Cold Turkey

  • „Wenn wir jetzt nichts unternehmen, könnte Ben an Austrocknung sterben!“ sagte Sarah bedrückt. „Dann bringen wir ihn ins Krankenhaus-es ist sowieso fragwürdig, ob seine –und meine-Polizeikarriere noch zu retten ist!“ erwiderte Semir. „Oder ich rufe in der Klinik an und du holst mir Infusionen und wir behandeln ihn hier!“ schlug Sarah vor. Der ältere Polizist sah sie überrascht an. „Meinst du das geht?“ fragte er und Sarah nickte. „Er bekommt auch keinerlei verschreibungspflichtigen Medikamente, das dürfte ich auch nicht, ohne dass ein Arzt die angeordnet hat-außerdem würde das sozusagen den kalten Entzug boykottieren und könnte definitiv nur im Krankenhaus unter Überwachung gemacht werden. Aber ich darf mit Ben´s Einverständnis-und das setze ich voraus- eine Infusion legen und die Austrocknung bekämpfen.“ erklärte sie Semir und der nickte nachdenklich. „Das wäre eine Möglichkeit-versuchen können wir´s!“ sagte er ein wenig optimistischer als vorher, denn gerade hatte er gedacht, dass ja sowieso der ganze Aufwand umsonst sei.


    Sarah griff nach ihrem Telefon und rief ihre Nachtdienstkollegen an. „Leute-ich habe hier einen Notfall. Mein Freund hat fürchterlichen Brechdurchfall, möchte aber auf gar keinen Fall ins Krankenhaus. Könntet ihr mir mehrere Liter Vollelektrolytlösung, Infusionsbesteck und alles zum Zugang legen zusammenpacken? Und ach ja-ein paar Krankenunterlagen, Erwachsenenwindeln und Mirfulansalbe könnte ich auch noch brauchen. Schreibt alles auf, ich bezahle das dann im Mitarbeiterverkauf, ein Freund von uns holt das nachher ab!“ bat sie ihre Kollegen. Es war nämlich für Krankenhausmitarbeiter möglich, Verbrauchsartikel und auch Medikamente-wenn sie rezeptpflichtig waren, dann eben mit Privatrezept-zum Einkaufspreis zuzüglich Steuer zu erwerben und das war dann etwa zwei Drittel billiger, als wenn sie die Dinge in einer regulären Apotheke, oder im Sanitätshaus kauften. Sowas war üblich und die Haus-und Reiseapotheken wohl sämtlicher Mitarbeiterangehörigen wurden auf diese Weise aufgefüllt. Sarah´s Kollegin versprach, alles zusammenzupacken und erkundigte sich dann noch, wie es Sarah und dem Baby ging. „Wir sind soweit fit, aber du weisst ja selber, wie das ist, einen kranken Mann zuhause zu haben!“ sagte die harmlos und die Kollegin verabschiedete sich freundlich.


    „Semir-du kannst starten, du kennst ja meine Station, da wird alles für dich hergerichtet!“ informierte ihn Sarah und wenig später fuhr Semir durchs nächtliche Köln, um die verlangten Dinge abzuholen. Sarah´s Kollegin hatte alles in eine große Kunststoffkiste verpackt, die zur Medikamentenlieferung vorgesehen war. „Die Kiste bräuchten wir irgendwann wieder, aber das weiss Sarah eigentlich!“ informierte sie Semir, als sie ihm an der Intensivtür den blauen Kunststoffbehälter in die Hand drückte. Der trug den Kasten, der ein beträchtliches Gewicht aufwies, zum Auto und war wenig später wieder vor seinem Haus.Sarah war derweil erneut zu Ben gegangen. Als sie vorher routinemäßig das Bild der Webcam auf ihrem Laptop musterte, sah sie entsetzt, dass er auf dem Boden vor dem Bett lag. Schnell betrat sie den Kellerraum und bemerkte, was geschehen war. Ben hatte in seiner Verzweiflung versucht, den Eimer zu benutzen, war aber dabei kollabiert. Das Bett war zwar sauber, aber Ben und der Boden waren mit Stuhlgang und Erbrochenem verunreinigt und Ben wälzte sich gerade in Krämpfen in seinen Exkrementen. Es war ein fürchterlicher Anblick und Sarah hatte zwar Mitleid, griff aber trotzdem erst einmal zu ihrem Smartphone und machte ein Foto. Das rieten sie im Krankenhaus den Angehörigen ihrer Patienten auch immer-so konnte man den Süchtigen nach dem Entzug vorführen, welche Belastung das Ganze auch für alle anderen war-die selber hatten daran oft keine Erinnerung mehr. Als Krankenhausmitarbeiter durfte man das nicht, da waren Fotodokumentationen nicht mit dem Persönlichkeitsrecht des Patienten vereinbar, außer es wurde eine Wunde oder ein OP-Befund fotografiert, da wurde dann aber das Gesicht unkenntlich gemacht. Dann holte Sarah frische Wäsche, füllte einen dritten Eimer mit warmem Wasser und begann Ben abzuwaschen und frisch anzuziehen. Er war inzwischen wieder ein wenig bei Sinnen, aber ihm ging es so schlecht, dass er mit Sicherheit gerade keine Gefahr für sie und das Baby darstellte. Nachdem Sarah ihn auch nicht heben wollte, um das Kind nicht zu gefährden, rollte sie ihn ziemlich weit zur Seite und legte ihn vorrübergehend auf eine Wolldecke am Boden. Dann wischte sie den Boden auf und ließ auch die Tür weit offen, damit wenigstens ein wenig frische Luft reinkam. Irgendwo auf einem Kellerregal fand sie ein Raumspray und nebelte dann den Raum mit diesem ein. Puh-Rosenduft-aber immer noch besser, als die Gerüche vorher!


    Als wenig später-es war inzwischen drei Uhr geworden-Semir schwer bepackt eintraf, war seine erste Bemerkung: „Hier riechts ja nach Scheiße im Rosenbeet!“ und nun musste Sarah bei aller psychischer Belastung doch ein wenig lachen. Semir half ihr nun, Ben wieder aufs Bett zu wuchten und als Sarah die Kiste öffnete, musste sie lächeln-ihre Kollegin hatte wirklich an alles gedacht-zuvorderst eine Packung Einmalhandschuhe in ihrer Größe. Bei Ben war es schon wieder in die Hose gegangen, er hatte nun überhaupt keine Kontrolle mehr über seine Ausscheidungen und war schon halb bewusstlos, darum machte ihn Sarah im Bett sauber, zog ihm eine Erwachsenenwindel an und breitete eine leichte Decke über ihn. Semir bekam nun den Auftrag, einen Nagel in passender Höhe in die Wand zu schlagen, um dort die Infusion aufzuhängen. Sarah desinfizierte ihre Hände-auch daran hatte die Kollegin gedacht-und bereitete erst einmal die Infusion vor. Dann legte sie Ben routiniert einen Zugang am Unterarm-sie nahm bewusst seinen rechten Arm, denn der linke war von seinen eigenen Injektionen völlig entzündet und an einer Stelle auch fürchterlich dick-das musste sie sich später genauer anschauen-aber der rechte wies nur den Stich der Blutabnahme in der Arztpraxis auf. Sie verklebte das dünne Plastikschläuchlein gut und drehte dann die Vollelektrolytlösung auf, die nun zügig in den Kranken tropfte. Ben war nun fürs Erste versorgt und Sarah sagte: „Semir, geh nach Hause und leg dich auch noch ein wenig hin-ich komme jetzt alleine zurecht und wenn etwas ist, rufe ich dich an!“ wies sie ihn an und nach kurzer Überlegung stimmte Semir ihr zu. Er musste noch versuchen wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu erhaschen, damit er am nächsten Tag die Jagd nach den Dealern aufnehmen konnte. Als er gegen 3.30 Uhr neben Andrea ins Bett schlüpfte, war er einerseits aufgewühlt, aber dann doch wieder hundemüde und konnte tatsächlich noch ein wenig schlafen.

  • Sarah lehnte sich in dem bequemen Stuhl, den Semir neben das Bett gestellt hatte, zurück. Ben war im Augenblick so schwach und kaum bei Sinnen, dass er nur noch leise Schmerzenslaute von sich gab und anscheinend doch ein wenig zur Ruhe zu kommen schien. Irgendwann döste Sarah, die von der ganzen Sache ja auch mehr als erschöpft war, ein wenig ein. Als sie nach einiger Zeit hochschreckte, murmelte Ben wirres Zeug vor sich hin, aber der erste Liter Infusionslösung war bereits eingelaufen und so wechselte Sarah die Plastikflaschen aus und der nächste Liter begann in den ausgetrockneten Körper zu fließen, der das mehr als dringend benötigte. Als Sarah roch, dass wieder etwas in die Windel gegangen war, machte sie Ben frisch, der das anscheinend gar nicht so richtig mitbekam. Wie viele Windeln hatte sie in ihrem Leben schon gewechselt-ihr machte es eigentlich auch nichts aus, das bei ihrem Partner zu machen. Irgendwann würden sie einmal alt und krank sein und man wusste nicht, wer von ihnen vielleicht als Erster pflegebedürftig wäre-oder man bekam eine schwere Krankheit und konnte schon in jungen Jahren auf fremde Hilfe angewiesen sein. Das waren Dinge, die machten nicht den Wert eines Menschen aus!


    Sie liebte Ben´s Witz, seine gute Laune, die mitreißenden Ideen, die er manchmal hatte und sie liebte ihn auch, wenn er sich morgens das Kissen über den Kopf zog, weil er nicht aufstehen wollte. Er war zwar manchmal ein wenig nachlässig und ab und zu krachte es auch bei ihnen ganz ordentlich, aber im Großen und Ganzen hatte sie ihren Traummann gefunden. Sie glaubte auch, dass er ein guter Vater werden würde-sicher nicht im herkömmlichen Sinn, denn er war irgendwie immer noch im Grunde seines Herzens ein großer Junge geblieben, der wahrscheinlich voller Begeisterung mit der elektrischen Eisenbahn spielen würde-egal ob Junge oder Mädchen, aber das hatten ihr ein paar Freundinnen, die bereits ältere Kinder hatten bestätigt. Die Väter erfüllten sich via Geschenk für die Kinder so manchen Jungentraum, den sie früher nie hatten ausleben dürfen. Aber er hatte eine ganz enge Beziehung zu seinem Kind, das Baby liebte schon jetzt seine Berührungen-sie konnte jetzt nur hoffen, dass er es durchstand. Laut ihrer Erfahrung waren das die schwersten Stunden des Entzugs. Sie hatte das natürlich nochmals nachgelesen, aber beim Heroinentzug waren zwischen 36-72 Stunden die schlimmsten Symptome zu beobachten. Der psychische Entzug dauerte auch viel länger, aber dass es einem so dreckig ging, man Ganzkörperschmerzen, wässrige Durchfälle, Erbrechen und Krämpfe hatte, das würde irgendwann abflauen. Erst dann würde sich zeigen, wie stark Ben´s Wille war, der Verlockung der Droge zu widerstehen.
    Ihr hatten Junkies erzählt, dass die Gefühle die beim Konsum auf einen einfluteten so stark und schön waren, dass man so intensiv nie zuvor gefühlt hatte. Sie hatten gemeint, das wäre schöner als ein Orgasmus und das war etwas, was Sarah sich nicht vorstellen konnte, denn sie liebte eigentlich Sex-vor allem mit Ben, der ein wunderbarer Liebhaber war-ja bis er begonnen hatte, sich Heroin zu spritzen!


    Sarah döste ein und wurde erst wach, als Ben plötzlich aufstand. Der zweite Liter Infusion war auch eingelaufen und anscheinend war sein Kreislauf wieder einigermaßen stabil. Bevor sie reagieren konnte, war schon der Zugang aus seinem Arm gerutscht und ein wenig Blut tropfte auf den Boden und sein Oberteil. Ben hatte sie irgendwie gar nicht bemerkt und sie befürchtete schon, dass er nun fliehen würde-nur mit blutigem T-Shirt und Windelhose bekleidet, was er anscheinend gar nicht bemerkt hatte, aber er ging durch die geöffnete Tür wie ferngesteuert zur Toilette und verschwand darin. Sarah stand auf. Sie hatte ihr Handy griffbereit. Wenn er sie irgendwie angreifen würde, würde sie sofort Semir anrufen. Aber Ben kam wenig später wieder aus der Toilette und hatte die diesmal noch saubere Schlupfwindel wieder hochgezogen. Anscheinend hatte er sie als normale Unterhose betrachtet und man konnte deutlich erkennen, dass er nicht Herr seiner Sinne war und sie irgendwie überhaupt nicht wahrnahm. Trotzdem ging er wieder zurück in den Kellerraum und nun verschloss Sarah den aufatmend und legte den Riegel vor. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen und hatte kleine Schweißtropfen auf der Stirn. Glück gehabt-das hätte auch anders laufen können!
    Sie bezog nun im Büro ihren Beobachtungsposten vor dem Laptop und sah, wie Ben seine ruhelose Wanderung von einer Zimmerecke zur anderen wieder aufnahm. Ab und zu krümmte er sich zusammen und fiel kurz auf die Knie-die Hände vor den Bauch gepresst, aber immer wenn sie dann überlegte, doch reinzugehen oder Semir anzurufen, richtete er sich wieder auf und ging weiter. Einmal rüttelte es an der Tür, was sie mit der Kamera nicht sehen konnte, denn die war ja genau darüber montiert, aber sie konnte es hören und sehen, wie sich die Tür bewegte, ohne aufzugehen und danach benutzte Ben den Eimer-wobei Sarah sich abwandte-ein wenig Privatsphäre stand auch Ben zu-wer hatte es schon gerne, wenn ihm jemand beim Toilettengang zusah!


    Ben war derweil in einer anderen Welt. Erst hatten ihn Dämonen gefangen gehalten, aber jetzt war er am Wandertag. Die ganze Schule war unterwegs und sie liefen Kilometer um Kilometer durch ödes Gelände. Ihm blieb nichts anderes übrig, als mitzulaufen, denn wenn er die Gruppe verlor, war er in höchster Gefahr. Darum folgte er dem Lehrer und seinen Mitschülern-immer wieder unterbrochen von einer Toilettenpause-irgendwann würden sie schon ankommen!

  • Semir war von seinem Wecker aufgewacht. Er musste heute erst um neun anfangen und hatte deshalb den Wecker in seinem Handy auf 7.30 Uhr gestellt. Es war zwar kein langer Schlaf gewesen, aber trotzdem hatte er sich einigermaßen erholt. Andrea hatte schon die Kinder weggebracht und war auf dem Weg zu ihrem Halbtagsjob, aber sie hatte ihm in der Küche das Frühstück für drei Personen hergerichtet und in einen Korb gepackt. Das Wichtigste war eine Riesenkanne Kaffee und sogar Brötchen hatte sie aufgebacken, die cross und frisch auf ihren Transport zu den hungrigen Mäulern warteten. Drei große Tassen waren auch darin und Semir versetzte es fast einen Stich-da war wohl nicht daran zu denken, dass Ben schon Kaffee trinken konnte, so elend wie der dagelegen hatte, als er ihn verlassen hatte! Er duschte, zog sich an und wenig später war er auf dem Weg zu Sarah und seinem Freund.


