder auf ihr Bett und starrte die Decke an-was sollte sie nur machen?


    Hartmut hatte inzwischen begonnen die erste der beiden Proben zu analysieren. Sein Interesse war geweckt-mit jeder weiteren Analyse kam ein neuer Stoff zutage. Er hatte mit dem Fläschchen mit dem „böse“ Aufkleber begonnen und darin war ein bunter Mix aus Amphetaminen, Psychopharmaka und was besonders interessant, aber auch furchteinflößend war-der Hauptbestandteil waren gentechnisch hergestellte Hormone, die das Gefühlsleben eines Tieres oder vielleicht auch Menschen völlig steuern konnten. Hartmut dachte nach, setzte sich dann an seinen PC und recherchierte ein wenig um dann aufgeregt zum Telefon zu greifen. Er musste jetzt dringend den behandelnden Ärzten Ben´s im Krankenhaus Bescheid sagen, denn dieses Mittel enthielt eine Besonderheit und vielleicht ging es Ben deshalb so schlecht. Anfangs war es sehr schwierig den richtigen Ansprechpartner zu finden und er kam sich ein wenig vor wie in dem berühmten Sketch Karl Valentin´s-dem Buchbinder Wanninger-so oft wurde er weiterverbunden, aber irgendwann hatte er den krankenhauseigenen Pharmakologen am Apparat der nun seinerseits die behandelnden Intensivärzte informieren würde und außerdem dringend nach einer eigenen Probe verlangte, um selber die Analyse erneut durchzuführen und Hartmut´s Entdeckung zu bestätigen. Sonst könnte da ja jeder mit irgendwelchen Meldungen von Raumschiffen, Vergiftung der Menschheit durch Lebensmittelzusatzstoffe und was sonst nicht für verrückte Anrufe in einem Krankenhaus eingingen, kommen. Aber der Pharmakologe hatte auch zurückgerufen und als die Nummer tatsächlich eine offizielle Polizeinummer war, glaubte er endlich dem rothaarigen und sehr hartnäckigen Kriminaltechniker und der war kurz darauf, nachdem er noch schnell der Chefin Bescheid gegeben hatte, mit den beiden Fläschchen unterwegs zur Uniklinik, wo ihn schon ein gespannter Laborarzt mit mehreren Studenten erwartete.

  • Ben köchelte inzwischen regelrecht in seinem eigenen Saft. Er schwitzte, das Fieber stieg in gefährliche Höhen und der Ausschlag blühte immer mehr auf. Sein ganzes Sein bestand nur aus Schmerz, Atemnot, Juckreiz und Fieber. Er ahnte, mehr als er es bewusst wahrnahm, dass Sarah und Semir bei ihm waren. Sarah versuchte ihn verzweifelt wieder und wieder kühl abzuwaschen, die betreuende Intensivschwester hatte noch Coolpacks und ein Kältegebläse gebracht, mit dem man versuchte die Temperatur zu senken, aber die Anzeige kletterte unbarmherzig über 41°C. Wenn die 42° erreicht waren, würde das Eiweiß im Blut gerinnen und dann kam es zum Hirntod. Alle Infusionen, die in Ben strömten wurden nun auch gekühlt und der nächste Schritt wäre eine Magensonde, damit man den Magen mit Eiswasser auffüllen könnte. Allerdings müsste man dazu kurz die Beatmungsmaske entfernen und es war nicht klar, ob Ben das überstehen würde, denn mit 100% Sauerstoff waren trotzdem seine Lippen blau und die Sättigung lag gerade mal bei 85%.
    Man hatte den anästhesiologischen Chefarzt dazu gerufen, auch der hatte noch eine Idee-Ben bekam nun Hydrokortison in hohen Dosen, weil Cortison ja auch ein körpereigenes Hormon war und deshalb ohne Leber-und Nierenschäden verstoffwechselt werden konnte. Aber auch das brachte nicht die erhoffte Wende, lediglich der Ausschlag blasste ein wenig ab und der Juckreiz ließ nach. Die Ärzte standen auf dem Flur zusammen-auch der beste Internist des Hauses war zugezogen und man versuchte irgendeinen Behandlungsansatz zu finden, der dem jungen schwer kranken Polizisten helfen konnte, aber nach einer Weile, in der sich der Zustand immer mehr verschlechterte, war man fast überzeugt davon den Patienten zu verlieren.
    „Wenn das jetzt so ist, dann sedieren wir ihn wenigstens ab und intubieren ihn, um das Leiden zu verkürzen!“ fiel nun die Entscheidung und gerade holte die Schwester den Notfallwagen da stürzte ein aufgeregter Laborarzt, gefolgt von einem rothaarigen Mann, dessen Haare wie ein Feuerpinsel in alle Richtungen standen, auf die Intensivstation. „Es geht um den Patienten Jäger-wir vermuten, dass wir wissen, warum es ihm so schlecht geht!“ sprudelte der Doktor hervor und der leitende Anästhesist hob nun die Hand und die Gruppe lauschte gebannt den Erklärungen der beiden Fachleute.


    „Herr Jäger wurde ja von zwei Hunden verletzt und es ist anzunehmen, dass er bei den Beißattacken mit ziemlich viel Speichel und auch Blut der Tiere in Kontakt gekommen ist. Wie wir nun vermuten, wurden die Tiere, um ihre Aggressivität zu steigern, mit einem Medikament aus dem Genlabor behandelt. Wie wir der Aufschrift entnehmen konnten, wurde das in Polen in einer Firma hergestellt, bei der gemunkelt wird, dass die dabei wären Biowaffen zu entwickeln. Klar wenn man Soldaten ein Medikament gäbe, das sie zu aggressiven Kampfmaschinen macht, die keine Erschöpfung mehr spüren, dann hat man natürlich einen Vorsprung gegen andere und auf der ganzen Welt wird diesbezüglich geforscht-leider! Nun haben wir aber festgestellt, dass in dieser Probe gentechnisch hergestellte Moleküle sind, die einfach zu groß sind, um vom menschlichen Körper abgebaut werden zu können. Man muss fast davon ausgehen, dass der Organismus dagegen reagiert und seine Stoffwechselvorgänge so völlig aus dem Ruder laufen, was die Rhabdomyolyse erklären könnte. Auch die allergische Reaktion ist so plausibel!“ sprudelte Hartmut nur so heraus und der Laborarzt nickte zustimmend.
    „Aber was können wir tun-alleine das Wissen, warum es ihm vermutlich so schlecht geht, nutzt unserem Patienten ja nichts!“ sagte unglücklich der Chefarzt. „Versuchen sie die Partikel heraus zu dialysieren!“ empfahl nun der Laborarzt. „Das ist ja die Besonderheit daran und nur deshalb ist dieses Medikament vermutlich noch nicht auf dem offiziellen Markt erhältlich, weil die noch nicht geschafft haben, auf der passende Zellart zu züchten, die vom menschlichen Organismus vertragen wird. Beim Hund hat es schon funktioniert, aber Hunde und Menschen unterscheiden sich eben doch in vielen Dingen!“ sagte er und nun griff der leitende Arzt schon zu seinem Telefon und verständigte den diensthabenden Nephrologen und Dialysearzt. Wenig später war klar welche Dialyseflüssigkeit und welche Membrangröße im Partikelfilter man wählen würde, um einerseits die Riesenmoleküle auszuwaschen und andererseits nicht allzu viele rote Blutkörperchen zu zerstören. „Ich kann zwar nicht glauben dass es funktioniert, aber einen Versuch ist es wert!“ sagte der Intensivarzt und während der Nephrologe nun mit dem Eingriffswagen das Zimmer betrat um Ben sofort einen Dialysekatheter zu legen, richteten sich alle Augen auf ihn, denn Sarah und Semir waren gerade dabei die Hoffnung aufzugeben und Ben war einfach am Ende und fühlte seinen nahenden Tod.

  • Mit ein paar kurzen Worten erklärte der Nephrologe was sie vor hatten und auch Hartmut stand plötzlich in der Zimmertür. Semir sprang auf und eilte zu ihm, während Sarah half Ben für den Eingriff flach auf den Rücken zu lagern, obwohl ihm das noch mehr Pein bereitete und gerade das Flachliegen bei seiner Atemnot schlimm war. „Hartmut hast du herausgefunden, warum es Ben so schlecht geht?“ fragte Semir und sein Kollege nickte. „Frau Krüger und ich haben bei der Hausdurchsuchung Bruckner´s diese merkwürdigen Fläschchen neben dem Hundefutter gefunden und die haben mein Interesse geweckt-ich hoffe nur, dass ich noch rechtzeitig war!“ erklärte Hartmut nun tonlos, denn er hatte mit einem Blick erfasst wie wahnsinnig kritisch es um Ben stand. Semir sagte leise: „Das hoffe ich auch!“ und ging dann mit dem Techniker ein wenig hinaus. In dem Zimmer war schon genügend medizinisches Fachpersonal und Sarah würde genügen um Ben zu beruhigen, da wollte er nicht stören.
    Semir trat mit Hartmut vor die Intensiv und bat um dessen Handy, um kurz Andrea anzurufen. „Andrea- wie mir der behandelnde Arzt vorher mitgeteilt hat, kann ich ab sofort entlassen werden. Allerdings geht es Ben massiv schlecht und ich möchte ihn im Augenblick nicht alleine lassen. Wir sehen zwar gerade einen kleinen Lichtstreif am Horizont, weil unser Teufelskerl Hartmut herausgefunden hat, was Ben so vergiftet hat, aber ob die Therapie anschlägt müssen wir jetzt einfach abwarten!“ erklärte er seiner Frau und die wünschte Ben aus der Ferne nochmals gute Besserung und Semir versprach das auszurichten-falls sein Freund das in seinem Zustand überhaupt erfassen konnte!


