Wild Hot Racing

  • Semir starrte immer noch verdutzt auf den Mann in der bekannten Oberbekleidung. Dann sagte er aufgeregt zu Khaled: „Frag ihn, wo er die Jacke her hat!“ und Khaled wandte sich an den Verwalter und überschüttete ihn mit einem Schwall arabischer Worte. Der schüttelte den Kopf, gab etwas zur Antwort und Khaled dolmetschte nun: „Er sagt, die habe er sich im Souk letztes Jahr gekauft!“ und nun war Semir mit einem Satz bei dem Mann, packte ihn vorne an der Jacke und drückte ihn mit dem Rücken an den Schneepflug. „Freundchen, erzähl uns mal keinen Scheiß!“ zischte er und schüttelte den dadurch verängstigten Verwalter ein wenig. Khaled sah seinen Freund überrascht an. Es war nicht notwendig Semir´s Worte zu übersetzen, die Szene war sozusagen selbsterklärend. Semir, dessen Züge vor Zorn verzerrt waren, strahlte eine dermaßen starke Aggression aus, dass dem Verwalter sonnenklar war, dass er jetzt etwas Falsches gesagt hatte. Semir ließ den Mann nun los, blieb aber immer noch drohend vor ihm stehen. Er wandte den Kopf zu Khaled und befahl: „Sag ihm, dass diese Jacke unverkennbar die meines Freundes ist, mit der ich ihn am Freitag zum Flughafen gefahren habe. Die hat einen Fleck am Ärmel, der dort erst hingekommen ist, als wir kurz vor der Abfertigungshalle standen und Ben dort ein wenig Cola verschüttet hat. Er hat sich noch deswegen geärgert und ich habe ihm gesagt, den würde Sarah schon wieder rausbringen und er fällt auch nicht sonderlich auf. Der Typ soll jetzt mal ganz schnell sagen wo Ben ist, sonst mache ich Hackfleisch aus ihm!“ erklärte er und Khaled nickte und übersetzte dem Mann Semir´s Worte.
    Dann sagte der Verwalter etwas und nun versteinerte Khaled´s Miene und er wusste im ersten Augenblick nicht, wie er das seinem Jugendfreund beibringen sollte. „Semir-er sagt, dass Ben am Samstag beim Rennen verunglückt ist und er deshalb die Jacke hat!“ übersetzte er leise und nun starrte Semir die beiden anderen Männer voller Entsetzen an. „Frag ihn, in welchem Krankenhaus er liegt!“ forderte er rasch und nachdem Khaled wieder gedolmetscht hatte, schüttelte er langsam den Kopf. „Semir-er war so schwer verletzt, er ist nicht ins Krankenhaus gekommen!“ sagte er und nun veränderte sich Semir´s Körperhaltung.
    Gerade hatte er sich noch drohend vor dem Verwalter aufgebaut, aber jetzt sank er regelrecht in sich zusammen. Das durfte-nein das konnte nicht wahr sein! Sollte ihn sein Bauchgefühl so getrogen haben? Er hatte immer diese Gewissheit in sich getragen, dass Ben noch lebte, aber jetzt erfuhr er sozusagen dessen Todesnachricht. Das konnte und durfte einfach nicht real sein! Ben war sein bester Freund, er hatte eine Familie, die sich darauf verließ, dass er ihnen den Partner und Vater wieder zurück brachte und jetzt sollte er sich an den Gedanken gewöhnen, dass der vielleicht nie mehr nach Hause kam? Allerdings hielt die Schwäche, die sich seiner Knie bemächtigt hatte, nur einen Augenblick an. Dann sagte er in einem ruhigeren aber deshalb nicht weniger gefährlichen Ton zu Khaled: „Bevor ich Ben´s Leiche nicht gesehen habe, glaube ich gar nichts! Der Typ soll uns erzählen, was am Samstag geschehen ist, sonst werden auch seine Kinder ohne Vater aufwachsen!“ sagte er mit einem Klang in der Stimme, der Khaled beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ. Auch der Verwalter hatte sichtlich Angst vor der Entschlossenheit, die Semir ausstrahlte und als nun die Übersetzung dazu kam, begann er beinahe zu weinen. Er lamentierte und mit einem Schwall arabischer Worte, von denen Semir nur den Namen Said Brami verstand, schilderte er Khaled, was am Samstag geschehen war.


    Der hörte intensiv zu und übersetzte dann: „Der Mann sagt, dass Ben am Samstag mit einigen anderen hier ein Rennen gefahren ist, dabei kam es zu einem Unfall. Wie genau kann oder will er uns nicht schildern, auf jeden Fall hat er dann von seinem Chef-Said Brami- den Auftrag erhalten deinen Freund mit dem Quad in die Wüste zu bringen und alle Spuren zu beseitigen.“ erklärte er und nun stellte Semir die bange Frage, die ihm die ganze Zeit auf den Nägeln brannte: „War Ben da noch am Leben?“ fragte er leise und der Verwalter, der nun Angst hatte wegen Mordes angeklagt zu werden, denn Khaled hatte beiläufig erwähnt, dass Semir Polizist mit internationalen Verbindungen sei, gab zur Antwort: „Er war zwar schwer verletzt, aber ja-er hat noch gelebt, als ich ihn weggebracht habe!“ und nun richtete sich Semir zu voller Größe auf. „Dann soll er uns sofort zu der Stelle begleiten, wo er ihn hingebracht hat!“ befahl er und so kam es, dass wenig später Semir und Khaled und der Verwalter auf zwei Quads auf dem Weg in die Wüste waren. Der Verwalter fuhr voraus und Khaled auf dem Sozius klammerte sich an Semir fest, der das zweite Quad über den Sand lenkte.
    Wenig später waren sie an dem Ort mitten in der Sahara, wo der Verwalter Ben abgelegt hatte. Zu sehen war dort allerdings nichts. Semir stieg ab und auch der Verwalter stellte sein Fahrzeug ab. „Semir, er sagt ab Sonntagmorgen hat hier ein schrecklicher Sandsturm geherrscht-Ben hatte keine Chance den zu überleben!“ übersetzte Khaled leise und Semir nickte zwar gedankenverloren, hatte aber dann mit einem raschen Griff in den Sand etwas gefunden: Ben´s Helm! Das Visier war von innen mit getrocknetem Blut verschmiert, aber als Semir ihn hochhob konnte man sehen, dass der Verschluss ordnungsgemäß geöffnet worden war. Semir begann nun voller Angst im Sand zu graben und die beiden anderen halfen ihm so gut sie konnten, aber zu Semir´s Erleichterung fanden sie nichts. Wieder hörte er in sich hinein-einen Augenblick hatte er gezweifelt, aber dann war er sich wieder ganz sicher: Ben lebte und brauchte dringend seine Hilfe! Er drehte sich zu seinem tunesischen Freund um. „Khaled-lass deine Kontakte spielen-wir brauchen Suchhunde hier-Ben muss irgendwo sein!“ und schon zückte Khaled sein Handy, um seinen Bruder anzurufen, der da sicher etwas organisieren konnte. Wenig später hatte er seinen Neffen am Apparat, der ihm nun die Nummer eines Bekannten gab, der hier in der Nähe lebte und tatsächlich Hunde hatte. Sein Name war Ismael.


    Der Arzt im Krankenhaus hatte sich inzwischen widerwillig bequemt einen kurzen Blick auf Ben´s blau verfärbte Extremitäten zu werfen: „Gut-der Gips ist zu eng-bitte aufschneiden und umwickeln!“ befahl er und wandte sich sofort wieder zum Gehen. Eigentlich war es aber auch egal, der Mann vor ihm war dem Tode geweiht und würde sowieso nicht mehr lange genug leben, als dass ein zu enger Gips noch eine Rolle spielte. Aber er würde dem Ärger mit dem Pfleger so einfach aus dem Weg gehen. Weil er heute seinen sozialen Tag hatte, ordnete er dann noch an: „Und unsere Praktikantin soll ihm eine Infusion legen!“ denn an einem Ungläubigen konnte die junge Frau durchaus üben.

  • So wurde Ben also aus dem Zimmer gefahren und mitsamt seinem Bett auf einem zugigen Flur abgestellt. Er fühlte sich fürchterlich elend, einsam und verlassen und war diesen fremden Menschen hier ohne Verständigungsmöglichkeit hilflos ausgeliefert. Was hatten die nur jetzt wieder mit ihm vor? Gut der Pfleger der gerade den Verband ausgetauscht hatte, hatte nebenbei einige beruhigende Worte an ihn gerichtet und hatte versucht vorsichtig zu sein. Auch hatte er anscheinend den Arzt geholt, der die Notfallversorgung vorgenommen hatte, aber bei dem spürte Ben schon die Abneigung-der war ihm nicht wohl gesonnen! Der Doktor hatte irgendwas angeordnet und dann hatte der Pfleger sein Bett rausgefahren und ihn hier abgestellt. So stark Ben´s Schmerzen und Schwäche auch waren, er nahm durchaus seine Umwelt noch war und ihn ekelte es vor dieser schmuddeligen Umgebung mit den abgeplatzten Fliesen und dem verschmierten Schmutz auf dem Boden, der anscheinend schon ewig keinen Putzlumpen mehr gesehen hatte. Als er rätselte, was sich in der dunklen Ecke dort bewegte wurde ihm auf einmal klar, dass das Kakerlaken waren und zwar nicht eine oder zwei, sondern ganze Heerscharen! Als er die Augen kurz schloss, musste er sie aber dann schnell wieder aufreißen, denn vor seinem inneren Auge kam auf einmal eine Riesenkakerlake, die noch dazu die Gesichtszüge des unsympathischen Arztes trug, auf ihn zu.
    Rollbare Tragen wurden geschäftig an ihm vorbeigefahren, er sah in ängstliche oder resignierte Gesichter. Dann öffnete sich die Tür eines Raums und man schob eine Trage heraus, auf der ein komplett zugedeckter Körper lag. Ben konnte das Blut erkennen, das die Unterlage rot gefärbt hatte und als man ein wenig ruppig die Bahre direkt neben ihm abstellte, fiel eine tote Hand herunter und hätte ihn beinahe dazu gebracht laut aufzuschreien. Wenig später wurde die Leiche von einem alten Mann abgeholt, der mit stoischem Gesichtsausdruck seine Arbeit verrichtete und man fuhr Ben nun in den Raum, in dem zuvor der Tote gewesen war. Ben wich vor Angst das Blut aus dem Gesicht. Sein Herzschlag beschleunigte sich und er begann schneller zu atmen. Ein Pfleger, dessen Hosenbeine mit kleinen Blutspritzern übersät waren, griff geschäftig zu einer Art Kreissäge und begann Ben´s Gipse aufzuschneiden. Ben erwartete jede Sekunde, dass sich die rotierende Scheibe in sein Fleisch bohrte, aber stattdessen überkam ihn ein Gefühl wahnsinniger Erleichterung, als zunächst im Arm die Blutzirkulation wieder hergestellt wurde und der schreckliche Druck plötzlich weg war und dann das Bein an die Reihe kam. Allerdings wurden dort zwar die Schmerzen besser, aber das Taubheitsgefühl ging nicht weg und als er in sich hinein fühlte, war auch das zweite Bein nicht so richtig zu spüren. Er merkte schon, dass die Beine da waren und konnte sie auch unter Schmerzen bewegen, aber die Sensibilität war eindeutig gestört.
    Man wickelte noch ein paar elastische Binden nachlässig über die schweren Gipsverbände und dann schob man sein Bett in einen kleinen Nebenraum, wo eine sichtlich aufgeregte Praktikantin ihm einen Zugang legen sollte. Klar hatte sie da schon mal dabei zugesehen, aber wenn das die erfahrenen Ärzte machten, sah das so leicht aus und so ganz genau wusste sie auch nicht, wie das funktionierte mit dieser speziellen Nadel. Sie war Medizinstudentin im ersten Jahr und musste in den Semesterferien ein Pflichtpraktikum absolvieren. Sie hatte ja eigentlich gehofft, dass ein Arzt oder wenigstens eine erfahrene Pflegekraft sie anleiten würde, aber stattdessen ließ man sie mit dem jungen Mann alleine, der wirklich sehr krank aussah und dessen Augen in tiefen Höhlen lagen. Sie sagte etwas auf Arabisch zu ihm, aber er konnte sie anscheinend nicht verstehen, denn er sah sie nur fragend an. Dann sagte er krächzend etwas in einer fremden Sprache-sie vermutete, dass das Deutsch war, aber dessen war sie nicht mächtig-sie sprach nur ihre Muttersprache und Französisch. Also erinnerte sie sich, was der Arzt als erstes gemacht hatte, als sie zugesehen hatte und so legte sie einen Stauschlauch um Ben´s Oberarm und zog den so fest an, dass der zusammenzuckte. Nun versuchte sie erst in der Ellenbeuge und später immer weiter herunter eine Vene zu punktieren. Sie bohrte in der Tiefe und einmal schoss ihr hellrotes Blut entgegen-Mist, das war wohl die Arterie gewesen und schnell zog sie die Nadel, die mit jedem Stich stumpfer und stumpfer wurde, heraus. Ben kam sich vor wie ein Nadelkissen. Eigentlich war er ja nicht so empfindlich, aber man merkte deutlich, dass die junge Frau vor ihm keine Ahnung von dem hatte, was sie da tat. Durch die Austrocknung und den Blutverlust waren Ben´s periphere Gefäße sowieso schlecht gefüllt und es hätte eines erfahrenen Arztes gebraucht, um die zu punktieren, aber so endete das Fiasko erst, als die Praktikantin meinte eine Vene an seinem Handrücken getroffen zu haben. Schnell zog sie die inzwischen völlig stumpfe Nadel aus dem Plastikschläuchlein, schloss die Infusionsleitung an und verklebte das Ganze mit unzähligen Pflasterstreifen. Ben atmete nur noch erleichtert auf, denn ihm hatte es mit jedem weiteren Stich mit der immer stumpfer werdenden Nadel die Tränen in die Augen getrieben. Wenig später wurde der Pfleger zur Abholung angerufen und der handelte im Vorbeiweg mit dem Arzt noch aus, dass er ein Schmerzmittel in die Infusion geben durfte. Als Ben wieder auf seinem Platz im Krankensaal stand, konnte er nur die Augen vor Erschöpfung schließen und döste tatsächlich ein wenig ein.


    Khaled hatte Semir erklärt, dass er Hunde organisieren hatte können und als der Verwalter ängstlich fragte, wie es nun weitergehen sollte, erlaubte ihm Khaled nach Rücksprache mit Semir, zurück zur Rennstrecke zu fahren, wenn er ihnen dafür das zweite Quad hier ließ. Khaled wählte, als der Verwalter wieder zurück zu seiner Arbeitsstätte gefahren war, die Nummer, die sein Neffe ihm besorgt hatte und wartete schweigend, dass jemand ranging.

  • Ismael ging ans Telefon. Immer wieder musste er an den dunkelhaarigen Europäer denken, den sie schwer verletzt vor dem Krankenhaus abgelegt hatten. Hoffentlich hatte der kleine Junge seinen Auftrag erledigt, denn der Morgen war kalt gewesen und sie hatten dem Mann auch keine Decke gelassen, worüber er sich im Nachhinein sehr ärgerte. Sie hätten ihm ja nicht die handgewebte Kamelhaardecke lassen müssen, sondern eine billige aus dem Souk, aber er war nun hoffentlich in guten Händen und medizinisch ordentlich versorgt worden. Seine Mutter hatte noch erklärt, dass sie, als sie ihn abgehört hatte, auf der einen Brustseite überhaupt kein Atemgeräusch hatte vernehmen können und das Herz war auch immer schwächer geworden, während er bei ihnen war. Aber auch nach mehrfachem Nachdenken sagte er sich, dass sie keine andere Möglichkeit gehabt hatten, denn wenn Brami erfuhr, dass sie einem seiner Feinde Obdach geboten hatten, dann würde er sich grausam rächen-so viel stand fest!


    Als nun das Telefon läutete, meldete sich am anderen Ende ein Khaled Nasri, der schöne Grüße von seinem Bruder und seinem Neffen bestellte. Natürlich kannte er die, die hatten ihm schon öfter Touristengruppen aus Deutschland geschickt, wenn die in Sousse Urlaub gemacht hatten und jede Empfehlung war gut für sie, denn es hing das Auskommen einer Menge Menschen von diesen Wüstentouren ab, die er und seine Familie anboten. Auch sorgten die gemeinsam mit vielen anderen Bekannten dafür, indem sie ihre Internetseite öfter anklickten, dass bei einer Google-Suche ihr Angebot ziemlich weit oben erschien-er war ihnen also durchaus zu Dank verpflichtet.
    Khaled sprach weiter und fragte nach Spürhunden. Ja das war eines von Ismael´s Hobbys-er besaß mehrere Jagdhunde, die gierig darauf waren auf Fährte zu gehen. Für seinen Vater waren das keine Hunde-er hatte immer Windhunde gehabt, die früher bei der Jagd geholfen hatten, indem sie das Wild zu Tode gehetzt hatten, aber heute schoss man das Wild wie überall mit einem Gewehr. Manchmal hatte Khaled schon Jagdreisen geführt, denn die Berbersauen-eine Unterart des europäischen Wildschweins- wurden von den Touristen gerne bejagt. Gerade war auch Jagdsaison. Tunesier hatten als Muslime kein Interesse an dem unreinen Fleisch, aber die Jagdtouristen schätzten die imposanten Hauer und nahmen meist ausdrucksvolle Trophäen mit nach Hause-und das Fleisch blieb teilweise für die Hunde. Man musste sehen wo man blieb und so verdiente sich seine Meute, die hervorragende Nasen aufwies, ihren Unterhalt sozusagen selber. Während Ismael seinen Gedanken nachhing, sprach Khaled weiter: „Wir bräuchten hier einige Hunde zur Nachsuche!“ sagte er und Ismael ließ sich den Standort durchgeben und versprach in Kürze zu kommen. Ein wenig verwundert prüfte er die Koordinaten, die Nasri ihm durchgegeben hatte. Das war nicht weit von der Rennstrecke Brami´s entfernt mitten in der Wüste-ob seine Hunde da natürlich eine Spur finden würden, war fraglich und genauso rätselhaft war auch, welches Wild man da angeschossen hatte. Aber dann beschloss er, sich deswegen keine Gedanken zu machen-er hatte den Stundenpreis für Mann und Hunde durchgegeben und sein Gegenüber hatte den ohne zu handeln akzeptiert, dabei wäre er durchaus noch runter gegangen.
    So lud er mittels einer Auffahrtrampe sein Quad mit Allradantrieb auf-die beste Fortbewegungsmöglichkeit in diesem Gelände- befahl seinen Hunden ebenfalls auf die Ladefläche des Autos zu springen und nachdem er kurz seiner Familie Bescheid gegeben hatte, fuhr er zur angegebenen Stelle. Das Auto musste er am Rand der Piste stehen lassen, aber sein Quad pflügte mühelos durch den Sand und seine Meute folgte ihm aufgeregt jaulend mit den Nasen im Wind.
    Als er bei den beiden Männern ankam, starrte er sie verwundert an. Die sahen überhaupt nicht wie Jagdtouristen aus und hatten auch keine Gewehre bei sich. Seine Hunde begrüßten schwanzwedelnd die fremden Männer-das lag in ihrer Natur, dass sie freundlich zu allen Menschen waren. Ismael stieg nun von seinem Quad und als er sah, was da am Boden vor dem kleineren Mann mit den kurz geschorenen Haaren im Sand lag, rutschte ihm das Herz in die Hose. Verdammter Mist-das war ein Rennhelm mit Sprechfunk darin, das Visier blutverschmiert und er hatte dieselbe Farbe wie der Rennanzug ihres Patienten!