    Als er dort ankam, war er überrascht, als er Sarah auf Beobachtungsposten vor dem Laptop fand. „Geht´s Ben schon besser?“ fragte er hoffnungsvoll, während er den Korb auf den Bürotisch stellte. Sarah wies mit dem Kopf auf den Bildschirm und dort konnte man seinen Freund erkennen, der eine ziel- und ruhelose Wanderung durch den Kellerraum aufgenommen hatte. Er hatte das Shirt von heute Nacht an, das aber mit Blutspritzern besudelt war und statt einer normalen Hose war er mit einer Windel bekleidet. Wenn es nicht so schlimm gewesen wäre, hätte Semir der skurrile Anblick zum Lachen gebracht, aber so musste er trocken schlucken und fragte: „Seit wann geht das so?“ und Sarah antwortete nach einem Blick auf die Uhr: „Seit etwa zwei Stunden!“ und Semir beobachtete nun halb angewidert und dann doch wieder fasziniert, wie Ben sich auf den Boden setzte, die Beine anzog und sich anscheinend mit jemandem unterhielt. Sie hatten kein Mikrophon in dem Verließ montiert, deshalb konnte man nicht hören, was Ben sagte, aber er unterhielt sich dermaßen wirklichkeitsnah mit einer unsichtbaren Person, dass Semir beinahe nachschauen wollte, wer da im toten Winkel der Kamera war. Dann erhob er sich wieder schwankend und musste sich an der Wand abstützen, damit er nicht hinfiel, denn sein immer noch ausgetrockneter Körper versagte ihm beinahe seinen Dienst. Aber mit allergrößter Willensanstrengung gelang es ihm, weiterzulaufen.
    Als er wieder an der Tür rüttelte und kurz danach mit schmerzgeplagtem Gesicht den Eimer benutzte, wandte auch Semir sich ab-ihm tat der Anblick in der Seele weh. Verdammt-was stellten diese Drogen mit einem Menschen bloß an? Das war ja nicht mehr der Ben, den er kannte, sondern ein fremder unheimlicher Mensch, der in seiner eigenen Welt lebte!
    „Sollen wir reingehen, oder willst du erst frühstücken?“ fragte Semir. „Ich habe noch ne gute halbe Stunde, bevor ich zur Arbeit muss!“ informierte er Sarah. Die schüttelte den Kopf. „ Ich habe gerade noch gar keinen Hunger. Ich möchte es ausnutzen und reingehen, solange du da bist, denn wenn ich ihn mir so anschaue, dann ist er jetzt psychotisch und unberechenbar und ich möchte auf gar keinen Fall unser Kind gefährden, denn das wäre dem Ben den ich kenne und liebe auch nicht Recht!“ sagte sie und Semir nickte und öffnete auch schon den Riegel. „Vielleicht schafft er es ja etwas zu essen oder zu trinken-versuchen wir´s!“ sagte er und stand auch schon im Kellerraum. Ben, der gerade mit dem Rücken zu ihnen gelaufen war, drehte sich unvermittelt um und wich dann bis zur Wand zurück. Sein Gesicht zeigte einen ängstlichen Gesichtsausdruck und er stammelte mit einer Stimme, die ganz anders klang als vorher und irgendwie dünner und hoch wirkte: „Herr Direktor-ich habe echt nichts gemacht!“ und Semir ging einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. Mit einer katzengleichen Bewegung, die niemand ihm in seiner Verfassung zugetraut hätte duckte sich Ben und rannte an Semir vorbei zum Ausgang.
    Sarah, die er im Vorbeilaufen streifte, fiel mit einem Aufschrei zu Boden-mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit! Semir drehte sich um und hetzte dem fliehenden Ben nach, der in Windeseile die Treppe nach oben erklomm. Im Vorbeilaufen rief er noch: „Sarah, ist dir was passiert?“ aber die sagte nur erschrocken: „Nein Semir, mir geht´s gut-du musst ihn aufhalten-er ist gerade nicht Herr seiner Sinne!“ und nun legt Semir einen Zahn zu. Ben hatte in Windeseile die Haustür geöffnet und rannte nun mit unsicheren Schritten in Richtung von Semir´s Gartenhütte, wo er die Tür aufriss und dann drinnen verschwand. Semir blieb ratlos davor stehen und da erschien auch schon Sarah hinter ihm, die sich ihren schmerzenden Ellenbogen rieb, den sie sich beim Sturz angeschlagen hatte. „Was soll jetzt das? Wo will er denn hin?“ fragte Semir ratlos. „Ich denke, das weiss er gerade selbst nicht!“ antwortete Sarah leise und fragte dann in normalem Tonfall: „Ben was tust du da drinnen?“ und nun kam ein fragendes Stimmchen: „Mama?“ und Sarah atmete tief durch und sagte einfach: „Ja!“ woraufhin Ben zu schluchzen begann und weinerlich sagte. „Ich habe überhaupt nichts gemacht, aber der Lehrer hat den Direktor verständigt und ich will nicht schon wieder Hausarrest!“, woraufhin Sarah beruhigend auf ihn einwirkte. „Ben ich weiss, dass du nichts gemacht hast und außerdem bist du krank-sehr krank. Du musst dich wieder ins Bett legen und dann wirst du bald wieder gesund!“ ging sie auf seine Verwirrtheit ein. Nach einer Weile fragte Ben: „Mama, meinst du wirklich? Und Sarah antwortete mit fester Stimme: „Ja Ben!“ Der erwiderte nun: „Aber der Direktor muss weggehen, sonst komme ich nicht raus!“ und Sarah versprach das. Auf ihren Blick hin versteckte sich Semir hinter der Gartenhütte und beobachtete verborgen, was Ben nun trieb. Sarah öffnete die Tür des Gartenhauses und sagte mit forscher Stimme: „Du kannst rauskommen, es ist niemand mehr da, vor dem du Angst haben musst!“ und nun richtete sich Ben, der sich in der hintersten Ecke der Gartenhütte zusammengekauert hatte, langsam auf. Er schlug beide Arme vors Gesicht und schlich wie ein geprügelter Hund heraus. Mehrmals knickten vor Schwäche seine Füße ein, aber langsam ging er zurück zum Haus. Sarah folgte ihm und sprach derweil freundlich mit ihm „Was war denn los, Ben?“ wollte sie wissen und der antwortete: „Wir hatten Wandertag und der Lehrer hatte mich verdächtigt, dass ich was kaufen will!“ Was er kaufen wollte-diese Frage erübrigte sich beinahe. „Und möchtest du immer noch was kaufen?“ fragte Sarah vorsichtig. „Ich glaube nicht, Mama!“ antwortete Ben und obwohl er so verwirrt war, hätte Sarah vor Freude beinahe laut aufgejuchzt!

  • Sarah brachte Ben wieder in den Keller. Ein paarmal strauchelte er, aber sie hatte Semir, der ihnen mit Abstand folgte einen warnenden Blick zugeworfen. Wenn der näher kam, solange Ben sich noch als älterer Schüler wähnte, würde der wieder fliehen und ob es diesmal so glimpflich abgehen würde, wagte sie zu bezweifeln. Ben legte sich auch artig aufs Bett und ließ sich zudecken. Sarah fragte ihn: „Magst du einen Kaffee trinken und ein Brötchen essen?“ aber Ben schüttelte den Kopf und sagte: „Erstens mag ich keinen Kaffee und dann ist mir immer noch schlecht!“ und das nahm Sarah zur Kenntnis. Sie reichte ihm die Wasserflasche, aber als er auch nur versuchte einen Minischluck zu nehmen, musste er wieder würgen und so ließ sie es bleiben, leerte noch schnell die beiden Eimer aus und ging dann aus dem Raum zu Semir, der hinter der Tür Wache stand. Aufatmend legten sie gemeinsam den Riegel wieder vor und Semir stellte nach einem Blick auf die Uhr mit einem „Verdammt-ich muss los!“ fest, dass er schon fast zu spät war. „Kommst du alleine zurecht?“ fragte er Sarah, während er in Windeseile im Stehen eine Tasse Kaffee hinunterschüttete und sich ein belegtes Brötchen vorbereitete, das er unterwegs im Wagen essen würde. „Ich denke schon!“ antwortete Sarah und nahm sich ebenfalls ein Brötchen-sie würde sich später einen Tee machen, denn Kaffee trank sie wegen dem Kind in der Schwangerschaft nicht und sie hatte eine Packung ihrer Lieblingsteebeutel in ihrem Koffer.


    So verließ Semir sie und fuhr so zügig es ging zur PASt, wo er von Frau Krüger schon erwartet wurde. Er trudelte zwei Minuten vor neun ein und atmete auf-wenigstens diesbezüglich würde er nicht auffallen! Susanne hatte ihm eine Liste mit den schwarzen Porsches dieser Baureihe vorbereitet, die in Köln und Umgebung zugelassen waren und es waren nur acht Adressen-gut das würde zu schaffen sein! Frau Krüger griff nach ihrer Jacke: „So Herr Gerkhan-nachdem sich die Zahl ihrer Mitarbeiter ja zügig dezimiert hat, werde ich sie heute bei ihrer Arbeit unterstützen. Nur immer hinterm Schreibtisch sitzen und Dienstpläne schreiben ist auf Dauer auch langweilig, ich muss mal wieder normale Polizeiarbeit machen!“ verkündete sie und Semir verdrehte innerlich die Augen zum Himmel-verdammt, gerade bei diesem Fall, wo er absolut keine Aufmerksamkeit brauchen konnte, fiel der Chefin sowas ein. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als gute Miene dazu zu machen-gut, dann würde das Schicksal eben seinen Lauf nehmen, jetzt konnte er eh nichts mehr aufhalten und vielleicht war der Dealer ja auch nicht unter den Porschefahrern, sondern das Auto war geklaut, oder irgendwo ganz anders zugelassen! Sie checkten die Adressen der Halter und legten sich danach einen Plan zurecht, in welcher Reihenfolge sie sie abklappern würden und dann brachen sie auf.


    Hartmut hatte in der Nacht ausnehmend gut geschlafen und sogar von Jenni geträumt. Sie waren miteinander auf einem Rockkonzert gewesen und gerade als sie ihn verliebt angesehen hatte und er sie in einer dunklen Ecke küssen wollte, klingelte sein Handywecker und er musste aufstehen. Allerdings tat er das heute ohne Murren und mit einem breiten Grinsen im Gesicht, denn er würde jetzt seine Traumfrau aus dem Krankenhaus abholen! Er trank einen Kakao und rief kurz seinen Mitarbeiter in der KTU an, dass er heute erst später kommen würde, weil er einen wichtigen privaten Termin hätte und dann kaufte er sich noch in der Bäckerei um die Ecke ein Schokocroissant, das er auf dem Weg zur Klinik genüsslich verspeiste.
    Seine Lucy, sein altes Fahrzeug war leider nicht mehr zu reparieren gewesen, aber er hatte wieder einen Oldtimer erstanden, nämlich einen quietschgelben VW Käfer, Baujahr 1974 in einer Sonderedition. Den hatte er liebevoll und originalgetreu restauriert und auch problemlos durch den TÜV gebracht. Nachdem er als Oldtimer fungierte, konnte er auch das Fahrverbot für Fahrzeuge ohne grüne Plakette in der Kölner Innenstadt unterlaufen und so kam er gut gelaunt mit seinem auffälligen Wagen vor der Klinik an und fand sogar sofort einen Parkplatz. Zwei Stufen auf einmal nehmend erklomm er die Treppe und stand wenig später vor Jenni´s Zimmertür und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Als er geklopft hatte und ein freundliches „Herein“ ertönt war, ging er ins Zimmer und tatsächlich stand Jenni schon angezogen und mit gepackter Reisetasche bereit. Sie hatte über der dick verbundenen Schulter eine leichte Jacke und hatte sonst Jeans und ein weites T-Shirt an, das sie über den Verband gezogen hatte. Den Entlassbrief für ihren Hausarzt in der Hand, packte sie ihre Tasche, die er ihr sofort abnahm. „Aber Jenni-du sollst doch nichts tragen!“ sagte er vorwurfsvoll und über ihr Gesicht glitt ein Lächeln. „Guten Morgen erst mal-und danke, dass du mich abholst! Ich bin ja nicht so krank, dass ich nicht meine Tasche hätte selber nehmen können!“ sagte sie, während sie schon zur Tür hinaus strebte. „Aber deshalb bin doch ich da-du sollst dich nicht anstrengen!“ sagte Hartmut ganz Gentleman und ging neben ihr zum Fahrstuhl. Gemeinsam fuhren sie nach unten und als sie vor dem auffälligen Käfer standen, sagt Jenni erfreut: „Mensch Hartmut, der ist ja der Knaller-ich wollte immer schon mal in so einem mitfahren!“ und nachdem der Kriminaltechniker ihre Tasche auf den Rücksitz gestellt hatte, stiegen sie beide ein und Hartmut kurvte mit dem typischen Geräusch des luftgekühlten VW-Motors vom Hof. „Der klingt super!“ sagte Jenni, während sie die Seitenscheibe herunterkurbelte und ihren Kopf in den Wind streckte. „Das finde ich auch!“ erwiderte Hartmut glücklich und schlug den Weg zu ihrer Wohnung ein.

  • Der Importeur war zornig. Verdammt noch Mal-jetzt war er sich so sicher gewesen, dass dieser Jäger funktionieren würde, denn er hatte ihn ja absolut in der Hand. Wenn das publik wurde, dass er als Polizist Drogen konsumiert und Geheimnisverrat begangen hatte, wäre seine Karriere beendet. Als er bei dem Warten auf einen Bewohner des Appartementhauses, der ihm die Tür zu den Briefkästen öffnen würde, das Wort „Polizei“ gehört hatte, war er sofort misstrauisch geworden und hatte das Weite gesucht-und tatsächlich war ihm diese junge Frau-vermutlich eine Polizistin in Zivil-gefolgt und er hatte sie niederschießen müssen, um zu entkommen. Das konnte er nicht brauchen, dass jemand auf ihn persönlich aufmerksam wurde! Langsam wurde das Pflaster hier ganz schön heiß, aber er hatte zwar schon eine Menge Geld mit dem Heroinvertrieb gemacht, aber da war noch viel Luft nach oben. So viel, dass sein Partner und er sich zur Ruhe setzen könnten, hatten sie noch nicht erwirtschaftet, darum war es sehr wichtig, dass die Firma weiter lief!


    Er überlegte fieberhaft, welche Spur zu ihm führen würde, aber er hatte sich Jäger gegenüber noch nie blicken lassen, das einzig bekannte Gesicht war das seines Partners, aber der war inzwischen sehr verändert-er hatte ihm über What´s App schon mehrere Bilder geschickt und der war wirklich beinahe nicht mehr zu erkennen! Obwohl dessen Gesicht natürlich noch sehr verschwollen war, aber er hatte sich die Nase verändern lassen, die Tränensäcke wegmachen und die Haare dunkel gefärbt-er wirkte wie ein anderer Mensch! Allerdings machte es ihm Sorgen, dass die Polizistin sein Gesicht gesehen hatte. Er wusste momentan auch nicht, ob er sie tödlich getroffen hatte, was er sehr hoffte, aber in der Lokalpresse im Internet war dann zu lesen, dass bei einem Schusswechsel eine Polizistin verletzt worden wäre-er musste herausfinden, in welchem Krankenhaus die war und die Sache beenden! Aus welchen Gründen auch immer, aber Jäger hatte ihn verpfiffen und das würde er, seine Familie und alle anderen bitterlich zu spüren kriegen! Er würde sie alle eliminieren, da hatte er keine Skrupel! Er überlegte, wie er herausfinden konnte, in welchem Kölner Krankenhaus die junge Frau lag, denn er wusste ja deren Namen nicht, aber dann begann er einfach die Kliniken abzutelefonieren und fragte die Mitarbeiter der Telefonvermittlung mit Besorgnis in der Stimme: „Ich war heute Zeuge, als eine junge Frau niedergeschossen wurde. Ich habe Erste Hilfe geleistet und ihr dabei eine wertvolle Uhr abgenommen, die ich versehentlich in meine Tasche gesteckt habe! Ich würde die ihr gerne zurückgeben, habe aber ihren Namen nicht-könnten sie bitte mal nachsehen, ob die bei ihnen liegt?“ schwindelte er und tatsächlich-im Marienkrankenhaus wurde er am frühen Abend fündig-die bestätigten, dass eine Patientin bei ihnen zur passenden Uhrzeit eingeliefert worden wäre. „Wir dürfen ihnen natürlich den Namen und die Personalien nicht sagen, aber wenn sie vielleicht zur Unfallstation kommen, dann kann die Schwester sie fragen, ob sie ihren Ersthelfer sehen will!“ schlug die freundliche Telefonistin vor und der Importeur bedankte sich sehr herzlich bei der ahnungslosen Frau.


    Am Abend allerdings hatte er überhaupt keine Zeit, sich um die Polizistin zu kümmern-na die würde schon nicht weglaufen-denn die nächste Handtaschenlieferung mit speziellem Inhalt war am Kölner Hafen eingetroffen und er musste die Taschen ausleeren, bevor jemand aufmerksam wurde. So verbrachte er die halbe Nacht am Containerhafen und hatte nach getaner Arbeit zwei große Koffer voller Rauschgift im Wagen, während die hübschen Handtaschen nun darauf warteten, in sein Lager gebracht und dort von seinen Mitarbeitern an die verschiedenen Boutiquen versandt zu werden. Er musste immer Vorkasse leisten und hatte seine Geschäftspartner im goldenen Dreieck als Lieferanten für hochwertige Luxusartikel getarnt, zahlte auch brav Zoll und Steuern auf die angebliche Ware und war überrascht, wie einfach sich auch der Zoll an der Nase herumführen ließ. Allerdings war er auch viele Jahre ein untadeliger Geschäftsmann mit einem guten Ruf gewesen-woher sollten die auch wissen, dass er seit Neuestem ein Zusatzgeschäft betrieb? Er war vor vielen Jahren einmal verheiratet gewesen, hatte sich aber getrennt und wollte sich nun nicht mehr fest binden, sondern hatte wechselnde Freundinnen, die den Luxus und die teuren Geschenke genossen, mit denen er sie beglückte und so hatte er immer eine hübsche Frau an seiner Seite, ohne sich festzulegen. Er sah zwar nicht schlecht aus, musste aber feststellen, dass Geld einen für manche Frauen anscheinend attraktiv machte, egal wie man ausschaute oder sich verhielt!