    Hartmut sah nun auf die Uhr-es war nach fünf- und ihm fiel ein, dass er ja Jenni versprochen hatte noch bei ihr vorbei zu sehen. „Semir, ich mache dann Feierabend-richte Ben auch von mir noch alles Gute aus und ich drücke die Daumen, dass wir noch rechtzeitig waren!“ verabschiedete er sich und eilte frohgemut zu Jenni, die ihn mit einem Kuss auf die Wange begrüßte. Eigentlich hatte er vorgehabt irgendwann nach Hause zu gehen, aber dann unterhielten sie sich angeregt, aßen eine Kleinigkeit zum Abendbrot und landeten irgendwann im Bett, wobei Jenni durch ihre Prellungen doch sehr gehandikaped war und nur kuscheln wollte. So schliefen sie unter Streicheln ein und Hartmut schalt sich, warum er ihre Beziehung eigentlich so hatte schleifen lassen-hier neben ihm lag doch eine wahrhafte Traumfrau!


    Der Dialysearzt hatte sich derweil grün vermummt und stach nun direkt unter Ben´s Schlüsselbein auf der unverletzten Halsseite zuerst eine Lokalanästhesie und legte dann unter vielen Mühen den Dialysekatheter. Man musste dazu das Bett in Kopftieflage bringen, an Ben´s Arm ziehen und mit allen Tricks arbeiten, da trotz Ultraschallkontrolle das Gefäß miserabel darzustellen und wegen der schlechten Füllung unheimlich schwer zu punktieren war. Fast eine halbe Stunde zog sich die Tortur hin und Sarah beobachte verzweifelt wie Ben schwitzte, unter der Maske ächzte und irgendwann vor Erschöpfung ganz ruhig wurde-sie befürchtete schon, dass der Monitor nun gleich alarmieren würde und sein Herz immer langsamer schlagen und schließlich stehenbleiben würde, aber da hatte es der Dialysearzt geschafft, nähte in Windeseile den Katheter an und schon schob die Dialyseschwester das Blutwäschegerät, das sie schon nach Anweisung vorbereitet hatte, zur Tür herein. Man hatte auch beschlossen Ben zwei Konserven zukommen zu lassen, denn dann standen ihm wieder mehr Sauerstoffträger zur Verfügung und wenig später hatte man ihn wenigstens wieder ein kleines Bisschen zur Seite gelagert und startete die Dialyse.
    Der Intensivarzt war ebenfalls die ganze Zeit nicht von der Seite seines im Augenblick kritischsten Patienten auf der Station gewichen und aus den Augenwinkeln hatte Sarah schon gesehen wie einer ihrer Kollegen den Notfallwagen vor der Tür postiert hatte, alles zum Intubieren hergerichtet und Suprarenin, das Notfallmedikament zur Reanimation schlechthin, aufgezogen hatte. Alle ihre Kollegen hatten die gleiche Befürchtung gehabt wie sie und Semir, der sein Bett ganz in die Ecke geschoben und darauf wieder Platz genommen hatte, hatte die angespannte Stimmung im Zimmer auch bemerkt.
    Als man nun das große Licht wieder anmachte, die Dialyseschwester mit Mundschutz und sterilen Handschuhen die Schläuche ihres Geräts, das sie bediente wie ein Rennfahrer seinen Rennwagen oder wie Sarah ihre geliebten Beatmungsmaschinen, mit dem Patienten verband, lag eine große Spannung über dem Raum. Wie würde Ben die Dialyse vertragen-würde sein Kreislauf schlapp machen, oder gab es sonst Komplikationen? Langsam begannen sich die Pumpen zu drehen und man hatte auch die Temperatur so eingestellt, dass Ben´s Blut effektiv gekühlt wurde. Erst begann man mit einer langsamen Laufrate, führte ihm auch gleich die beiden Konserven durch die Maschine zu und aufatmend registrierte Sarah, dass er es erstaunlicherweise ganz gut vertrug. Langsam ließ die Anspannung im Zimmer nach und als nach fünfzehn Minuten der Intensivarzt und der Dialysearzt den Raum verließen, nahm Semir wieder am Kopfende von Ben´s Bett auf seinem Stuhl Platz. Sie hatten wieder ein wenig Hoffnung geschöpft und schweigend beobachtete Semir seinen schwerst kranken Freund-die nächsten Stunden würden zeigen, ob er ihn behalten konnte und Tim mit einem Vater oder als Halbwaise aufwachsen würde!

  • Hartmut schreckte mitten in der Nacht hoch. Er hatte von Ben geträumt. Der hing am Rande einer Schlucht, die viele hundert Meter nach unten ging. Semir und er versuchten gerade verzweifelt ihn zu retten, aber so sehr sie sich auch bemühten, sie kamen einfach nicht ran. Voller Panik sah er, wie sich Ben´s Griff zu lockern begann und er unweigerlich in die Tiefe stürzen würde, wenn nicht sofort Hilfe kam. Sein verzweifelter Gesichtsausdruck rührte Hartmut bis ins Mark und plötzlich hatte sein Freund auch noch so eine komische Atemmaske auf. Seine eigene Angst und Panik nahmen gleichermaßen zu und dann wachte er auf und musste sich erst einmal orientieren, wo er überhaupt war und was geschehen war. Jenni lag friedlich schlafend neben ihm und nun stand er voller schlechten Gewissens auf. Ben kämpfte im Krankenhaus um sein Leben und er machte sich mit Jenni einen schönen Abend. Freilich hatte er die vermutliche Ursache für Ben´s Befinden herausgefunden, aber davon alleine wurde er nicht gesund und er hatte schon verdammt krank ausgesehen, als er ihn vor wenigen Stunden verlassen hatte. Was wäre, wenn der jetzt gerade im Todeskampf lag und sein Unterbewusstsein ihm dessen letzte Hilferufe signalisiert hatte? Man hörte doch immer davon, dass angesichts des Todes die Dimensionen verschwammen und Zeit und Raum plötzlich keine Rolle mehr spielten? Wollte Ben mit ihm Kontakt aufnehmen, weil es irgendetwas gab, was nur er für ihn tun konnte?
    Hartmut war ins Bad gegangen und klatschte sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht. Dann zog er kurz entschlossen sein Handy hervor und wählte die Nummer der Uniklinik. Während er dem Tuten im Hörer lauschte, wurde der Kloß in seinem Hals immer größer. Was wäre, wenn er gleich eine schreckliche Nachricht kriegen würde?


    Sarah und Semir hatten voller Sorgen neben Ben Platz genommen. Er war fast nicht mehr bei sich und die Dialyse schlauchte nun natürlich noch zusätzlich seinen Kreislauf, so dass man das Noradrenalin mehr und mehr steigern musste. Nach etwa einer Stunde musste man die Fördermenge reduzieren, weil er nun fast keinen Druck mehr aufbaute, aber nachdem man so reagiert hatte, stabilisierte sich sein Zustand wieder ein bisschen. Semir war kurz zurückgetreten, denn der hinzu gerufene Dialysearzt hatte seinen Freund sorgenvoll kurz durch untersucht, bevor er diese Maßnahme anordnete und Semir ertappte sich nun, wie er seine Fingernägel vor Anspannung schmerzhaft in seine Handflächen bohrte. Mit reduzierter Fördermenge allerdings erholte Ben sich wieder ein wenig und Semir konnte erneut neben seinem Kopf Platz nehmen, ihn anfassen und ihm mental alle Kraft senden, die er nur erübrigen konnte.
    Sarah hatte voller Anspannung zu sprechen begonnen. Sie erzählte von Tim und wie süß der gerade war. Wie er brabbelte und gurrte und lachte, wie der Blitz irgendwohin krabbelte und sie erzählte von Frau Brauner und was für ein Geschenk Gottes diese Frau für ihre Familie war, ohne dass Ben auch nur den Hauch eines Verstehens signalisierte. War der überhaupt noch bei sich? Oder hatte die Bewusstlosigkeit schon von ihm Besitz ergriffen? Allerdings zeigte sich ein positiver Effekt der Dialyse: Seine Temperatur, die zuletzt bei 41,5°C gewesen war, was ja seinen Organismus zusätzlich geschlaucht hatte, war durch diese effektive Kühlung auf 40°C gesunken und fiel stetig weiter. Sarah musste innerlich zwar trocken auflachen, denn es war schon erstaunlich dass man sich über vierzig Grad Fieber freuen konnte, aber angesichts der vorigen Entwicklung war das dennoch ein Fortschritt.
    Irgendwann erzählte nun Sarah von ihrem Tag mit Tim und Frau Brauner, vor allem auch weil sie wollte, dass Ben ihre Stimme hörte und sich nicht aufgab, wenn er an Tim dachte, der ihn doch so notwendig brauchte! „Und stell dir vor Ben-ich war dann mit Tim und der netten Frau Brauner und deren Retriever Frederik in der Tierklinik und wir haben Lucky besucht. Jetzt kenne ich also den Hund, der dir das Leben gerettet hat!“ erzählte sie und nun hatte man den Anschein als hätte Ben gerade den Kopf ein wenig zu ihr gewandt. Ermutigt berichtete Sarah weiter: „Der lag in der Klinik in einer Krankenbox und wollte nicht fressen und nicht aufstehen. Die Tierarzthelferin meinte noch er würde sterben, wenn er nicht bald was isst und dann haben Tim und ich ihn erst einmal gestreichelt. Der ist ja wirklich riesig, aber ganz brav, wie alle die ihn kennen mir versichert haben. Tim fand ihn auf jeden Fall klasse, aber ich glaube der findet gerade alles was vier Beine und ein Fell hat toll!“ plapperte sie weiter. „Wir wollten ihn füttern, aber er hat auch von uns nichts genommen, bis Frederik, diese kleine goldene Fressmaschine wie ihn sein Frauchen immer bezeichnet, an seinen Napf gegangen ist. Plötzlich ist er aufgestanden, hat den Rest aufgefuttert und dann waren wir sogar mit ihm noch draußen und er hat herumgeschnüffelt!“ erzählte sie weiter und nun sah auch Semir, dass Ben seine bisher geschlossenen Augen geöffnet hatte. Er versuchte etwas zu sagen, aber weil das unter der Maske nicht so richtig ging und Ben auch viel zu erschöpft war, musste man ihm fast von den Lippen ablesen, aber als Sarah sich konzentrierte meinte sie, dass er in Abwandlung der berühmten Comicfiguren sagte: „Tim und Lucky!“ statt Tim und Struppi und jetzt musste sogar Semir lächeln. Der bekam doch etwas mit und dass er schon wieder Interesse an etwas zeigte war doch ein gutes Zeichen. Nun allerdings schloss Ben die Augen wieder, aber das nächste Blutgas war schon ein wenig besser und man konnte den Sauerstoff der durch das CPAP-Gerät in ihn floss auf 90% reduzieren-wenigstens ein kleiner Fortschritt!