    Der kleine Yasser hatte eine kräftige Hühnersuppe mit Linsen zu Mittag gegessen-ach es war so schön, dass sie gerade jeden Tag alle miteinander satt wurden! Demütig bat er dann seine Mutter: „Darf ich einem fremden Mann der Hunger hat, ein Schüsselchen Suppe bringen?“ fragte er und die Mutter erlaubte es sofort. Sie hatte prächtige Kinder und die Gabe von Almosen war auch fest in ihrem Glauben verankert. Wenn man etwas entbehren konnte und es einem anderen noch schlechter ging als einem selber, dann war es die Pflicht eines Gläubigen, dem etwas abzugeben. Allah würde sich das merken und ihren Sohn im Paradies dafür entlohnen-auf dieser Welt und in ihrer Situation wohl eher nicht. So nahm Yasser ein Schüsselchen wohlriechende Suppe und einen Löffel und balancierte die ins Krankenhaus. Als er an den Platz kam, wo das Bett seines neuen Freundes gestanden hatte, war der leer. Yasser erschrak fürchterlich, aber die Angehörigen der Mitpatienten beruhigten ihn. „Er wurde abgeholt, damit der Gips aufgeschnitten wird!“ teilten sie ihm mit und so nahm Yasser mit seiner Schüssel in einer Ecke des Krankensaals auf dem Boden Platz. Er wärmte mit den Händen die Schale und tatsächlich wurde wenig später sein Schützling hereingefahren. Er sah nochmals schlechter aus als am Morgen, aber immerhin hing jetzt eine Infusion an einem Ständer an seinem Bett und die Gipse waren auch aufgeschnitten. Sofort sah Yasser nach, ob Hand und Fuß noch blau waren, aber die hatten wieder eine normale Farbe.
    Ben, der gerade ein wenig eingedöst war, erwachte als Yasser an seiner Decke zupfte und sah den kleinen Jungen mit trüben Augen an. „Hallo!“ sagte er wieder und mit einem Lächeln erwiderte Yasser den Gruß. Dann holte er aufgeregt sein Schüsselchen hervor und begann Ben die Suppe Löffel für Löffel einzugeben. Ben war dankbar-wenigstens war das etwas Flüssiges und schmeckte auch recht gut. Allerdings konnte er nach der halben Schüssel nicht mehr-und das er, der sonst riesige Portionen verdrücken konnte. Aber er würde selber vernünftig sein-er wollte nicht schon wieder kotzen und so bedeutete er dem kleinen Jungen durch ein Drehen seines Kopfes dass er fertig sei. Yasser aß nach kurzer Überlegung den Rest der Suppe selber, verabschiedete sich mit einem kurzen „Salam!“ und ging nach Hause, um die Schüssel zurückzubringen. Danach saß er wieder eine Weile bettelnd vor einem Hotel, um gegen Abend erneut ins Krankenhaus zu gehen, wo es ihn fast magisch hinzog.

  • Semir hatte die fremden Hunde gestreichelt, die hoch motiviert auf ihren Einsatz warteten. Allerdings fragte er sich nun schon, was er sich von denen erwartete. Eigentlich doch nur den Fund einer Leiche, denn es war schlicht und ergreifend unmöglich dass Ben-schwer verletzt wie er war-aufgestanden und los gelaufen war und mitten in der Sahara einen Unterschlupf gefunden haben sollte, an dem er medizinisch versorgt wurde und zu Trinken und zu essen bekam. Immerhin war es Dienstagnachmittag und er war bereits am Samstag verunglückt, wie sie nun ja hatten rekonstruieren können.
    Obwohl alle Chancen schlecht standen, hatte er trotzdem die Hoffnung auf ein Wunder nicht aufgegeben. Er dachte an Sarah-er würde es nicht fertigbringen ihr eine Todesnachricht zu überbringen, dabei wäre das etwas, was er in seinem Leben leider schon viel zu oft hatte machen müssen. Allerdings gab es nur eines was schlimmer war-nicht zu wissen was mit dem Freund und Partner geschehen war. Die quälenden Gedanken-schwankend zwischen Hoffnung und Verzweiflung, die einen dann ein Leben lang verfolgten, waren schrecklich. Oft war es für die Angehörigen von Mordopfern deren Überreste sie erst nach vielen Jahren gefunden hatten, trotz allem Kummer eine Erlösung gewesen, endlich Gewissheit zu haben. Deshalb musste es sein und so sprach er den Hundeführer, der gerade sein Quad neben ihnen abstellte mit ernstem Gesichtsausdruck an, der allen Kummer und Sorge um seinen besten Freund widerspiegelte und Khaled übersetzte, nachdem sie sich die Hände geschüttelt und sich vorgestellt hatten.


    Ismael hörte schweigend zu und noch während der kleine Mann auf Deutsch sprach und sein Landsmann, der anscheinend sehr vertraut mit ihm war, übersetzte, zermarterte er seinen Kopf, was er tun sollte. Klar konnte er jetzt mit seinen Hunden losziehen, die am Helm riechen lassen und versuchen, die auf Fährte zu bringen, um nach wenigen Minuten den Einsatz abzubrechen und zu sagen, dass es durch den Sandsturm unmöglich war, irgendwelche Überreste zu finden. Und um mehr ging es nicht, denn wie doch dem kleinen Mann, der sichtlich betroffen war, klar sein musste, konnte sein Freund unmöglich mehrere Tage alleine in der Wüste überlebt haben. Nur er selber wusste, wie der gerettet worden war und konnte ihnen sagen, wo der Patient im Augenblick war. Allerdings musste es ja einen Grund dafür geben, dass sich der mit Brami angelegt hatte und so zu dessen Feind geworden war. So sehr den Bewohnern dieses Landstrichs der einflussreiche Großindustrielle verhasst war, so sehr fürchteten sie ihn auch, aber diese Männer würden wieder nach Deutschland zurückkehren und ihr normales Leben leben, während sie hier alle zurückblieben und der Willkür des schwerreichen Mannes ausgesetzt waren.
    Gerade erzählte Semir, dass Ben Jäger, sein Freund, auch Vater eines vier Monate alten Babys war und im kommenden Jahr heiraten wollte, da fiel Ismael ein, dass der ja wohl selber rekonstruieren würde, von wem er gerettet worden war, falls er das Ganze überlebte, denn der kleine Mann hatte jetzt noch erklärt, dass er Polizist war und das gab letztendlich den Ausschlag. Er würde diese Männer bitten Stillschweigen zu bewahren, damit Brami nichts von der Rettung seines Feindes erfuhr, sie sollten diesen Ben mitnehmen nach Deutschland und für ihn und seine Sippe würde das Leben hier hoffentlich weiter gehen wie bisher.
    Als Semir zu sprechen aufgehört hatte, sahen Khaled und er den fremden, etwa dreißigjährigen Mann erwartungsvoll an. Semir´s Befürchtung war, dass die Hunde in einem Umkreis von ein paar Metern anfangen würden im Sand zu graben und sie dort eine schreckliche Entdeckung machen würden. Aber statt die Tiere auf Fährte zu setzen, begann der Beduine zu sprechen. Khaled konnte es kaum glauben, aber immer schneller und schneller übersetzte er, was der zu berichten hatte: „Mein Vater war am Sonntag bevor der Sandsturm losbrach hier mit seinem Lieblingskamel unterwegs. Er hat ihren schwer verletzten Freund gefunden und mit in unsere Behausung gebracht, denn sonst wäre das sein sicherer Tod gewesen. Meine Mutter hat ihn gepflegt und sobald der Sandsturm vorbei war, haben mein Bruder und ich ihn nach Sousse in ein Krankenhaus gefahren!“ erklärte er und nun wurde Semir´s Miene mit jedem Wort fröhlicher. Das Wunder, auf das er eigentlich nicht zu hoffen gewagt hatte, war geschehen. Bevor Ismael irgendwie reagieren konnte, hatte er ihn an sich gezogen und kurz gedrückt. Allerdings fiel ihm nun ein, was ihn die ganze Zeit schon im Unterbewusstsein beschäftigte: Warum hatte Ben ihn denn nicht anrufen lassen, oder auch Sarah, oder meinetwegen die PASt, das deutsche Konsulat oder wen auch immer? Aber das würde er herausfinden-sie brauchten jetzt nur noch die Adresse des Krankenhauses, dann würde er sich aufmachen, seinen Freund zu finden und zurück zu seiner Familie zu bringen. Bevor er allerdings die Adresse herausrückte, bat sie Ismael inständig niemandem etwas von der Beteiligung seiner Sippe an der Rettung Ben´s zu sagen. Er begründete zwar nicht warum, aber das war Semir im Augenblick egal. Er kramte einen größeren tunesischen Geldschein hervor, überreichte ihn Ismael und dann bekam Khaled die Adresse. Semir saß schon auf dem Quad und Khaled hatte Mühe mitzukommen, so eilig hatte der es plötzlich. Khaled klammerte sich mühsam fest, denn Semir fuhr nun mit Vollgas zu ihrem Wagen, während Ismael mit seinen Hunden langsam zu seinem Geländewagen zurückkehrte.


    Bei Ben stieg inzwischen das Fieber wieder. Er hatte begonnen zu schütteln und im Gegensatz zum Morgenpfleger war der Mann von der Nachmittagsschicht völlig uninteressiert an seinem Patienten. Eine Angehörige eines Mitpatienten hüllte ihn mitleidig in die schmutzige dünne Decke, die am Fußende des Bettes gelegen hatte und Ben versuchte sich mit einer Geste zu bedanken. Dann allerdings schloss er die Augen wieder und überließ sich seinen Fieberträumen. Nun schmerzte auch noch sein rechter Arm in den die Infusion lief unendlich, aber es war niemand da, dem er das mitteilen konnte und so begann er langsam zu resignieren. Vermutlich würde er hier in diesem Krankenhaus sterben und er wäre der Nächste, den der alte Mann auf einer Bahre in die Leichenkammer fahren würde.


    Nach einer fast zweistündigen Fahrt kamen sie endlich an der genannten Adresse an. Nun war Semir derjenige gewesen, der das Fenster herunter gekurbelt hatte und mit dem Finger auf der Hupe wüste Beschimpfungen hinausgerufen hatte. Der abendliche Berufsverkehr in Sousse war nämlich nicht von schlechten Eltern und Khaled war inzwischen ganz blass und still und klammerte sich mit weißen Handknöcheln am Türgriff fest. Das Fahrzeug hatte zwar kein Navi, aber Khaled hatte so ungefähr eine Vorstellung davon, wo das Krankenhaus lag und so fanden sie da auch hin. Semir stellte den Wagen völlig verkehrswidrig ab und eilte zum Haupteingang, so dass Khaled mit seinen momentanen Wackelknien Mühe hatte, seinem Freund zu folgen. Er schwor sich nie mehr bei dem mitzufahren-er hatte sicher ein paar graue Haare mehr bekommen in den letzten beiden Stunden! An der Anmeldung fragte Semir-mithilfe Khaled´s Dolmetscherdienste nach Ben Jäger, aber die Frau hinter dem Tresen schüttelte den Kopf. „Wir haben keinen Patienten namens Ben Jäger!“ sagte sie. „Wurde dann gestern ein bewusstloser Patient eingeliefert?“ fragte Semir, aber die Frau schüttelte wieder den Kopf. Sogar als Khaled ein paar kleinere Scheine hinüberwachsen ließ, konnte sie ihnen nicht helfen. „Gut, dann werden wir eben dieses Krankenhaus durchsuchen!“ beschloss Semir und machte auf dem Absatz kehrt. Nun begann eine Mission, die Semir noch lange in seinen Träumen verfolgen sollte.

  • Sarah wurde innerlich immer unruhiger. Ihre Schwägerin hatte sie angerufen, wie es denn Tim ginge und sie wäre beinahe in Tränen ausgebrochen und erzählte ihr nach kurzem Zögern, dass Ben vermisst wurde und sein Freund sich in Tunesien auf die Suche nach ihm gemacht hatte. Dazu brüllte Tim wie am Spieß, so dass sie sich beinahe nicht unterhalten konnten und nach kurzer Überlegung sagte ihre Schwägerin: „Sarah-ich ruf dich gleich zurück!“ und wenig später teilte die ihr mit, dass sie sich sofort ins Auto setzen würde und zu ihr kommen. „Weisst du-ich brauche sowieso noch Weihnachtsgeschenke für die Kinder, dein Bruder hat noch Urlaub, der kann mich zuhause vertreten und dann wohne ich bei dir und kann dich vielleicht ein wenig entlasten!“ sagte sie und Sarah war von Herzen froh, dass sie nun erfahrene Hilfe bekam, denn langsam wusste sie schon nicht mehr, was sie mit dem weinenden Baby noch alles anstellen sollte.
    Als drei Stunden später ihre Schwägerin bei ihr eintraf, nahm sie erst einmal die völlig fertige Sarah in den Arm und hatte nach kurzer Zeit auch herausgefunden, warum Tim fast nicht mehr zu beruhigen war. „Sarah-der hat Hunger! Anscheinend ist bei dir durch den Stress die Milch zurück gegangen-hast du auch selber genügend gegessen und getrunken?“ fragte sie, aber Sarah schüttelte den Kopf. Sie hatte das völlig vergessen und seit Andrea´s Besuch am Vortag eigentlich außer ein wenig Wasser nichts mehr zu sich genommen. „Sarah-ich würde dem jetzt einfach etwas Festes zu essen geben oder ein Fläschchen anbieten oder beides. Ich habe meine Kinder zwar auch ein halbes Jahr überwiegend gestillt, aber nicht ausschließlich. In eurer Familie sind doch Allergien nicht so verbreitet, da musst du dir keine Sorgen deswegen machen-der Kleine ist für seine viereinhalb Monate groß und kräftig, dem schadet das nicht!“ sagte sie und so willigte Sarah ein und wenig später aß Tim die ersten Löffelchen Karottenmus und trank danach die erste Flasche fertige Ersatzmilch seines Lebens im Arm ihrer Schwägerin und schlief danach zufrieden und ruhig ein. Danach bestellte ihre Schwägerin noch eine Pizza für sie beide, kochte eine große Kanne Weihnachtstee und langsam kam Sarah ein wenig runter und konnte nun die Wartezeit auf eine Mitteilung Semir´s besser ertragen. Am liebsten hätte sie sich ja selber ins Flugzeug gesetzt, um den geliebten Mann zu suchen, aber das war wegen Tim einfach nicht möglich und so blieb ihr nichts anderes übrig als zu warten.


    Said Brami war am Nachmittag von einem Geschäftstermin zurück gekommen. Seine Tochter kam zu ihm und wollte unbedingt, dass er irgendwelche Ausläufe für ihren Hengst schuf. Ihm war das zwar völlig egal, aber als er sie fragte, wie sie darauf käme, antwortete sie: „Als ich heute ausgeritten bin hat mein Pferd ein wenig gesponnen. Ein pferdeerfahrener deutscher Freund unseres Gastes vom Freitag hat mir geholfen und mir dazu geraten dem Hengst mehr Auslauf zu gewähren, damit er ruhiger wird!“ Nun horchte Brami allerdings auf und wenig später hatte er herausgefunden, dass zwei Männer mit einem knallgelben Ford Galaxy nach Ben Jäger gesucht hatten. Entschlossen setzte er sich in einen seiner Geländewagen und fuhr zur Rennstrecke, wo er seinen Verwalter zur Rede stellte.

  • Als Brami an seiner Rennstrecke ankam, stellte er als Erstes fest, dass sein Verwalter die Jacke dieses Ben Jäger anhatte. Außer sich vor Zorn zitierte er den zitternden Mann zu sich, der sofort wahrheitsgemäß die Abläufe des Samstags schilderte und auch, dass die Angehörigen des verunglückten Rennfahrers nach ihm gesucht, ihn aber nicht gefunden hatten-auch nicht seine Leiche. Das einzige was er verschwieg war der Einsatz der Hunde-schließlich hatte er Ismaels Wagen nur aus der Ferne gesehen und sich dann zusammengereimt, dass die jetzt wohl nach einem Toten suchten. Allerdings waren die zwei Männer und der Hundeführer dann nach sehr kurzer Zeit wieder vom Fundort des Helms zurück gekehrt und zwar ohne Leiche, was den Verwalter vermuten ließ, dass die irgendwelche anderen Informationen gehabt hatten, was den Aufenthaltsort des verunglückten Rennfahrers betraf.
    „Du hast also den Mann noch lebend in der Wüste abgelegt, ohne meinen Anordnungen Folge zu leisten und das zu Ende zu bringen?“ vergewisserte sich Brami mit drohendem Unterton und der Verwalter nickte verzagt. Gerade begann er sich wortreich zu entschuldigen und schwor, dass das nie mehr vorkommen würde, da zog Brami eiskalt eine Waffe und tötete den Mann, der um sein Leben flehte, mit einem Kopfschuss. Dann wandte er sich ab, griff zu seinem Handy und rief seine Schergen an, damit die den Toten verschwinden ließen und dessen Familie gleich mit.
    Die Frau des Verwalters hatte vom ein wenig abseits liegenden Wohngebäude aus voller Entsetzen den kaltblütigen Mord an ihrem Mann beobachtet. Sie war nie mit der Arbeit ihres Gatten einverstanden gewesen, aber der hatte gefunden, dass er nicht schlecht verdiente, die Arbeit nicht schwer war und die Wohnung in Ordnung und hatte sich da einfach nicht dreinreden lassen-jetzt hatte er es mit seinem Leben bezahlt! Als Brami wenig später verschwunden war, eilte die Frau, die ihre Kinder vor dem Fernseher abgelenkt hatte, damit die nichts mit bekamen, zu ihrem Mann und fiel vor ihm entsetzt auf die Knie-er aber war wirklich mausetot und so begann sie hektisch die notwendigsten Dinge zusammenzupacken und warf sie in ihr altes Familienauto. Sie holte die Kinder und noch bevor Brami´s Schergen eintrafen, war sie mit ihnen auf der Flucht zu ihrer Familie, die ebenfalls in einer Höhlensiedlung lebte-allerdings an einem anderen Ort als Hassan´s Clan.