    Weit nach Mitternacht kehrte er in seine luxuriöse Wohnung zurück und überlegte, was er weiter tun sollte. Dieser Jäger hatte um sechs auch nicht angerufen, was nun klar machte, dass der definitiv nicht mehr mitspielte-aber dem würde er seine Tour auch noch versauen und ihn als Abschreckung hinrichten, Seine Skrupel ließen mehr und mehr nach, denn der Lockruf des Geldes war einfach stärker als jede Moral! Das Wegwerfhandy hatte er am Containerhafen in den Rhein geworfen-er würde es nicht mehr brauchen, aber Jäger würde er finden, da war er sich relativ sicher, denn entweder war der in irgendeinem Krankenhaus auf Entzug, oder er würde Stoff brauchen und so würde er an ihn rankommen, auch wenn der sicher untergetaucht war! Vielleicht gab es da auch andere Zusammenhänge, denn die Wohnungen in dem Haus in dem Jäger lebte, überstiegen ein Polizistengehalt bei weitem-egal ob zur Miete oder gekauft, das war mehr als merkwürdig! Aber das würde er zu gegebener Zeit rausfinden-erst würde er die junge Polizistin erledigen-die hatte schließlich sein Gesicht gesehen! Dass viele andere Passanten ihn ja vielleicht auch beschreiben konnten, verdrängte er-er wollte Rache an der Polizei, die ihm gerade versuchte sein Geschäft zu ruinieren!


    Nach wenigen Stunden Schlaf setzte er sich in einen seiner anderen Wagen, einen unauffälligen weissen Audi A4 und stellte den vor dem Marienkrankenhaus ab. Gerade als er aussteigen und sich auf der Unfallstation nach der jungen Polizistin durchfragen wollte, kam die, begleitet von einem rothaarigen jungen Mann auf den Parkplatz gelaufen und setzte sich in einen auffälligen gelben VW-Käfer. Als der nun vom Hof fuhr, heftete er sich unauffällig an dessen Fersen und verfolgte ihn durch halb Köln, bis er in einer ruhigen Wohnsiedlung vor einem Block anhielt. Die junge Frau, die ganz munter wirkte und nur einen dicken Verband um die Schulter trug, stieg aus und der Rothaarige holte die Tasche heraus und folgte ihr in den Hauseingang. Still blieb der Verfolger im Wagen sitzen. In welcher Wohnung die junge Frau lebte, würde er schon noch herausfinden! Erst musste der Typ verschwinden, der sie anscheinend abgeholt hatte. Und tatsächlich-wenig später kam der die Treppe wieder herunter und der Importeur hatte sogar von seinem Beobachtungsposten auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehen können, aus welcher Wohnung der kam, denn das Treppenhaus war gut einsehbar.Während Hartmut in seinen Käfer stieg und davonfuhr, verließ Heimer seelenruhig seinen Wagen und betrat den Hauseingang, dessen Tür nicht ganz zugefallen war. Mit einem diabolischen Grinsen stieg er langsam die Treppe hinauf.

  • Hartmut war wenig später an der nächsten Apotheke angelangt, legte ein „Polizei“ -Schild hinter die Windschutzscheibe, weil er in der zweiten Reihe parkte und verschwand mit dem Privatrezept darin, um das vom Krankenhaus verordnete Antibiotikum und die Schmerztabletten für Jenni zu holen. In wenigen Minuten hatte er das Gewünschte erhalten, ging noch in die Bäckerei daneben und kaufte ein paar süße Teilchen, um dann zügig zu Jenni´s Wohnung zurückzufahren. Dort stellte er den Käfer ab und begann die Treppen hinaufzusteigen-die Haustür unten war nur angelehnt gewesen, darum brauchte er dort noch gar nicht zu läuten. Als er vor Jenni´s Wohnungstür ankam, runzelte er die Stirn. Er war sich sicher, dass er die hinter sich zugemacht hatte, aber jetzt war die nur angelehnt-obwohl-vielleicht hatte sie seine Ankunft gesehen und deshalb die Tür schon für ihn aufgemacht! Dann allerdings fiel ihm ein, dass ihre Fenster ja nach hinten raus und nicht zur Straßenseite gingen, das war also ziemlich unwahrscheinlich. Er hatte nun ein ungutes Gefühl im Bauch und trat einen Schritt näher und da hörte er auch schon Jenni erschreckt aufschreien. „Was tun sie hier?“ rief sie mit Panik in der Stimme und nun handelte Hartmut erst einmal mit Köpfchen, bevor er seiner Traumfrau zu Hilfe eilte. Er ging nämlich ein paar Schritte zurück, damit man ihn in der Wohnung nicht hören konnte und rief Semir an. „Semir, ich bin vor Jenni´s Wohnung-da ist ein Fremder drin, ich weiß nicht wer und was er vorhat, aber wir brauchen Unterstützung!“ sagte er leise und Semir, der gerade um eine Kurve bog, rief in sein Headset: „Wir sind ganz in der Nähe und sind bald da!“ während er schon einen Dreher machte, dass sich die Chefin am Haltegriff festklammerte.


    Frau Krüger und er hatten bereits die ersten beiden Adressen, die ziemlich nahe beieinander lagen, überprüft, aber keiner der Fahrzeughalter hatte auch nur die geringste Ähnlichkeit mit dem Phantombild aufgewiesen. Nun waren sie zum Besitzer des dritten Porsche unterwegs, dem Inhaber einer Im-und Exportfirma namens Rudolf Heimer. Als Hartmut´s Hilferuf eintraf hatte die Chefin ja nicht wissen können, wer da am anderen Ende der Leitung war, nur war ihr, spätestens als Semir das Blaulicht einschaltete, klar, dass Gefahr im Verzug war. „Wir müssen zu Frau Dorn-die wurde heute anscheinend schon entlassen und Hartmut-ich meine Herr Freund- hat sie wohl abgeholt, jetzt sei ein Fremder in ihrer Wohnung!“ erklärte er in kurzen Worten, während er das Gaspedal durchtrat und in halsbrecherischer Manier, teilweise den Gehsteig mitbenutzend, zu Jenni´s Adresse fuhr.


    Hartmut war inzwischen wieder zur Wohnungstür zurückgegangen und hörte einen Mann sprechen und Jenni schmerzerfüllt aufschreien. „Warum haben sie Ben Jäger´s Wohnung überwacht?“ wollte der Mann wissen und Jenni antwortete mit Panik in der Stimme: „Ich habe keine Ahnung, wovon sie sprechen!“ aber dann stöhnte sie schmerzerfüllt auf-der Mann hatte nämlich ihren verletzten Arm gepackt und auf den Rücken gedreht. Wie sehr wünschte sie sich jetzt ihre Waffe, aber die hatte Semir sich gestern im Krankenhaus aushändigen lassen und in die PASt zur sicheren Verwahrung gebracht. Hartmut war nun klar, dass der Mann, der seine Flamme bedrohte, wohl der Attentäter von gestern war. Leise schlich er in die Wohnung. So ein Mist-er war ebenfalls nicht bewaffnet, obwohl er ja Polizist war und auch regelmäßig zum Schießtraining musste, allerdings war er jedes Mal froh, wenn er diese Pflichttermine im Schießstand hinter sich hatte und rührte das ganze Jahr über sonst keine Waffe an, geschweige denn, dass er sie privat trug oder zu Hause aufbewahrte.So ging er nun ganz langsam näher-die Geräusche kamen aus Jenni´s Schlafzimmer, in dem er zuvor noch nie gewesen war.
    Sie hatte gerade angefangen ihre Tasche auszupacken, als der gesuchte Mann plötzlich vor ihr gestanden hatte. „Noch einmal zum Mitschreiben!“ sagt der dunkelhaarige Mann langsam und drohend: „Warum hast du Jäger´s Wohnung überwacht und mich verfolgt!“ und wieder schrie Jenni auf, um dann mit schmerzerfüllter Stimme zu wiederholen: „Ich verstehe nicht, wovon sie reden. Ich war zufällig da!“ versuchte sie sich rauszureden. Der Mann lachte trocken auf. „Du weisst schon, dass du die Einzige bist, die mich beschreiben kann und ich dich deshalb nicht am Leben lassen kann!“ behauptete er. Nun rief Jenni allerdings: „So ein Blödsinn-es haben sie total viele Passanten gesehen, die Fahndung nach ihnen läuft doch schon lange-sie gewinnen gar nichts, wenn sie mich ausschalten!“ und sie hoffte mit dieser logischen Argumentation den Typen von seinem Vorhaben abzubringen. „Oh nein Fräulein-ich lasse mich nicht reinlegen-ihr Bullen seid sowieso alle korrupt und erzählt Lügen, wenn ihr den Mund aufmacht-ich werde mich an dir rächen und dann noch an so einigen anderen, die mich geärgert haben. Wir haben die perfekte Möglichkeit gefunden Geld zu machen und werden uns von euch oder euren Rauschgiftfahndern nicht aufhalten lassen!“prahlte er wütend und Jenni war nun ganz überrascht, dass er so viel von sich preisgab. War dieser Mann vielleicht der Drahtzieher, wegen dem diese ganzen Razzien gerade stattfanden? Der Mann vom Rauschgiftdezernat hatte um Amtshilfe gebeten, weil gerade der Markt mit besonders reinem Heroin überschwemmt wurde. Es hatte bereits mehrere Drogentote deswegen gegeben. Konnte es sein, dass diese Männer, die ja auch Ben gekidnapped hatten, sich nun an ihnen allen rächen wollten? Aber wenn das so war, würde sie das mit dem Leben bezahlen. Gestern war es schon ziemlich knapp gewesen, aber heute hatte sie keine Chance. Sie hatte-obwohl der Mann ja hinter ihr stand und ihr den Arm schmerzhaft verdrehte, aus den Augenwinkeln die Waffe in seinem Hosenbund gesehen. Er würde nicht zögern, die zu benutzen, das war ihr völlig klar. Eigentlich war sie schon verloren und wenn Hartmut demnächst unten läutete, würde sie nicht öffnen können, weil sie vermutlich tot war! Aber ganz kampflos würde sie nicht aufgeben und trotz Schmerzen nahm sie ihre ganzen Kräfte zusammen und wandte einen Judogriff an, um sich zu befreien.
    Momentan war Heimer überrascht, aber während er unsanft zu Boden geschleudert wurde und Jenni schmerzerfüllt aufschrie, weil sie meinte, ihre Schulter würde in Flammen aufgehen, zog er schon die Waffe heraus und entsicherte sie. Gerade wollte er auf Jenni anlegen, die versuchte aus dem Zimmer zu fliehen, da warf sich Hartmut dazwischen. Er hatte dabei versucht den Typen anzurempeln, aber das wichtigste war jetzt, dass Jenni gerettet wurde! Nun ertönte ein Schuss, dann ein Schrei und plötzlich war es völlig ruhig im Raum. Der Rotschopf lag auf dem Boden und hielt sich den Fuß und Heimer richtete sich mit diabolischem Grinsen auf, zielte auf den Kopf des liegenden Hartmut und Jenni sah ihn mit schreckgeweiteten Augen entsetzt an.


    Im Kellerraum war Ben derweil wieder erwacht. Er hatte nicht richtig geschlafen, aber ganz bei sich war er auch nicht. Mühsam rappelte er sich hoch und begann wieder hin-und herzulaufen, soweit es seine Kräfte zuließen. Langsam begann er sich zu fragen, ob er wirklich so jung war. Irgendwie schossen nun Sequenzen seiner Abiturfeier durch seinen Kopf. Dann wollte sein Vater unbedingt, dass er entweder Wirtschaftswissenschaften studierte, oder eine kaufmännische Lehre machte, damit er die Firma übernehmen konnte. Er hatte sich aber gegen den Willen seines Erzeugers für eine Ausbildung bei der Polizei entschieden und nun schossen ihm immer wieder Szenen aus seiner Zeit beim Kriminalamt durch den Kopf. Dann hatte er wieder eine große Sehnsucht nach der Erfüllung seiner Gier und immer wieder erinnerte sich sein vernebeltes Gehirn an die Glücksgefühle, die er erst vor Kurzem empfunden hatte. Dann fielen ihm allerdings wieder andere starke Gefühle ein-ein graues Ultraschallbild auf dem ein Kind zu sehen war-sein Kind und als er seine Hand betrachtete, konnte er sich plötzlich an das zarte Klopfen seines Babys erinnern, das er durch die Haut Sarah´s spüren konnte. Mit dieser Hand hatte er sein Kind gestreichelt und zur Ruhe gebracht-das war das höchste Glück! Er konnte es rational überhaupt nicht erfassen, aber in seinem Kopf waren Engel und Dämonen gleichzeitig am Werk. Plötzlich überfielen ihn wieder Schmerzwellen, die ihn zu Boden sinken und laut aufstöhnen ließen. Es war nicht festzumachen, wo genau der Schmerz war-weil der ganze Körper betroffen war, allerdings fühlte er sich fiebrig und immer wieder tat ihm sein einer Arm noch viel mehr weh, als alles andere. Seine Wanderungen wurden langsamer und dann legte er sich wieder aufs Bett, weil ihm so elend war. Trotzdem trieb ihn nach Kurzem die innere Unruhe, die ihn auch hellwach nach jedem Geräusch lauschen ließ, wieder hoch und er begann erneut hin-und her-zu wanken.


    Sarah beobachtete voller Mitleid und Besorgnis Ben´s Qual. Es war schlimm anzuschauen, wie er seinen geschwächten Körper forderte, aber es war das Einzige, was sie für ihn tun konnte-ihn beobachten und eingreifen, wenn es notwendig wurde. Sie legte ihre Hand auf den Bauch in dem ein lebhaftes kleines Wesen gerade Purzelbäume schlug-so fühlte sich das wenigstens an-und sagte: „Schatz, der Papa wird es schaffen, ich weiss es!“ und dann richtete sie ihren Blick wieder auf den Monitor.

  • Semir war gefahren, so schnell er konnte. Um Himmels Willen-wenn Jenni jetzt etwas durch seine Schuld geschah, würde er seines Lebens nicht mehr froh werden! Und nur durch ihn war sie mit dem Entführer und Dealer in Kontakt gekommen und er hatte schon schwer genug daran zu schlucken gehabt, dass sie gestern verletzt worden war, aber nun war die Sache eskaliert-hoffentlich kamen sie noch rechtzeitig! Wobei-eigentlich wusste er gar nicht, ob sich da nicht einfach ein Einbrecher Zutritt zu Jenni´s Wohnung verschafft hatte, aber das war eigentlich ziemlich unwahrscheinlich! Die Wohngegend in der Jenni lebte, war zwar nicht schlecht, aber die Mieter dieser Wohnblocks hatten sicher nicht so viel, dass sich Einbrüche generell lohnen würden. Also tendierte die Wahrscheinlichkeit gegen Null, dass da ein zufälliger Einschleichdieb ausgerechnet Jenni´s Wohnung auserkoren hatte. Er musste damit rechnen, dem Mann auf dem Phantombild gegenüber zu stehen und wenn er daran dachte, was passieren würde, wenn der auspackte, dann wurde ihm schlecht. Vielleicht war er bereits in wenigen Stunden kein Polizist mehr und Ben ebenfalls-aber dann schob er die trüben Gedanken beiseite. In erster Linie musste jetzt Jenni gerettet werden, alles andere würde man später überlegen!