    So vergingen die Stunden bis weit nach Mitternacht plötzlich die Nachtschwester mit dem Stationstelefon in der Hand vor ihnen stand: „Da möchte ein gewisser Herr Freund Auskunft über den Zustand von Herrn Jäger haben, ich darf dem nichts sagen, aber wollen sie vielleicht?“ sah sie fragend in die Runde und Semir erhob sich nun, streckte sich, denn er war irgendwie ganz steif und eingerostet-immerhin hatte er auch überall Prellungen-und übernahm das Telefon. Hartmut sprudelte am anderen Ende der Leitung einige Sätze heraus, so dass Semir sogar lächeln musste, weil er anscheinend so ein schlechtes Gewissen hatte. „Hartmut nein-du musst dir keine Gedanken machen, dass du nach Hause gegangen bist-wir sind bei Ben und du hättest hier weiter ja auch nichts tun können, es war schon wichtig genug, dass du durch deine Detektivarbeit einen Behandlungsansatz geliefert hast, aber ich glaube es geht ihm ein klein bisschen besser als zu der Zeit als du gegangen bist!“ sagte er und musterte Sarah dazu fragend und die nickte mit einem kleinen Lächeln. Irgendwie ging es zwar verdammt langsam, aber Semir hatte Recht-die Tendenz ging aufwärts und als nun Ben im Zeitlupentempo den Daumen nach oben streckte, ergriff eine große Erleichterung von Semir Besitz.

  • Man konnte im Verlauf der nächsten Stunden den Sauerstoffgehalt und die Beatmungsdrücke ein wenig herunterfahren und langsam begannen Sarah und Semir sich ein wenig zu entspannen. Als man es nun doch wagte Ben die Atemmaske kurz abzunehmen, hatte sein Gesicht an den Auflageflächen rote Striemen und er sah ganz verquollen aus, aber immerhin lief er eine kurze Zeit ohne Atemunterstützung schon nicht mehr blau an, obwohl die Sättigung durchaus noch absank, aber so konnte Sarah sein Gesicht abwaschen, seinen Mund auswischen und die Lippen eincremen. Nun verstand man auch was Ben zu sagen versuchte und er griff nun mit beiden Händen, obwohl der operierte Arm ebenfalls noch schweinemäßig weh tat, ihrer beiden Hände und sagte leise: „Danke!“ und Sarah drückte ihm noch einen liebevollen Kuss auf die Stirn, bevor sie die Atemmaske wieder festschnallte. Mit der niedrigeren Laufrate waren die Kreislaufschwankungen auch nicht mehr besorgniserregend und so hatte sich die Dialyseschwester, als die Maschine zuverlässig und ohne Alarme lief, in ihre Abteilung zurückgezogen und die Blutwäsche wurde nun von den Intensivpflegekräften überwacht.
    Man lagerte Ben noch ein wenig bequemer, tauschte vorsichtig, damit die dicken blutgefüllten Schläuche nicht auseinander gingen, das verschwitzte Leintuch aus und als Ben nun halbwegs erfrischt in seinem Bett lag, schob Sarah´s Kollegin den flach gestellten Mobilisationsstuhl mit Kopfkissen und Zudecke wieder zur Tür herein und rangierte ihn neben Ben´s Bett, soweit man da mit den ganzen Geräten und Maschinen hin kam. Auch Semir´s Liegestatt stand ja noch im Zimmer und zögernd suchte nun auch der sein Lager auf. Ben hatte sich ein bisschen entspannt und die Augen geschlossen und so wagten es Sarah und Semir sich ebenfalls ein wenig flach zu legen und als kurz darauf die Nachtschwester ins im Halbdämmer liegende Zimmer sah, in dem viele Maschinen vor sich hin blinkten, da waren alle drei Insassen in einen Erschöpfungsschlaf gefallen und leise verließ sie wieder den Raum-es sah so aus, als würde die Therapie anschlagen!


    Hartmut hatte sich wieder neben Jenni ins Bett gelegt und betrachtete liebevoll seine schlafende Freundin und Kollegin-jetzt würde er dranbleiben an der Beziehung-er hatte gemerkt wie wichtig sie ihm war! Er hörte noch mehrmals eine Kirchenglocke schlagen aber irgendwann war auch er eingeschlafen und kam endlich vollständig zur Ruhe.


    Auch in Aurelia´s Wohnung war Ruhe eingekehrt. Sie hatte selber gegen den Wundschmerz noch einen bitter schmeckenden, aber wohltuenden Kräutertrank zu sich genommen und nach kurzer Überlegung auch Agathe davon angeboten, die tatsächlich aus einem kleinen Schüsselchen ein paar Schluck genommen hatte. Darin waren nur selbst gesammelte Heilkräuter, also nichts, was Mensch oder Tier schaden würde und so setzte Agathe sich auf die hölzerne Kopfstütze von Aurelia´s Bett, die vorsichtshalber auf dem Boden davor noch Zeitungspapier ausgebreitet hatte, damit der nicht beschmutzt wurde und steckte müde ihren Kopf unter den gesunden Flügel, der Leguan legte sich auf den Bettvorleger und die Katzen rollten sich am Fußende des großen Bettes zusammen und alle schliefen nun und waren zufrieden, dass ihr kleiner friedlicher Alltag wieder ein wenig zurück war.


    Im fernen Polen tranken Dermold, Bruckner und Strzigowski so einiges an selbst gebranntem Wodka und erwachten am Morgen mit schrecklichen Kopfschmerzen-es wurde langsam Zeit, dass ihre Papiere fertig wurden, das Geld eintraf und sie Flüge buchen konnten!


    Lucky lag in der Tierklinik derweil in seiner Krankenbox. Er hatte abends noch einmal gefressen und wartete nun hoffnungsvoll darauf, dass die Menschen, die so gut nach Herrchen rochen, wieder zurückkamen und ihn zu seiner Bestimmung brachten.

  • Konrad war spätabends in der Uniklinik eingetroffen. Der Learjet hatte in Köln keine Landeerlaubnis bekommen und so waren sie zu seinem Heimatflughafen nach Düsseldorf ausgewichen. Während sich der österreichische Pilot sofort auf den Rückweg gemacht hatte, war Konrad nun zu seinem Wagen gegangen, der dort im Parkhaus stand und hatte versucht über die A3 zu seinem Sohn zu fahren. Da war aber ein schwerer Unfall passiert und so stand Konrad nach der darauffolgenden Totalsperre erst einmal stundenlang im Stau. Er versuchte Sarah zu erreichen, aber deren Handy funktionierte ja auf Intensiv nicht und so kam er erst mitten in der Nacht an der Uniklinik an. Voller Sorge läutete er an der Tür draußen, bekam aber die Auskunft, dass sich der Zustand seines Sohnes leicht verbessert hatte und der nun schlafen würde, wie seine Schwiegertochter und der Freund ebenfalls. So hatte Konrad nur einen kurzen Blick ins Zimmer geworfen, seinen von vielen Maschinen umgebenen Sprössling besorgt betrachtet und war dann wieder nach Hause gefahren-was sollte er auch sonst tun?