    Semir und Khaled begannen nun systematisch das Krankenhaus zu durchsuchen. Semir war ja aus der Türkei, wo er vor Ort schon manchmal kranke Verwandte besucht hatte, schon gewohnt, dass man in südlichen Gefilden nicht unbedingt mitteleuropäische Verhältnisse erwarten durfte, aber so etwas hatte er noch nie gesehen! Die ganze Klinik strotzte vor Dreck. Der Geruchspegel im ganzen Gebäude war für empfindliche Nasen fast nicht zu ertragen, obwohl doch jetzt eigentlich Winter war. Semir wagte sich gar nicht vorzustellen, wie das hier im Hochsommer stank! Er hatte erst überlegt, gezielt nach Patientenzimmern zu suchen, aber dann disponierte er um und begann einfach systematisch Tür für Tür zu öffnen und die dahinter liegenden Räume zu betreten und in jedes Bett zu schauen. Auf harten ärmlichen Pritschen lagen ausgemergelte Patienten in großen Sälen-betreut von ihren Angehörigen-in oft schmutziger Bettwäsche. Einige husteten und dann die Nachbarpatienten gleich mit. In manchen Zimmern herrschten anscheinend Durchfallerkrankungen vor, das roch man schon an der Tür, aber den einzigen Schutz den die Angehörigen hatten, waren Tücher, die sie sich gegen den üblen Gestank vors Gesicht gebunden hatten. Auf dem Boden stapelten sich die mit Fäkalien gefüllten Steckbecken und Semir war klar, dass man sich hier so ziemlich alles holen konnte.
    „Khaled-ich dachte immer, Tunesien sei so fortschrittlich in der Gesundheitsversorgung und es herrschten teilweise westliche Verhältnisse?“ fragte er seinen Freund und der zuckte die Schultern. „Weisst du Semir-wer Geld hat kommt nicht in so eine Poliklinik. Die werden von der staatlichen Krankenversicherung unterhalten und sollen die Grundversorgung der Bevölkerung sicher stellen-mit Betonung auf Grundversorgung, wo da die Latte liegt, weiss ich nicht! Wer es sich leisten kann geht in eine Universitätsklinik oder eine Privatklinik. Dort herrscht westlicher Standard, aber der muss auch aus eigener Tasche bezahlt werden. Wir haben also eine typische zwei-Klassen-Medizin und da jammert ihr in Deutschland schon immer, dass Privatpatienten bevorzugt werden!“ sagte er und Semir wusste darauf nichts zu antworten.
    Sie kamen an Behandlungsräumen vorbei, wo unter unhygienischen Verhältnissen Eingriffe vorgenommen wurden und als sie eine andere Tür geöffnet hatten, standen sie mitten in einem OP, wo gerade operiert wurde. Aber der narkotisierte Patient auf dem Tisch war auch nicht Ben.
    Als sie durch die letzte Tür im Parterre kamen, lagen dort sehr viele Leichen, die von einem alten Mann in einer unsäglichen Gestankswolke in Tücher gehüllt und für die rituellen Waschungen vorbereitet wurden, die dann später die Angehörigen zusammen mit dem Imam-dem Geistlichen- vornehmen würden. Voller Angst und Grausen dort ein bekanntes Gesicht zu entdecken schritt aber trotzdem Semir, den es beinahe hob, von Leiche zu Leiche und sah in junge und alte Gesichter-aber Gott sei Dank war Ben nicht darunter. Das würde er ihrem Pathologen in Köln erzählen-der mokierte sich schon immer, wenn sie sich bei ihm wegen seiner ekligen Arbeit beklagten- Semir würde da nie mehr jammern.


    Der kleine Yasser war inzwischen wieder zu seinem neuen Freund geeilt. Seinem Schützling ging es deutlich schlechter als heute Mittag. Fast verzweifelt hielt Yasser ihm einen Becher an die Lippen, aber Ben war zu schwach zum Schlucken. Er hatte aufgegeben. Hier und jetzt würde sein Leben enden. Er wünschte sich nur, dass Sarah, Semir und Tim erfuhren, dass sie nicht mehr nach ihm zu suchen brauchten, aber das war wohl ein frommer Wunsch. Voller Wehmut versuchte er dem kleinen Jungen, der sich so rührend um ihn kümmerte, ein letztes Mal zuzulächeln-wie gerne würde er dem Geld zukommen lassen, denn der war sichtlich arm. Sein rechter Arm schmerzte nun ebenfalls unendlich und er konnte ihn überhaupt nicht mehr bewegen. Er war schwach und zittrig und der Pfleger hatte nochmals das Absaugglas an seinem Brustkorb geleert und es war schon wieder voller Blut gewesen. Gerade wollte er die Augen schließen, da war auf einmal ein bekanntes Gesicht vor ihm. Nein-das konnte nicht sein! Das war sicher eine Fata Morgana, aber als nun Semir seine Hand ausstreckte, ihn an der Wange berührte und nur unendlich zärtlich sagte: „Ben-gut dass wir dich gefunden haben!“ da wusste er, dass er nicht träumte.

  • Khaled und Semir waren in den ersten Stock gelaufen. Nach dem Besuch in der Leichenkammer hatte Semir schon befürchtet, Ben könnte einfach gestorben und jetzt irgendwo anonym verscharrt worden sein, aber als er wieder in sich hinein hörte, wusste er, dass der noch lebte-allerdings war das Signal irgendwie sehr schwach. Im zweiten Krankensaal in dem sie durch die Reihen schritten, sahen sie einen kleinen dunkelhäutigen Jungen ganz verzweifelt vor einem Bett stehen. Er hielt einen Schnabelbecher in der Hand und die Tränen liefen ihm übers Gesicht. Da ging es sicher seinem Vater oder sonstigem Angehörigen schlecht! Beinahe wäre Semir achtlos an dem Bett vorbeigelaufen, aber irgendetwas Vertrautes zog da plötzlich seine Aufmerksamkeit auf sich! Er warf einen zweiten Blick hin und dann stand er schon neben dem Bett, berührte seinen Freund und sagte: „Ben-gut dass wir dich gefunden haben!“ und nun schlug der die Augen auf und sah Semir ungläubig an. Er versuchte zu sprechen, aber über seine Lippen kam nur ein unverständliches Krächzen.Semir nahm aus der Hand des Jungen nun den Becher mit Tee und hielt ihn an Ben´s Lippen und siehe da, nun trank er mit äußerster Mühe einen Schluck und konnte dann verständlich sprechen. „Wie hast du mich gefunden?“ wollte er wissen und Semir sagte langsam: „Ben-das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich dir bei Gelegenheit, aber jetzt bringen wir dich erst mal nach Hause!“ sagte er, denn er war fürchterlich erschrocken über das Aussehen seines Freundes. Dessen Augen lagen in tiefen Höhlen, er war käsebleich und ein dünner Schweißfilm überzog seinen Körper. An der Stirn konnte man eine verkrustete Platzwunde erkennen-ah, da war wohl das Blut im Helm hergekommen! Die ganze linke Seite war mit aufgeschnittenen, mit Binden nachlässig umwickelten Gipsverbänden bedeckt und unter der schmutzigen Decke kam ein dicker Schlauch hervor, der in ein Saugglas mündete, das mit sonorem Brummen und Blubbern von einer Pumpe auf Vakuum gehalten wurde. Kurz entschlossen nahm Semir die Decke weg. Er musste sich jetzt ein Bild von Ben´s weiteren Verletzungen machen, damit er das mit dem Transport planen konnte. Natürlich würde man nachher noch ärztliche Befunde einfordern und Sarah musste er auch sofort verständigen!
    „Ben, ich muss schauen, was dir sonst noch alles fehlt!“ sagte er bedauernd, denn er sah, wie sehr sein Freund fror. Entsetzt betrachtete er dessen geschundenen Körper an dem die Rippen herausstanden und sich die Haut scharf über den Knochenvorsprüngen abzeichnete. Die komplette linke Seite war eigentlich ein einziger Bluterguss, der in allen Farben des Regenbogens schillerte. Der Verband am Brustkorb war durchgeblutet und auch das Glas war schon wieder zur Hälfte mit Blut gefüllt. Das einzige was an Ben dick war, war der rechte Arm, in dem eine Infusionsnadel steckte. Allerdings war die Infusion anscheinend nicht dahin gelaufen, wo sie sollte, sondern ins Gewebe, das sich zum Platzen spannte. Auch dort war ein großer Bluterguss zu erkennen und aus vielen frischen Nadeleinstichslöchern drückte es die Flüssigkeit. Semir zog mit einer raschen Bewegung den falsch liegenden Zugang heraus, was auch nicht blutete-verdammter Mist-auch bei ihm war bei einem seiner vielen Krankenhausaufenthalte schon mal eine Infusion daneben gelaufen, aber das hatte man bald gemerkt und dann eine neue gelegt! Ben´s Arm hingegen war ungesund verfärbt und schmerzte anscheinend fürchterlich.
    „Ben-hast du starke Schmerzen?“ wollte Semir nun wissen und sein Freund nickte kraftlos. „Aber da muss man doch etwas dagegen machen-immerhin sind wir hier in einem Krankenhaus!“ begehrte Semir auf, dem es unglaublich schien, wie schlecht Ben versorgt war. Khaled hatte sich inzwischen auf Arabisch mit dem kleinen Jungen unterhalten, der stolz und unnachgiebig neben seinem Schützling stand. Er mischte sich ein: „Semir-die Krankenhausmitarbeiter haben Ben sträflich vernachlässigt, weil er kein Geld und keine Papiere bei sich hatte und ein Ungläubiger ist!“ erklärte er und Semir wurde das im selben Moment auch klar. Er hätte nur nie gedacht, dass man seine religiöse Überzeugung dermaßen an einem hilflosen Patienten auslassen konnte. Aber das war jetzt egal-er wusste nur, dass er Ben keine Minute länger in diesem Krankenhaus lassen würde! Sie würden eine Ambulanz organisieren und ihn in eine Privatklinik bringen lassen, wo er zunächst ordentlich versorgt würde und dann in aller Ruhe mit dem Ambulanzflieger in die Heimat geschafft würde.
    Nun versuchte Ben wieder zu sprechen und erst als Semir seinen Kopf ganz nah über ihn beugte, verstand er, was er fragen wollte-er konnte zwar nur Bruchstücke des Satzes erkennen, aber er verstand zwei Namen: „Sarah und Tim!“ Tröstend legte er seine Hand auf Ben´s heile Schulter: „Denen geht´s gut-wir sagen Sarah nachher gleich Bescheid, dass wir dich gefunden haben-die beiden warten auf dich!“ erklärte er seinem Freund, zog den schmutzigen Kaftan wieder über ihn und deckte ihn zu. Ben stank im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel und das Bett war mit Blut und Erbrochenem besudelt!


    Inzwischen hatte Khaled´s Telefon geklingelt und als er ran ging, versteinerte seine Miene. „Semir-Brami hat seine Schergen ausgesandt um Ben und uns zu suchen-wenn die uns finden sind wir tot!“ sagte er leichenblass und nun starrte Semir ihn erschrocken an.


    Als Ismael zu seiner Behausung zurückgekehrt war, hatte er gedankenverloren die Hunde versorgt. Plötzlich war sein Bruder Ahmed herausgestürzt. „Ismael, stell dir vor-die Schwester meiner Frau ist gerade bei ihrer Sippe eingetroffen. Brami hat ihren Mann kaltblütig vor ihren Augen ermordet und sie ist nun mit ihren Kindern zu ihrer Familie geflohen. Brami hat die Suche nach diesem Ben Jäger, den wir versorgt haben, gestartet und hat ein Kopfgeld auf ihn und seine Freunde ausgesetzt. Hoffentlich können die nicht zurück verfolgen, dass er bei uns war!“ sagte er ängstlich, aber das konnte Ismael nun nicht mit Sicherheit garantieren. Sie alle waren in großer Gefahr! Allerdings war er ein Ehrenmann und rief deshalb Khaled´s Bruder, dessen Telefonnummer er gespeichert hatte, an und teilte ihm die Neuigkeiten mit. Zumindest warnen konnte er die Männer, wenn ihm auch sonst die Hände gebunden waren. Allerdings suchten nun er und die anderen Männer ihrer Höhlensiedlung ihre Waffen heraus-sie würden sich nicht kampflos ergeben, falls bei ihnen Brami´s Schergen auftauchten. Den Rennanzug des Verletzten hatten sie bereits verbrannt und nun wies keine Spur mehr zu ihnen. Ab jetzt konnte man nur wachsam sein und hoffen, dass Allah irgendwann für Gerechtigkeit sorgen würde!

  • Semir reagierte sofort. Dieser Brami war reich, unberechenbar und gefährlich. Sie konnten Ben jetzt nicht in aller Ruhe in ein anderes Krankenhaus verlegen lassen, denn das würde er herausfinden. Gerade in einem Land wie Tunesien in dem es doch noch große Armut gab, war ein Kopfgeld sicher die einfachste Lösung, jemanden zu finden. Irgendeiner würde ihren Weg nach verfolgen und wirklich sicher wären sie erst in der Heimat-bzw. auch dort vielleicht nicht völlig, aber da konnten die Kollegen für ihren Schutz sorgen. Das bedeutete, dass man Ben jetzt einfach so, wie er war, mitnehmen musste. Ismael hatte ihnen erzählt, dass Ben in seinem Zustand schon auf einem Kamel geritten war und der Transport ins Krankenhaus hatte auf der offenen Ladefläche eines Geländefahrzeugs stattgefunden-da würde das in dem Ford Galaxy auch gehen! Der hatte ebenfalls eine große Ladefläche, wenn man die Sitze wegklappte-nur wo sollte man Ben hinbringen?
    Wenn sie ihn zu Khaled´s Familie transportierten, würde er die in allerhöchste Gefahr bringen-außerdem war anzunehmen, dass seine und Khaled´s Identität inzwischen hinreichend bekannt war-dort würden sie zu allererst gesucht werden. Sobald er konnte, musste er Sarah und die Chefin verständigen-die mussten von Deutschland aus die Rettungsaktion organisieren-aber bis der Ambulanzflieger, egal von welcher Organisation, da war, mussten sie Ben an einem sicheren Ort verbergen.


    Der kleine Junge, der Tränenspuren in den Augen gehabt hatte, als sie gekommen waren, wirkte jetzt wieder glücklich. Semir merkte auch an den Blicken die er und Ben sich zuwarfen, dass zwischen den beiden ein besonderes Band bestand. Kurz entschlossen sagte er zu Khaled, während er dem Jungen ein freundliches Lächeln zuwarf. „Frag den Jungen erstens wie er heißt und zweitens, ob er uns ein Versteck weiss, wo wir und Ben uns bis morgen verbergen können-wir zahlen auch gut für diese Mühe!“ sagte er und Khaled übersetzte eifrig. Yasser dachte kurz nach, nickte und antwortete dann in einem arabischen Wortschwall. „Er sagt er heißt Yasser und er wird uns ein Versteck zeigen!“ dolmetschte Khaled und kurz entschlossen löste nun Semir schon die Bremsen des Bettes. Die Konstruktion an Ben´s Brustseite sah aus, als würde die den Sog eine Weile halten und irgendwann würden sie schon wieder ein Stromnetz haben-auf jeden Fall würden sie die Motorpumpe mitnehmen und darum stellte sie Semir zu Ben ins Bett.
    Während sie los fuhren, dachte Semir nach. Würden sie jetzt über die Notaufnahme das Krankenhaus verlassen, dann wäre das für jedermann naheliegend-also konnte man damit rechnen, dass dort zuerst nach ihnen gesucht würde. Allerdings gab es außer dem Haupteingang noch eine dritte Möglichkeit das Krankenhaus zu verlassen und so standen sie wenig später mit ihrem Bett vor der Leichenkammer, die eine große Tür nach draußen hatte, wo die Leichenwagen vorfuhren. „Wartet ihr hier mit Ben-ich hole den Wagen!“ befahl er und Khaled und Yasser nickten und sahen angeekelt auf die Tür, hinter der ein widerlicher Gestank hervorquoll. Semir atmete kurz tief ein, hielt die Luft an und verschwand durch die erste und kurz danach durch die zweite Tür nach draußen. Im Vorbeigehen hatte er dem alten Mann, der die Toten versorgte, einen Schein zugesteckt und den Finger auf die Lippen gelegt. Der nickte, zum Zeichen dass er verstanden hatte und machte seelenruhig mit seiner Arbeit weiter. Der Geldschein, den Semir ihm zugesteckt hatte war mehr als er in einer Woche verdiente-dafür konnte er ruhig die Augen ein wenig verschließen!