    Er hielt mit quietschenden Reifen vor dem Wohnblock, allerdings hatte er zwei Querstraßen zuvor den Signalton ausgeschaltet, um den Verbrecher nicht misstrauisch zu machen. Frau Krüger bestand darauf, dass sie sich noch Schutzwesten überzogen und Semir schlüpfte ungeduldig in die Seine, die passend im Kofferraum lag, während die Chefin Ben´s überwarf, die ihr viel zu groß war-aber wer hätte auch mit so einem Einsatz gerechnet? Dann rannten sie beide mit gezückter Waffe nach oben. „Welches Stockwerk?“ hatte die Krüger knapp gefragt, denn im Gegensatz zu Semir war sie noch nie in Jenni´s Wohnung gewesen. „Das Dritte, die Wohnung links!“ hatte Semir ebenso kurz geantwortet und als sie beinahe oben waren, ertönte ein Schuss. Falls es überhaupt möglich war, legten Semir und die Chefin noch einen Zahn zu und standen Sekunden später im Hausgang vor Jenni´s Behausung und entdeckten die offene Wohnungstüre.Sie nahmen die Waffen nach vorne und gaben sich gegenseitig Deckung. Semir ging voraus und stand einen Augenblick später im Flur. Es war totenstill, aber als er genau hinsah, konnte er Jenni´s Schatten in der Tür des Schlafzimmers erkennen. Er wechselte einen Blick mit der Chefin und nun ging die vor und stand Sekunden später mit der entsicherten Waffe im Anschlag in der Schlafzimmertür. Jenni und Heimer sahen entsetzt zu ihr, aber Heimers Finger wollte sich trotzdem gerade um den Abzug krümmen und sein Werk vollenden, da bellten fast gleichzeitig zwei Schüsse. Semir war Frau Krüger gefolgt, um ihr Deckung zu geben und auch er hatte sofort gesehen, in welcher Gefahr Hartmut schwebte! Heimer wurde nach hinten geschleudert, die Waffe fiel aus seiner Hand und dann blickte er entsetzt auf seine Brust, auf der ein riesiger roter Fleck immer grösser wurde. Einen Moment stand er noch aufrecht, aber dann gaben seine Knie nach und er sank zu Boden und war bereits tot, bevor er dort aufschlug. Jenni hatte geschockt aufgeschrien und die gesunde Hand vor den Mund gehalten. Nun war sie mit zwei Schritten bei Hartmut und versuchte mit zitternden Händen festzustellen, ob er nochmals getroffen war, aber der sah sie nun mit tränenumflorten Augen an. „Verdammt mein Fuß!“ fluchte er und presste beide Hände nur noch fester darauf und das Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Jenni spürte im Augenblick überhaupt keinen Schmerz, sondern nur eine unendliche Erleichterung, dass Hartmut nichts Schlimmeres passiert war. Sie bedeckte seine Wange mit Küssen und während Semir mit ein paar Schritten bei Heimer´s Leiche war und vorsichtshalber an der Halsschlagader nach dessen Puls tastete, wo er aber nichts mehr feststellen konnte, wechselte er einen wissenden Blick mit der Chefin.
    Semir nahm sein Handy und rief Susanne an, die die Rettung, die Spurensicherung und alles andere koordinieren sollte und gab ihr mit kurzen Worten durch, was geschehen war. Dann beugte auch er sich zu Hartmut hinunter und fragte: „Darf ich mal sehen?“ und schob Jenni ein wenig zur Seite. „Der Fußknöchel ist getroffen, aber das wird schon wieder Hartmut. Wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus und dort wirst du versorgt!“ sagt er tröstend, denn momentan machte es jetzt auch keinen Sinn, da irgendwie weiterführende Erste Hilfe zu leisten.
    Während die Krüger nach unten lief, um die Rettungskräfte einzuweisen, die wenig später mit Sirenengeheul eintrafen, holte er lediglich ein Handtuch aus dem Bad und legte es unter Hartmut´s Fuß, damit Jenni´s Boden nicht zu sehr versaut wurde. Allerdings fiel ihm dann ein, dass unter dem toten Täter sicher ein wesentlich größerer Fleck zu finden war und so saß er dann einfach still bei den beiden, bis wenig später der Notarzt und zwei Sanitäter eintrafen. Auch der Notarzt warf noch einen Blick auf den Täter, konnte aber nur noch dessen Tod feststellen. Die Eintrittswunde vorne war ja schon groß, aber hinten hatte es ihm auf die kurze Entfernung ein riesiges Loch in den Brustkorb gerissen und so stellte er den Tod nun offiziell mit Uhrzeitangabe fest. Semir konstatierte überrascht, dass es erst 11.30 Uhr war-was war in den letzten Stunden nicht alles passiert! Hartmut bekam eine Infusion und ein Schmerzmittel, man bettete seinen Fuß, nachdem man die Schusswunde steril abgedeckt hatte, in eine Vakuumschiene und wenig später war Hartmut auf einer schwankenden Trage auf dem Weg zum Rettungswagen. Jenni bestand darauf mitzufahren und als Hartmut darum bat, dass ein Unfallarzt sich doch vorsichtshalber noch Jenni´s Schulter ansehen solle, entschied man sich, einfach ins Marien zu fahren, da Jenni da schon bekannt war und man das dort besser beurteilen konnte, denn der Notarzt war Anästhesist und wollte da keine Verantwortung übernehmen.
    Als der Krankenwagen um die Ecke verschwand, ging die Chefin nach oben, wo die Spusi schon ihre Tätigkeit aufgenommen hatte. Sie wechselte einen Blick mit Semir, der von den Mitarbeitern der Spurensicherung derweil den Inhalt der Taschen des Toten erhalten hatte. „Rudolf Heimer!“ las er aus dem Personalausweis vor und dann sah er die Chefin fest an: „Wir hätten ihn so oder so gekriegt-aber jetzt lebt Hartmut und deshalb war es gut, was geschehen ist!“ sagte er und Frau Krüger nickte bestätigend dazu.

  • „Wie ist Heimer wohl hergekommen?“ fragte sich laut die Chefin, aber Semir hatte schon zum Handy gegriffen. Dass vor dem Haus kein schwarzer Porsche stand, wusste er sicher, aber als er nun Susanne bat, alle auf den Toten zugelassenen Fahrzeuge nachzusehen, kam gleich als Nächstes ein weißer Audi und zudem waren noch ein paar erst kürzlich angemeldete Oldtimer in den Unterlagen vermerkt. Außerdem teilte sie ihnen nach kurzer Recherche die Wohnadresse, den Firmensitz und den Standort des Lagers und einiger gemieteter Garagen mit „Jetzt schauen wir uns erst nach dem Wagen um und dann machen wir eine Hausdurchsuchung gleichzeitig in seiner Wohnung und seiner Firma, sobald die Spusi hier fertig ist!“ beschloss die Krüger. Bisher wusste ja noch niemand von Heimer´s Tod-vielleicht gingen ihnen so noch Komplizen ins Netz! Verstärkung wurde für später nach der Mittagspause angefordert und als sie auf die Straße gingen, sahen sie mit einem Blick das gesuchte Fahrzeug. Semir knackte in bester Manier das Schloss, was ihm einen nachdenklichen Blick von der Chefin einbrachte. Man sah, dass er das nicht zum ersten Mal machte und Semir hoffte, dass sie ihn nicht fragen würde, woher er das konnte-er wollte seine wilde Jugend nämlich lieber für sich behalten, in der er in einer Jugendgang nicht ganz legale Sachen gemacht hatte, bis es zu einem folgenschweren Unfall mit Todesfolge kam, der ihn zum Umdenken und letztendlich zur Polizei gebracht hatte.


    Semir zog Handschuhe an und durchsuchte fachmännisch das Handschuhfach, den Koffer- und den Innenraum, ohne allerdings etwas Interessantes zu finden. „Lassen wir den Wagen in die KTU bringen!“ beschloss die Chefin und organisierte das auch gleich. Hartmut´s Mitarbeiter wären ja hoffentlich genauso fähig-und so einen Wagenuntersuchung war wohl auch kein Hexenwerk. Der Gerichtsmediziner war ebenfalls eingetroffen und nach kurzer Zeit nahm ein Leichenwagen Heimer mit und auch die Spusi räumte das Feld. „Das Schloss oben wurde von außen aufgemacht, allerdings vermutlich mit dem Scheckkartentrick-es ist also noch funktionsfähig!“ teilte der leitende Beamte ihnen mit und Semir ging nun nochmals in die Wohnung und machte was er sich vorgenommen hatte, nämlich die Blutflecken von Jenni´s Laminat zu wischen. Er empfand es immer als schrecklich, wie seine Kollegen Tatorte hinterließen-das mochte ja in Verbrecherwohnungen angehen, aber das hier war die Behausung einer Freundin und Kollegin-wie schrecklich wäre das, wenn sie hinterher mit diesen Spuren konfrontiert würde! Die Chefin beobachtete ihn dabei und bemerkte: „Gerkhan, ich entdecke immer neue Seiten an ihnen!“ sagte sie „Aber die gefallen mir!“ fügte sie hinzu und packte mit an.


    Sie machten unterwegs kurz Mittag und Semir rief von der Toilette der kleinen Pizzeria in die er mit Frau Krüger eingekehrt war, Sarah an: „Wie geht´s euch!“ fragte er knapp, aber Sarah hatte nichts Neues zu berichten. „Er wandert immer noch, trinkt aber nichts. Die Entleerungen werden weniger, aber er sagt keine zusammenhängenden Sätze sondern faselt immer wieder verwirrt vor sich hin. Ich denke, ich muss ihm abends wieder eine Infusion legen, wenn du da bist!“ teilte sie ihm mit und Semir versprach, so früh wie möglich Feierabend zu machen.
    Nach der Mittagspause setzte Semir Frau Krüger an Heimer´s Privatwohnung ab, wo das erste Team bereits auf sie wartete. Er selber fuhr weiter zur Geschäftsadresse, einem Büro in einem luxuriösen Bürohaus, wo das zweite Team schon bereit stand und gleichzeitig betraten sie die Räumlichkeiten. In der Privatwohnung war überhaupt niemand zu finden und in dem Büro saß eine einzelne Sekretärin, die überrascht aufblickte, als Semir sie mit „Stehen sie auf-Polizei!“ anherrschte und mit gezückter Waffe bedrohte. Sie erschrak fürchterlich, zeigte sich dann aber überaus willig und überließ ihnen alle Unterlagen und sah deren Abtransport zu, während sie Semir etwas über ihren verstorbenen Chef erzählte.
    „Die Firma Heimer besteht schon sehr lange, bereits der Vater des jetzigen Inhabers hat sie gegründet, ich war schon bei dem Sekretärin und Mädchen für alles und Rudolf hat mich dann sozusagen mit übernommen. Das Kerngeschäft der Firma ist der Import und Vertrieb von Luxusaccessoires wie Handtaschen und hochwertiger exclusiver Kleidung. Bis letztes Jahr lief das auch so einigermaßen, aber dann kam ein Umsatzeinbruch, der beinahe zur Insolvenz geführt hätte. Ich dachte schon, ich müsste mir die letzten paar Jährchen bis zur Rente noch einen anderen Job suchen-was ja jetzt wieder bittere Realität ist- aber seit etwa sechs Monaten lief es wieder, allerdings weiss ich ehrlich gesagt nicht warum. Ich habe mir natürlich auch meine Gedanken gemacht und befürchte ehrlich gesagt, dass da etwas Illegales dahintersteckt. Rudolf war noch nie arm, er hatte von seinem Vater nach dessen Tod auch so einiges geerbt, aber jetzt hat er begonnen, das Geld mit beiden Händen auszugeben, als gäbe es kein Morgen-was für ihn ja nun tatsächlich eingetroffen ist!“ sagte sie leise.
    „Hat er Familie?“ wollte Semir nun noch wissen, aber die Frau verneinte. „Er war einmal verheiratet, aber die Ehe ist schon lange geschieden. Er hatte wechselnde Freundinnen, aber nichts Festes-kaum hatte ich mir einen Namen eingeprägt, war schon die Nächste an der Reihe. Die einzige Konstante in seinem Leben ist-war- sein bester Freund aus Jugendtagen: Herbert Redka, der auch Anteile an der Firma hält, aber den habe ich jetzt schon seit einigen Tagen nicht mehr gesehen!“ sagte sie und ging mit Semir in den Aufenthaltsraum, wo ein Bild der beiden Freunde, die lachend vor einem kleinen Flieger posierten, an der Wand hing. Dieser Redka war eindeutig der zweite Mann, der Ben damals entführt hatte-hier waren sie auf der richtigen Spur!


    Semir informierte die Chefin kurz telefonisch von seinen Erkenntnissen und kontaktierte dann Susanne, die eine Fahndung nach Herbert Redka herausgab. Semir nahm das Bild mit, dann hatte man ein reales Foto und nicht nur ein Phantombild und man nahm sich für den folgenden Tag die Durchsuchung der Garagen und des Lagers am Hafen vor, aber heute würde das zu spät werden und gemeinsam mit der Chefin beschloss Semir, dass wohl keine Verdunklungsgefahr bestand. Die weiteren Mitarbeiter waren mehrere Verpackungskräfte, die stundenweise die Ware nach dem Eintreffen umpackten und versandten, aber es war eher unwahrscheinlich, dass die die Finger in dem Geschäft hatten, genauso wie die Sekretärin, die völlig unbescholten war. Man versiegelte lediglich die Räumlichkeiten und als Semir nun auf die Uhr sah, war es beinahe fünf. „Chefin wie sieht´s aus-haben sie noch was für mich, oder kann ich nach Hause gehen?“ fragte Semir, der immer mal wieder gähnte und unauffällig auf die Uhr gesehen hatte. „Machen sie Feierabend-morgen um neun machen wir weiter-und ach ja, Gerkhan-es war schön, mal wieder echte Polizeiarbeit mit ihnen zu machen!“ sagte die Chefin lächelnd und Semir nickte. Na ehrlich gesagt, war ihm da Ben als Kollege lieber, aber trotzdem war es heute ganz gut gelaufen. Er war gespannt, was Sarah zu den neueren Entwicklungen sagen würde-und vielleicht war ja auch Ben schon wieder so weit, dass er verstehen konnte, was er zu berichten hatte.
    Gerade fuhr er vom Hof, da läutete sein Telefon-Sarah war dran. „Ja Sarah was gibt´s?“ fragte Semir alarmiert „ich bin gerade schon auf dem Weg zu euch!“ „Semir komm schnell-Ben ist zusammengebrochen und ich trau mich alleine nicht rein!“ sagte Sarah mit tränenerstickter Stimme und Semir trat daraufhin das Gaspedal ein wenig stärker durch.

  • Als Ben nach kilometerlanger Wanderung immer schwächer geworden war, hatte Sarah das mit Sorge beobachtet. Immer wieder war er auf die Knie gefallen, hatte beide Arme vor den Bauch gehalten und gebrüllt wie ein Ochse. Die Schmerzen mussten ihn fast wahnsinnig machen und Sarah erinnerte sich an so manches Gespräch mit einem Junkie, der ihr erklärt hatte, dass jede Zelle eines Süchtigen im Entzug voller Schmerz nach dem schrie, was sie am meisten vermisste-Drogen! Sarah war sehr froh, dass sie im Keller waren und der Raum eine dichte Tür und keine Fenster hatte, denn wenn man diese schrecklichen Schreie voller Qual nach außen hören würde, würde wenig später die Polizei auf der Matte stehen und kontrollieren, was los war, denn man konnte meinen, da würde jemand gefoltert.
    Wenn sie daran dachte, wie man im Krankenhaus mit Patienten im Drogenentzug verfuhr, dann war das hier eine ganze Stufe härter. Dort wurden die Patienten zwar zum Selbstschutz und auch zum Schutz des Personals fünfpunktfixiert, das bedeutete, man legte ihnen Fixiergurte an, die über den Bauch, beide Oberschenkel und wie eine Art Hosenträger über die Schultern gingen, aber weil auch damit noch Abwehrbewegungen möglich waren und fast jeder Arzt und jede Pflegekraft schon schmerzhafte Tritte und Schläge hatte einstecken müssen, machte man dann oft beide Hände und Füße ebenfalls noch am Bett fest. Dem Patienten waren so nur Minimalbewegungen möglich. Er bekam einen Blasenkatheter und eine Windelhose, aber trotzdem war es für die Patienten nicht gar so schlimm, weil die mit Entzugsmedikamenten wie Clonidin, das eine blutdruck- und herzfrequenzsenkende Wirkung hatte und Propofol, einem Narkosemittel so weit runtergedopt wurden, dass sie manchmal tagelang überhaupt nichts mitbekamen. Um sie waschen und versorgen zu können- denn natürlich schwitzten auch diese Menschen stark und die wässrigen Durchfälle suchten auch die heim- bekamen sie so viel Narkosemittel, dass sie kurze Momente ganz weg waren, man sie versorgen konnte und dann ließ man sie wieder in ihrem Halbdämmerschlaf daliegen. Manche Menschen, gerade langjährig Süchtige, vertrugen da Dosen, dass man fünf normale Menschen damit gleichzeitig in eine tiefe Narkose legen könnte, aber meistens wurde es nach einigen Tagen besser, man konnte die Medikamente reduzieren und irgendwann waren die klar und konnten sich an die Zeit davor gar nicht, oder nur schemenhaft erinnern.