    Der nächste Morgen war ein Samstag. Auch auf einer Intensivstation ging es da ruhiger zu als an Werktagen, weil die Visiten später kamen und man außer in Notfällen auch in niedrigerem Tempo arbeitete, das Telefon seltener läutete und so schob man die Schiebetüre zu Ben´s Zimmer, wo die drei Freunde selig schlummerten, ein wenig zu und ließ sie ausschlafen. In der Nacht war die Nachtschwester desöfteren an Ben´s Bett getreten, hatte das Noradrenalin reduziert wenn der Blutdruck es zuließ und für ihn schmerzfrei Blut aus der Arterie abgenommen und nach der Analyse auch die Beatmungseinstellungen verändert. Ben hatte das meistens gar nicht mitbekommen und nachdem die Schwester beobachtet hatte, dass er seine Lage immer wieder minimal veränderte, etwas woran gestern nicht im Traum zu denken gewesen wäre, verzichtete sie auch darauf ihn zu lagern, was fast mit Sicherheit nämlich alle Anwesenden im Zimmer geweckt hätte.
    So erwachten Semir und Sarah fast gleichzeitig als das lautes Geräusch einer herabfallenden Waschschüssel auf dem Flur ertönte und Sarah sah im ersten Moment erstaunt und ein wenig erschrocken zur Uhr und stellte fest dass es schon neun Uhr war. Auch Ben hatte langsam die Augen geöffnet und als Sarah nun mit prüfendem Blick ihn, den Monitor und die Beatmungseinstellungen musterte, stellte sie fest, dass alle Werte sich ziemlich gebessert hatten. Das Fieber war dank Dialyse, die immer noch langsam mit lief, bei 38°C, das Noradrenalin hatte man halbieren können und der Sauerstoffgehalt der Beatmungsluft war bei 40% angelangt. „Um Himmels Willen-so spät schon!“ bemerkte Sarah und nun nuschelte Ben etwas in seine Maske, was aber weder sie noch Semir richtig verstehen konnten. So löste Sarah die Befestigungsbänder der Atemmaske um seinen Kopf, was ihr Mann mit einem Seufzer der Erleichterung quittierte. Sarah schaltete die Maschine auf Stand-By-Modus, steckte ihm die bereitliegende Sauerstoffbrille in die Nase, drehte den Sauerstoff auf fünf Liter pro Minute auf und die Sättigung sank dabei kaum ab. „Was hattest du gesagt?“ erkundigte sie sich dann und Ben, der das Gefühl der Erleichterung ohne Atemmaske aus vollen Zügen genoss antwortete: „Ich habe gefragt, ob du etwas Wichtigeres vorhast-und übrigens-wo ist denn mein Sohn und wer passt aktuell auf ihn auf?“ wollte er wissen, denn er konnte nicht mehr unterscheiden was von dem Wahrheit und was Fiebertraum gewesen war, was ihm so im Kopf herumging.


    „Ich habe vorgestern durch Andrea eine sehr nette und kompetente ältere Frau kennengelernt. Eigentlich wollten wir nur Tim beibringen wie man sich Hunden gegenüber benimmt, aber diese sehr gut situierte Dame mit einem Golden Retriever namens Frederik hat sich von Anfang an hervorragend mit ihm verstanden und er ist jetzt seitdem bei ihr im Haus und hat auch dort geschlafen. Ich habe das Reisebett und viele andere Sachen die er braucht dorthin gebracht und Frau Brauner betreut ihn jetzt, bis es dir wieder besser geht.“ erklärte sie. Ben sagte erst gar nichts, aber dann insistierte er doch: „Sarah-du kannst doch nicht einfach unseren Sohn bei einer wildfremden Frau lassen! Ich habe gedacht der wäre bei Andrea oder Julia-sonst hätte ich das gar nicht zugelassen. Ich werde hier bestens versorgt und komme schon zurecht, was ist, wenn die doch nicht so nett ist wie du denkst und ihm was antut, ihn entführt und Lösegeld erpresst, oder ihn einfach nur vernachlässigt?“ sagte er unglücklich und jetzt war Sarah fast ein wenig sauer: „Unser Kind ist mir genauso wichtig wie dir und das weisst du!“ beschwor sie ihn. „Traust du mir nicht zu einen anderen Menschen einzuschätzen? Du verurteilst jetzt diese hoch anständige Frau, ohne sie zu kennen, dabei hat nur sie mir die Möglichkeit gegeben bei dir zu sein-Julia ist krank und bei Andrea wollte er nicht bleiben und hat sich die Seele aus dem Leib gebrüllt, während er bei Frau Brauner gerne ist, vermutlich auch wegen dem Hund!“ betonte sie heftig und nun wandte Ben traurig den Blick ab. Er wollte ja mit Sarah nicht streiten, aber er hatte aktuell eine wahnsinnige Sehnsucht nach Tim und auch Angst um ihn-eine Mutter gehörte zu ihrem Kind und stattdessen hatte sie sich ausschließlich um ihn gekümmert, was er ja ebenfalls schön fand, aber diese fremde Frau ließ ihm einfach keine Ruhe.


    Nun mischte sich Semir ein: „Jetzt streitet euch nicht. Ich habe einen Vorschlag zu machen-ich bleibe bis auf Weiteres bei dir Ben und Sarah soll schauen, dass sie zu eurem Sohn kommt und nachsieht, ob es ihm gut geht. Alles Weitere wird sich dann finden!“ bestimmte er jetzt einfach und mit dieser Regelung waren die beiden einverstanden. So brach Sarah nach einem kurzen Abstecher ins Bad auf, Semir machte schnelle Katzenwäsche und trank dann erst mal eine Tasse Kaffee und aß ein belegtes Brötchen das ihm die Schwestern brachten und sah dann zu, wie bei Ben erst die Dialyse abgehängt wurde und half dann dabei ihn zu waschen. „War das jetzt blöd von mir?“ fragte Ben leise seinen Freund, aber der schüttelte den Kopf. „Ich kann deine Sorge ja verstehen, aber was hätte Sarah denn machen sollen-gestern hatten wir Angst dich zu verlieren und sie hätte es sich nie verziehen, wenn sie da nicht bei dir gewesen wäre!“ gab er zu bedenken und jetzt wurde Ben ganz still.

  • Nach der Morgentoilette hängte man Ben erst einmal für eine Stunde an die nichtinvasive Beatmung, denn nachdem die einige Zeit weggewesen war, sank Ben´s Sauerstoffsättigung erneut, aber trotzdem fühlte er sich insgesamt besser. Als der Chirurg kam, um seine Verbände frisch zu machen, sank Ben das Herz mal wieder in die nicht vorhandene Hose. „Oh nein-Scotty beam mich weg!“ flüsterte er in die Maske, die nun für eine Weile wieder abgenommen wurde. Er biss sich auf die Lippen als man ihn auf den Bauch lagerte und erwartete wieder die fürchterlichen Schmerzen wie am Vortag, aber heute war es eigentlich halb so schlimm, da die Wundränder überwiegend rosig durchblutet waren und der graue schmierige Belag verschwunden war. Nur als die Wundtaschen saubergemacht wurden, entwich ein Stöhnen seinem Mund und er klammerte sich an Semir´s Hand wie ein Ertrinkender fest. Aber auch das war schnell vorbei, nur als die neuen Tamponaden wieder in die Löcher gestopft wurden schrie er nochmals auf, obwohl er durchaus einen Opiatbolus bekommen hatte. Der Arm und die Wunde am Hals waren reizlos und so lag er wenig später ziemlich erleichtert wieder auf der Seite und bekam zu seiner Überraschung sogar ein paar Schlückchen Wasser zu trinken. Mit Argusaugen beobachtete die Schwester ob er fähig war Flüssigkeit zu schlucken-sonst hätte man sie angedickt, aber es funktionierte und nachdem Ben nun mit der gesunden Hand auch noch selber seine Zähne geputzt hatte, war er zwar völlig erschöpft, aber trotzdem einigermaßen zufrieden. Er merkte selber, dass es aufwärts ging und mit jeder Sekunde die Sarah weg war, hatte er erstens mehr Sehnsucht nach ihr und zweitens ein fürchterlich schlechtes Gewissen, weil er sie so angegangen hatte.