    Semir huschte wie eine Katze durch die nun schon dämmrige Gasse zu dem Platz, wo ihr Wagen stand. Beinahe dort angekommen verharrte er. Er hatte zwei Männer entdeckt, die sich dort unauffällig herumtrieben, aber er konnte die Waffen an deren Gürtel erkennen. Sie waren bereits entdeckt worden! Vorsichtig musterte er die Umgebung. Außer den beiden waren keine weiteren Feinde zu sehen, aber er musste annehmen, dass im Krankenhaus bereits nach Ben und ihnen gesucht wurde-es blieb keine Zeit ein anderes Fahrzeug zu besorgen. Also schlenderte er unauffällig in die Nähe des ersten Mannes. Alles was er hatte, war der Überraschungseffekt und seine Nahkampfausbildung. Natürlich hatte er keine Waffe nach Tunesien mitnehmen können und er hatte auch nie im Traum daran gedacht, dass seine Mission so gefährlich werden würde. Anstatt allerdings deswegen mit dem Schicksal zu hadern, griff er unvermittelt den ersten Mann an und konnte den in Sekundenschnelle zu Boden werfen und entwaffnen. Der schrie nur erschrocken auf und bemühte sich hoch zu kommen, aber der zweite Mann griff nun sofort nach seinem Revolver und legte auf Semir an. Der benutzte den ersten Mann als lebendes Schutzschild und als ein Schuss ertönte, sackte der Mann vor ihm plötzlich in seinen Armen zusammen. Der bewaffnete Angreifer hatte versehentlich seinen Komplizen erschossen! Semir warf nun die Leiche gegen den anderen Mann und brachte den so zum Straucheln. Todesmutig nutze er dessen Schrecksekunde, stürzte sich auf ihn und entwand auch ihm die Waffe. Der wehrte sich zwar heftig, aber Semir gelang es, ihn mit dem Knauf der Waffe bewusstlos zu schlagen. Nun ließ er die beiden einfach liegen, nahm die beiden Revolver mit, sprang in den alten Ford und raste mit Vollgas zum Nebeneingang. Schnell klappte er die Sitze weg, rangierte rückwärts an das Tor und rannte auch schon hinein. Er riss die Tür auf, zerrte mit Khaled´s und Yasser´s Hilfe das Bett zum Wagen und nach kurzer Überlegung zog er das schmutzige Leintuch rund herum von der Matratze. Dort fassten sie an und sogar der Herr der Leichen legte mit Hand an. Während Ben schmerzvoll aufstöhnte, als man ihn durch die Heckklappe mitsamt dem Leintuch ins Innere des Autos zog, packte der alte Mann auch schon das Bett und verschwand damit wieder im Krankenhaus. Er hatte nichts gehört und nichts gesehen und das Bett stand nun in einer langen Reihe anderer Betten, um morgen nachlässig geputzt und frisch bezogen zu werden, damit der nächste Patient eine Liegestatt hatte.


    Im Krankensaal waren inzwischen zwei weitere bewaffnete, Furcht einflößende Männer eingetroffen, die sich suchend nach Ben und seinen Begleitern umsahen. Der Pfleger hatte ihnen sofort bereitwillig Auskunft gegeben, wo der unbekannte Ungläubige lag, aber der war samt Bett verschwunden. Die anderen Patienten und deren Angehörige wussten auch nicht, wo die Gesuchten hingegangen waren und so begannen die beiden Männer das Krankenhaus-beginnend mit der Notaufnahme- zu durchsuchen, nicht ohne vorher Brami telefonisch Bescheid gegeben zu haben, dass sie den Dreien auf den Fersen waren. „Bringt mir deren Köpfe!“ befahl der kalt lächelnd, während er im Smoking zu seinem luxuriösen Dinner schritt, zu dem einflussreiche tunesische Politiker eingeladen waren, die sich an dem Luxus und der Gastfreundschaft in seinem Haus ergötzten.


    Semir verließ mit Vollgas den Bereich des Krankenhauses und an der nächsten Ecke fragte Khaled den kleinen Yasser: „Wohin?“ und der wies ihnen entschlossen den Weg.

  • Sie fuhren um ein paar Ecken. Inzwischen war die Zeit des Abendgebets gekommen und die Rufe des Muezzin schallten aus Lautsprechern von allen Hausecken. Yasser´s Mutter war schon in Sorge, wo ihr mittlerer Sohn wohl wäre, denn er war normalerweise zum Abendgebet immer zuhause, da rollte ein knallgelbes Auto in ihren Innenhof. Überrascht beendeten sie ihr gemeinsames Gebet und sie öffnete die Haustür-sie hatte aus dem Fenster gesehen, wie ihr Sohn gerade ausgestiegen war.
    Semir warf einen besorgten Blick auf Ben. Er hatte sichtlich starke Schmerzen, seitdem sie ihn bewegt hatten und bemühte sich anscheinend nicht laut zu stöhnen. Weit brauchten sie mit dem nicht mehr fahren, er würde das nicht aushalten. Eine traditionell gkleidete hübsche Frau von etwa 35 Jahren-die Kleidung alt, aber sauber, kam aus der Tür und Yasser warf sich in ihre Arme und begann erregt etwas auf Arabisch zu erklären. Die Frau nickte und öffnete wenig später einladend die Tür. Khaled und Semir sahen sich an. Der kleine Junge hatte sie zu sich nach Hause geführt. Soweit Khaled verstanden hatte, hatte er seiner Mutter gerade erklärt, dass sie auf der Flucht waren und sein verletzter Freund dringend Hilfe brauchte. Semir bat Khaled doch der Frau zu sagen, dass es für sie und ihre Familie gefährlich sein konnte, ihnen Obdach zu gewähren, aber die hörte zwar zu, machte aber trotzdem erneut eine einladende Geste ins Innere des Hauses und sagte ein paar Worte zu Khaled. Der wandte sich nun Semir und Ben zu und übersetzte: „Sie sagt-das Leben ist eine einzige Gefahr und die Freunde ihres Sohnes sind auch ihre Freunde und die ihrer Familie-wir sollen den Kranken hereinbringen, sie wird sich um ihn kümmern!“ und Ben zuliebe, willigte Semir ein. So vorsichtig wie möglich begannen sie ihn herauszuziehen und da kamen auch schon die beiden älteren Brüder Yassers und fassten mit an. Die Jungs waren höchstens vierzehn, aber man sah an ihren Gesichtern, dass sie leider schon mehr vom Leben gesehen hatten, als Kinder eigentlich sehen sollten. Trotzdem halfen sie bereitwillig den fremden Mann in ihr Wohnzimmer zu tragen, das unmittelbar hinter der Tür war. In der Ecke war ein Lager, von dem sich ein ausgemergelter Mann gerade mühsam erhob und ein paar flache Matten heranzog, auf die sie Ben, der heftig atmete, nun ablegten.


    Semir konnte sehen-Ben war hier momentan versorgt-er musste jetzt so schnell wie möglich das auffällige Auto loswerden, sonst führte das Brami´s Schergen direkt zu der gastfreundlichen Familie. Er sagte zu Ben und Khaled: „Ich komme bald wieder!“ und dann bat er Khaled noch, nach Strom für die Motorpumpe an Ben´s Seite zu fragen und steckte ihm noch unauffällig einen der Revolver zu. Der nickte und wenige Sekunden später saß Semir wieder hinter dem Lenkrad und steuerte das Auto aus der engen Gasse. Er war etwa zwei Kilometer gefahren, da bemerkte er auf einmal, dass ihm ein Wagen folgte. Er bog mehrmals ab, aber das andere Fahrzeug hing wie angeschraubt an seinem Heck. Gut dass wenigstens die Scheiben des Galaxy hinten mit Folie beklebt waren, so konnte man nicht erkennen, ob er Passagiere hatte oder nicht. Nun packte Semir sein fahrerisches Können aus und bevor sich der Verfolger versah, war er mit Vollgas in ein schmales Gässchen abgebogen. Er befand sich in den Außenbereichen des Souk von Sousse und schraubte sich nun immer weiter durch die engen Gässchen. Passanten sprangen fluchend zur Seite, Prostituierte machten öbszöne Gesten in seine Richtung, aber immerhin vergrößerte sich der Abstand zu seinem Verfolger immer mehr. Mit quietschenden Reifen bog er um eine letzte Ecke, sprang dann heraus und ließ das Auto mit laufendem Motor einfach stehen. Er selber begann nun zu Fuß zu fliehen und noch während seine beiden Verfolger, wie er mit einem Blick über die Schulter feststellen konnte, in das Fahrzeug schauten, um sich nach seinen Passagieren umzusehen, hatte er nochmals Land gewonnen. Das Gedränge wurde gerade dichter-Händler verkauften Tabak und Pfefferminztee, überall waren Wasserpfeifen in Betrieb und Semir schlug Haken um Haken, bis er seine Verfolger aus den Augen verloren hatte-und sie hoffentlich ihn auch. Er begann langsamer zu gehen, um nicht aufzufallen und wenig später verließ er den Bereich des Souk wieder. Er stieg in ein bereitstehendes Taxi, das auf Touristen wartete und der Fahrer sprach ein wenig Deutsch, wie er aufatmend feststellte. Er nannte die Adresse des Krankenhauses und als er in der Nähe war, stieg er aus, entlohnte den Fahrer und hatte wenig später ohne Verfolger den Weg zu Yasser´s Zuhause eingeschlagen.
    Dort wurde ihm sofort geöffnet und nun bekam er Einblick, wie eine arme Familie in Tunesien so lebte.Der Raum in dem Ben auf dem Boden auf einigen flachen Matten lag, war abgewohnt, aber peinlich sauber. Natürlich hätte die Wand einen neuen Anstrich gebrauchen können, aber trotzdem roch es hier nicht schlecht. Kein Vergleich zu dem Mief im Krankenhaus. Der ausgemergelte Mann, der ein paar seiner Polster für den kranken Gast abgegeben hatte, hatte sich wieder hingelegt-man sah, dass er sehr krank und schwach war. Auf einigen Kissen saßen neben Khaled insgesamt sieben Kinder, das jüngste etwa drei Jahre alt. Eine Ecke des Wohnzimmers war mit einem Vorhang abgeteilt und dahinter trat nun die Frau mit einer dampfenden Kanne Pfefferminztee hervor, den sie soeben frisch gekocht hatte. In einer anderen Ecke stand ein Fernseher mit Receiver auf dem Boden und das einzige Möbel sonst, war ein niedriger Tisch und eine Kommode in der Ecke. Die Frau reichte ihnen allen Tee in kleinen Tassen und zu Ben hockte sie sich mit einem Lächeln und flößte ihm höchstpersönlich ein paar Tropfen ein. Der lächelte dankbar zurück, aber Semir konnte ihm ansehen, dass er vor Schmerzen völlig verkrampft war. „Gibt es hier einen verschwiegenen Arzt, den wir rufen könnten?“ fragte er deswegen und Khaled übersetzte. Die Frau nickte, sagte etwas zu ihrem ältesten Sohn und der erhob sich, um den Doktor, der in der Nähe wohnte, zu holen. In der Zwischenzeit kramte Semir sein Handy hervor, um endlich das zu tun, was ihm schon die ganze Zeit unter den Nägeln brannte-er rief Sarah an!


    Sarah hatte sich im fernen Köln mit ihrer Schwägerin noch eine Weile unterhalten. Klar war sie müde, aber die innere Unruhe und die Sorge um Ben ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder kontrollierte sie, ob ihr Handy auch an war und der Blick wanderte wieder und wieder zur Uhr. Sie überlegte Andrea anzurufen, ob die irgendetwas wüsste, aber dann schalt sie sich eine Närrin-natürlich würde Semir ihr sofort Bescheid sagen, wenn er Ben gefunden hatte. Es ging schon auf neun Uhr zu und ihre Schwägerin kündigte gerade gähnend an, jetzt ins Bett zu gehen, da läutete auf einmal Sarah´s Handy-Semir war dran! Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber als sie die Nachricht hörte, die ihr ihr Freund mitteilte, begannen vor Erleichterung die Tränen zu laufen. Ihre Schwägerin sah sie fragend an und sie unterbrach kurz Semir´s Redeschwall am anderen Ende. „Ben lebt-er ist zwar verletzt, aber Semir hat ihn gefunden!“ teilte sie ihrer Verwandten mit und lauschte dann wieder aufmerksam den Worten ihres Gegenüber.

  • Semir war Sarah gegenüber einfach völlig ehrlich. Er erzählte, wie sie Ben gesucht hatten, dass sie ihn halb tot in einem Horrorkrankenhaus vorgefunden hatten und jetzt von Häschern, die ihm Übles wollten, verfolgt wurden. „Sarah mir sind von hier aus die Hände gebunden-ich werde jetzt dann sofort noch die Chefin anrufen, damit die für Ersatzpapiere sorgt, denn sonst bekommen wir ihn nicht einmal außer Landes! Wie mir Khaled gesagt hat ist die Deutsche Botschaft in Tunis und das ist von hier eine ganze Ecke weg, das funktioniert auf diesem Weg einfach nicht! Aber das Wichtigste ist-du musst einen Ambulanzflieger besorgen und das Personal das mitfliegt soll sich im Klaren sein, dass die Mission ganz schön gefährlich werden könnte!“ erklärte er ihr. Nun interessierte sich Sarah aber für das Wichtigste in ihren Augen-nämlich Ben´s Gesundheitszustand. Semir überlegte kurz, wie er den beschreiben sollte. „Sarah er sieht total schlecht und eingefallen aus. Seine komplette linke Seite ist blau und anscheinend bald jeder Knochen dort gebrochen. Er hat einige stümperhafte Gipsverbände an Arm und Bein und aus seinem Brustkorb ragt ein dicker Schlauch mit ner Pumpe dran, wo kontinuierlich Blut rausläuft. Er hat starke Schmerzen und wir haben gerade nach einem Arzt geschickt.“ erzählte er schonungslos und Sarah bat Semir, ihr doch den Arzt später ans Telefon zu holen. „Sarah das wird nicht viel bringen-hier spricht kein Mensch Deutsch-außer du kannst Arabisch! Ich werde dich aber nachher nochmals anrufen und dann kann Khaled dolmetschen, was der Doktor gesagt hat!“ schlug er vor und damit war Sarah einverstanden.
    Nun hielt Semir allerdings das Telefon an Ben´s Ohr-der hatte nämlich durchaus mitgekriegt, mit wem Semir gerade telefonierte und hatte mit Zeichensprache darum gebeten. Mit letzter Kraft krächzte er ins Telefon: „Hallo Sarah, ich liebe dich!“ und dann schloss er die Augen. Diese Aktion hatte ihm die letzten Kräfte geraubt, er wollte jetzt nur noch schlafen. Sarah rief in den Hörer, während ihr schon wieder die Tränen kamen: „Ich liebe dich auch Ben-und wir holen dich da raus, hörst du?“ und nun nahm Semir das Telefon wieder an sich. „Sarah ich lege jetzt auf und ruf die Chefin an-schau was du machen kannst, ich vertrau auf dich!“ sagte er noch und dann unterbrach er das Gespräch.
    Nach kurzer Überlegung ließ er sich Khaled´s Telefon geben-wenigstens hatte der noch nen vollen Akku! Er musste sparsam mit dem Seinen umgehen, denn natürlich lag das Ladekabel bei Khaled´s Familie und die würde man in Gefahr bringen, wenn sie jemanden hinschickten-er hatte keine Ahnung wie weit Brami´s Macht und Einfluss reichte. Sie würden auch ihr Gepäck dort lassen-das Wichtigste waren die Ausweispapiere und das Geld und das hatten sie bei sich.


    Die Chefin hatte es sich gerade vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Sie war ein wenig ärgerlich weil Semir sich nicht gemeldet hatte. Wenigstens Bescheid hätte er geben können, ob er morgen zum Dienst erschien oder nicht. Allerdings bezweifelte sie das, denn wenn er Jäger gefunden hätte, würde sie das schon erfahren haben-in solchen Fällen funktionierte die PASt-Familie-und das Buschtelefon besonders! So wollte sie gerade genüsslich an ihrem Rotwein nippen, als plötzlich ihr Telefon klingelte. „Unbekannter Anrufer!“ erschien auf dem Display und einen Moment überlegte sie, ob sie überhaupt rangehen sollte. Dann aber siegte ihre Neugier. Wer wollte so spät am Abend noch was von ihr-immerhin ging es schon Richtung zehn? Als sie nun die aufgeregte Stimme am anderen Ende vernahm, saß sie plötzlich aufrecht-genau der Mann an den sie gerade gedacht hatte war dran und sprudelte nur so: „Chefin-ich bin´s, Gerkhan! Wir sind in Tunesien und haben Ben gefunden. Er ist schwer verletzt und wir werden zudem verfolgt. Sie müssen uns da rausholen und irgendwas mit Ben´s Papieren organisieren, er hat nämlich überhaupt nichts bei sich!“ bat Semir und nach kurzer Überlegung versprach die Chefin zu tun was in ihrer Macht stand. „Das mit dem Ambulanzflieger organisiert Sarah-Ben´s Lebensgefährtin, vielleicht könnten sie sich mit der kurz schließen!“ bat Semir noch und legte dann auch schon wieder auf, denn gerade war der Arzt eingetroffen. Kim Krüger seufzte auf, schlüpfte aber dann in ihre Straßenkleidung-das würde eine kurze Nacht werden. Warum schafften ihre Männer es nur ständig sich in Schwierigkeiten zu bringen? Aber eigentlich war es müßig, sich solche Fragen zu stellen, jetzt galt es, die erst einmal heil nach Hause zu bringen. Der Außenminister würde ihr den Kopf herunterreißen, wenn sie ihn zu so nachtschlafener Zeit störte, aber es musste einfach sein! So griff sie erneut zum Handy und hatte wenig später den Mann, den sie aus ihrer Schulzeit kannte am Telefon.


    Der Junge hatte einen sympathisch aussehenden Mittvierziger mitgebracht, der in Jeans und Hemd sehr westlich wirkte. Er hatte einen abgenutzten Lederarztkoffer bei sich und stellte sich nun zunächst einmal in fließendem Deutsch vor: „Ich heisse Mohammed Amami, bin praktischer Arzt und habe gehört, dass wir hier einen Schwerverletzten haben!“ sagte er und ließ sich auch schon neben Ben auf den Knien nieder. Semir entwich ein leiser Seufzer der Erleichterung. Dieser Mann wirkte auf den ersten Blick schon kompetent und was für ein Segen, dass der so gut Deutsch sprach! Ben machte zwar die Augen einen kleinen Spalt auf, aber er war am Ende seiner Kräfte angelangt, das konnte man deutlich erkennen. Der Arzt sagte nun etwas auf Arabisch und schon erhob sich Yasser´s Mutter und verließ mit allen Kindern den Raum. Nur Semir, Ben, Khaled und der Vater, der schwer atmend wieder auf seinem Lager in der Ecke ruhte, blieben im Wohnzimmer zurück. Nun fiel Semir auch ein, was vielleicht wichtig sein konnte: „Herr Doktor-Geld spielt keine Rolle-wir können für ihre Leistungen zahlen-nur müssen wir sie um absolute Verschwiegenheit bitten, wir werden nämlich verfolgt!“ erklärte er und der Arzt winkte mit einer Handbewegung ab. „Geld ist nicht alles und ich kann schweigen wie ein Grab, aber jetzt sehe ich mal, was ich für unseren Patienten tun kann!“ sagte er und begann mit der Untersuchung.