    Allerdings hatte Sarah es auch schon erlebt, dass Süchtige gar nicht mehr zu sich kamen und dann nach Wochen in einer völligen Psychose in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie verlegt wurden, weil sich ihr Verstand dauerhaft verwirrt hatte, oder dass Patienten auch aspirierten, Lungenentzündungen bekamen und trotz Beatmung, die man dann natürlich sofort vornahm, nach Tagen oder Wochen in der Sepsis starben. Ein Entzug war eine primär lebensbedrohliche Sache und warme Entzüge mit der Gabe von Medikamenten konnte man daher nur mit Monitorüberwachung auf einer Intensivstation machen.
    Manchmal wurde versucht, die Menschen mit Benzodiazepinen wie Diazepam/ Valium oder Tavor zu therapieren, aber oft trieb man den Teufel dann mit dem Beelzebub aus und danach waren die Menschen eben benzoabhängig, was fast noch schlimmer war, als die Alkohol-oder Opiatabhängigkeit, weil da die Erfolgsaussichten beim Entzug einen wesentlich geringeren Prozentsatz aufwiesen. Deswegen hatten ihr Suchttherapeuten erklärt, dass ein kalter Entzug die besten Erfolgsaussichten hatte, da die Menschen sich, auch wenn sie schon zeitweise verwirrt waren, sich hinterher noch voller Schrecken an die Gefühle, die Schmerzen und die körperlichen Symptome erinnerten-das hatte eben oftmals eine abschreckende Funktion. Es war aber auch wichtig, dass dann eine begleitende Psychotherapie folgte, die den Menschen stark machte, den Unbilden des Alltags ohne Drogen zu widerstehen. Außerdem konnte es auch nur gelingen, wenn ein stabiles familiäres Umfeld da war, der Kranke aufgefangen und bestärkt wurde, damit er in schwierigen Situationen anstatt zur Droge zu einem anderen Mittel griff, seine Probleme zu bekämpfen, das konnten Gespräche sein, aber auch Sport, die Versorgung eines Tieres oder eben familiäres Glück. Das war das, was eben Sarah hoffte-dass Ben seines Kindes wegen durchhielt!


    Als Sarah wieder den Monitor beobachtete, zerriss es ihr fast das Herz, als sie den Schatten des Ben, den sie kannte, da unermüdlich hin-und herwanken sah. Seine Lippen bewegten sich die ganze Zeit, er sprach anscheinend mit sich, oder jemand anderem-fast mit Sicherheit litt er gerade unter Halluzinationen, so gehetzt, wie er sich immer wieder umsah. Er wirkte wie ein verfolgtes Tier, das Angst vor dem Jäger hatte und Sarah war durchaus bewusst, dass es für sie hochgradig gefährlich sein konnte, wenn sie jetzt reinging, denn Ben war gerade nicht Herr seiner Sinne! Sehnsüchtig sah sie immer wieder auf die Uhr. Hoffentlich kam Semir bald, denn dann konnte sie nach ihrem Freund sehen, dem es zunehmend schlechter ging, aber der Selbstschutz musste im Vordergrund stehen. Niemandem-am allerwenigsten Ben- wäre geholfen, wenn sie jetzt reinging, von ihm angegriffen wurde und er dann in diesem Zustand auf die Straße fliehen würde. So schnell wie da die Polizei und der Rettungsdienst gerufen würden, konnte man gar nicht reagieren und dann war es mit Ben´s bürgerlicher Existenz vorbei. Außerdem wusste man auch nicht-vielleicht trat oder schlug Ben nach ihr und das Kind kam dabei zu Schaden-nein, sie konnte und durfte da jetzt nicht reingehen, so sehr sie es sich auch wünschte!


    Dann allerdings stockte ihr der Atem. Gerade war Ben noch gelaufen, da begann er plötzlich zu schwanken, versuchte sich noch an der Wand abzustützen, aber da zog es ihm die Füße weg und er brach vor ihren Augen zusammen und regte sich nicht mehr. Sarah sprang mit schreckgeweiteten Augen auf und war versucht, sofort hineinzurennen, aber eine innere Macht hielt sie zurück. Mit zitternden Fingern griff sie nach ihrem Handy und wählte Semir´s Nummer. Er ging auch sofort ran und mit Erleichterung vernahm Sarah, dass er schon auf dem Weg zu ihnen war. Hoffentlich kam er noch rechtzeitig!

  • Semir fuhr in die Einfahrt seines Hauses und war aus dem Auto, kaum dass die Reifen still standen. So schnell er konnte hetzte er zum Eingang und sperrte die Haustüre auf. Zwei Stufen auf einmal nehmend war er auch schon im Keller und Sarah hatte bereits den Riegel der Kellertür aufgerissen, als sie seine Schritte gehört hatte. Gemeinsam stürzten sie in den Raum und Semir drehte Ben auf den Rücken. Nun schoss allerdings dessen Rechte vor und Semir wäre beinahe k.o. gegangen, während Ben sich wieder zur Seite rollte und wimmernd rief: „Nein, nicht mitnehmen, ich will dableiben!“ und die Augen fest zusammenkniff. Semir rieb sich das schmerzende Kinn-damit hatte er jetzt nicht gerechnet- allerdings war ihm nun klar, wie weise Sarah´s Entscheidung gewesen war, nicht alleine zu ihm zu gehen, denn der war überall, nur nicht in der Realität. Dann richtete er sich kurz auf und sagte laut und deutlich: „Mahler-ich werde mich an dir rächen-ich gehe nicht wieder in den Sarg!“ bevor er sich angstvoll zusammenrollte.
    Semir warf Sarah einen Blick zu-das waren alte Traumen, die da anscheinend gerade hoch kamen. Nun begann Ben zu zittern und der Schüttelfrost warf ihn mehrere Zentimeter vom Boden hoch.Sarah sprach ihn aus sicherer Entfernung an: „Ben, kannst du mich hören!“ sagte sie eindringlich und Ben machte seine Augen nun einen winzig kleinen Spalt auf und linste heraus. Anscheinend war er überrascht, was er sah, denn nun machte er seine Augen einen Moment ganz auf, sah sie klar an und flüsterte: „Sarah?“ um sie dann gleich wieder zu schließen. „Was tust du hier? Hat dir der Mistkerl etwas getan?“ fragte er mit Sorge in der Stimme. Er war in seiner Psychose anscheinend gerade in Wolf Mahler´s Hand, der ihn gefoltert und letztendlich in einem Sarg vergraben hatte. Nun mischte sich Semir ein, der vor Ben in sicherer Entfernung kniete: „Ben, ich bins, dein Freund Semir! Das mit Mahler ist lange vorbei-wir schreiben das Jahr 2014!“ erklärte er ihm und Ben machte tatsächlich seine Augen erneut einen Spalt auf und fragte: „Echt?“ um sich dann wieder in Fieberschauern zu winden.


    „Mir ist so kalt und mein Arm tut weh!“ sagte Ben, der im Augenblick anscheinend wieder in der Realität war. Sarah wechselte einen Blick mit Semir und sagte dann deutlich: „Ben-wie wäre es, wenn du dich jetzt aufs Bett legst? Da liegst du doch bequemer als am Boden und dann kriegst du eine Zudecke und ich schaue mir deinen Arm an!“ sagte sie weich und nun nickte ihr Freund und versuchte sich-gestützt von Semir-hochzurappeln. Sarah hatte Semir noch leise zugeflüstert: „Sei vorsichtig, diese Bewusstseinsstände wechseln häufig-er kann in der nächsten Sekunde wieder gefährlich werden!“ aber diesmal ging alles gut.
    Ben legte sich aufseufzend aufs Bett, dessen Laken Sarah zuvor sorgfältig glattgestrichen hatte und nun versuchte Sarah das zu tun, was sie schon lange hatte machen wollen. Sie wusch ihm das verschwitzte Gesicht ab und drehte dann seinen Arm, der auf doppelte Dicke angeschwollen war, nach außen. Ben zog ihn mit einem Schmerzenslaut zurück, aber Sarah hatte schon gesehen, was Sache war. „Ben-du hast einen Spritzenabszess-den muss man aufmachen!“ sagte sie klar und deutlich zu ihm und Semir sah sie unglücklich an. War jetzt alles umsonst gewesen und sie mussten deswegen jetzt doch ins Krankenhaus? Auf seine diesbezügliche Frage schüttelte Sarah den Kopf. „Das kann ich selber-das ist nur ein kleiner Schnitt, damit sich der Eiter entleeren kann, allerdings müssen wir Ben dazu festmachen, denn er wird da nicht freiwillig stillhalten!“ sagte sie und Semir starrte sie entsetzt an. Irgendwie wurde ihm diese Frau so langsam unheimlich, aber trotzdem nickte er mit dem Kopf. „Mach seinen anderen Arm am besten am Bettgestell fest und die Beine fesseln wir auch vorrübergehend mit irgendwas!“ befahl Sarah und erhob sich auch schon, während Semir nach kurzer Überlegung Ben´s eine Hand über Kopf am Bettgestell mit seinen Handschellen festmachte. Dann verließen Sarah und er kurz den Kellerraum, in dem Ben nun wieder vor sich hin phantasierte.


    Hast du denn Instrumente?“ fragte Semir, der sich in den wilden Westen versetzt fühlte, nur hatten sich da die Cowboys mit Branntwein zuvor beinahe bewusstlos gesoffen, bevor man sie dann mit einem Beißholz zwischen den Zähnen operierte-na ja, soviel hatte er zumindest beim Anschauen diverser Filme gelernt. „Ich brauche nicht viel-ich habe oben ein Teppichmesser von den Handwerkern rumliegen sehen-das ist normalerweise sehr scharf. Das ist auch nur ein kleiner Schnitt und dann kann sich der Eiter entleeren. Ben fühlt sich sehr heiß an, ich denke er hat hohes Fieber und braucht dann auch Antibiotika, aber da ist mir schon was eingefallen!“ sagte Sarah und sah sich nun oben in der Baustelle um, was man für ihre Zwecke verwenden konnte. Sie kam mit zwei dünnen Spanngurten und einer Küchenrolle wieder und fragte Semir, ob er ein Feuerzeug habe. Der nickte und holte eines aus einer Schublade. Er war zwar Nichtraucher, aber so etwas hatte man einfach im Haus. Sarah nahm nun das Teppichmesser, machte eine frische Klinge rein-die Ersatzklingen waren ja im Schaft des Messers verborgen und hielt nun das Feuerzeug eine Weile daran. „Das muss auch nicht steril sein!“ erklärte sie Semir. „Die Keime in Ben´s Abszess sind gefährlicher als die in deinem Haus!“ sagte sie und Semir nickte folgsam und half ihr, die Dinge in den Keller zu tragen. Ben war inzwischen wieder ein wenig zu sich gekommen und versuchte seine Hand frei zu bekommen, was aber ein vergebliches Unterfangen war.
    „Ben-wir machen kurz deine Beine fest, damit du dich und uns nicht verletzt und dann eröffne ich den Abszeß!“ teilte ihm Sarah in ruhigem Ton mit und zu Semir´s Erstaunen nickte Ben und hielt auch ganz still, als er nun seine Füße mit den Spanngurten ans Bettgestell fesselte. Sarah hatte aus ihrer Kiste aus dem Krankenhaus nun das Desinfektionsmittel und ein paar Kompressen geholt und Einmalhandschuhe angezogen. Sie bat Semir nun Ben´s Arm nach außen ausgestreckt festzuhalten und obwohl er dabei das Gesicht verzog, weil die Streckung ihm Schmerzen bereitete, hielt Ben ihn willig hin. Anscheinend war er gerade relativ klar. Während Sarah nun das kühle Desinfektionsmittel auf den Arm und die Kompressen sprühte und auch das Teppichmesser damit benetzte, sah Semir erst das ganze Ausmaß des Schadens. Die Ellenbeuge war von einer knallroten, erhabenen Geschwulst bedeckt, die den Eiter durchschimmern ließ. Irgendwie wirkte das, als wäre es sowieso kurz vor dem Platzen und bevor er oder Ben sich nun große Gedanken machen konnten, hatte Sarah einfach zum Teppichmesser gegriffen und mit einer raschen Bewegung einen langen Schnitt quer über die Geschwulst gemacht, woraufhin sich eine Menge Eiter spontan entleerte. Ben hatte kurz aufgekeucht, aber dann überwog die Erleichterung-der Druck und das Pochen waren so schlimm gewesen, dieser klare saubere Schmerz, der sofort Erleichterung brachte war überhaupt nichts im Vergleich zu der Pein vorher. Als Sarah nun noch mit zwei Kompressen den Eiter herausdrückte, stöhnte er zwar kurz auf, aber dann war es fertig. Sarah nahm nun einige saubere Kompressen, breitete die auf der Wunde aus und mit einer elastischen Binde wickelte sie den provisorischen Verband fest. Dann schlang sie ein Handtuch darum und holte klares Wasser aus der kleinen Naßzelle, mit dem sie das Handtuch tränkte. „So Ben-jetzt hast du´s geschafft!“ sagte sie liebevoll und während Semir auf ihr Geheiß nun die Beinfesseln löste, griff Sarah zur Wasserflasche und bot Ben etwas an. Tatsächlich schaffte er es, ein paar kleine Schlucke zu nehmen, ohne sich zu verschlucken und die wieder von sich zu geben. „Ben-du kriegst jetzt dann trotzdem wieder eine Infusion, aber das wird!“ prophezeite Sarah zuversichtlich und nun huschte sogar ein kleines Lächeln über Ben´s Gesicht.


    Die Sekretärin, Mathilde Kern, hatte-kaum dass die Polizisten das Büro verlassen und die Akten und PC´s eingeladen hatten-zu ihrem Telefon gegriffen. „Herbert-hier ist etwas gehörig aus dem Ruder gelaufen!“ teilte sie dem Mann am fernen Bodensee mit und erzählte von Rudolfs Tod und der Beschlagnahmungsaktion der Polizei. „Ich komme sofort!“ beschloss Herbert. Er musste retten, was noch zu retten war.

  • Herbert Redka ließ seine Sachen wo sie waren-das war entweder ein gutes Alibi, falls er gesucht wurde, oder er schaffte es tatsächlich in Köln alles zu seiner Zufriedenheit zu klären und dann wieder hierher zurückzukehren, denn in zwei Tagen hatte er den letzten OP-Termin. Man wollte im Gesicht noch eine Kleinigkeit nachbessern und er hatte sich noch zu einer Bauchstraffung und Fettabsaugung entschieden-wenn schon, denn schon! Er setzte sich, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen in seinen Wagen und kam knappe fünf Stunden später in Köln an. In dieser Klinik war es sowieso wie im Hotel-der Service war unaufdringlich, die Patientenzimmer waren eher Suiten, das Essen war vorzüglich und wurde von Spitzenköchen zubereitet und so ganz nebenher konnte man sich nach Herzenslust verschönern lassen. Er war mit mehreren Mitpatienten ins Gespräch gekommen, die seit Jahren ihren „Urlaub“ hier verbrachten. Zusätzlich zu einer wunderschönen Gegend ließ man sich da verschönern, hier ein paar Fältchen wegspritzen, da die Lippen aufpolstern, den Busen straffen und einige Männer ließen sich sogar Bizepsimplantate einsetzen oder künstliche Sixpacks. Er war völlig fasziniert, was alles möglich war. Aber die Preise waren auch entsprechend und der Professor eine Koryphäe auf seinem Gebiet-hier kam nur her, wer das nötige Kleingeld hatte und dank des Rauschgifthandels war er nun endlich auch in den Kreis der Reichen und Schönen aufgestiegen. Auch Herbert hatte keine feste Freundin-er buchte, wenn er Lust darauf hatte, eine Dame von einem Escortservice, das war unverbindlich und ansonsten genoss er seine Freiheit. Die einzige Konstante in seinem Leben war sein Jugendfreund Rudolf gewesen, der ihn sogar nach der Firmenübergabe seines Vaters in sein Geschäft aufgenommen hatte. Da hatten sie einige Jahre ganz ordentlich verdient, bis der Geschäftsrückgang kam, aber seitdem sie ihre Kontakte ins goldene Dreieck hatten, floss das Geld nur noch so herein. Gut-wenn Rudolf auch tot war, er würde das Geschäft weiterführen, er musste sich dann eben andere Importwege erschließen, wenn die Polizei jetzt alles aufdeckte, aber er hatte sich erkundigt-mit Geld war es keine Schwierigkeit, sich eine neue Identität zu kaufen- und er hatte den Pass mit einem fremden Namen und einer fremden Vita, der an sein neues Aussehen angepasst war, schon in der Schublade liegen.
    Sein Gesicht war noch etwas geschwollen, vor allem die Nase, aber er hatte gute Schmerztabletten dabei und morgen früh würde er in der Schönheitsklinik anrufen und mitteilen, dass er kurz geschäftlich weggemusst hatte-das mussten andere Patienten auch, deshalb war bei der Klinik auch ein Hubschrauberlandeplatz, nicht für Rettungshubschrauber, denn so krank waren diese Patienten üblicherweise nicht, aber für die ganzen Scheichs und die anderen Reichen, die so einen Aufenthalt dort aus der Portokasse zahlten.
    Aber nun war er in Köln angekommen und eines war klar-in seine Wohnung konnte er nicht, denn dort wurde er vielleicht von der Polizei in Empfang genommen. Tatsächlich hatten zwei uniformierte Polizisten im Auftrag der Chefin dort geklingelt, sobald Semir seine Identität herausgefunden hatte, aber sie hatten niemanden angetroffen und der übervolle Briefkasten und die Aussagen der Nachbarn hatten bestätigt, dass der Vogel ausgeflogen war. An die Tür kam ein Siegel und am nächsten Tag würde sich die Spurensicherung die Wohnung ebenfalls vornehmen, aber man hatte schließlich Zeit, alles musste nicht sofort gemacht werden.