    Nachdem er noch eine kurze Pause hatte, bis die Atemmaske wieder aufgeschnallt wurde, fragte er nun Semir nach einer Sache, die ihn jetzt zudem die ganze Zeit beschäftigte. Er hatte am Vortag dermaßen wirre Träume gehabt, dass er nicht mehr wusste, was Realität gewesen war und was nicht. „Semir-sag mal stimmt es dass Sarah nach Lucky gesehen hat?“ fragte er vorsichtig. Sein Freund musste ja denken er wäre völlig verblödet, aber wenn man sich etwas so sehr wünschte, dann spielte ihm seine Phantasie vielleicht doch einen üblen Streich, denn andererseits konnte er sich noch an das klare „Nein!“ aus ihrem Mund erinnern als er angesprochen hatte, Lucky zu sich zu nehmen. „Doch Ben-Sarah war gestern mit Tim und dieser Frau Brauner in der Klinik und hat ihn besucht. Anscheinend hat er erst dadurch wieder Lebensmut bekommen und hat gefressen. Sie war sogar mit ihm an der Leine ein wenig draußen und Tim war anscheinend auch begeistert von ihm!“ erzählte Semir, um gleich danach hinzuzufügen: „Das musst du ihr auch hoch anrechnen, denn wenn mein Partner nach einer Hundeattacke so daliegen würde wie du, dann würde ich vermutlich den Rest meines Lebens einen riesigen Bogen um alle Hunde machen die größer als knöchelhoch sind!“ und nun nickte Ben nachdenklich. „Weisst du Semir-ich glaube auch, dass ich in nächster Zeit einen Bogen um alle Schäferhunde schlagen werde, denn da werde ich immer den Angriff von Castor und Pollux im Hinterkopf haben. Aber mit Lucky ist das was anderes-der war von der ersten Sekunde als er da in dem Entwässerungsrohr saß mein Freund. Er hat sich wahnsinnig gefreut wenn ich in seinen Zwinger gegangen bin und ich kann mir nicht vorstellen, dass der einen Menschen beißen könnte-obwohl der ja durchaus zugepackt hat, um mich zu retten, was ihm damit ja auch gelungen ist!“ erklärte er, aber Semir gab nun zu bedenken: „Trotzdem musst du Sarah auch verstehen, falls sie sich nicht dazu durchringen kann Lucky zu euch zu nehmen. Immerhin habt ihr ein Kleinkind zuhause und Lucky ist mindestens doppelt so groß wie Tim-aber dann suchen wir eben gemeinsam einen guten Platz für Lucky und ihr schafft euch dann später, wenn Tim größer ist, einen anderen Hund an!“ versuchte er seinen Freund zu beeinflussen, aber als nun die Schwester wieder kam und erneut die Atemmaske festschnallte, meinte Semir zuvor noch zu hören: „Ich will aber nur Lucky!“ aber dann war das Sprechen bis auf Weiteres für Ben beinahe unmöglich geworden.


    Semir seufzte auf und als sein Freund die Augen schloss ging er ein wenig auf den Flur und bat die Schwestern um ein Telefon um Andrea anzurufen. Er gab ihr kurz Bescheid, dass es ihm persönlich gut ging und auch Ben auf dem Wege der Besserung war, was ihr ein erleichtertes Aufseufzen entlockte. „Ich bleibe jetzt aber noch so lange bei Ben bis Sarah wiederkommt, ich habe es versprochen und wenn es dir nichts ausmacht rufe ich dich dann an, damit du mich abholen kannst!“ fragte er und Andrea versicherte, dass das schon klar ginge. Sie war ja nur froh, dass Semir den Unfall und die Commotio anscheinend gut weggesteckt hatte und dass es jetzt auch Ben besser ging, war eine zweite gute Nachricht. Sie teilte das auch gleich den Mädchen mit und Ayda, die erst am Morgen sehr traurig gewesen war, dass der Papa entgegen seiner Versicherung in der Frühe nicht dagewesen war, war nun gleich besänftigt und begann gemeinsam mit Lilly ein paar Gute-Besserungs-Bilder zu malen, allerdings war auf jedem mindestens ein Hund zu sehen und Andrea wunderte sich nur wieder, was die Kinder doch immer alles so mitbekamen!


    Sarah hatte zunächst wütend die Intensivstation verlassen. Kaum war Ben von der Schippe gesprungen war er sie schon angegangen. Je weiter sie sich allerdings vom Krankenhaus entfernte und durch den ruhigen Samstagmorgenverkehr zu Frau Brauner fuhr, desto mehr beruhigte sie sich und konnte auch verstehen, dass Ben sich Sorgen um seinen Sohn und dessen Betreuung machte. Immerhin war ja tatsächlich Frau Brauner bis vor zwei Tagen auch für sie ein wildfremder Mensch gewesen und wenn ihr vor einer Woche jemand gesagt hätte, dass sie Tim so einfach aus der Hand geben würde, dann hätte sie das nicht geglaubt-das hier waren besondere Umstände, aber eben auch eine besondere Frau! Sie hielt noch kurz bei einer Bäckerei und kaufte eine bunte Frühstückstüte und als sie an der Haustür läutete, hörte sie ihren Sohn schon aus dem Inneren des Hauses herzhaft lachen und nun zog auch über ihr Gesicht ein breites Lächeln. Als Frau Brauner öffnete und Tim mal wieder gar keine Zeit für die Mama hatte, weil er doch mit Frederik schäkern musste, warf sie ihre Sorgen über Bord und trat einfach ein. Frau Brauner legte noch ein Frühstücksgedeck auf, als sie die bunte Tüte sah und so frühstückten die beiden Frauen erst einmal ausführlich und auch Tim ließ sich überreden einen kurzen Boxenstopp einzulegen und etwas zu essen und zu trinken. Allerdings beobachteten Sarah und Frau Brauner wie er immer wieder Stücke des Brötchens für Frederik hinunterwarf, der mit hungrigen Blicken neben dem Hochstuhl nur darauf wartete. Ein Lächeln zog über die Züge der beiden Frauen-eigentlich sollte man jetzt schimpfen, aber das war so süß und festigte die Freundschaft zwischen Kind und Hund, dass sie einfach so taten als hätten sie das nicht gesehen.
    Sarah schüttete nun Frau Brauner auch einfach ihr Herz aus und berichtete von Ben´s Zweifeln, aber andererseits auch von ihrer Freude, dass es ihm besser ging. Die ältere Frau sagte ganz ernst: „Ich kann ihren Mann durchaus verstehen-was wir beide hier gerade machen ist ja auch alles andere als üblich, aber besondere Situationen erfordern eben manchmal besondere Maßnahmen!“ gab sie zu bedenken und fragte dann: „Meinen sie, dass ich ihn kurz auf der Intensivstation besuchen sollte, falls man mich da rein lässt, damit er mich kennenlernen kann und danach vielleicht beruhigt ist?“ und Sarah stimmte ihr zu. Das war eine gute Idee!


    „Aber erst müssen wir noch nach Lucky sehen!“ bestimmte Frau Brauner und Sarah, die das eigentlich gar nicht so wahnsinnig notwendig erachtet hatte, gab sich geschlagen. So wurde Tim noch frisch gewickelt, der Tisch abgeräumt und wenig später waren die beiden Frauen, Tim und Frederik wieder auf dem Weg zur Tierklinik. „Wie schön dass sie kommen!“ rief die Tierarzthelferin von gestern, die Wochenenddienst hatte. „Lucky wartet schon sehnsüchtig auf sie!“ und gleich erhob sie sich, um voraus zur Krankenbox zu gehen. Obwohl er noch Schmerzen hatte, erhob sich Lucky sofort mit freudig gespitzten Ohren, als er die Stimmen hörte und konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu wedeln und seine Freude zu zeigen, dass man ihn nicht vergessen hatte. Tim beugte sich mit geschäftigen Lauten vom Arm der Mama zu dem riesigen Hund und streckte die Ärmchen aus. Immerhin war er jetzt der Hundeprofi in der Familie und auf die Bitte Frau Brauner´s setzte Sarah den kleinen Mann auf den Boden. Sofort legte sich Lucky auch hin und robbte ganz vorsichtig zu Tim und beroch ihn ausführlich, während der Kleine juchzte und seine Fäuste in dem zottigen Fell vergrub. „Sarah sehen sie mal wie vorsichtig Lucky mit einem Kleinkind umgeht-der ist ein idealer Familienhund!“ pries ihn Frau Brauner an und auch Sarah war ganz gerührt von der Szene. Allerdings ging ihr das alles zu schnell und sie brauchte einfach noch Bedenkzeit, bevor sie so einen folgenschweren Entschluss fasste, einen Hund zu sich zu nehmen. Sie nahmen Tim nun wieder hoch und erneut durfte Lucky mit ihnen nach draußen und begann, obwohl er noch sichtlich steif ging und manche Bewegungen vermied, trotzdem mit Frederik zu spielen und das war ein Schauspiel das allen Zusehern gefiel. Plötzlich stand auch der Hundeführer der Polizei mit Arco bei ihnen, der sich ebenfalls nach Lucky erkundigen wollte und auch dessen Hund begann nun mitzuspielen. Allerdings war Sarah nun ganz blass geworden und hatte Tim fest an sich gedrückt-immerhin war das ein Schäferhund und die waren alle gefährlich! Sarah war immer noch sehr schweigsam, als sie nach einer halben Stunde Lucky wieder in die Krankenbox zurückbrachten und als sie im Auto saßen um zur Uniklinik zu fahren sagte sie nur: „Ich weiß nicht, ob ich das kann!“ und nun wusste auch Frau Brauner, der Sarah´s Reaktion nicht entgangen war, keine Antwort.


    Im Krankenhaus hatte Konrad inzwischen einen erneuten Versuch gestartet und tatsächlich-heute konnte er zu Ben, der war wach und die Schwester nahm ihm für kurze Zeit seine Atemmaske ab, damit er sich mit seinem besorgten Vater unterhalten konnte. Als der erzählte, was er am Vortag für eine Odyssee hinter sich gebracht hatte, um mit stundenlanger Verspätung zu seinem Sohn zu kommen, sagte Ben nur gerührt: „Danke Papa!“ und dann saß Konrad eine ganze Weile still an Ben´s Bett und genoss dessen Nähe, während Semir sich draußen ein wenig die Beine vertrat.