  • Zunächst fragte der Doktor in den Raum: „Was ist eigentlich passiert?“ und nachdem Ben vor Schwäche den Mund nicht aufmachte, antwortete Semir für ihn. „Soweit wir das rekonstruieren konnten ist mein Freund am Samstagmorgen auf einer Rennstrecke verunglückt!“ erklärte er. Der Arzt blickte überrascht auf: „Brami´s Rennstrecke?“ fragte er und Semir, der eigentlich den Namen nicht hatte in den Mund nehmen wollen, nicht dass ihnen der nette Arzt noch davon lief, nickte verzagt. „Dann ist da irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen!“ prophezeite der Arzt. „Ich bin nämlich mit Brami schon zur Schule gegangen-wir waren beide als Söhne reicher Eltern in einem Eliteinternat, aber er ist schon als Jugendlicher über Leichen gegangen, war völlig rücksichtslos, aber leider eben auch sehr intelligent und erfolgreich. Er hat dann das Firmenimperium seines Vaters übernommen, während ich erst gegen den Willen meiner Eltern, aber später dann doch mit ihrer Zustimmung in Tunis Medizin studiert habe. Um danach Erfahrungen zu sammeln, habe ich zwei Jahre in Deutschland in einer kleinen Klinik in Bayern gearbeitet und war dort sehr glücklich. Dann allerdings starb mein Vater, ich bin zurück in die Heimat und betreue seitdem neben meinen normalen Patienten die Ärmsten der Armen in den Slums. Das macht mich wesentlich zufriedener als Geld zu scheffeln-ich habe in der Firma meines Vaters gute Geschäftsführer eingesetzt, es fällt für mich jeden Monat so viel ab, dass ich es mit leisten kann auch mal auf Bezahlung zu verzichten-leider bin ich aber nicht so reich, dass ich wirklich effektiv etwas ändern kann. Aber seien sie versichert-ich werde alles tun, um ihnen zu helfen und ihren Freund so zu stabilisieren, dass man ihn nach Deutschland ausfliegen kann!“ erklärte er und Semir fiel ein Stein vom Herzen. Dieser Arzt hier war ein Geschenk Gottes!


    Aber nun begann der systematisch mit der Untersuchung Ben´s. Zunächst einmal leuchtete er ihm in die Augen und besah sich die Schleimhäute. Die Pupillen reagierten gleichseitig und prompt, also war nicht anzunehmen, dass dem Kopf etwas Ernsthaftes geschehen war. „Waren sie bewusstlos?“ fragte er Ben und der nickte leicht. Gut-wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung, worauf auch das angetrocknete Erbrochene auf dem schmutzigen Laken hindeutete, aber eine fragliche Hirnblutung hätte nach dieser Zeit-immerhin waren seitdem vier Tage vergangen-bereits zum Tode geführt. Was der Arzt allerdings schon nach diesem ersten Blick in die Augen hatte feststellen können-sein Patient war völlig ausgeblutet und ausgetrocknet! Da musste er dringend etwas dagegen unternehmen! Er betastete nun den knöchernen Schädel und bat Ben dann den Mund zu öffnen, was der mit etwas Verzögerung auch machte. Die Zunge war wie die Lippen aufgesprungen und rissig und klebte am Gaumen, aber auch dort waren keine Verletzungen feststellbar. Nun tastete der Arzt den Hals und speziell die Halswirbelsäule ab. Er bewegte den Kopf passiv in alle Richtungen, was Ben zwar mit einem Stirnrunzeln quittierte, weil sich jede Bewegung schmerzhaft nach unten fortsetzte, aber auch dort war anscheinend nichts Schlimmeres passiert.
    Als der Arzt nun aber die Zudecke und den Kaftan wegnahm, hielt er vor Entsetzen beinahe den Atem an. Um Himmels Willen-der junge Mann hatte ja ein heftiges Thoraxtrauma! Er hatte schon die Drainage gesehen, die ständig Blut förderte, aber als er jetzt die blutunterlaufene linke Körperseite betrachtete, überkam ihn großes Mitleid. Er würde seine Untersuchung jetzt zügig abschließen und dann zusehen, dass sein Patient ein Schmerzmittel bekam. Vorsichtig betastete er systematisch die Rippen, was Ben dazu brachte, zischend die Luft einzuatmen und vor Schmerz aufzustöhnen. „Er hat eine Rippenserien-und eine Sternumfraktur!“ sagte der Arzt ungläubig in den Raum-„der Brustkorb ist völlig instabil, das müssen entsetzliche Schmerzen sein!“ berichtete er den Zuschauern, die vor Mitleid sowieso schon nicht mehr aus- noch ein wussten. Den linken Arm und das Bein begutachtete der Arzt nur am Rande: „Ich sehe zwar sofort, dass da mehrere Frakturen völlig unsachgemäß eingegipst wurden, aber wenigstens sind die so in sich fixiert. Die Behandlung wird man dann in Deutschland vornehmen und die Brüche operativ versorgen. Weil die Gipse aufgeschnitten sind, funktioniert die Durchblutung der Extremitäten!“ erklärte er den Zusehern und strich nun mit seinem Reflexhammer über Ben´s beide Beine und Fußsohlen und prüfte dort die Reflexe. Dann sah er stirnrunzelnd auf. „Wie heißt er?“ fragte er Semir und der antwortete: „Ben Jäger!“ und der Arzt nickte. Laut fragte er nun Ben: „Herr Jäger, können sie die Beine bewegen?“ und der nickte und führte die Bitte danach zögerlich ein kleines bisschen aus. „Wie schauts mit dem Gefühl aus?“ fragte der Arzt nun seinen Patienten, denn er hatte einen merkwürdigen Reflex feststellen können, als er über die Fußsohle strich, der nicht bei einer gesunden Nervenleitung vorkam. Ben lauschte in sich hinein und krächzte dann: „Fühlt sich komisch an!“ „Haben sie auch starke Schmerzen am unteren Rücken?“ fragte nun der Arzt und wieder nickte Ben, während die Miene des Arztes immer ernster wurde.
    Ohne diesen Befund zu kommentieren, sah er nun zunächst den rechten Arm an, der erstens von der daneben gelaufenen Infusion noch schrecklich dick und heiß war und zweitens viele kleine Nadelstichverletzungen und einen großen Bluterguss am Unterarm aufwies. „Hmm-das sieht mir so aus, als hätte da jemand heftig und unsachgemäß geübt-und in der Infusion, die paravenös gelaufen ist, war zudem sicher noch ein gewebereizendes Medikament!“ sagte er dann ein wenig zornig. „In welcher Klinik war das?“ fragte er und Semir beantwortete die Frage wahrheitsgemäß. „Oh je-da sind ein paar meiner Kollegen sehr streng traditionell gläubig. Da er leider nicht beschnitten ist, konnte man sofort sehen, dass da kein Glaubensbruder auf dem Tisch liegt. Er hat deshalb sicher nur Minimalbehandlung gekriegt, allerdings hat er wenigstens eine Thoraxdrainage, sonst würde er vermutlich nicht mehr leben!“ referierte der Arzt und löste bei der Gelegenheit mit Einmalhandschuhen gleich den blutigen Verband, besah sich die bereits entzündete Einstichstelle und legte einen frischen Verband an.


    Nun betastete er Ben`s Bauch und konnte einige Verhärtungen und Abwehrspannung feststellen. Er holte auch sein Stethoskop heraus und hörte gründlich Brustkorb und Bauch ab. „Ich hätte jetzt liebend gerne ein Ultraschallgerät, um mir den Bauch näher anzusehen, aber es hat im Augenblick keine Konsequenz. Wir müssen versuchen ihn über die Nacht zu bringen, damit er morgen in Deutschland ordentlich versorgt werden kann!“ sprach er fast ein wenig zu sich selbst. Er fasste beidseitig an Ben´s Flanken, um nach den Nieren zu tasten, was links ebenfalls ziemlich weh tat, ließ dann seinen Blick nach unten schweifen und sagte wieder: „Normalerweise braucht jemand der so schwer verletzt ist einen Katheter, damit man die Ausscheidung überwachen kann-Herr Jäger, wie viel Urin kommt denn?“ wollte er wissen und Ben schüttelte nun den Kopf und flüsterte „Keiner!“ Nun sahen ihn der Arzt und die anderen Anwesenden gleichermaßen entsetzt an. „Was soll das heißen-keiner? Heute noch nicht? Oder seit wann?“ Ben flüsterte leise: „Seit dem Unfall!“ und jetzt wurde die Miene des Arztes nochmals ernster, während er versuchte mittels Klopfschall die Blasenfüllung festzustellen, allerdings ohne Erfolg. „Vermutlich haben wir es mit einer Schockniere zu tun-wir müssen versuchen ihm so viel Flüssigkeit wie möglich zukommen zu lassen-stellt sich allerdings das Problem mit dem Zugang!“ sagte er mehr zu sich als zum Plenum. „Hatten sie seit dem Unfall schon Stuhlgang?“ fragte er, aber auch da schüttelte Ben, den die Untersuchung unheimlich schlauchte, den Kopf.


    „Um die Untersuchung abzuschließen, würde ich ihn gerne einmal en bloc vorsichtig drehen, obwohl ich eine Wirbelsäulenverletzung vermute. Vielleicht hat uns unsere Gastgeberin ein frisches Laken, das wir bei der Gelegenheit unterlegen können!“ sagte der Arzt und Khaled erhob sich, um die Frau im Nebenzimmer darum zu bitten. Wenig später kam er mit dem Gewünschten und dazu einer Schüssel, einem Handtuch und einem Waschlappen wieder. Er holte hinter dem Vorhang in der provisorischen Küche noch frisches Wasser und Seife, denn die Frau hatte vorgeschlagen, dass man Ben doch gleich ein wenig waschen sollte, wenn man schon dabei war. Nun erklärte der Doktor ihnen, wie sie hin zu fassen hatten und unendlich langsam und vorsichtig drehten sie Ben, der trotzdem laut stöhnte, zur Seite. Amami sah auf den ersten Blick welche Dornfortsätze gebrochen waren und Ben hatte sich auch schon wund gelegen. Er wusch ihm sehr vorsichtig den verschwitzten Rücken und hätte ihn auch gerne auf die Seite gelagert, aber wegen der instabilen Wirbelfrakturen blieb ihm nichts anderes übrig als nur das alte Laken darunter zu schieben und das neue auszubreiten „Und jetzt vorsichtig zurück!“ kommandierte er und während Semir nun frisches Wasser holte, um seinen Freund wenigstens ein klein wenig zu säubern, deckte der Arzt fürs Erste die schmutzige Decke und den Kaftan wieder über ihn und bereitete alles für eine Infusion vor.

  • Sarah hatte kurz überlegt. Ein Arzt, mit dem sie langjährig auf der Intensiv zusammengearbeitet hatte, hatte seine Stunden im Krankenhaus reduziert und flog nun regelmäßig Rettungseinsätze für eine Hilfsorganisation. Schon oft hatte er begeistert von Einsätzen in Krisengebieten berichtet und scheute anscheinend keine Gefahr. Der wäre der richtige Mann für so eine Aktion. Am liebsten würde sie selber als Begleitperson mitkommen, um Ben nach Hause zu holen, aber das konnte sie Tim nicht antun, der gerade wieder erwachte und auf den Arm und gestillt werden wollte. Sie sah in ihrem Handy nach und fand aufatmend die Nummer des Arztes. Es war zwar schon nach zehn abends, aber das hier war ein Notfall und so wählte sie kurz entschlossen dessen Nummer. Er ging auch sofort ran und als sie sich für die späte Störung entschuldigte, unterbrach er sie sofort. „Sarah ich weiss, dass es etwas Wichtiges ist und du nicht aus lauter Jux bei mir spätabends anrufst-schieß los, was gibt’s und nein-ich war noch nicht im Bett, sondern habe am PC gechattet-um deine Frage vorweg zu nehmen!“ sagte er schlicht und schon jetzt überkam Sarah ein Gefühl der Erleichterung-dieser Arzt würde ihnen helfen, da war sie sich ganz sicher.
    Mit wenigen Worten schilderte sie ihre Situation, soweit sie ihr aktuell bekannt war und der Arzt überlegte kurz. „Ich kann innerhalb einiger Stunden über die Luxembourg Air Ambulance einen Learjet organisieren, der als Ambulanzflugzeug ausgebaut ist. Wie sieht´s mit der Kostenübernahme aus?“ fragte er-denn so ein Flieger war nicht billig und man musste auch über die Einsatzzentrale die Überflugrechte und die Landeerlaubnis im Zielland einholen, was aber in solchen Situationen selten ein Problem darstellte. „Harald-Geld spielt keine Rolle-wenn die Krankenversicherung meines Lebensgefährten nicht einspringt, werden wir das aus eigener Tasche bezahlen-er ist der Sohn eines Bauunternehmers und finanziell gut situiert!“ umschrieb Sarah elegant den Reichtum ihres Partners, der sie anfangs selber recht erschreckt hatte. „Gut-dann lass mich ein paar Anrufe tätigen-ich würde auch gern einen vertrauten HEMS mitnehmen, mit dem ich gut im Team arbeiten kann, denn das klingt, als hätte es deinen Freund ordentlich erwischt!“ erklärte er noch und Sarah stimmte sofort zu. Auch einige ihrer Kollegen hatten neben dem Rettungsassistenten die Zusatzausbildung zum Helicopter Medical Service absolviert und konnten überall im fliegerischen Rettungsdienst eingesetzt werden. „Und ach ja-ich würde mich gerne mit dem behandelnden Arzt vor Ort persönlich kurz schließen, damit ich weiss, auf was ich mich einzurichten habe!“ bat er dann noch und Sarah versprach, da einen Kontakt herzustellen.
    Aufatmend ließ sie das Telefon sinken und legte vorsichtig Tim ins Bett, der in der Zwischenzeit an ihrer Brust wieder eingeschlafen war. Ihre Schwägerin, die jetzt völlig wach war, hatte gebannt zugehört, als Sarah organisiert hatte und legte ihr nun beruhigend die Hand auf den Rücken. „Sarah das wird-spätestens morgen hast du deinen Ben wieder bei dir!“ sagte sie tröstend und Sarah sagte leise: „Ich hoffe es Lisa, ich hoffe es!“


    Die Chefin hatte inzwischen ihren ehemaligen Schulkameraden aus Bonn am Telefon. Beim letzten Klassentreffen hatten sie ihre privaten Telefonnummern getauscht und so konnte sie ihn direkt erreichen. „Kim Krüger am Apparat-ich würde mal ganz unkonventionell deine Hilfe brauchen!“ bat sie ihn und nachdem er kurz aufgelacht hatte, sagte ihr Gegenüber: „Na dann schieß mal los!“ und nun begann sie ihm in kurzen Worten die Situation zu schildern. „Schick mir an diese E-Mailadresse die Daten deines Polizisten, am besten was ihr als Polizeiausweis in euren Akten habt. Ich lasse sofort ein beglaubigtes Ersatzpapier ausstellen und ein Fahrer bringt das morgen früh zum Köln-Bonner Flughafen. Ich habe übrigens schon gehört, dass du in die Terrorbekämpfung bei unserem Wirtschaftsgipfel kommende Woche mit deinem Team mit einbezogen bist-dann mach mal deine Arbeit gut, damit wir da keine Überraschungen erleben!“ sagte er und Kim war erstaunt, dass ein dermaßen mächtiger Mann sich um solche Details kümmerte. „Nachdem deine Männer sich in Tunesien ja nicht mit offiziellen Stellen angelegt haben, sind von dieser Seite wenigstens keine politischen Verwicklungen zu erwarten, drum sehe ich da auch kein Problem. Jetzt wünsche ich dir noch einen schönen Abend und freue mich, dass ich dir helfen konnte!“ beendete ihr Gegenüber das Gespräch und Kim sagte nur leise: „Danke Guido!“ und machte sich dann auf den Weg in die PASt, um aus dem PC Ben Jäger´s Daten herauszusuchen und sie mit Bild an die angegebene Adresse zu mailen. So etwas konnte sie auch nicht delegieren, denn die Daten waren mehrfach gesichert und sie brauchte dazu verschiedene persönliche Passwörter. Aber wenig später war auch das geschehen und sie schickte Sarah eine kurze Mitteilung: „Papiere sind erledigt-warten morgen früh am Kölner Flughafen!“ und kurz darauf kam nur eine kurze Nachricht zurück: „Danke!“ hatte Sarah geschickt und nun fuhr die Chefin wieder nach Hause, um sich todmüde in ihr Bett zu legen. Wie sie das morgen mit dem Personal machen würde wusste sie noch nicht, aber jetzt war erst einmal wichtig ihre Männer so schnell wie möglich in die Heimat zurück zu holen!

  • Dr. Amami hatte nun das Infusionsbesteck in den Plastikbeutel mit Vollelektrolytlösung gesteckt und mehrere Angiokaths in verschiedenen Stärken hervorgekramt. Semir hatte derweil begonnen, seinen Freund wenigstens provisorisch ein wenig zu waschen. Der Mann in der Ecke des Wohnzimmers, der interessiert das Tun betrachtete, sagte etwas zu Khaled, woraufhin der erneut im Nebenzimmer verschwand. Dort war der Raum mittels eines Vorhangs in zwei Hälften geteilt-ein Abteil für die Jungs, das andere für die Mädchen und die Mutter. Auf dem Boden lagen ebenfalls flache Matten, auf denen sich die Kinder inzwischen zum Schlafen hingelegt hatten. An den Wänden entlang waren einige Truhen in denen sich das Hab und Gut der Familie befand. Gerührt sah Khaled die aus Resten selber gebastelten Spielsachen für die Kinder an-jedes hatte eine selbstgemachte Puppe oder eine Art Teddybär aus Stoffresten, die sie liebevoll an sich drückten. Diese Mutter hatte zwar fast nichts, aber sie versuchte dennoch das Beste für ihre Kinder rauszuholen und man spürte die Liebe in diesem Haus.
    Fast war es ihm peinlich, aber dann richtete er doch aus, was der Vater im Nebenraum ihm aufgetragen hatte. Wenig später kehrte er mit einem frischen Kaftan für Ben und einigen Decken zurück. Er nahm sich vor, später im Haus seines Bruders nach Dingen Ausschau zu halten, die diese Familie gebrauchen konnte und sicher würde Semir denen für ihre Hilfsbereitschaft auch ein wenig Geld da lassen, wenn sie morgen Richtung Flughafen verschwanden. So konnte Semir, nachdem er seinen Freund nun auch von vorne wenigstens notdürftig gewaschen hatte, einen sauberen Kaftan über ihn legen und ihn mit einer frisch gewaschenen Decke zudecken.