    Herbert hatte einen kleinen Imbiss in einer Kneipe am Containerhafen eingenommen. Seinen edlen Anzug hatte er abgelegt und sich dafür in Jeans, ein T-Shirt und einen Grobstrickpullover gehüllt. Ein Käppi auf den Kopf und er unterschied sich nicht mehr von den ganzen Arbeitern die dort rund um die Uhr geschäftig herumliefen, Ladungen löschten usw. Das noch leicht geschwollene Gesicht und die dicke Nase konnten auch von einer Schlägerei herrühren und so hatte er seine Ruhe, als er in aller Seelenruhe seine einfache Mahlzeit verzehrte und ein Kölsch dazu trank. Danach schlenderte er zu den Garagen, die sie gemeinsam gemietet hatten. An dreien davon war ein Siegel angebracht, aber das waren die, wo Rudolf seine Oldtimer untergebracht hatte. An der vierten Garage, die ein wenig abseits lag und in keinem Buch auftauchte, weil die Miete dafür bar bezahlt wurde, klebte kein Siegel. Herbert sah sich unauffällig um, sperrte mit seinem Schlüssel die Nebentür auf und tatsächlich-da drin stand Rudolfs Porsche und da Herbert das Versteck für den Ersatzschlüssel wusste, konnte er ihn öffnen und wie erwartet-da waren zwei große Taschen Rauschgift aus der letzten Lieferung drin. Rudolf hatte sich bei ihm am Telefon beklagt, dass er das ganze Zeug alleine hatte umpacken und sich dabei die halbe Nacht um die Ohren hatte schlagen müssen. Voller Wehmut dachte Herbert an seinen Freund-er hatte ihn wirklich gern gehabt-aber er würde ihn rächen und dann in seinem Sinne die Geschäfte weiterführen-und mit Geschäften meinte er jetzt nicht die offizielle Firma, sondern ihren Handel mit dem weißen Gold!


    Nach kurzer Überlegung ließ er das Rauschgift wo es war-er würde, wenn er seine Sache hier in Köln erledigt hatte, wieder hierherkommen, die beiden Taschen mitnehmen und dann in Ruhe überlegen, wie er weitermachen würde, aber im Augenblick war dieser Platz so sicher wie sein Auto und mehr hatte er an Verstecken nicht zu bieten. Dann holte er das kleine Feldbett heraus, das sie immer zum Ausruhen in der Garage hatten, deckte sich mit einer Wolldecke zu und schlief eine Runde. Morgen würde er einen Plan schmieden, wie er an Jäger und seinen Freund rankam, jetzt in der Nacht konnte er eh nichts ausrichten!


    Sarah hatte Semir nach kurzer Überlegung gebeten: „Semir, wie wäre es, wenn wir Ben mit dem einen Arm am Bettgestell einigermaßen bequem festmachen, ich lege ihm dort die Infusion und dann setze ich mich daneben. So kann ich ihn gefahrlos überwachen und du kannst später wieder nach Hause zum Schlafen!“ sagte sie. Semir öffnete die Handschellen am Bettgestell und befestigte sie nun weiter unten am Bett, so dass Ben bequem liegen konnte. Sarah legte ihm routiniert einen Zugang, verklebte den gut und schon tropfte wieder zügig die Vollelektrolytlösung in ihn. Im Krankenhaus würde man ihm jetzt noch allerlei Vitamine zukommen lassen, man würde engmaschig die Blutwerte kontrollieren und etwaige Mängel ausgleichen, aber so hatte er wenigstens ausreichend Flüssigkeit und alles andere würde sich hoffentlich normalisieren, wenn er wieder essen konnte. Ben hatte immer noch hohes Fieber und dämmerte vor sich hin und Semir blieb erst einmal da, während ihn Sarah liebevoll mit lauwarmem Wasser herunter wusch. Ben wehrte sich nicht, schien die Berührungen zu genießen und war auch in keinster Weise aggressiv. Nachdem die Durchfälle anscheinend aufgehört hatten, zog ihm Sarah eine normale Unterhose und ein frisches T-Shirt an und Semir passte auf, dass Ben auch nichts machte, aber das funktionierte problemlos. Nur als sie ihn fragten, wo er denn wäre und wer sie seien, sagte Ben nur schwach: „Ich weiss nicht?“ und so wechselten die beiden Helfer einen traurigen Blick-der Entzug war noch nicht vorbei!


    Ein wenig später fuhr Semir nach Hause und holte das Essen und Trinken, das Andrea vorbereitet hatte. „Andrea, ich komme morgen früh kurz vorbei, bleibe heute Nacht aber bei Sarah und Ben!“ kündigte er an und erzählte Andrea, ohne dass die Kinder das mitkriegten, wie das in ihrem Haus so ablief. Andrea schlug die Hände vor den Mund-so schlimm hätte sie sich das nicht vorgestellt! Semir beschäftigte sich ganz kurz mit seinen Kindern-klar tat es ihm leid, dass er sie jetzt nicht zu Bett bringen konnte, aber man musste Prioritäten setzen und sein Freund brauchte ihn gerade notwendiger!

  • Wenig später war Semir wieder zurück bei Sarah und Ben. Er machte heute selber das Essen warm und als er wenig später in den Kellerraum schaute und freundlich sagte: „Sarah-das Essen ist fertig, geh´doch nach oben-ich passe derweil auf Ben auf!“ erwiderte sie mit einem kurzen Blick auf ihren Freund, der recht ruhig da lag. „Ich denke, wir können es verantworten, alle beide nach oben zu gehen, ich mag nicht alleine essen!“ sagte sie dann. Nach kurzem Nachdenken ging sie zu ihrem Laptop und wenig später zeigte sie Semir mit triumphierendem lächeln ihr Handydisplay, auf dem man nun das Kamerabild ebenfalls erkennen konnte. „Habe ich mir doch gedacht, dass das geht!“ sagte sie dann und so nahmen sie gemeinsam eine wohlschmeckende Mahlzeit ein. Semir war zwar selber auch müde, aber er sah besorgt auf Sarah, die sehr blass und angegriffen wirkte. „So Sarah-ich sag dir jetzt was. Du wirst dich nach dem Essen hinlegen und ich bleibe heute Nacht bei Ben. Ich sehe dir doch an, wie fertig du bist-das ist auch nicht gut für das Kind. Wenn sich irgendetwas verändert, hole ich dich sofort, aber du musst einmal wieder richtig schlafen!“ erklärte er ihr und nach anfänglichem Protest willigte Sarah ein, denn irgendwie hatte sie selber das Gefühl, dass sie nicht mehr lange konnte. Die ganze Situation zerrte an ihren Nerven, ihre Beine waren von der Schwangerschaft dick und angelaufen und schrien förmlich danach, ein paar Stunden hochgelegt zu werden. Wegen sich hätte sie sich keine Pause gegönnt, aber sie war es wirklich ihrem gemeinsamen Kind schuldig, das sowieso für seine Verhältnisse sehr ruhig war. So nahm, nachdem sie gemeinsam abgespült hatten, Semir den Platz auf dem bequemen Stuhl an Ben´s Seite ein, während Sarah erst duschte und ihre Haare wusch und sich dann erschöpft aufs Bett im Büro legte. Einmal stand sie noch kurz auf und hängte die frische Infusionsflasche an, damit Ben auch ausreichend Flüssigkeit bekam, aber dann legte sie sich endgültig flach, schaltete auch Handy und Laptop aus und war vor Erschöpfung binnen Kurzem eingeschlafen.


    Semir sah sinnend auf seinen Freund. Sarah hatte er während des Essens vom Tod der ersten Dealers erzählt. Sie hatte ihn ernst und fragend angesehen: „Semir-hast du ihn absichtlich erschossen?“ wollte sie wissen, aber Semir schüttelte den Kopf. „Nein Sarah, das wäre Totschlag-da könnte ich nicht mehr mit mir selber zurechtkommen. Frau Krüger und ich haben beide gleichzeitig auf den Mann geschossen, um unseren Freund und Kollegen Hartmut zu retten. Sonst hätten wir ihn festgenommen und wenn er dann gegen Ben und mich ausgesagt hätte, dann wäre es eben so gewesen. Auch wenn Ben kein Polizeibeamter mehr wäre-er ist ja finanziell abgesichert und es gibt sicher noch andere Berufe, die ihm und mir Spaß machen würden. Dann müssen wir halt in den Personenschutz, oder bei einer privaten Sicherheitsfirma anfangen-oder wir eröffnen eine Detektei-das Leben wird weitergehen. Immerhin ist der zweite Mann ja noch auf freiem Fuß. Wir wissen zwar inzwischen, wie er heißt, aber leider nicht, wo er sich aufhält. Deshalb könnt ihr auch noch nicht in die Wohnung zurück, auch wenn es Ben besser gehen sollte-erst muss der verhaftet sein, sonst seid ihr nicht sicher!“ hatte er ihr erklärt und Sarah hatte verständig genickt und nach einer Weile leise gesagt: „Semir, ich bin sehr froh, dass du den Mann nicht absichtlich getötet hast-irgendwie erleichtert mich das!“ und als Semir sie daraufhin prüfend angeblickt hatte, hatte er Tränen in ihren Augen schimmern sehen.


    Semir sah nachdenklich auf seinen Freund, der auf dem Metallbett vor sich hindämmerte. Er sah sehr schlecht aus, wirkte erschöpft und eingefallen und immer wieder murmelte er irgendeinen kaum verständlichen Blödsinn. Er hatte die Augen geschlossen, die Schweißtropfen standen auf seiner Stirn und er hatte die Zudecke beiseite gestrampelt. Semir stand hin und wieder auf, erneuerte den kalten Umschlag auf Ben´s Arm und wusch ihm das Gesicht ab. Er öffnete dann immer kurz die Augen, aber kein Schimmer des Erkennens glitt über sein Gesicht. Er war immer noch in einer anderen Welt und als Semir zwischendrin Satzfetzen verstehen konnte, zog es ihm das Herz vor Mitleid zusammen. Es waren Ausschnitte, wie Filmsequenzen, aus früheren Fällen, meist welche, in denen es Ben nicht allzu gut ergangen war. Eine große Wut überkam ihn auf die Leute, die ihm das angetan hatten. Klar war nur der erste Drogenkonsum unfreiwillig erfolgt, aber Semir hatte in seiner Ausbildung gelernt, dass bei Heroin dieses sogenannte: „Anfixen“, also der erste Gebrauch schon süchtig machte. Das war anders als bei anderen Drogen, wo die Zeit des Konsums ebenfalls eine Rolle spielte. Außerdem war Ben immer noch physisch wie psychisch angegriffen gewesen-zu viel war ihm im letzten Jahr widerfahren, als dass er das einfach so wegstecken konnte. Der Heroinkonsum hatte ihm wahrscheinlich die einzigen völlig unbeschwerten Momente beschert und so war das durchaus verständlich, dass er da in kurzer Zeit so abgerutscht war. Aber trotzdem hatte er irgendwie das Gefühl, dass die schlimmsten körperlichen Sachen des Entzugs jetzt vorbei waren-jetzt musste sich nur noch der Verstand bei seinem Freund klären, dann konnten sie wieder in die Zukunft blicken.


    Die Stunden vergingen und irgendwann war Semir dann doch auf seinem Stuhl eingedämmert. Mitten in der Nacht wachte er auf, weil ihn jemand am Arm berührte. Als er hochschrak und in einer fließenden Bewegung aufsprang und nach seiner Waffe griff, bemerkte er im nächsten Moment, dass es Ben gewesen war, der ihn mit seinem verbundenen Arm vorsichtig berührt hatte. Als er ihn musterte, bemerkte er, dass der ihn mit zwar fiebrigen Augen, aber sonst klar ansah und die nächsten Worte bestätigten seinen Eindruck, denn Ben sagte unglücklich: „Semir, ich muss pinkeln!“


    Redka hatte ein paar Stunden geschlafen und war am frühen Morgen einigermaßen ausgeruht erwacht. Er warf eine Schmerztablette ein, denn sein frisch operiertes Gesicht ziepte noch ganz ordentlich und dann räumte er sorgfältig das Feldbett auf. Er ging wieder in die Hafenkneipe, die rund um die Uhr geöffnet hatte und bestellte sich einen Kaffee und Rührei mit Schinken. Das war zwar kein Frühstücksbuffett wie in der Schönheitsklinik, aber den Bauch füllte es auch und so ging er nun frisch gestärkt zu seinem Wagen. Er hatte während des Frühstücks überlegt, wie er nun weiter verfahren wollte. Er würde diesen Ben Jäger und Semir Gerkhan finden und töten-das war er seinem verstorbenen Freund schuldig. Das waren auch die Einzigen, die ihn identifizieren könnten und so verändert wie er jetzt schon aussah, war das sicher gar nicht mehr so leicht, wenn nicht sogar unmöglich. Er würde jetzt zunächst einfach zur Wohnung dieses Jäger fahren und ihn und dessen kleines Frauchen erledigen-die Konkurrenz auf dem Kölner Drogenmarkt sollte auch erfahren, dass man sich mit einem Herbert Redka nicht anlegte!

  • Semir war erleichtert. Der Adrenalinschub, der ihn hatte aufspringen lassen, war gar nicht nötig gewesen. Er steckte die Waffe weg und fragte: „Ben,wo bist du?“ und der antwortete: „Na in deinem Keller, um von den blöden Drogen wegzukommen, aber das ändert jetzt trotzdem nichts an der Tatsache, dass ich aufs Klo muss!“ sagte er und nun hätte Semir weinen können vor Glück. Ben war wieder bei ihnen! Er schloss die Handschelle auf und Ben wollte sich aufrichten, um zur Toilette zu gehen. Allerdings wurde er, kaum dass er in die Senkrechte kam und die Beine aus dem Bett schwang, leichenblass und verdrehte die Augen. Semir beeilte sich, ihn wieder hinzulegen. „Ben ich denke, dein Kreislauf macht noch nicht mit!“ sagte er, während sich sein Freund schwer atmend langsam wieder fing. „Ich muss aber trotzdem!“ sagte der unglücklich und nun rutschte Semir den Eimer näher. „Dann muss das so gehen!“ sagte er und Ben erleichterte sich im Liegen. Semir machte ihn nicht mehr fest, denn mit seiner nächsten Frage bewies ihm Ben, dass er wirklich wieder bei Sinnen war: „Wo ist Sarah und wie geht´s der und dem Baby?“ wollte er wissen und Semir antwortete wahrheitsgemäß: „Die liegt im Nebenraum und schläft, aber es geht ihr schon einigermaßen!“ erzählte er seinem Freund und der atmete auf. „Gott sei Dank!“ sagte er voller Insbrunst und schloss dann wieder erschöpft die Augen. Ihm war immer noch sehr warm und so hatte er die dicke Decke weit von sich gestrampelt, drehte sich jetzt zur Seite und verkündete: „Ich muss jetzt auch noch ein Ründchen schlafen!“ Die Infusion tropfte immer noch langsam in ihn und wenig später war er eingeschlafen.
    Semir nahm nach kurzer Überlegung und einem Blick auf die Uhr-es war gerade drei-die herausgeworfene Zudecke, legte sie vor Ben´s Bett auf den Boden, kontrollierte, ob sein Handywecker richtig gestellt war und streckte sich dann auf der Zudecke aus. Wenig später war auch er in Morpheus Armen.