  • Wenig später waren Sarah, Frau Brauner und Tim an der Uniklinik angekommen. Tim war natürlich im Auto eingeschlafen und nachdem er und Frederik ja sowieso nicht mit auf die Intensiv gedurft hätten, stellten sie das Auto auf einen Schattenparkplatz, öffneten die Fenster und eine Tür und zunächst blieb Frau Brauner am Wagen, während Sarah hinaufeilte, um ihren Kollegen Bescheid zu geben, dass Ben nur ganz kurz einen besonderen Besuch, der ihr sehr wichtig war, bekommen würde. „Geht klar, Sarah-weil du es bist!“ sagte die betreuende Schwester und Semir auf dem Flur, der Sarah ebenfalls erspäht hatte und die versichert hatte, dass sie nun wieder dableiben würde und sich vielmals bei ihm bedankte, rief auch gleich von ihrem Handy aus Andrea an, um seine Abholung zu organisieren.


    Sarah lief wieder hinunter und übernahm die Bewachung von Tim, Frederik und dem Wagen, während Frau Brauner sich nun zur Intensivstation begab. Sie läutete draußen und wurde auch sofort hereingebeten und zu Ben´s Zimmer geführt. Der hatte immer noch Besuch von Konrad, der ihm gerade noch Grüße von Julia ausrichtete, die ganz verzweifelt ihren Vater angerufen hatte, dass sie einfach nicht fähig war, sich auf den Beinen zu halten. „Papa sag ihr, ich freue mich, dass sie an mich denkt, aber sie soll bitte wegbleiben, bis sie wieder ganz gesund ist-wenn ich mir nämlich vorstelle ich würde jetzt ne Erkältung kriegen und müsste niesen und husten, dann wird mir ganz anders!“ überlegte Ben mit Schaudern, der sich gerade vorkam als wäre er ungefähr hundert Jahre alt, so weh tat ihm jede einzelne Gräte.
    Nun öffnete sich die Schiebetür und eine sehr gepflegte ältere Frau stand plötzlich im Zimmer und wollte gerade anheben etwas zu sagen, da fiel ihr völlig entgeisterter Blick auf Ben und seinen Vater. „Konrad-was tust du hier?“ stammelte sie beinahe und in diesem Moment fügte sich erst in ihrem Kopf das Eine zum Anderen. Konrad war aufgesprungen und hatte freudig die Arme ausgestreckt: „Hildegard-schön dich zu sehen!“ rief er herzlich und umarmte sie kurz, während Frau Brauner die Umarmung zurückgab, dann aber an das Bett trat und leise sagte: „Lange nicht gesehen Ben!“ und dem jungen Polizisten die Hand entgegenstreckte. Der sah die Frau fassungslos an, nahm mühsam ihre Hand in die Seine, erwiderte den festen Händedruck, soweit es ihm möglich war und sagte ebenfalls: „Hildegard-was führt dich denn zu mir?“ denn Sarah war ja noch nicht bei ihm gewesen und hatte ihn aufgeklärt.
    „Ben-ohne zu wissen dass Tim dein Sohn ist-wobei ich mir das eigentlich hätte denken können, denn er sieht genauso herzig aus wie du in dem Alter-ich bin die Frau, die ihn während Sarah´s Abwesenheit betreut!“ sagte sie schlicht und nun ließ Ben erleichtert den Kopf aufs Kissen zurücksinken. „Oh Mann und ich habe deswegen Sarah Vorwürfe gemacht, dabei hast du früher schon auf mich und Julia aufgepasst und wir waren immer total gerne bei euch-vor allem auch wegen der Hunde!“ erinnerte er sich.
    „Ja und ich habe euer Haus gebaut, dafür hat Jo unsere Trauringe gefertigt und ihr ward unsere Trauzeugen!“ erinnerte sich Konrad gerührt und sie schwelgten noch eine Weile in der Vergangenheit. Ben kam sogar in den Sinn, wie sein Vater ihm vor einiger Zeit erzählt hatte, dass er auf der Beerdigung seines alten Schulfreundes gewesen war und Hildegard erwähnte noch kurz, wie Sarah und sie sich kennengelernt hatten. „Weißt du Ben-manchmal macht das Schicksal doch auch etwas gut-ich werde jetzt wieder runtergehen, mit Tim zu mir nach Hause fahren und dir schicke ich deine Sarah, übrigens eine tolle Frau mit vernünftigen Ansichten, die dich von Herzen liebt, wieder herauf. Tim ist bei mir in den besten Händen und du kannst versichert sein, dass ich ihn behandle, wie meinen eigenen Enkel, der leider viel zu weit weg wohnt!“ erklärte sie und jetzt bedankte sich Ben leise und Konrad verließ nun gemeinsam mit Hildegard in angeregtem Gespräch die Intensivstation, während Ben beschämt wegen seines Misstrauens seinen Kopf ins Kissen zurücksinken ließ.


    Semir, der kurz nochmals zurückgekehrt war, um seine Reisetasche zusammenzupacken und sich zu verabschieden, hatte die Zusammenhänge relativ schnell begriffen. „Wie der Zufall so spielt!“ sagte er versonnen und da konnte ihm sein Freund nur zustimmen. Allerdings hatte Ben nun Probleme mit weiteren Schmerzen, sein rechtes Bein war dick und geschwollen und er beschloss, das Sarah zu zeigen, sobald sie wieder bei ihm war.

  • Als Frau Brauner zusammen mit Konrad nun zu ihrem Wagen kam und sich mit ihm in angeregtem Gespräch befand, kannte Sarah sich zunächst gar nicht aus. Sie hatte sich am Vortag kurz gewundert warum Konrad, der ja am Telefon sehr besorgt gewirkt hatte, dann doch nicht gekommen war, wie auch Julia, aber dann hatte sie sich lieber um Ben gekümmert, als sich darüber Gedanken zu machen. Nun unterhielt sich Konrad mit Frau Brauner, als würden sie sich schon ewig kennen und nach ein paar erklärenden Worten stellte sich heraus, dass das auch tatsächlich so war. „Welch ein Zufall, Sarah-ich hatte keine Ahnung dass ich ihren Mann und seine Familie schon sehr lange kenne. Mein verstorbener Ehemann war ein Schulkamerad Konrad´s in Düsseldorf und wir sind erst nach unserer Heirat nach Köln gezogen, weil wir da eine alteingesessene Firma übernehmen konnten. Konrad hat unser Haus gebaut, wir waren Trauzeugen bei der Heirat ihrer Schwiegereltern, aber die letzten Jahre hatten wir leider gar keinen Kontakt mehr und so wusste ich auch nicht, dass Ben Polizist geworden ist. Allerdings hat er mich gleich wieder erkannt und nachdem ich schon auf ihn und Julia aufgepasst habe, als die beiden in Tim´s Alter waren, traut er mir das glaube ich durchaus zu, mich um euren Sohn zu kümmern-also haben sie jetzt eine Sorge weniger!“ erklärte sie freundlich und Konrad, der inzwischen seine Schwiegertochter mit einem Küsschen auf die Wange begrüßt und dem schlafenden Tim kurz liebevoll übers Köpfchen gestreichelt hatte, protestierte. „Jetzt seid mal nicht so förmlich-Hildegard gehört doch sozusagen zur Familie!“ und so waren wenig später Sarah und Frau Brauner per Du und mit einem Gefühl der Erleichterung machte sich Sarah nun auf den Weg zu Ben, während Konrad noch eine Weile in angeregter Unterhaltung am Wagen stehen blieb.


    Kurz darauf betrat Sarah ein wenig zögernd das Krankenzimmer. Als sie gegangen war, hatte sie fast ein wenig mit Ben gestritten, sie war unsicher, wie seine Stimmung jetzt war und wie es ihm gesundheitlich ging, aber als ihr Mann sie sah, breitete er die Arme aus, soweit es ihm von den Schmerzen her möglich war und sagte: „Komm her und entschuldige, dass ich dich wegen der Kinderbetreuung so angeraunzt habe. Ich hatte ja keine Ahnung, wen du da aufgetan hast und auch wenn es tatsächlich jemand Wildfremdes gewesen wäre-ich hätte ja wissen müssen, dass du unser Herzblatt nie jemandem anvertrauen würdest, der ihn nicht fürsorglich und gewissenhaft betreut!“ intonierte er reuig und nun flog Sarah regelrecht in seine Arme und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Sie war nur froh, dass zwischen ihnen wieder alles in Ordnung war und nun musterte sie erst einmal die ganzen Monitore und Geräte. Die Noradrenalineinstellung war noch wie gehabt, darunter war der Blutdruck relativ stabil, allerdings hatte ihr Partner ohne Atemmaske schon wieder blaue Lippen und die Sättigung war grenzwertig. Sonst schien er allerdings munterer als am Morgen und so verabschiedeten sie sich nun erst einmal beide von Semir, der gerade von Andrea abgeholt wurde.
    Die stand mit den Mädchen draußen vor der Intensiv und so fuhr Ben´s Freund und Kollege nun schon leichteren Herzens mit seiner Familie nach Hause und zur Feier des Tages machten sie zur großen Freude der Kinder noch einen Halt bei MacDonalds-nun war es dem Papa verziehen, dass er am Vortag zum Frühstück nicht wie versprochen dagewesen war.