    Der Arzt hatte sich inzwischen Ben nochmals im Hinblick auf den Zugang angesehen. Die malträtierten Arme fielen als Lokalisationsort beide weg. Klar hätte er am Hals eine Nadel legen können, aber das würde er morgen dem verlegenden Notarzt überlassen, denn man hatte hier nicht so viele Möglichkeiten und sein Patient würde noch viele Infusionen brauchen. So fiel seine Wahl auf den Fußrücken und er legte an Ben´s Wade einen Stauschlauch an. „Herr Jäger, ich lege ihnen jetzt einen Zugang in den Fuß. Das wird etwas mehr weh tun als am Arm, aber sobald der liegt bekommen sie von mir ein Schmerzmittel!“ kündigte er an und begann nach einer Vene zu tasten. Semir griff nach Ben´s Hand und lächelte ihn an und der bemühte sich, das Lächeln zu erwidern. So mies es ihm auch ging-er fühlte sich bei seinem Freund geborgen-der würde nun alles in die Wege leiten, was wichtig war und versuchen, sie alle miteinander heil zurück nach Köln zu bringen. Mit viel Mühe gelang es dem Arzt nun wirklich die Vene zu punktieren und er nahm, bevor er die Infusion anschloss, erst noch ein Blutröhrchen und noch eine kleine Menge Blut in einer Spritze ab. Dann schloss er die Infusion an, die momentan Khaled zum Halten bekam und verklebte sorgfältig den Zugang. Er hätte zu gerne seinen schwer verletzten Patienten mit Opiaten so richtig abgeschossen, aber er hatte da leider in seinem Arztkoffer nichts dabei. Die meisten Schmerzmittel wurden über die Niere abgebaut, die aber sowieso schon schwer geschädigt war. Die einmalige Gabe eines verkehrten Medikaments konnte der den Todesstoß versetzen und Ben für sein Leben zum Dialysepatienten machen, daher hängte er nun eine Kurzinfusion mit Paracetamol an-was zwar gegen diese Qualität der Schmerzen sicher nur ein Tropfen auf den heißen Stein war-aber sicher besser als nichts. Tatsächlich entspannte sich Ben langsam ein wenig, als die Infusion rasch in ihn rann und nun zog man ihn ein wenig näher zur Wand, damit man dort an einem Nagel die Plastikflasche aufhängen konnte. Khaled atmete auf-er hatte sich schon die ganze Nacht hier als lebender Infusionsständer stehen sehen!


    Stirnrunzelnd betrachtete nun der Arzt den Inhalt des Saugglases. Da war schon wieder eine Menge Blut nachgelaufen. Er klemmte den Schlauch ab und leerte in dem einfachen Badezimmer, in dem ein Loch im Boden als Abtritt diente, wie in südlichen Ländern üblich und ein Stück Gartenschlauch als behelfsmäßige Dusche, das Glas aus. Die ganze Zeit hatte er schon überlegt, ob er es wagen sollte, aber dann beschloss er einfach sein Glück zu versuchen-vielleicht war ein passender Spender vorhanden, denn sein Patient war bald völlig ausgeblutet und auch seine Gerinnung war vermutlich nicht mehr die beste! Als er zurück ins Wohnzimmer kam und dort das Glas wieder anschloss, fragte er auf Deutsch die Anwesenden: „Wissen sie ihre Blutgruppen?“ und alle drei nickten. Khaled hatte Blutgruppe A, aber Semir und Ben hatten beide die Blutgruppe Null-Rhesus-positiv. „Wären sie bereit, ein wenig Blut für ihren Freund zu spenden?“ fragte nun der Arzt und Semir nickte sofort. So kam es, dass wenig später Semir auf dem Tisch erhöht neben Ben lag und etwa ein halber Liter des kostbaren Saftes langsam in diesen floss. Der Arzt hatte zuvor auf einem einfachen Objektträger einen Tropfen von Semir´s Blut mit dem von Ben verrührt und nachdem da auch nach ein paar Minuten nichts ausgefallen oder verklumpt war, beschlossen es zu wagen. Eine kleine Menge Heparin hatte das Schläuchlein des Infusionsbestecks vorbereitet, damit nichts verklumpte, aber zufrieden beobachtete der Arzt, wie die Blutung in das Saugglas weniger wurde mit jedem Tropfen, den Ben von seinem Spender bekam-dessen Gerinnungsfaktoren taten ihre Wirkung!
    Nachdem die Transfusion nach etwa einer halben Stunde beendet war, erhob sich Semir und trank folgsam eine größere Menge Tee, damit seine Blutbildung angeregt und das verlorene Volumen aufgefüllt wurde. Die Mutter war inzwischen auf das Geheiß des Arztes wieder ins Wohnzimmer gekommen und hatte Ben ebenfalls winzig kleine Schlucke zu trinken angeboten. Viel wollte der Arzt ihm wegen der fraglichen inneren Verletzungen nicht oral geben, aber ein wenig frischer Geschmack im Mund konnte nicht schaden!


    Nun griff Semir wieder zum Telefon und rief Sarah an. „Sarah, konntest du etwas organisieren?“ fragte er und die bejahte und gab Semir auch gleich die Nummer des Notarztes. „Sarah-Ben wird hier hervorragend von einem sehr kompetenten Arzt versorgt, der außerdem noch gut Deutsch spricht!“ erklärte ihr Semir und nun war sie wenigstens ein wenig beruhigt. „Morgen früh startet der Ambulanzflieger und der Notarzt wird sich dann mit euch in Verbindung setzen-nur jetzt soll ihn sein Kollege gleich noch anrufen!“ richtete Sarah aus und fügte dann nach einer kurzen Pause hinzu: „Gute Nacht und viel Glück!“ und dann legte sie auf, um Semir´s Akku zu schonen. Der tunesische Arzt schloss sich mit seinem deutschen Kollegen kurz-er sprach allerdings draußen mit ihm, um die Anwesenden nicht noch mehr zu beunruhigen- und wenig später ruhten alle miteinander im Wohnzimmer ein bisschen aus, nur der Arzt blieb wach und kümmerte sich um seinen Patienten. Er betete, dass das alles gutgehen würde, aber er machte auch nicht den Fehler Brami zu unterschätzen-noch waren die nicht im Flieger. Allerdings hatte er die Waffen an den Gürteln der beiden Freunde des Patienten gesehen-er hoffte, sie würden sie nicht brauchen, aber ein wenig Sicherheit boten sie!

  • Nach dem Gespräch mit Dr. Amami hatte der Notarzt noch kurz Sarah angerufen. „Der Ambulanzflieger landet um kurz nach acht am Köln-Bonner Flughafen und nimmt mich und meinen Assistenten auf-da werden wir dann auch die hinterlegten Papiere mitnehmen. Learjet hatten sie keinen mehr, aber wir kriegen jetzt eine größere, voll ausgestattete Maschine zu fast demselben Preis. Wir nehmen von uns noch eine Vakuummatratze mit, denn der behandelnde Arzt befürchtet bei deinem Freund eine Wirbelsäulenverletzung und sowas ist standardmäßig nicht an Bord so eines internationalen Ambulanzjets. Ich melde mich dann bei dir, wenn wir auf dem Rückflug sind, was aber sicher nicht vor der Mittagszeit der Fall sein wird und du kannst uns dann am Flughafen in Empfang nehmen!“ informierte er Sarah und die bedankte sich erst, ließ aber dann geschockt das Telefon sinken. Ben hatte eine Wirbelsäulenverletzung? Oh nein-hoffentlich wäre er nicht gelähmt-ihr sportlicher Ben-das wäre der Supergau für ihn. Obwohl-eines wusste sie-ihrer Liebe würde es keinen Abbruch tun und seine Versorgung durch sie wäre gesichert so lange sie lebten-Ben war Ben, ob im Rollstuhl oder auf zwei Beinen-und Tim wäre das auch egal-er würde das einfach nicht anders kennen, wenn er damit aufwuchs! Nun legte sie sich hin und dachte eigentlich nicht, dass sie schlafen könnte, aber die Erschöpfung ergriff von ihr Besitz und irgendwann war sie plötzlich weg.


    Auch im fernen Sousse waren nacheinander alle zur Ruhe gekommen. Ben dämmerte mehr vor sich hin als zu schlafen, denn trotz Paracetamol waren die Schmerzen erklecklich und wenn er sich auch nur minimal bewegte, durchfuhr es ihn, wie wenn ihn jemand mit dem Messer malträtieren würde. Aber trotzdem ging es ihm seit der Bluttransfusion und mit der Flüssigkeit besser und er vertraute darauf, dass Semir ihn zu Sarah und Tim bringen würde. Während Semir und Khaled sich mit ein paar Decken auf dem Boden zusammengerollt hatten und wider Erwarten doch in einen leichten Schlaf gefallen waren, blieb der Arzt wach und wusch immer mal wieder Ben´s Gesicht mit einem feuchten Waschlappen ab, der wieder auffieberte. Er kontrollierte dessen Puls, der immer noch viel zu schnell war und befeuchtete seinen Mund mit kleinen Schlucken Tee. Als es Morgen wurde und die Kinder im Nachbarzimmer sich regten, wurden alle miteinander wach und Semir gab, nachdem sie sich notdürftig im Bad frisch gemacht hatten, dem älteren Sohn einige tunesische Dinar, damit er für sie alle Frühstück kaufte und vor allem auch Kaffee! Khaled übersetzte und wenig später kam der Junge mit einer großen Leinentasche voller frisch gebackenem hellen Brot, Milch, Kaffee und Honig zurück. Gemeinsam frühstückten sie alle miteinander-nur Ben bekam nur ein wenig Tee- und nun wurde der Schlachtplan für den Tag entworfen.


    „Ich habe gestern noch meine Frau angerufen, die mir in der Praxis hilft-die wird heute alle Termine vormittags absagen. Außerdem habe ich einen Fahrer meiner Firma informiert, dass er morgen für mich jemanden am Flughafen abholen soll-er wird mit einem großen Lieferwagen dort vorfahren, sobald wir wissen, wann der Ambulanzflieger landet und den Notarzt und seinen Assistenten mit einer Vakuummatratze und Opiaten hierher bringen. Ich getraue mich nämlich nicht, ihren Freund noch anders zu transportieren. Wenn die Wirbelfraktur abrutscht ist er vielleicht durch unsere Schuld dann dauerhaft gelähmt und deshalb haben der Notarzt und ich diesen Plan gestern noch entworfen!“ erklärte er und Semir sagte voller Dankbarkeit: „Ich weiss gar nicht wie wir das je bei ihnen Recht machen können-sie gehen für uns so ein Risiko ein, schlagen sich die Nacht um die Ohren und das Ganze für Ausländer, die sie bisher gar nicht kannten!“ Da lächelte der Arzt, während er einen großen Schluck Kaffee aus seiner Schale nahm: „Es ist mir eine Ehre meinen deutschen Freunden zu helfen und außerdem hat mich Yasser inständig gebeten, seinen neuen Freund zu retten!“ und der kleine Junge rückte nun ganz nah zu dem Arzt.
    Auch dem Vater ging es heute anscheinend ein wenig besser. Er saß ebenfalls mit am Tisch und frühstückte und seine Frau warf ihm immer wieder einen glücklichen Blick zu. Nach kurzer Überlegung fügte der Arzt noch hinzu: „Vielleicht könnten sie von Deutschland aus auch versuchen, einen Therapieplatz für unseren Vater hier ausfindig zu machen und Geld für seine Behandlung zu sammeln. Er hat eine sehr seltene Tumorerkrankung, die aber anscheinend im Heidelberger Krebszentrum schon vereinzelt mit einer speziellen lokalen Chemo geheilt werden konnte. Seine Krankenversicherung weigert sich aber zu zahlen und hier im Land gibt es auch keine Möglichkeit ihm weiter zu helfen. Mich macht sowas wütend, aber auch wenn es mir finanziell nicht schlecht geht-das übersteigt bei Weitem meine Mittel. Aber vielleicht ist es Schicksal, dass gerade sie hier bei uns aufgeschlagen sind!“ und nun nickten alle Anwesenden nachdenklich. Ben, der aufmerksam zugehört hatte, flüsterte nun: „Ich übernehme auf jeden Fall die Behandlungskosten und bedanke mich jetzt schon für ihre Gastfreundlichkeit!“ und als Khaled das übersetzt hatte, sprang Yasser auf, rannte die paar Schritte zu Ben, umarmte ihn vorsichtig und begann vor Glück zu weinen.„Jetzt kommen sie erst mal heil nach Hause und wir tauschen unsere Telefonnummern, dann können wir das später alles organisieren!“ bestimmte nun der Arzt und da läutete auch schon sein Handy. „Der Ambulanzflieger ist in der Luft-es ist eine größere Maschine, die auch schneller fliegen kann-sie werden in zweieinhalb Stunden in Monastir landen-also in knapp vier Stunden sind sie hier bei uns!“ erzählte er dann vom Inhalt des Gesprächs mit dem Notarzt und wies kurz darauf seinen Fahrer an, pünktlich am Flughafen von Monastir zu stehen und die beiden Personen mit dem sperrigen Gepäck hierher zu befördern.


    Brami hatte sein Dinner erfolgreich absolviert, hatte gut geschlafen und saß nun bei einem opulenten Frühstück. Politische Kontakte waren immer gut und er hatte so einige Politiker in seiner Schuld stehen. Das vermehrte seine Macht und das war es, nach was er strebte-und jeder der ihm dabei in die Quere kam würde rigoros ausgelöscht werden. Die Männer die er gestern hatte verfolgen lassen, waren wie vom Erdboden verschwunden, aber er wusste schon wie er sie kriegen würde. Irgendwann würden die das Land verlassen und er hatte seine Leute am Flughafen schon postiert-die würden noch ihr blaues Wunder erleben!

  • Kurz vor der Mittagszeit landete der Ambulanzflieger, der auch klar als solcher zu erkennen war in Monastir. Der Notarzt und der medizinische Flugbegleiter in ihren Overalls durchliefen mit einer Vakuummatratze auf einer fahrbaren Trage, einem batteriebetriebenen Monitor und zwei Notfallkoffern die Passkontrolle. „Wir holen einen wirbelsäulenverletzten Touristen ab!“ erklärten sie dem kontrollierenden Zollbeamten und der nickte. Das kam immer wieder vor, dass sich Urlauber verletzten und dann heimgeholt wurden. Die Maschine hatte alle Formalitäten inclusive Landegenehmigung durchlaufen und wurde nun am Rande des Rollfelds postiert. Der Pilot und der Copilot gingen einen Kaffee trinken, ohne das Flughafengebäude zu verlassen-in spätestens zwei Stunden würden sie wieder in der Luft sein, hatte der Notarzt angekündigt. Die beiden Luxemburger hatten auch keine Verständigungsprobleme-die alte Amtssprache Französisch war hier noch überall geläufig.


    Ein Fahrer in einem großen, gelben Sprinter mit Firmenaufdruck erwartete sie schon und bat sie mit ihrem Gepäck einzusteigen. Wenig später waren sie auf der Straße, die direkt am Meer entlang führte, unterwegs in das knapp dreißig Kilometer entfernte Sousse. Die beiden Männer, die den Flughafen überwacht hatten, entsicherten ihre Waffen und folgten dem Wagen. „Zwei Mediziner sind gerade angekommen und sind auf dem Weg in die Stadt!“ gab der Beifahrer telefonisch durch. „Wenn ihr wisst, wo genau es hingeht, sagt Bescheid, ich schicke euch dann Verstärkung!“ antwortete Brami und ein diabolisches Grinsen überlief seine Züge. Bald würde er seine Rache bekommen und dieser Jäger, sowie seine Begleiter würden das Land nie mehr verlassen!