    Als Sarah nach erstaunlicherweise traumlosem und erholsamem Schlaf kurz nach sieben von den munteren Tritten ihres Kindes erwachte, schaltete sie erst-noch ein wenig schlaftrunken-den Laptop ein. Voller Entsetzen sah sie Semir auf dem Boden liegen und stürzte deshalb ohne nachzudenken in den Kellerraum. Was um Himmels Willen war da geschehen? Als sie allerdings mit zwei Schritten bei den beiden Männern war und laut und erschrocken rief: „Semir, was ist passiert?“ sahen sie vier Augen schlaftrunken an. „Jetzt mach doch nicht vor Tau und Tag so einen Lärm!“ sagte Ben nun und jetzt war es an Sarah, vor Freude in Tränen auszubrechen.
    Semir richtete sich gähnend auf. In wenigen Minuten hätte sowieso sein Wecker geläutet. Er vergewisserte sich, dass Sarah wirklich keine Gefahr mehr drohte, aber Ben hatte zwar an die letzten Stunden nur verschwommene Erinnerungen aber generell sagte er ehrlich: „Ich habe jetzt kein Verlangen nach Drogen mehr, fühle mich aber schwach und fiebrig!“ und das mit dem fiebrig konnte Sarah nur bestätigen, als sie ihn anfasste. „Semir, Ben muss noch liegenbleiben und sich erholen, aber ich habe in unserer Wohnung im Medizinschrank im Bad eine volle Packung Breitbandantibiotikum. Das hat der Hausarzt Ben vor einiger Zeit wegen einer schweren Erkältung aufgeschrieben, aber ich habe ihn dann überredet, das erst mal mit Hausmitteln zu kurieren und es hat geklappt. Das Fieber kommt fast mit Sicherheit von dem Arm-wenn wir Glück haben sind die Keime darin im Wirkspektrum. Könntest du uns das vielleicht noch holen, bevor du zum Dienst gehst?“ fragte sie und Semir nickte. „Ich muss heute wieder erst um neun anfangen. Ich schlage vor, ich gehe jetzt kurz nach Hause, dusche und bringe uns dann Frühstück. Danach hole ich das Medikament und dann gehe ich zum Dienst!“ sagte er und Sarah und sein Freund nickten zustimmend.


    Semir stand also auf und war wenig später in sein vorrübergehendes Zuhause verschwunden, wo Andrea mit den Kindern schon wieder ausgeflogen war. Neben dem vorbereiteten Frühstück lag ein Zettel: „Lieb dich!“ stand darauf und Semir blieb kurz mit einem breiten Lächeln stehen, bevor er rasch unter die Dusche sprang und die Kleidung wechselte. Er schrieb auf die Rückseite des Zettels: „Ich liebe dich auch!“ und nach kurzer Überlegung pinnte er ihn mit einem Magneten an den Kühlschrank. Wenn das alles vorbei war, mussten sie sich auch bei Andrea ganz arg für ihre Hilfe im Hintergrund bedanken. Sie war bewusst die letzten Tage nicht im Haus gewesen, denn vormittags musste sie arbeiten und nachmittags waren ja die Kinder immer da und die sollten von dieser ganzen Sache nichts mitbekommen.
    Frisch angezogen und einigermaßen fit packte er den Korb und fuhr wieder zu seinem Haus zurück. Dort hatte sich auch Sarah derweil gerichtet und war nun gerade dabei, Ben im Bett zu waschen. „Er wollte erst abwehren, aber dann stellte er fest, dass er leider immer noch schwer angeschlagen war und ihm verdammt schwindlig wurde, wenn er sich nur ein wenig aufrichtete. Sarah hatte ihm geholfen, im Liegen die Zähne zu putzen und als sie ihm nach der Waschung sein Lieblingsdeo aufsprühte, hatte er sie liebevoll angelächelt. „Was würde ich nur ohne dich tun!“ sagte er und da stand auch schon Semir vor ihnen. Er holte einen kleinen Klapptisch in den Kellerraum und sie versuchten Ben dazu zu bringen, wenigstens ein paar kleine Bissen zu nehmen, aber davor ekelte es ihn noch. Auch Kaffee oder Tee konnte er noch nicht trinken, aber immerhin blieb das Wasser jetzt drin. Nach dem Frühstück sah Semir auf die Uhr. „Jetzt muss ich mich aber sputen!“ bemerkte er, ließ sich nochmal den Namen des Medikaments sagen und war wenig später unterwegs zu Ben´s und Sarah´s Wohnung.


    Herbert Redka war inzwischen zu Jäger´s Behausung gefahren. Die Tiefgarage war ein wenig offen und so konnte er nach einem kurzen Blick hinein sehen, dass der silberne Mercedes nicht da war. Allerdings stand der Wagen von dessen Freundin vor dem Haus-vermutlich war wenigstens die zuhause. Gerade als er sich einen Plan zurechtlegen wollte, wie er in die Wohnung käme, fuhr dieser Semir Gerkhan mit seinem silbernen BMW vor, sperrte die Haustüre auf und rannte zur Wohnung des Paares. Ein paar Minuten später kam er-zwei Stufen auf einmal nehmend-wieder herunter, sprang in seinen Wagen und war auch schon wieder unterwegs. Redka hatte kurz überlegt, aber dann folgte er ihm. Jäger und sein kleines Frauchen würde er schon noch erwischen, da hatte er keine Sorge, aber jetzt musste er wissen, wo der Mörder seines Freundes hinfuhr.

  • Semir kehrte eilig zu seinem Haus zurück. Verdammt-wenn jetzt irgendwo ein Stau war, würde er zu spät zur Arbeit kommen und er wollte Frau Krüger nun mal lieber keinen Angriffspunkt bieten. Er achtete deshalb auf nichts anderes als den Verkehr und bemerkte so auch nicht, dass er einen Verfolger hatte. Angekommen ließ er den Motor laufen und eilte zur Haustür, die schon von innen geöffnet wurde. Redka, der auf der Straße angehalten hatte, konnte sehen, dass die von innen aufgemacht wurde und Jägers schwangere Frau oder Freundin ein kleines Päckchen entgegennahm, Gerkhan sich daraufhin umdrehte, sofort wieder in sein Auto stieg und mit quietschenden Reifen zurücksetzte und davon fuhr.
    Ah-das war interessant! Sie hatten bereits versucht, die Adresse des zweiten Polizisten herauszubringen, aber der stand in keinem Adress-oder Telefonverzeichnis. Dieses Haus war im Umbau begriffen-draußen waren einige Handwerkerschilder angebracht, in einer Ecke des Gartens stand ein Bauzaun und wenn man genau hinsah, konnte man sehen, dass Teile des Dachs neu waren. Auch einige Rußspuren waren an der Fassade zu erkennen-vermutlich hatte es hier gebrannt und die Hütte wurde gerade wieder bewohnbar gemacht. Herbert Redka parkte ein Stück weit entfernt seinen Wagen und schlenderte unauffällig näher. Im Inneren des Hauses war keine Bewegung zu erkennen und er überlegte nun, was er tun sollte. Er wollte gerade das Grundstück betreten, da kam eine ältere Frau mit einem kleinen Hund an der Leine um die Ecke. „Wenn sie zu Familie Gerkhan wollen-die wohnen im Augenblick zwei Querstraßen weiter. Nach dem Brand ist das Haus noch nicht bewohnbar!“ teilte sie ihm vertrauensvoll mit und Redka bedankte sich und ließ sich die neue Adresse geben. Na da hatte er vermutlich gerade zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Er wusste nun, wo Gerkhan mit seiner Familie wohnte und Jäger hatte vermutlich gedacht, er könne sich vor seiner Rache verstecken, denn wo das schwangere Frauchen war, war Jäger sicher nicht weit. Aber da hatte er die Rechnung ohne ihn gemacht!
    Gemächlich schlenderte er zur aktuellen Wohnung des kleinen Türken und stellte fest, dass der anscheinend gerade das obere Stockwerk eines Hauses bewohnte. Aber auch da kam gleich eine Frau heraus, als er vor der Haustür stehenblieb und die Klingelschilder musterte. „Wenn sie zu Familie Gerkhan wollen, müssen sie nachmittags oder abends wiederkommen, die sind beide arbeiten und die Kinder in Schule und Kindergarten!“ vertraute sie ihm an und Redka bedankte sich mit einem freundlichen Lächeln für die Auskunft. Verdammt, das war der Nachteil solcher reinen Wohngebiete. Man kannte seine Nachbarn und achtete auch auf Fremde. Wenn er hier tätig werden wollte, musste er den Schutz der Nacht abwarten. Er schlenderte wieder zu seinem Fahrzeug zurück, aber als die nächsten drei Passanten ihn neugierig gemustert hatten, ließ er den Motor an und fuhr davon.
    Das Wetter war schön, darum fuhr er zum Rheinpark, setzte sich dort auf eine Bank und begann zu telefonieren. Er organisierte den nächsten Deal für die kommende Woche. Danach suchte er sich auf einer Wiese unter einem Baum ein schattiges, ruhiges Plätzchen und schlief ein wenig vor-das würde für ihn eine anstrengende Nacht werden!


    Semir war indessen in der PASt angekommen. Schlag neun betrat er sein Büro und wurde von der Chefin mit einem feinen Lächeln begrüßt. „Gerkhan, das muss ich ihnen lassen! Im Gegensatz zu Jäger verfügen sie über einen Sinn für Pünktlichkeit und das gefällt mir!“ sagte sie. Sie registrierte zwar, dass Semir dunkle Ringe unter den Augen hatte, als hätte er zu wenig geschlafen, aber insgesamt wirkte er wesentlich entspannter als gestern. „Ich schlage vor, wir beide nehmen uns heute erst mal die Wohnung von diesem Redka vor. Die Spusi steht schon in den Startlöchern!“ teilte sie ihm mit und Semir nickte. Auch dieser Schweinehund musste nun noch überführt werden und innerlich fand er die Idee mit dieser Detektei gar nicht mehr so schlecht, falls das Ben und ihn den Job kosten würde, aber das Leben würde weitergehen und bei ihm überwog eindeutig die Erleichterung, dass der schlimmste Teil des Entzugs bei Ben wohl vorbei war. Gemeinsam hatten sie es geschafft und Sarah hatte ihm versichert, dass nun die Infektion bei Ben im Vordergrund stand, aber sobald sie Redka geschnappt hatten, war es durchaus möglich, einen Arzt zu Ben zu rufen, oder ihn ins Krankenhaus zu bringen, falls es nötig war.


    So fuhren wenig später zwei Fahrzeuge vor dem Häuserblock vor, in dem die Wohnung des Gesuchten war und sie erbrachen das angebrachte Siegel und nahmen sich die schön eingerichtete Vier-Zimmer-Wohnung vor. Der Eigentümer hatte Geschmack, das konnte man sehen und auch im Kleiderschrank war nur hochwertige Kleidung. Die Unterlagen wurden zum Fahrzeug der Spurensicherung gebracht-die würde man später in der PASt auswerten. Semir ließ seine Blicke schweifen und nahm sich dann den ordentlichen Zeitungsständer im Wohnzimmer vor. Dabei fielen ihm mehrere Broschüren verschiedener Schönheitskliniken und plastischer Chirurgen überall in Deutschland auf. Nachdem nicht die geringste Spur in der Wohnung war, die auf eine Frau hindeutete, hatte sich wohl Redka selber für dieses Informationsmaterial interessiert, aber würde sie das weiterbringen? Semir ließ auch das einpacken und einige Zeit später fuhr die Spusi mit ihrem Transporter mit mehreren Kisten ab und Semir und die Chefin erneuerten das Siegel und verließen die Wohnung. Sie läuteten noch bei allen Nachbarn, aber keiner hatte näheren Kontakt zu Redka gehabt, der in dieser Wohnung auch noch nicht so lange wohnte. Das waren alles Eigentumswohnungen und der Preis war ganz schön happig, sowas konnte sich der Otto-Normalverdiener gar nicht leisten.


    Der nächste Weg nach einem kleinen Mittagessen führte sie zum Hafen und dort untersuchten sie wieder mithilfe der Spusi die Garagen und die Geschäftsräume, in denen die importierten Waren verpackt und versendet wurden. Als Semir ein paar der edlen Handtaschen näher begutachtete-die würden Andrea auch gefallen- rieselte aus einer ein weißes Pulver. Ein Rauschgiftspürhund wurde angefordert und der schlug auch sofort an. Nun rückte auch Bauer von der Rauschgiftfahndung mit seinen Leuten an und tatsächlich fand man überall Spuren von Drogen. Die Dealer hatten bisher ein wahnsinniges Glück gehabt, dass man sie noch nicht überführt hatte, so dilettantisch, wie sie sich teilweise angestellt hatten. Da war anscheinend so manche der Plastiktüten undicht gewesen und auch in den übrigen Garagen, in denen Oldtimer standen, waren überall Rauschgiftspuren nachweisbar. „Zusammen mit den Daten aus der Firma werden wir sicher die Lieferanten ausfindig machen können-ich denke uns ist gerade ein großer Coup gelungen!“ freute sich Bauer, allerdings fanden sie nirgends eine größere Menge Stoff. „Wir müssen uns auch nochmal mit der Sekretärin unterhalten, vielleicht weiß die mehr als sie vorgibt!“ beschloss Semir, aber nun drängte sich Bauer regelrecht dazwischen. „Darum braucht ihr euch nicht zu kümmern, die nehmen wir uns vor!“ sagte er und Semir und die Chefin zuckten mit den Schultern. Sollten sie es machen-bei ihnen war die Personaldecke eh gerade sehr dünn.


    „Chefin-haben sie was von Hartmut gehört?“ fiel Semir nun ein. Er war fast ein wenig schuldbewusst, dass er seinen Freund und Kollegen dermaßen verdrängt hatte. Die Chefin nickte. „Mit dem habe ich heute Morgen schon telefoniert. Er ist gestern Abend noch operiert worden, aber es geht ihm den Umständen entsprechend gut und er darf morgen vermutlich schon wieder nach Hause. Frau Dorn hat bis zum Abend im Krankenhaus gesessen und sich erst von ihrer Mutter abholen lassen, als Hartmut aus dem Aufwachraum gekommen ist und sie sicher sein konnte, dass es ihm gut geht!“ konnte sie ihm mitteilen. „Chefin-meinen sie nicht, wir sollten ihn noch kurz besuchen?“ schlug Semir nach einem Blick auf die Uhr vor. Es war gerade 16.00 Uhr-so konnten sie vielleicht die letzte Stunde noch rumbringen, ohne eine neue Arbeit anzufangen. Die Chefin willigte ein und wenig später standen sie im Marien und klopften an die Tür des Zimmers, das ihnen an der Pforte genannt worden war.

  • Ein kurzes „Herein!“ ertönte und als sie eintraten saß Jenni neben Hartmut´s Bett und strich sich gerade eine Haarsträhne aus dem geröteten Gesicht. Die beiden wirkten, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt, so unsicher sahen sie aus. „Wie geht´s ihnen beiden denn?“ wollte die Chefin wissen, die sich ein Lachen verkneifen musste und schüttelte ihnen die Hand, woraufhin Semir sich anschloss. Hartmut antwortete als Erster, weil Jenni zunächst nichts sagte: „Mir geht´s schon wieder relativ gut. Ich darf den Fuß nur die nächsten Wochen nicht belasten, weil der Knochen und eine Arterie von der Kugel verletzt wurden, aber sonst bin ich okay!“ sagte er und sah daraufhin Jenni aufmunternd an. „Bei mir war auch nichts weiter kaputt, nur der Bluterguss ist ein wenig größer geworden!“ berichtete die und nun war es an Semir aufmunternd zu sagen: „Na das ist ja prima!“ „Ich darf auch morgen schon heim!“ fügte Hartmut hinzu und nun überlegte Semir: „Na dann schließt ihr beiden euch am besten zusammen. Der eine ist am Bein gehandikapt und die andere am Arm-da könnt ihr euch ja perfekt aushelfen!“ witzelte er und Hartmut, der die Ironie in seiner Stimme überhaupt nicht bemerkt hatte, sagte ernsthaft: „Genau das haben wir vor! Jenni zieht so lange zu mir, denn sie packt es noch nicht, in ihre Wohnung zurück zu gehen und mir ist damit auch geholfen, denn ich soll ja nicht so viel laufen!“ erklärte er und nun mussten sich sowohl Semir als auch die Chefin ein Schmunzeln verkneifen. Die beiden waren irgendwie so süß miteinander-und man merkte ihnen deutlich an, dass sie unsicher waren, ob die Chefin wohl von einer Beziehung zwischen ihnen wissen durfte.
    „Dann wünsche ich ihnen beiden eine gute Besserung!“ sagte die Krüger, reichte ihnen die Hand und drehte sich zum Ausgang. Auch Semir verabschiedete sich, nicht ohne sich nach vorne zu beugen und ihnen verschwörerisch zuzuflüstern „Andrea und ich waren auch Arbeitskollegen, als wir zusammen gekommen sind- das ist kein Problem!“ woraufhin er sich umdrehte und das Krankenzimmer verließ. Als die Tür geschlossen war sahen er und Kim sich an und beide senkten schmunzelnd den Kopf zu Boden. Nur die Chefin sagte träumerisch: „Wie Teenager!“ und da konnte Semir ihr nur zustimmen.