    Sarah nahm nun an Ben´s Bett Platz und fragte: „Nun wie hat heute alles geklappt? Hattest du schon den Verbandwechsel?“ wollte sie wissen und Ben nickte. „Das war zwar nicht schön, aber trotzdem viel besser als gestern und es hat auch nicht so lange gedauert!“ teilte er ihr mit, allerdings bemerkte sie, dass er nun schon wieder verstärkt nach Atem rang. „Ben-ich glaube wir sollten die Atemmaske wieder aufsetzen!“ sagte Sarah bedauernd, denn nun sank die Sättigung doch in einen bedenklichen Bereich und auch ihre Kollegin die am Nachmittag ihren Mann betreute stand nun mit demselben Vorhaben im Zimmer. Sie hatte auch den Besuch noch abwarten wollen, aber jetzt wurde es wieder höchste Zeit für Ben´s Atemgymnastik! Gemeinsam setzten sie ihm die Maske auf und er konnte zuvor nur noch kurz bitten: „Sarah-könntest du dir mal mein rechtes Bein ansehen? Das ist total dick und tut plötzlich ebenfalls weh, wie wenn ich einen Muskelkater drin hätte!“ und so schlugen die beiden Frauen nun die dünne Decke, die Ben´s Körper verbarg zurück und man konnte nicht sagen, welche von den beiden mehr erschrak.
    „Verdammt-ich hole sofort den Stationsarzt!“ rief die Intensivschwester und Sarah nickte, während ihre Kollegin schon nach draußen lief. Hoffentlich bestätigte sich ihr Verdacht nicht, denn sonst schwebte Ben in einer neuen Lebensgefahr. Wenig später stand auch der Intensivarzt schon vor ihnen und die Schwester schob auch gleich das Ultraschallgerät ins Zimmer und verdunkelte den Raum. Nach einem einzigen Blick auf das geschwollene und rötlich-blau verfärbte Bein stand dessen Diagnose eigentlich schon fest, aber trotzdem bat er Ben, sich doch auf den Rücken zu legen und schallte nun gewissenhaft beide Beine und den Unterbauch. „Herr Jäger!“ informierte er ihn dann mit ernstem Gesichtsausdruck. „Obwohl sie während der Dialyse Heparin bekommen haben, hat sich leider bei ihnen eine Mehretagenthrombose gebildet. Das rechte Bein ist in seiner ganzen Länge von venösen Blutgerinnseln durchsetzt und in der Beckenvene sehe ich ebenfalls einen flottierenden Thrombus, also eine besonders gefährliche Form der Thrombose, denn wenn sich der losreißt, haben wir eine Lungenembolie oder einen Hirninfarkt. Bleiben sie bitte jetzt ganz ruhig liegen-ich verständige meinen Hintergrund und ach ja Claudia“-wandte er sich an die Intensivschwester die gerade den Raum wieder heller machte: „Bitte einen Heparinperfusor mit 25 000 I.E. über 24 Stunden und einen Bolus von 5000 I.E. sofort und dann das Bein wickeln und hochlagern!“ ordnete er an und ging nach draußen, um das Telefonat zu erledigen. Sarah blieb schreckensstarr mit Ben in dem Raum zurück, der gerade Mühe hatte das Gehörte zu verstehen und zu verarbeiten. Jetzt hatte er gedacht, er hätte den Tiefpunkt überwunden, aber das sah wohl doch nicht so aus, wenn er Sarah´s besorgten Gesichtsausdruck richtig deutete.

  • Der diensthabende Hintergrundarzt zog gleich seinen internistischen Kollegen zu und die Ärzte beratschlagten anhand der Aktenlage, was in Ben´s Fall für eine Therapie sinnvoll war. „Wir haben einerseits die thromboembolische Erkrankung, die das Risiko für eine potentiell tödliche Lungenembolie oder einen Schlaganfall massiv erhöht. Einerseits wäre jetzt eine effiziente Antikoagulationstherapie notwendig, eventuell auch eine Lyse, also eine medikamentöse Auflösung der Thromben, aber andererseits sind wir in der absoluten Kontraindikation für eine Auflösungsbehandlung, weil unser Patient durch die mannigfaltigen Verletzungen, gerade im Halsbereich, dadurch fast sicher verbluten würde, wenn wir medikamentös die Blutgerinnung aufheben. Also können wir nicht einmal bei einer gesicherten Lungenembolie oder einem Schlaganfall eine effiziente Therapie einleiten. Wenn wir die angefangene Vollheparinisierung fortführen wird er fast mit Sicherheit dauerhaft Dialysepatient bleiben, denn durch diese hohen Heparindosen wird die sowieso schon vorgeschädigte Niere den Todesstoß erhalten. Das ist jetzt zwar besser als zu sterben, aber vielleicht haben wir doch noch eine dritte Möglichkeit!“ überlegte der Internist, der sehr viele Herzkatheter machte und seine Kollegen sahen ihn fragend an.
    „Es ist zwar hier im Haus kein Routineeingriff, aber in der Klinik in der ich zuvor war, wurden sehr viel mehr Cavafilter eingesetzt als hier-ich würde vorschlagen, wir besprechen das kurz mit dem Radiologen, ob er bereit für einen interventionellen Eingriff ist, schauen ob wir so einen Filter überhaupt im Haus vorrätig haben-sonst haben die Firmen meist einen Lieferservice oder wir leihen ihn von einem anderen Haus- und dann klären wir den Patienten auf und holen uns sein Einverständnis für diese vorbeugende Maßnahme der neu aufgetretenen Grunderkrankung.“ schlug er vor und die beiden anderen Ärzte sahen ihn bewundernd an-das war eine hervorragende Idee und konnte das Leben des Patienten retten.
    Nachdem ja Samstag war und im Zentrallager nur ein Notdienst eingeteilt war, ging der Internist selber in die Katakomben im Keller und fand bei den Gefäßprothesen auch tatsächlich nach kurzer Suche den gewünschten Cavafilter. Der Radiologe wurde verständigt und die Bereitschaft im Katheterlabor angerufen "Es wäre in weniger als einer halben Stunde möglich den Eingriff durchzuführen!“ bekam er Bescheid und nun gingen der Internist und der Stationsarzt gemeinsam zu ihrem Patienten und seiner Frau, die immer noch schreckensbleich neben ihrem Mann saß und ihn sich vor Angst und Sorge fast nicht anzufassen traute. Jedes Husten, Pressen oder Niesen, jeder Blutdruckanstieg oder auch einfach so, konnte so einen flottierenden Thrombus, der nur an einer Stelle der Gefäßwand hing, dazu bringen sich los zu reißen und da der im Becken so groß war, dass man ihn bereits am Ultraschall gesehen hatte, konnten der oder auch ein anderer, der sich auf die Wanderschaft machte und in diesem Augenblick vom Thrombus zum Embolus wurde, ein großes Lungengefäß verstopfen und so durch Herz-Kreislaufversagen zum Tod führen oder eine dauerhafte Leistungsminderung hervorrufen, wenn Ben das überlebte, oder alternativ , falls er vom Herz weitergepumpt wurde und ins Gehirn gelangte, einen riesigen Schlaganfall auslösen, der zu dauerhafter Pflegebedürftigkeit führen würde. Ben saß sozusagen auf einem Pulverfass, das jederzeit explodieren konnte und Sarah hatte keine Ahnung was sie nun machen sollte, außer ihn zu beschwören still zu liegen und sich nicht aufzuregen.
    Ihre Kollegin hatte schon den Heparinperfusor angehängt und den Bolus verabreicht, allerdings hatten sich ihre Blicke gekreuzt-ihr und auch Sarah war klar, dass das nun vermutlich bedeutete, dass er Dialysepatient bleiben würde, aber Sarah tröstete sich, dass sie ihm ja dann, wenn das alles vorbei war, ja eine Niere spenden konnte-die Lebendspende unter Ehepartnern und Verwandten hatte eine hohe Erfolgsquote und sie liebte ihren Mann so, dass sie dieses Risiko gerne in Kauf nahm, wenn er nur diese kritische Situation überlebte! Sehr vorsichtig half sie ihrer Kollegin dann noch das betroffene rechte Bein zu wickeln und auf eine Schiene zu legen, denn man wusste, dass dadurch die Thromben schneller an der Gefäßwand anwachsen würden und bindegewebig durchsetzt dann keine Gefahr mehr darstellten, außerdem wurde so der venöse Rückstrom zum Herzen gefördert und beugte einer Ausbildung eines postthrombotischen Syndroms vor, das mit Krampfadern und schweren dicken Beinen einherging. Allerdings war es für Ben schon wieder eine Tortur auf dem verletzten Rücken zu liegen-auf der Seite hatte er viel weniger Schmerzen!