    Auch der Fahrer des Sprinters gab durch, dass sie auf dem Weg waren und so langsam begannen sich Semir, Ben und Khaled schon von der Familie zu verabschieden. Die Adressen und Telefonnummern waren getauscht und Dr. Amami war redlich froh, dass er seinen Patienten doch einigermaßen ordentlich über die Nacht gebracht hatte. Ben hatte zwar wieder ziemliche Schmerzen, aber er tröstete ihn: „Der Notarzt bringt ein Opiat mit, das bekommen sie vor dem Umlagern und in Deutschland kann man ihre Verletzungen bald gut versorgen!“ erklärte er und Ben nickte. Sehnsüchtig erwartete auch er die Ankunft des Transportfahrzeugs, denn die Taubheit in seinen Beinen nahm zu und er war schwach und zittrig. Wenig später hielt ein großer Sprinter in der engen Gasse und zwei dynamische Männer in Overalls mit dem Aufdruck der Hilfsorganisation für die sie flogen, stiegen mit einer fahrbaren Trage und zwei darauf liegenden Koffern aus. Während der Notarzt nun seinem Kollegen ins Innere des Hauses folgte, musterte Semir aufmerksam die Gasse, die aber still vor ihnen lag. Er hatte gerade ein sehr ungutes Gefühl und seinem Bauchgefühl konnte er eigentlich immer trauen. Verdammt-er wäre nur froh, wenn sie endlich im Flieger saßen! „Willst du jetzt eigentlich noch wie geplant deinen Urlaub anhängen?“ fragte er Khaled, aber der schüttelte den Kopf. „Irgendwie ist mir der Spaß daran gerade vergangen-ich fliege mit euch zurück, wenn das von den Plätzen in der Maschine her geht!“ sagte er.
    Nun traten Semir und er wieder zurück in das Haus und beobachteten, wie Ben von den gut ausgestatteten Medizinprofis versorgt wurde. Die Mutter und die Kinder waren wieder ins Nebenzimmer gescheucht worden, so dass hier Männer unter sich waren. Gerade hatte der Notarzt genauso systematisch wie Dr. Amami seinen neuen Patienten untersucht und gleich als Erstes die Motorpumpe gegen ein modernes Pleur-Evac-System getauscht, das mittels Sauerstoff und einem Druckwandler einen sehr schonenden Sog aufbauen konnte. „Vielleicht kann Yasser die Pumpe bei Gelegenheit ins Krankenhaus zurück bringen!“ bat Semir und Khaled übersetzte das dem Vater, der dazu nickte. Dem praktischen Arzt waren seine Infusionen ausgegangen-die beiden Liter, die er in seinem Lederkoffer gehabt hatte, waren infundiert, aber die Medizinprofis hatten genügend Material dabei. „Ja Herr Jäger, da hatte Sarah, von der ich sie schon mal lieb grüßen soll-wir kennen uns nämlich vom Krankenhaus-schon Recht, sie haben als Diagnose den Ausdruck Polytrauma verdient-damit dürfte ihre Versicherung auch die Transportkosten übernehmen!“ erklärte er Ben, während er ihn mit kundigen Griffen von Kopf bis Fuß abtastete. Auch er war erschüttert über das Aussehen und die Schwere der Verletzungen seines Patienten und als sein Assistent den Monitor anschloss und vorsichtig den Blutdruck am immer noch geschwollenen rechten Arm kontrollierte, war es für ihn keine Überraschung, dass die Herzfrequenz sich bei 120 bewegte und der Blutdruck nur bei 70/40 mm/Hg lag. „Wir legen für den Transport einen großlumigen Zugang in die Externa und infundieren ihn erst mal ordentlich- er ist immer noch völlig exsicciert. Ich denke im Flieger lassen wir ihm dann auch Noradrenalin zukommen, aber die gute halbe Stunde reißt es jetzt auch nicht mehr heraus!“ bestimmte der Notarzt und sein Assistent bereitete geschäftig die Infusion vor.
    „Kompliment Herr Kollege!“ sagte er dann zu Dr. Amami- „unter diesen Voraussetzungen haben sie ihn bestmöglich versorgt!“ lobte er und der tunesische Mediziner errötete vor Freude über das Lob. Gerade die Frischbluttransfusion hatte den Notarzt beeindruckt und auch der vorausschauende Zugang am Fuß, der aber jetzt leider verstopft war, fand seine vollste Zustimmung. „Wenn die Praktiker in Deutschland da so fit wären, würde die Bevölkerung profitieren, aber sie glauben nicht, was wir da manchmal zu sehen bekommen!“ sinnierte er, während er nun begann Ben´s Halsseite mit Desinfektionstupfern gründlich abzustreichen. Ben hatte gerade ein wenig Angst und griff hilfesuchend nach Semir´s Hand, der die auch beruhigend ergriff. Man drehte seinen Kopf zur Seite und der Notarzt sagte: „Achtung, sticht!“ und legte dann routiniert einen dicken Zugang in die Halsvene. Man nahm erst drei Blutröhrchen ab, um in der Klinik unverdünnte Ausgangswerte zu haben und schloss dann, nachdem man das Schläuchlein sorgfältig verklebt hatte, die erste Infusion an. Der Assistent hatte schon das Piritramid aufgezogen und mit einem: „Jetzt werden die Schmerzen gleich besser!“ injizierte der Notarzt auch schon die halbe Ampulle. Ben wurde es ganz leicht im Kopf und die Schmerzen ließen schlagartig nach. Semir merkte, wie sich der Griff um seine Hand lockerte und ein Lächeln zog über seine Züge. Endlich bekam sein Freund die Schmerztherapie, die er benötigte und nun drehten alle Anwesenden, nachdem sie das genaue Vorgehen miteinander abgesprochen hatten, Ben sehr vorsichtig zur Seite. Man legte die Vakuummatratze darunter und drehte ihn dann zurück. Mit einer einfachen Handpumpe saugte der HEMS die Luft aus der Spezialmatratze und bald wurde die Unterlage, die der Notarzt noch sorgfältig anmodellierte, völlig steif, war aber den Körperformen komplett angepasst und dadurch trotzdem bequem. Um den Hals kam noch vorsichtshalber ein Stiffneck, also eine Halswirbelstütze-solange man kein negatives CT hatte, ging man in der Notfallmedizin einfach immer vom Schlimmsten aus-und dann hoben die Männer Ben miteinander mitsamt Matratze auf die fahrbare Trage, deckten ihn zu und schnallten ihn darauf fest. „So ich würde sagen, wir sind abfahrtbereit!“ verkündete der Notarzt und nun eilten die Kinder wieder ins Wohnzimmer. Yasser umarmte seinen Freund, der nun recht entspannt vor sich hin döste und den Sauerstoff, der über eine Sonde in seine Nase lief, einatmete und verabschiedete ihn mit ein paar lieben Worten auf Arabisch. „Dieser Junge hat meinem Freund vermutlich das Leben gerettet!“ erklärte Semir gerührt und die Mediziner nickten, während sie schon-gefolgt von Yasser´s Familie- zur ebenerdigen Tür hinausfuhren. Kaum waren sie allerdings in der Gasse angekommen, da brach auch schon das Inferno los!

  • Brami`s Männer hatten noch zwei weitere Helfer zur Verstärkung erhalten und er selber war auch auf dem Weg. Sie hatten ihre Fahrzeuge momentan in einer Seitengasse geparkt und zwei Männer hatten Position auf dem Dach des gegenüberliegenden flachen Hauses bezogen. Die ganze Familie Yasser´s stand vor den hinteren Türen des Sprinter, die gerade vom Fahrer aufgemacht und arretiert wurden. Sogar der Vater hatte trotz seiner Schwäche den Weg nach draußen gemacht um seine Gäste zu verabschieden, die ihm wieder Hoffnung gegeben hatten. Plötzlich wurde das Feuer auf sie eröffnet und während die Kinder panisch aufschrien, schlugen die Kugeln überall um sie herum ein. Voller Entsetzen sah Semir, der wie Khaled sofort nach seiner Waffe gegriffen hatte, wie Yasser am Bauch von einer Kugel getroffen wurde und mit einem Aufschrei zusammenbrach. Seine Mutter stieß einen Laut aus, den Semir in seinem Leben nicht mehr vergessen würde und packte ihr schwer verletztes Kind. „Schnell in den Wagen!“ schrie Semir, denn das war ihre einzige Chance. Wenn sie ins Haus zurück flohen, saßen sie wie die Mäuse in der Falle und bis in diese gottverlassene, ärmliche Gegend Polizei käme, hätten die Verbrecher das Haus gestürmt und sie alle, einschließlich der hilfsbereiten Familie umgebracht!


    Der Notarzt und sein Helfer wuchteten zunächst Ben in den Wagen, während ein Querschläger ihnen um die Ohren pfiff. Semir und Khaled versuchten ihnen Feuerschutz zu geben, aber sie hatten leider nicht sonderlich viel Munition. Der Fahrer hatte sich schreckensstarr in den Transporter zurückgezogen und nun hoben und schoben der Notarzt, sein Begleiter und Amami die ganze neunköpfige Familie in den Wagen und sprangen hinterher. Einen Moment war Feuerpause, weil die Schützen auf dem Dach um ihre eigene Gesundheit fürchteten und außerdem warteten ihre Komplizen ja an der nächsten Kreuzung-die Opfer würden nicht entkommen! Als alle im Transporter waren, begannen die Kugeln wieder von oben in das Fahrzeug einzuschlagen und nur durch ein Wunder wurde keiner der Insassen getroffen. Semir hechtete zum Führerhaus. „Khaled-du gibst uns Feuerschutz!“ befahl er und Semir hatte gerade den Sitz erreicht, da schwiegen von oben wieder kurz die Waffen. Khaled sprang auf die Beifahrerseite und Semir, der Gott dankte, dass wenigstens der Schlüssel steckte, ließ den Motor an und raste mit Vollgas aus der engen Gasse.


    Da sah er schon die provisorische Straßensperre. Brami hatte seinen schweren Geländewagen und die anderen ihre alte Schrottkarre quer in die Kreuzung gestellt, standen mit den Waffen im Anschlag dahinter und erwarteten mit siegessicherem Grinsen, dass der Wagen vor ihnen die Fahrt verringerte. Semir allerdings schrie laut: „Festhalten!“ und während Khaled auf die Angreifer feuerte und sie kurz hinter ihren Fahrzeugen in Deckung gingen, trat Semir statt auf die Bremse aufs Gas, hielt das Lenkrad fest und bretterte auf die Wagen zu und rammte sie. In letzter Sekunde konnten sich zwei der Verbrecher-darunter Brami-mit einem Hechtsprung in Sicherheit bringen, während der Dritte von dem Fahrzeug erfasst, durch die Luft geschleudert wurde und reglos liegen blieb. Mit unvermindertem Tempo raste Semir durch die engen Gässchen Richtung Hauptstraße. Einen kleinen Vorsprung hatte er herausgefahren, denn an dem Sprinter hingen zwar die Bleche und Scheinwerfer herunter, aber er war durchaus noch fahrbereit. Leider war bei dem Transporter der Laderaum von der Fahrerzelle mit einem Blech ohne Fenster getrennt, so dass sie mit den anderen hinten keinen Kontakt aufnehmen konnten.


    Die überlebenden Verbrecher hatten in Windeseile den dritten Wagen geholt, der als einziger noch fahrtüchtig war, aber ebenfalls eine alte Karre mit wenig PS und folgten nun in einiger Entfernung dem Firmenwagen. „Wo sollen wir uns verstecken?“ fragte Khaled angstvoll-„die deutsche Botschaft ist viel zu weit weg und ich weiss nicht, inwieweit Brami die örtliche Polizei in der Tasche hat!“ unkte er und Semir warf ihm nun einen wilden Blick zu. „Dann fahren wir eben jetzt zum Flughafen und schauen, dass wir das tunesische Hoheitsgebiet verlassen!“ sagte er und als Khaled fragte: „Und die Passagiere da hinten?“ denn er befürchtete schon, dass Semir die zurücklassen und so dem sicheren Tod übereignen würde, da hatte sein Freund eine einzige Antwort: „Die nehmen wir einfach mit!“ beschloss Semir und nachdem er nun einen Wegweiser zum Flughafen entdeckt hatte, der nicht nur auf Arabisch geschrieben war, bog er auf die Küstenstraße Richtung Monastir ein.
    Es begann ein zähes Rennen. Nach wenigen Kilometern bemerkten sie ihre Begleitung im Rückspiegel, aber der Sprinter hatte mehr PS und Semir war ein erfahrener Chauffeur, der das Letzte aus dem Fahrzeug herausholte, so dass die vier Männer im Verfolgerfahrzeug nicht näher als 500m aufschließen konnten. „Khaled-nimm mein Handy aus meiner Tasche und ruf Dr. Amami an-seine Nummer habe ich eingespeichert-ich muss wissen, wie´s da hinten aussieht!“ bat Semir nun Khaled und sie schalteten das Handy auf Lautsprecher und warteten, dass der tunesische Arzt ranging.

  • Ben war von den Schüssen wieder erwacht. Er hatte zuvor auch alles mitgekriegt, sich aber dem wohltuenden Gefühl der weitgehenden Schmerzfreiheit hingegeben. Nun hatte er entsetzt um sich geblickt, aber im selben Augenblick auch bemerkt, dass er nichts, aber auch gar nichts tun konnte in seiner Vakuummatratze mit dem Stiffneck. Nicht einmal den Kopf drehen konnte er, aber trotzdem hörte er Yasser und danach dessen Mutter aufschreien und wollte selber vor Entsetzen laut „Nein!“ brüllen, aber da wurde er schon wie er war in den Sprinter gewuchtet und ganz in die Ecke geschoben. Schnell füllte sich die Ladefläche-ja das war die einzig richtige Entscheidung die Semir getroffen hatte-jeder den sie zurück ließen würde von Brami und seinen Männern umgebracht werden! Trotzdem herrschte jetzt qualvolle Enge im Inneren des Transporters. Da wurden auch schon die Türen zugezogen und das Fahrzeug startete. Gott sei Dank war die Ladefläche wenigstens beleuchtet und auch die Lüftung funktionierte, allerdings waren nur zwei kleine Guckfenster in den hinteren Türen, sonst war der Sprinter eigentlich zu einem völlig anderen Zweck gebaut worden, als Personen zu transportieren. Wenig später gab es eine starke Erschütterung, die einen wahnsinnigen Schmerz durch Ben´s gesamten Körper schickte, Blech schrammte aufeinander und über Asphalt, aber dann ging es mit Vollgas weiter.


    Die beiden Ärzte und der Rettungssanitäter hatten trotz der wilden Fahrt begonnen, irgendwelche Dinge aus den Notfallkoffern zu holen. Der Vater und die Kinder kauerten sich dicht zusammengedrängt irgendwo zusammen und nun konnte Ben aus den Augenwinkeln erkennen, wie man seinem kleinen Freund auf dem Arm der Mutter trotz des schaukelnden Fahrzeugs einen Zugang legte und sofort ein Schmerzmittel spritzte. Inzwischen hatte der nämlich seine Augen weit aufgemacht und voller Entsetzen sah Ben, dass sich dessen Kleidung vorne am Bauch blutrot färbte. Dr. Amami schnitt die Kleidung auf und drückte erst einmal einige sterile Kompressen auf den dünnen kleinen Bauch, während es den anderen beiden Helfern irgendwie gelang, alles zum Intubieren vorzubereiten. Momentan wäre das nicht möglich gewesen, denn das Fahrzeug schlingerte um Ecken und jeder versuchte, irgendwie sein Gleichgewicht zu bewahren. Dann aber bog der Wagen anscheinend auf eine lange Gerade ein und beschleunigte und es wurde angenehmer im Fond. Nun bekam Yasser ein Narkosemittel gespritzt und Dr. Amami entwand den Jungen unter vielen beruhigenden Erklärungen auf Arabisch sozusagen seiner Mutter, deren Kleidung vom Blut ihres Sohnes benetzt war. Man legte ihn auf dem Boden ab, der Notarzt kniete sich über seinen Kopf und während die anderen sich noch stärker zusammendrängten, schob man einen Tubus in den kleinen Hals, kontrollierte dessen Lage, verklebte ihn und begann Yasser dann mit einem Ambubeutel zu beatmen. Nun besah man sich die Bauchwunde und Ben hörte den Notarzt sagen: „Wir müssen ihn schnellstmöglich operieren und die Blutung stillen, aber das geht hier nicht und so viele Instrumente haben wir auch nicht in unseren Notfallkoffern dabei. Wir komprimieren weiter die Wunde und hoffen, dass wir bald am Flieger sind!“ sagte er, als auch schon Amami´s Handy klingelte. Der hatte zuvor noch in seiner Muttersprache in die Runde gefragt, ob sonst noch jemand verletzt war, aber ein allgemeines Kopfschütteln kam als Antwort.


    Ben hatte nun endlich Zeit-auch weil seine Schmerzen nach dem Aufprall endlich nachgelassen hatten- in sich selber hinein zu spüren und plötzlich flüsterte er voller Entsetzen: „Ich spüre meine Beine nicht mehr!“ Der Notarzt und Amami wechselten einen besorgten Blick, aber was sollten sie machen? Man musste Ben jetzt schnellstmöglich in die Wirbelsäulenchirurgie zur Dekompression bringen-sie konnten hier und jetzt überhaupt nichts für ihn tun und so ging Dr. Amami mit gedrückter Stimmung an sein Telefon. Dort hörte er sagen, während der eigentliche Fahrer des Sprinter sich erhoben hatte und aus dem Guckfenster linste und flüsternd seine Beobachtungen mitteilte. „Wir sinds-Semir und Khaled-wie schauts bei euch hinten aus?“ wollten die Männer vorne im Fahrzeug wissen und in kurzen Worten erklärte Amami: „Yasser hat einen Bauchschuss, ist inzwischen intubiert und beatmet und muss schnellstmöglich operiert werden. Wir anderen sind unverletzt, nur Herr Jäger spürt seit dem Aufprall seine Beine nicht mehr!“ und nun fluchte Semir vorne zwischen zusammengebissenen Zähnen: „Verdammt!“ denn eine Woge von Schuldgefühlen überkam ihn gerade. Dann allerdings schob er das zur Seite und sagte: „Dr. Amami, fragen sie den Notarzt, ob wir alle in die Maschine passen und in welcher Ecke des Flughafens die steht!“ und wenig später hatte der deutsche Arzt das Telefon übernommen. „Die Maschine ist groß genug-ich werde sofort den Piloten, dessen Nummer ich eingespeichert habe anrufen, wie wir verabredet haben und ihn bitten, das Flugzeug startklar zu machen-ich befürchte aber, wir kommen nicht durch die Passformalitäten und wie wir sehen können, werden wir auch verfolgt!“ sagte er unglücklich, aber da kam von vorne die Antwort: „Das lassen sie mal meine Sorge sein! Veranlassen sie, dass die Maschine abflugbereit da steht und erklären sie den Piloten, dass ein humanitärer Notfall eingetreten ist, um alles Weitere werde ich mich kümmern!“ und damit legte er auf.

  • Der Notarzt griff auch sofort zum Telefon. Sie hatten noch etwa 10 Minuten Fahrt zum Flughafen. Mit kurzen Worten erklärte der Arzt dem Piloten in groben Zügen ihr Problem. „Wir wurden von Verbrechern angegriffen und ein kleiner Junge wurde bei einem Schusswechsel schwer verletzt. Wir haben den intubiert und beatmet mit seiner Familie dabei.“ erklärte er dem Luxemburger. Wie groß die Familie war, verschwieg er jetzt lieber. „Er hat hier keine Chance zu überleben, deshalb werden wir ihn mit dem Patienten, den wir eigentlich abholen wollten und dessen Begleitern mit nach Deutschland nehmen und ihn im Flieger ordentlich versorgen. Bitte machen sie die Maschine startklar, wir haben keine Zeit zu verlieren und sind schon auf dem Weg zum Flughafen!“ sagte er. Mehr wollte er den beiden Piloten lieber nicht erklären, nicht dass die sich weigerten zu fliegen und das wäre ihrer aller sicherer Tod.
    Der Pilot und der Copilot machten sich sofort auf den Weg zum Parkplatz an dem die Maschine war und erklärten dem Tower noch, dass in Kürze ihre Passagiere eintreffen würden und sie demnächst eine Freigabe für den Abflug brauchten. „Kein Problem-in der nächsten halben Stunde erwarten wir keine eintreffende Maschine!“ teilte ihnen der Tower mit und so machten die beiden ihren Check-Up und sahen gespannt Richtung Abfertigungshalle, wann ihre Passagiere erscheinen würden. Auch die ausklappbare Gangway, die mit einer Art Rolltreppe für den Transport der schweren Trage versehen war, fuhren sie von innen aus und dann gab es plötzlich an einer ganz anderen Stelle als erwartet einen Tumult.