    „Sarah ihr schaut alle so-was hat denn das zu bedeuten, was der Arzt am Ultraschall gesehen hat?“ wollte er nun undeutlich unter seiner Maske wissen und Sarah beschloss, ihm nun wenigstens in abgemilderter Form zu erklären was er hatte und in welcher Gefahr er schwebte, damit er auch verstand, warum er jetzt erst mal ruhig liegen musste, anscheinend hatte er nicht verstanden, was der Arzt bei der Untersuchung gesagt hatte. „Ben du hast leider in deinen Venen des rechten Beins und auch im Becken eine tiefe Beinvenenthrombose, das bedeutet, dass sich da das Blut verklumpt und dadurch zur Ausbildung kleiner Blutgerinnsel geführt hat, die jetzt die Gefäße teilweise verstopfen. Das ist an sich nicht so schlimm, weil es immer mehrere Venen gibt, die die Körperteile sozusagen entsorgen und sogar bei einem Komplettverschluss einer Vene wird das strömende Blut dann eben durch andere Venen zum Herzen zurückgepumpt. Die große Gefahr in der du jetzt schwebst ist, dass sich so ein Klumpen losreißt und in die Lunge wandert, oder das Gehirn. Das kann eine akut lebensbedrohliche Situation hervorrufen und sogar zum Sekundentod führen!“ erklärte sie und jetzt sah Ben seine Frau voller Angst an. „Ich dachte jetzt wäre das Schlimmste vorrüber!“ stöhnte er in seine Atemmaske, aber Sarah zuckte unglücklich mit den Schultern-was sollte sie dazu sagen, sie hatte das ja selber gehofft? „Schatz-egal was passiert-ich bleibe bei dir!“ versicherte sie ihm voller Liebe und hätte doch am liebsten zu heulen begonnen-oh Gott-sie würde es nicht ertragen können wenn er ihr unter den Händen weg starb, aber genau das war ihr und jeder anderen Intensivschwester schon oft zugestoßen, dass man einen Patienten durch eine Lungenembolie verlor, mit dem man sich Sekunden vorher noch unterhalten hatte-aber das hier war ihr geliebter Ben, der Vater ihres wundervollen Sohnes-dem durfte einfach nichts passieren!

  • Wenig später standen der Intensivarzt und der Internist, der als Schwerpunkt die Kardiologie gewählt hatte, vor ihnen. „Herr und Frau Jäger-wir haben draußen ihren Fall besprochen und beschlossen, dass es für sie die sicherste Methode ist, wenn wir ihnen ein sogenanntes Cavaschirmchen einsetzen. Normalerweise würden wir sie vollheparinisieren, oder sogar versuchen die Thromben medikamentös aufzulösen, aber wegen der anderen Verletzungen und der Nierenproblematik ist das leider nicht möglich. Deshalb steht nun das Katheterlabor bereit und ich werde-wenn sie einverstanden sind-über die Leiste in örtlicher Betäubung eine Art Metallschirm in die untere Hohlvene einbringen, der einen möglichen Embolus abfangen kann, bevor er in ihrer Lunge oder dem Gehirn Schaden anrichtet.“ erklärte der Kardiologe und nun sah Ben seine Sarah fragend an. Er hatte noch nie von sowas gehört und würde einfach tun was seine Frau ihm riet. Sarah warf ihm einen entschlossenen Blick zu: „Natürlich wird er das machen lassen, denn es kann sein Leben retten!“ sagte sie bestimmt und Ben nickte dazu-wenn Sarah diesen Ton anschlug war Widerspruch zwecklos und alles was eine Möglichkeit gegen einen Sekundenherztod oder einen Schlaganfall darstellte war eine bessere Option. „Tut das sehr weh?“ wollte er dann noch ein wenig eingeschüchtert wissen, aber nun schüttelte der Narkosearzt den Kopf. „Keine Sorge-sie bekommen dazu eine örtliche Betäubung der Leiste und da wird dann über einen kleinen Hautschnitt eine sogenannte Schleuse in die große Vene dort eingeführt. Darüber wird unser Katheterspezialist“ und er schenkte dem Kardiologen der die zündende Idee gehabt hatte ein strahlendes Lächeln „das Schirmchen einbringen und unter Röntgenkontrolle in der unteren Hohlvene platzieren. Man könnte auch die obere Hohlvene nehmen und über den Hals eingehen, aber da liegen bei ihnen schon der zentrale Venenkatheter und der Dialysekatheter, da haben wir gar keinen Platz mehr für das Schirmchen!“ erklärte er und Sarah begann nun wieder Hoffnung zu schöpfen, dass dieser Alptraum nun doch irgendwie zu einem glücklichen Ende gelangen könnte.
    Der Internist sah prüfend auf die nichtinvasive Beatmung: „Kann er ohne Peep atmen?“ fragte er und Sarah und der Anästhesist nickten. „Der positive endexspiratorische Druck den die Maschine erzeugt, erweitert zwar die Alveolen in der Lunge, aber er erhöht auch den Druck im venösen System-ich würde gerne darauf verzichten, bis das Schirmchen an Ort und Stelle sitzt!“ bat er und Sarah beeilte sich nun die Druckmaske abzunehmen und den Sauerstoff wieder über Ben´s Nase in ihn strömen zu lassen.


    Sie hatte zwar während ihrer zweijährigen Ausbildung zur Intensivpflegefachkraft, die nach der dreijährigen Grundausbildung zur Gesundheits-und Krankenpflegerin und mindestens zweijähriger Berufserfahrung auf einer Intensivstation in Theorie und Praxis stattfand, von der Möglichkeit dieser Cavaschirmchen gehört, aber hier in der Uniklinik waren die nicht so üblich-das lag aber nicht an der Methode an sich, sondern daran, wie die jeweiligen Chefärzte dazu standen. Die aktuelle Leitung bevorzugte Vollheparinisierung und Lysebehandlung, was auch der Goldstandard war, aber in Ben´s speziellem Fall war das eben nicht möglich. Und das war auch das Interessante in der Medizin, dass man immer über den Tellerrand schauen musste und spezielle Probleme eben auch spezielle Lösungen erforderten. Allerdings musste man gerade zu diesen Schirmchen sagen, dass das Einlegen und auch Entfernen eben Erfahrung vom Behandler erforderte, aber das war bei einem Kardiologen der den halben Tag im Katheterlabor verbrachte, dort einen Herzkatheter nach dem anderen machte, Stents einsetzte, Ballondilatationen durchführte und routiniert täglich mit diesen einander doch ähnlichen Methoden arbeitete, vorauszusetzen und so konnte Ben von Glück reden, dass man gerade den hinzugezogen hatte. So wurde Ben noch mit ein paar Worten zu den Risiken wie Blutung, Infektion oder Mobilisierung eines Thrombus eben durch die Behandlung aufgeklärt und setzte dann zitternd seine Unterschrift unter den vorbereiteten Aufklärungsbogen. Sarah würde erst wieder ruhig durchatmen können, wenn das Schirmchen an Ort und Stelle saß und sie begann nun innerlich zu beten, dass der Internist das einbrachte, bevor sich ein Thrombus löste denn den Silberstreif am Horizont hatte sie nicht mehr zu sehen gehofft.


    Ihre Kollegin hatte inzwischen alles zum Transport hergerichtet und Sarah rasierte nur noch kurz höchstpersönlich auf beiden Seiten Ben´s Leistenregion, an der die Schambehaarung schon wieder nachgewachsen war. Es war wegen der Sterilität sehr wichtig, dass dort kein Härchen war und man wollte die auch nicht auf dem Behandlungstisch haben. Man hängte eine transportable Sauerstoffflasche ans Bett, schloss daran Ben´s Nasenbrille an, hängte das Noradrenalin und seine Trägerlösung um, was eine kurze Kreislaufschwankung zur Folge hatte, die Sarah beinahe eine Hochdruckkrise bescherte, denn parallel mit Ben´s Blutdruck stieg und fiel der ihrige auch, aber Gott sei Dank geschah nichts. Der Anästhesist, der den Transport begleitete, forderte noch den Notfallkoffer zu, der Transportmonitor wurde von der Station im Zimmer ans Bett gehängt, die Akten mitgenommen und wenig später war die Karawane aus Ben im Bett, Sarah, der Intensivschwester und dem Anästhesisten auf dem Weg zum Katheterlabor, wo sie der Internist, der bereits vorausgegangen war, schon steril angezogen erwartete. Im Aufzug hatte Ben einmal gehustet und alle anderen Anwesenden hatten den Atem angehalten-bei dieser plötzlichen Druckerhöhung bestand eine Riesengefahr, dass sich ein Thrombus löste- aber als danach der Monitor dieselben Werte zeigte wie vorher und Ben auch nach wie vor orientiert und ansprechbar war, hatten alle aufgeatmet.
    Sarah erinnerte sich mit Schaudern an eine laufende Reanimation im fahrenden Aufzug, der dann kurz vor Erreichen des Stockwerks auch noch stecken geblieben war. Die Haustechniker hatten es zwar geschafft die Türen zu öffnen, aber durch die nun entstandene hohe Stufe war es unmöglich gewesen mit dem Bett herauszufahren. Man hatte den Patienten nach der ersten Stabilisierung dann herausgehoben in ein frisches Bett und seitdem traute Sarah den Aufzügen nicht mehr so ganz, aber was wollte man machen-man konnte die zwar zu Fuß umgehen, aber nicht beim Patiententransport.


    Endlich trafen sie im Herzkatheterlabor ein, wo eine Menge Bildschirme, Röntgengeräte und andere High-Tech-Geräte ein futuristisches und ein wenig Furcht einflößendes Bild boten. Ben sah sich ängstlich um, aber bis er sich versah hatte man ihn vorsichtig, wie ein rohes Ei, mit dem Rollbrett auf den grün abgedeckten OP-Tisch gezogen und alle um ihn herum waren sehr nett und sprachen ihm freundlich zu, so dass er sich bald beruhigte. Sarah, die nun ebenfalls wie alle anderen im Raum eine dicke Röntgenschürze und einen Schilddrüsenhalsschutz trug, trat ans Kopfende und nahm ganz fest seine Hand in die Ihrige: „Du schaffst das!“ sprach sie ihm Mut zu und jetzt erwartete Ben einfach, was jetzt als Nächstes mit ihm gemacht würde.

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