    Semir war mit unverminderter Geschwindigkeit zum Flughafen gebraust. Der Abstand zu ihren Verfolgern hatte sich ein klein wenig vermindert, aber sie waren immer noch außer Schussweite für die Waffen, die sie dabei hatten. Brami wünschte sich eines seiner Jagdgewehre, mit denen er sonst Gazellen und Antilopen aus reiner Lust am Töten jagte-dann hätte er die ganzen Leute da vorne auch aus dieser Entfernung erledigt! Er hätte auf einen Reifen gezielt, die hätten sich überschlagen und dann hätte er einen nach dem anderen so einfach abgeknallt. Wer ihn ärgerte, der würde das mit dem Leben bezahlen und das war egal, ob das Kinder oder Erwachsene waren-diese Brut, die sich seinem Diktat nicht fügte, musste ausgemerzt werden. Er war auf dem besten Weg sich politisch nach oben zu manövrieren und wenn er erst einmal Staatspräsident war, dann würde die westliche Welt ihr blaues Wunder erleben. Er wollte Macht-viel Macht und scheute auch nicht davor zurück, sich selber die Hände schmutzig zu machen, was seine Anhänger an ihm so schätzten. Als er gestern den Verwalter getötet hatte, hatte er eine wunderbare Befriedigung erlebt, erfüllender wie ein Orgasmus-ach wie schätzte er es, wenn die Leute vor ihm auf die Knie fielen und um ihr bisschen Leben winselten! Er kam sich dann vor wie einer der alten Cäsaren in Rom, die mit dem Daumen nach oben oder unten im Circus Maximus über das Leben oder Sterben ihrer Gladiatoren entschieden hatten. Das war echte Macht und er war der geborene Mann für so etwas! Aber in der westlichen Welt musste man mit anderen Mitteln kämpfen-da war es das Geld, das kluge Taktieren am grünen Tisch, das einen nach oben brachte und er war auf dem direkten Weg dazu!


    Semir hatte im Geiste den Flughafen vor seinem inneren Auge erscheinen lassen. Anders als die europäischen Flughäfen glich dieser auch von den Sicherheitsvorkehrungen her, eher einem Dorfbahnhof. Das Gelände war nur mit einem einfachen Maschendrahtzaun gesichert, das war etwas gewesen, was ihm bei der Ankunft gleich aufgefallen war, wie als wenn er es da schon gewusst hätte, dass dieses Detail für ihn einmal wichtig werden würde. Schon aus der Ferne konnte er den roten Ambulanzflieger erkennen, der war klar als solcher zu erkennen und stand tatsächlich mit geöffnetem Laderaum bereit. „Ruf den Arzt nochmal an-sie sollen sich gut festhalten-und mir auf Ben aufpassen!“ befahl er und Khaled erledigte seinen Auftrag. Der Weg zur Abfertigungshalle und den Parkplätzen machte einen Bogen, aber dort konnten sie nicht hin! Bis sie den zuständigen Stellen erklärt hätten, was überhaupt los war, hätten die Verfolger aufgeholt und würden dann vermutlich ein Massaker veranstalten. Also hielt Semir erneut das Lenkrad fest, verließ die befestigte Piste und bretterte mit unverminderter Geschwindigkeit in den Maschendrahtzaun. Wie er erwartet hatte, wurden sie zwar abgebremst, aber es riss ein paar nachlässig im Boden eingelassene Metallpfosten heraus, der Zaun fiel an ein paar Stellen und schon waren sie drüber und durch. Von dem Sprinter war zwar nicht mehr allzu viel übrig, aber er fuhr noch und so rollten sie direkt zum Flugzeug.
    Der Pilot und der Copilot erschraken, als plötzlich der ziemlich demolierte Lieferwagen mit dem vorhin der Arzt und sein HEMS abgeholt worden war, die Absperrung durchbrach. Schon sprangen mehrere Leute heraus und begannen hektisch Männer, Frauen und Kinder in die Maschine zu scheuchen. Der Fahrer und der Beifahrer gingen in Stellung, ein zweites Fahrzeug fuhr durch das Loch im Zaun und schon begannen Schüsse zu fallen. „Verdammt, was sollen wir tun?“ fragte der Pilot hektisch seinen Copiloten-sie begingen eine Straftat und konnten den Flugschein entzogen kriegen, wenn sie ohne Starterlaubnis des Towers einfach wegflogen. Als dann aber eine Kugel direkt neben ihrem Cockpit vorbeiflog, zogen sie die Köpfe ein und der Pilot beschloss, dass er lieber ohne Flugschein, aber dafür lebend von hier wegkommen würde und ließ die Triebwerke an. Währenddessen tobte draußen ein heftiges Feuergefecht. Einer der Verfolger fiel mit einem Aufschrei zu Boden und hielt sich den Oberschenkel. Der Sprinterfahrer bekam einen Streifschuss am Oberarm ab, aber irgendwie schafften es die beiden Ärzte und der HEMS mit letzter Kraft auch noch Ben auf seiner Trage ins Flugzeug zu hieven, Semir und Khaled sprangen als Letzte hinein und während sich mit Sirenengeheul gerade die Flughafensicherung dem Aufruhr näherte, schlossen sie die Tür elektrisch von innen und der Pilot rollte zur Startbahn. Brami schickte voller Wut noch ein paar Schüsse nach, ohne aber die Triebwerke oder andere wichtige Teile des Fliegers zu treffen. „Wir haben einen Notfall-wir fliehen vor bewaffneten Verbrechern!“ schrie der Copilot auf Französisch ins Mikro auf der Frequenz des Towers-im Augenblick hatte er völlig vergessen, Englisch zu sprechen, wie im internationalen Luftverkehr eigentlich üblich. „Brechen sie sofort den Start ab, sie haben keine Starterlaubnis!“ drohte der Mann im Tower, aber der Pilot schrie nun ins Mikro: „Leck mich!“ und hob auch schon ab.

  • Ganz in der Nähe der Stadt Sousse hatten die einzigen fünf F5 Kampfflugzeuge der tunesischen Armee gerade eine Übung. Die Luftwaffe dieses eher westlich ausgerichteten Staates war nicht nennenswert, aber trotzdem hatte das Militär in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Die Flughafensicherung hatte blitzschnell die zuständigen Stellen informiert und Brami, der den Männern natürlich mehr als bekannt war-immerhin ging er an diesem Flugplatz aus und ein-hatte ihnen wortreich erklärt, dass an Bord dieser Maschine gefährliche Verbrecher unter Umgehung der Behörden außer Landes geschafft würden. Einer der Beamten musterte ihn zwar zweifelnd, denn er hatte Frauen und Kinder in der Maschine verschwinden sehen, aber auf seine Nachfrage beteuerte Brami, dass die nur zur Tarnung dienten. Also hatte der Chef des Sicherheitsdienstes einfach das Militär informiert und wenig später nahmen alle fünf Kampfjets Kurs aufs Mittelmeer, über das gerade der Ambulanzflieger verschwunden war.


    Brami ließ unterdessen die zwei Piloten seines Learjets herbeirufen, sein Komplize, der angeschossen worden war, wurde in ein sehr gutes privates Krankenhaus gebracht und Brami und seine zwei verbliebenen Begleiter nahmen wenig später Kurs auf Köln-immerhin war dem Großindustriellen das Ziel der Flüchtigen gut bekannt.


    Im Flugzeug indessen hatte Semir voller Kummer den kleinen Yasser gemustert, der nun gerade vom Notarzt und dem HEMS an der zweiten im Flugzeug installierten Intensiveinheit verkabelt wurde. Die anderen Passagiere hatte man auf die Sitze gescheucht und angeschnallt und Ben´s Trage war blitzschnell an der zweiten Intensiveinheit arretiert worden. Dr. Amami besah sich, nachdem sie eine gewisse Flughöhe gewonnen hatten, den Arm seines Angestellten, holte dann wortlos einen Verband aus den fest installierten Schränken im Inneren der Maschine und wickelte den fest um den Oberarm seines Fahrers. Er bekam ein Schmerzmittel gespritzt, aber mehr war aktuell nicht nötig, denn das war eher ein oberflächlicher Kratzer.
    Semir war indessen an Ben´s Seite getreten und hatte nach dessen rechter Hand gegriffen. „Wie geht´s dir?“ fragte er liebevoll und Ben antwortete mit Panik in der Stimme: „Semir, ich spüre meine Beine nicht mehr!“ und nun hätte Semir am liebsten laut losgebrüllt. Oh mein Gott-wenn Ben gelähmt bleiben würde und er wäre schuld daran-wie sollte er jemals damit zurechtkommen. Verzweifelt versuchte Semir herauszufinden, was er hätte anders machen können, aber gerade fiel ihm nichts ein und als nun Ben sagte: „Aber trotzdem danke, dass du uns allen das Leben gerettet hast!“ da sank er regelrecht in sich zusammen-sein Freund , der gerade wieder schmerzvoll das Gesicht verzog, machte ihm anscheinend keine Vorwürfe. Nun trat der Notarzt zu seinem zweiten Patienten, musterte den Monitor und kontrollierte die Vitalparameter und die Thoraxsaugung. „Haben sie wieder Schmerzen, Herr Jäger?“ fragte er mitfühlend, denn der gequälte Gesichtsausdruck des jungen Mannes war ihm nicht entgangen. „Sie bekommen gleich etwas dagegen!“ sagte er als Ben nickte und ging zum Medikamentenschrank, um ein neues Opiat aufzuziehen-den Rest der ersten Spritze hatte Yasser bekommen. Ben sah Semir fest an und sagte: „Semir, wenn ich das Mittel habe, werde ich sicher erst mal wieder wegpennen, was ich gar nicht so schlecht finde, aber wenn wir in Köln sind musst du mit der Chefin zu der Kartbahn fahren-ich wette dort sind die Terroristen versteckt, nach denen wir fahnden-ich habe einen davon am Flughafen als Brami´s Mechaniker verkleidet gesehen.
    Benzko wurde sicher umgebracht, weil er etwas beobachtet hatte, was nicht für seine Augen bestimmt war-mein Unfall auf der Rennstrecke ist ziemlich genauso abgelaufen, wie der von Benzko. Meine Bremsen wurden manipuliert und ein Sprengsatz in meinem Reifen gezündet, als ich bei Maximalgeschwindigkeit auf eine Kurve zugerast bin. Trotzdem ist diese Kartbahn vermutlich nur die Tarnung für eine Terrorzelle in Deutschland-du musst diesen Typen das Handwerk legen und das rächen, was sie mir angetan haben-einschließlich der Lähmung!“ sagte er fest und schloss dann erschöpft von seinem Monolog die Augen. Der Notarzt hatte inzwischen eine neue Infusion angehängt und spritzte nun in den Dreiwegehahn an Ben´s Hals, der außerhalb des Stiffneck lag, wieder ein Opiat. Als er danach den Blutdruck kontrollierte, war der massiv abgesackt und so bereitete der HEMS noch schnell einen Perfusor mit Noradrenalin vor und kurz darauf startete man den. Wenig später schlug Ben´s Herz zwar immer noch viel zu schnell, aber wenigstens der Blutdruck war bei 110/70 mm/Hg und damit war man erst einmal zufrieden. Semir blieb neben Ben sitzen und hielt in Gedanken versunken seine Hand, während die Maschine ihre Reiseflughöhe erreichte und nun bereiteten sich die beiden Ärzte vor, den kleinen Yasser notfallmäßig zu operieren.

  • Der Pilot des Ambulanzfliegers wollte gerade aufatmen, als er Kurs Richtung Sizilien übers offene Meer nahm, da erschienen auf einmal fünf Kampfjets am Horizont, die wenig später Kurs auf die Maschine nahmen und sie versuchten zurück Richtung tunesisches Festland zu drängen. Semir sah aus dem Fenster des Ambulanzfliegers und sprang mit einem Fluch von seinem Platz neben Ben hoch. Eilig ging er Richtung Cockpit. Die Gesichter der Piloten der Jet´s waren so nah, dass man ihre Mienen unter den Helmen erkennen konnten. Den Piloten des Ambulanzflugzeugs wurde es mulmig und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als wieder Richtung Tunesien abzudrehen. Semir griff mit zitternden Händen nach seinem Handy und wählte die Nummer der Chefin-wenn jemand etwas unternehmen konnte, dann nur offizielle Stellen, sonst waren sie gezwungen, wieder auf dem tunesischen Festland zu landen und was dann mit Ben und Yasser geschehen würde, wagte er sich gar nicht vorzustellen.
    Die Chefin ging sofort ran, als sie Semir´s Nummer auf ihrem Display erscheinen sah: „Chefin-sie müssen irgendetwas unternehmen. Wir sind gerade auf dem Mittelmeer, aber noch im tunesischen Luftraum an Bord des Ambulanzfliegers. Mit dabei haben wir eine tunesische Familie mit einem schwer verletzten Kind. Wir mussten sie mitnehmen, denn sie haben Ben und uns über Nacht aufgenommen und wären sonst umgebracht worden, wenn wir sie dagelassen hätten. Gerade versuchen fünf F5 uns zum Umdrehen zu zwingen. Ben ist schwer verletzt und spürt seine Beine nicht mehr und das Kind muss sofort operiert werden. Wenn wir jetzt auf irgendwelchen Militärflughäfen rumgereicht werden, dann wars das vermutlich für die beiden!“ erklärte er in kurzen Worten und die Chefin, die gerade an ihrem Schreibtisch in der PASt Einsätze koordinierte, versprach, sofort einen wichtigen Anruf zu tätigen. „Gerkhan-ich rufe sie zurück, wenn ich etwas weiss, behalten sie die Ruhe-Tunesien ist ein westlich orientierter Staat-da droht ihnen keine Gefahr!“ versuchte sie ihn zu beruhigen, was aber Semir trocken zum Auflachen brachte.
    Die Chefin rief sofort ihren ehemaligen Schulkameraden an-der war als Vizekanzler und Außenminister vermutlich der Einzige, der da etwas unternehmen konnte. Er ging auch sofort ran und versprach, nachdem er konzentriert zugehört hatte, etwas in die Wege zu leiten. In Windeseile hatte sein Büro im tunesischen Präsidentenpalast angerufen und eine Direktleitung zum Staatspräsidenten der Übergangsregierung erstellt, den Guido erst wenige Wochen zuvor bei einem Staatsbesuch getroffen und sich nett unterhalten hatte. „Moncef-ich bin´s Guido!“ sagte er herzlich in fließendem Französisch. "Wir haben ein kleines Problem-gerade wird ein Ambulanzflieger mit einigen deutschen Beamten darin von eurer Luftwaffe bedrängt. Ich muss dich bitten, die Flugzeuge abzuziehen, damit wir keinen internationalen Zwischenfall provozieren. Angeblich sind zwar auch ein paar tunesische Staatsbürger mit an Bord, aber ich versichere dir, dass ich die sofort zurückschicken werde, sobald das möglich ist-das sind keine Staatsflüchtlinge, sondern sollen nur in Deutschland medizinisch versorgt werden. Ich danke dir schon im Vorraus für die gute Zusammenarbeit und freue mich, dich bald einmal wiederzusehen!“ schleimte er ein wenig und der Präsident, der aus allen Wolken fiel, versprach, sich darum zu kümmern. Sekunden später hatte er den Chef der Luftwaffe, die aus eben diesen fünf Kampfflugzeugen bestand am Apparat. „Ich befehle, sofort den nicht genehmigten Einsatz abzubrechen-was fällt euch ein, ohne die offiziellen Stellen zu verständigen, einfach einen internationalen Zwischenfall zu provozieren? Ihr wisst, wie wichtig die Wirtschaftsbeziehungen und der Tourismus aus Deutschland für uns sind und jetzt versuchen unsere Piloten anscheinend ein Ambulanzflugzeug mit deutschen Beamten darin zur Landung auf einem Militärflughafen zu zwingen. Wenn das in der Weltöffentlichkeit bekannt wird, werden wir geächtet-wer kommt überhaupt auf so eine blödsinnige Idee?“ schnauzte er ins Telefon und wenig später bekamen die fünf Piloten von ihrem obersten Chef den Befehl, abzudrehen. Der Flieger war inzwischen schon wieder über dem tunesischen Festland und eine Militärbase war in Sichtweite. Gerade hatte der luxemburgische Pilot den erzwungenen Landeanflug einleiten wollen, da bekam er auf einmal den Funkspruch vom dortigen Tower: „Wir entschuldigen uns für das Versehen-es lag eine Verwechslung vor, wir wünschen einen guten Heimflug!“ und er reagierte sofort und nahm wieder Kurs Richtung Italien.


    Semir, dem wie allen anderen Passagieren der Maschine der kalte Schweiß ausgebrochen war, atmete auf. Allesamt hatten sie sich schon in einem tunesischen Gefängnis verrotten sehen, aber nun konnte die Heimreise beginnen und kaum hatten sie wieder die optimale Reiseflughöhe erreicht, begannen die beiden Ärzte, assistiert vom HEMS den Bauch des kleinen Yasser zu öffnen. Die Mutter und der Vater lenkten seine Geschwister ab, aber es war eh nicht viel zu sehen, weil die beiden Ärzte in ihren grünen Sterilkitteln die Sicht verdeckten. Wenig später hatten die Ärzte die blutenden Gefäße in Yassers Bauch entdeckt und Klemmen darauf gesetzt. Die weitere gründliche Inspektion des Bauchraums würde in einer Kinderchirurgie in Deutschland vorgenommen werden, aber fürs Erste standen die Blutungen. Man legte sterile Bauchtücher über die Wunde, deckte Yasser zu und jetzt konnte man ein wenig beruhigter den restlichen Heimflug in Angriff nehmen.


    Der Notarzt sah auf die Uhr und nach kurzer Rücksprache mit dem Copiloten verständigte er Sarah: „Wir werden vermutlich so gegen sechzehn Uhr in Köln-Bonn landen. Wir brauchen zwei Helis-einen für deinen Lebensgefährten mit Polytrauma, der soll in die Uniklinik Köln, die Wirbelsäulenchirurgen sollen sich bereithalten und einen zweiten für eine gute Kinderchirurgie in der Region-ein Zehnjähriger mit abdominaler Schussverletzung. Momentan sind aber beide stabil-wir freuen uns auf die Heimat!“ sagte er doppeldeutig und Sarah, die schon auf glühenden Kohlen auf den Anruf gewartet hatte-ohne von den Verwicklungen etwas zu ahnen, versprach alles zu organisieren. Bald würde sie ihren geliebten Ben wieder in den Armen halten!


    Auch Brami´s Learjet hatte Kurs auf Köln genommen. Bald war der Wirtschaftsgipfel-er hatte dort noch so Einiges vorzubereiten!

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