    Sie waren gerade auf dem Weg nach draußen, als das Telefon der Krüger läutete. Sie hörte schweigend zu und informierte dann Semir: „Das war der Pathologe. Inzwischen liegt der Obduktionsbefund vor: Heimer wurde von zwei Kugeln-eine von ihnen, eine von mir- direkt ins Herz getroffen. Welche den Tod letztendlich verursacht hat, wird man nie klären können. Ich habe aber schon mit der Staatsanwaltschaft telefoniert, wir haben keine Konsequenzen für diesen finalen Rettungsschuss zu befürchten. Sie haben meinen schriftlichen Bericht akzeptiert und sie sollten morgen dann ebenfalls noch einen verfassen. Aber jetzt bringen sie mich bitte zurück zur PASt und machen dann Feierabend-ach ja und Gerkhan-schlafen sie sich mal wieder richtig aus-sie sehen furchtbar aus!“ fügte sie dann noch hinzu und Semir wandte betreten den Blick zur Straße, verdammt, sah man ihm das wirklich dermaßen an?


    Inzwischen war es siebzehn Uhr geworden und Semir ließ die Chefin aussteigen und rauschte dann so zügig, wie der Verkehr es zuließ, nach Hause. Von unterwegs rief er Sarah an: „Wie geht´s euch? Soll ich erst bei euch vorbeikommen, oder gleich das Essen mitbringen?“ wollte er wissen und Sarah sagte: „Du kannst ruhig erst nach Hause fahren-uns geht´s soweit gut. Könntest du vielleicht noch eine Packung Zwieback besorgen? Das wäre ganz lieb!“ fügte sie hinzu und Semir fuhr beim nächsten Supermarkt kurz raus und besorgte das Gewünschte. Für Andrea nahm er nach kurzem Nachdenken noch eine Schachtel Lindt- Pralinen und für die Kinder Gummibärchen mit. Es würde sich alles zum Guten wenden-er fühlte das!

  • Sarah und Ben hatten einen intensiven Tag miteinander verbracht. Ben war zwar körperlich noch schwach, müde und auch fiebrig, aber geistig war er voll auf der Höhe und von der Psychose, die ihn im akuten Entzug heimgesucht hatte, war keine Spur mehr zu entdecken. „Sarah, welches Datum haben wir heute?“ wollte er wissen. Als Sarah es ihm sagte, wunderte er sich leise. „Ich hätte gedacht, es wäre viel mehr Zeit vergangen, seit wir unsere Wohnung verlassen haben. Gefühlt waren es eher Wochen als Tage und dabei kann man das ja noch locker in Stunden zählen!“ sagte er nachdenklich, woraufhin ihn Sarah beruhigte. „Das erzählen meine Patienten auch immer. Das Zeitgefühl geht da anscheinend völlig verloren!“ sagte sie. Ben nickte ganz in Gedanken. „Weisst du-ein wenig habe ich schon mitgekriegt, aber dann war es wieder so schlimm. Ich war in der Vergangenheit, an Orten wo ich früher gewesen bin und einschneidende Dinge erlebt habe und das war für mich so real, als würde es tatsächlich in diesem Augenblick erneut geschehen. Manchmal stand ich außerhalb meines Körpers und habe von oben auf mich herabgesehen-und glaub mir, ich habe das wirklich so empfunden, obwohl mein Verstand mir jetzt sagt, dass das unmöglich ist!“ berichtete er und Sarah nickte nur, ohne einen Ton dazu zu sagen. Auch die ganzen Nahtoderfahrungen, über die ihre Patienten berichteten, wurden in der Literatur über Nervenreizungen, chemische Prozesse und Ähnliches im Gehirn erklärt, aber Sarah hatte beschlossen, dass man einfach nicht alles erklären können musste. Was wusste man über das Leben nach dem Tod, über Glauben, Gefühle und viele andere unerklärliche Dinge. Man konnte sich einfach eine gewisse Neugier aufheben, was später einmal kommen würde-und wenn das alles nur Chemie war, gut, dann war das eben so, aber man lebte sich leichter, wenn man da nicht so genau darüber nachdachte.


    Nun stellte Ben die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf den Nägeln brannte: „Sarah, ich trau mich fast nicht zu fragen, aber habe ich dir, Semir oder irgendjemand anderem etwas getan?“ wollte er mit Bangen in der Stimme wissen, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Nein Ben, nichts Schlimmes- wir wussten uns zu schützen und ich hatte eine relativ realitätsnahe Vorstellung davon, was passieren würde!“ erklärte sie ihm und Ben sah sie nun mit seinen dunklen Augen intensiv an. „Sarah, du bist die Liebe meines Lebens und ich bin wahnsinnig froh, dich gefunden zu haben. Ich weiss, der Zeitpunkt ist eigentlich völlig unpassend und ich habe auch nichts vorbereitet, keine Ringe-nicht mal nen Blumenstrauß, aber ich frage dich hier und jetzt: Sarah, willst du mich heiraten?“ wollte er wissen und versuchte nebenbei das Bett zu verlassen und vor ihr auf die Knie zu sinken, was aber am Schwindel scheiterte. Sarah war einen Augenblick überrascht und gerührt-wie sehr hatte sie diese Frage herbeigesehnt, aber sie sagte nun mit fester Stimme: „Ben, ich würde gerne ja sagen und bevor du mit den Drogen angefangen hast, wäre das keine Überlegung gewesen und ich hätte sofort zugestimmt, aber jetzt möchte ich gerne noch ein bisschen warten, wie das mit dem Entzug weitergeht. Du bist noch lange nicht geheilt und ich muss jetzt einfach an mein-an unser-Kind denken. Frag mich in einem Monat nochmal und dann kriegst du eine Antwort!“ vertröstete sie ihn und Ben fiel nun das Gesicht herunter. Das hätte er nicht gedacht, dass er beim ersten Heiratsantrag seines Lebens dermaßen abgeschmettert wurde, aber nun zuckte Sarah zusammen und verzog ein wenig das Gesicht. „Sarah-was ist los?“ wollte Ben alarmiert wissen und Sarah teilte ihm nun leise mit: „Unser Kind war gerade mit meiner Antwort nicht einverstanden!“ und nun zog Ben Sarah einfach zu sich auf sein Lager, positionierte sich hinter sie und legte beide Hände auf ihren Bauch. „Baby-wer immer du bist, aber bitte hilf mir die Mama für mich zu gewinnen!“ sagte er laut, während das Kind sich schon wieder in seine schützenden Hände schmiegte. Bei Sarah und auch bei ihm begannen die Tränen zu fließen und während das Kind ganz ruhig wurde, flüsterte Ben seiner Geliebten ins Ohr: „Ich hoffe unser Baby sagt dir, welches die richtige Entscheidung ist!“ und Sarah nickte unter Tränen. Sie genossen beide die körperliche Nähe und nach einer Weile schliefen sie einfach ein.

  • Semir fuhr also zunächst nach Hause. Als er Andrea die Pralinen überreichte und seinen Mädchen die Tüte mit den Gummibärchen zeigte, freuten sich alle-nur bekamen die Kinder die Süßigkeit nicht sofort. „Erst nach dem Abendbrot!“ erklärte er und nun setzten ich Ayda und Lilly brav an den Tisch und nach kurzer Überlegung aß Semir heute einmal mit seiner Familie und ließ sich die kleinen Katastrophen des Alltags von ihnen erzählen. Danach bekamen die Kinder die Tüte mit den Gumibärchen, aber auch die Ermahnung, die heute nicht komplett aufzufuttern. Ayda teilte nun die Bären. Sie wurden nach Farben einzeln sortiert und Lilly passte genau auf, dass sie nicht den Kürzeren zog. Jede packte ihre Bärchen in eine Dose und dann verzogen sich die Mädels ins Kinderzimmer, um noch ein wenig zu spielen. Semir unterhielt sich kurz mit Andrea und brach wenig später mit dem vorbereiteten Essen auf.


    Als er an seinem Haus ankam, lag das friedlich im Licht der Abendsonne und als Semir eintrat, fand er eine entspannte Sarah vor und einen Ben, der zwar immer noch schwach war, aber sonst so langsam wieder begann der Alte zu werden. Sarah hatte ihm morgens und abends jeweils eine Tablette des Antibiotikums verabreicht, er hatte zwar deshalb ein wenig Magenschmerzen, aber sonst war es erträglich. Der Arm war immer noch entzündet, aber dank intensiver Kühlung und guter Pflege ging die Schwellung langsam zurück. Er konnte zwar inzwischen für kurze Zeit an der Bettkante sitzen, aber Aufstehen war einfach vor Schwäche noch nicht möglich. Sarah machte sich einen Teller Essen warm, denn Semir hatte ja schon gegessen und Ben wollte erst mal lieber mit Zwieback beginnen. Während Sarah oben in der Küche werkelte, erzählte Ben seinem Freund, dass er Sarah einen Heiratsantrag gemacht hatte, die ihre Antwort aber sozusagen vertagt hatte. Semir seufzte auf. „Oh Ben-ich befürchte, das Timing war ziemlich unpassend und außerdem hat das jegliche Romantik vermissen lassen! In vier Wochen musst du das anders anstellen-ich wette, Andrea könnte dir da Tipps geben, wie eine Frau sich sowas vorstellt!“ sagte er und Ben nickte mit dem Kopf. „Du hast ja Recht und außerdem kann ich nur hoffen, dass sie mich überhaupt nimmt, nach allem was vorgefallen ist!“ erklärte er und lächelte Sarah an, die inzwischen mit dem vollen Teller heruntergekommen war. Vielleicht würde Ben ja doch Appetit kriegen, wenn er Andrea´s selbst Gekochtes roch. Der knabberte allerdings lieber an seinem Zwieback und während Semir aufstand und Sarah zum Essen den Stuhl anbot, erzählte er von den Vorkommnissen des Tages.
    „Ich bin allerdings davon überzeugt, dass an diesem Rauschgifthandel nur Heimer und dieser Redka beteiligt sind-ich glaube nicht, dass da eine größere Bande dahinter steckt. Wenn es uns gelingt Redka zu verhaften, dann haben wir den Fall vermutlich gelöst!“ teilte er den beiden seine Mutmaßungen mit. „Aber meinen Job bin ich dann los, wenn der auspackt!“ sagte Ben traurig und Semir nickte. „Damit musst du rechnen-und ich auch. Zumindest ein Disziplinarverfahren und eine Degradierung muss ich erwarten und falls die uns beide rausschmeißen, habe ich mir schon überlegt, ob wir dann nicht ne Privatdetektei oder sowas aufmachen sollten!“ Nun überzog ein erleichtertes Lächeln Ben´s Gesicht. Semir sagte wir und hatte auch einen Plan für die Zukunft-irgendwie würde es weitergehen!


    Nun erfuhren Sarah und Ben noch von Jenni und Hartmut und auch sie mussten lachen, als Semir ihnen bildlich die Szene im Krankenhaus schilderte, als Jenni mit geröteten Wangen zurückgefahren war, als sie das Zimmer betreten hatten. „Na die würden doch gut zusammen passen. Ich habe das ja schon lange versucht, die beiden zu verkuppeln!“ bemerkte Ben und nachdem sie nun noch eine Weile über belanglose Dinge geredet hatten, stand Semir gähnend auf. „Wie machen wir das heute Nacht?“ wollte er nun wissen. Sarah lächelte Ben an. „Ich würde sagen, du hilfst mir jetzt noch schnell das Gästebett hier rein zu tragen und dann schlafen Ben und ich hier und du zuhause in deinem Bett. Der körperliche Entzug ist vorbei und sobald ihr diesen Redka geschnappt habt, können wir wieder in unsere Wohnung zurück. Drum schlaf du dich aus, damit du diesen Typen so bald wie möglich überführen kannst-wir kommen hier alleine zurecht!“ sagte sie und tatsächlich fasste Semir mit an und half das Gästebett umzubauen.



    Wenig später fuhr er erleichtert und hundemüde zurück in seine Wohnung, wo ihn Andrea überrascht und erfreut erwartete. Im Hausflur begegnete er noch seiner Vermieterin: „Ach Semir, heute Vormittag hat ein dunkelhaariger Mann nach euch gefragt-hat der euch inzwischen angetroffen?“ fragte sie ihn und Semir verneinte, während er den wachsamen, aber sonst sehr freundlichen Schäferhund der Vermieterfamilie streichelte. Wer war das wohl gewesen? Aber ihm fiel momentan kein dunkelhaariger Mann ein, der etwas von ihnen wollen könnte. Na ja, der würde sich schon wieder rühren-immerhin, Redka konnte es nicht sein, der war blond. Nach kurzer Überlegung zog er vorsichtshalber noch ein Bild des Gesuchten hervor, aber seine Vermieterin schüttelte den Kopf. „Nein der hat anders ausgesehen!“ erklärte sie und nun atmete Semir endgültig auf. Er ging bald zu Bett und fiel in einen tiefen Erschöpfungsschlaf, den er aber auch dringend nötig hatte.


    Redka hatte sich untertags viel ausgeruht und machte sich am späteren Abend, als alles draußen finster war auf, um zunächst Jäger und seine Partnerin zu erledigen. In der Waffe war genügend Munition und er setzte einen Schalldämpfer auf, um die Nachbarn nicht aufzuwecken. Er war zwar kein geübter Schütze, aber für die beiden würde es genügen!

  • Es war bereits nach Mitternacht, als Redka vor dem Haus der Gerkhans vorfuhr. Er parkte das Auto um die Ecke und stieg dann aus. Er war dunkel gekleidet und wie ein Schatten glitt er in den Vorgarten und beobachtete erst einmal eine Weile das Gebäude. Nirgendwo war ein Lichtstrahl zu erkennen und auch sonst rührte sich nichts. Wo würden Jäger und seine Frau wohl sein, wenn sie da noch drin waren-wovon er ausging? Vermutlich am ehesten im Untergeschoß. Dort erblickte man kein Licht von außen und sie verbargen sich sicherlich auch vor den Nachbarn, denn das Haus sah ja eigentlich noch nicht so richtig bewohnbar aus.
    Redka schlich näher. Vorsichtig schaut er nach, ob irgendwo ein offenes Fenster war, aber das Haus lag still im Schimmer des Mondlichts. Es gab keinen Nebeneingang und die Haustür wirkte massiv, also wandte er seine Aufmerksamkeit auf die Terrassentür. Er schlang einen herumliegenden Lappen der Bauarbeiter um seine Hand, suchte sich einen geeigneten Gegenstand, den er in Form eines dort stehenden Dekoartikels aus Metall fand und schlug mit dem kurzerhand die Tür ein, deren Scheibe mit einem Klirren zerbrach. Mit seiner geschützten Hand griff er hinein und öffnete mit einem Griff den Hebel, so dass die Tür nach innen aufschwang. Nun hieß es sich beeilen, damit er die Bewohner überraschen konnte, bevor die Hilfe holten. Er betrat das Haus und sah sich suchend um.


    Sarah war von einem Geräusch erwacht. Hatte sie nicht gerade ein Klirren gehört? Doch-da war es wieder, es hörte sich an, als ob gerade jemand über Scherben stieg. Sie fuhr hoch: „Ben, da ist jemand im Haus!“ flüsterte sie furchtsam und nun war Ben, der in einem tiefen Erholungsschlaf gelegen war, plötzlich ebenfalls hellwach. Sarah´s Haare sträubten sich. Sie waren hier in diesem Kellerraum wie die Lämmer auf der Schlachtbank. Verdammt und Ben´s Waffe schlummerte im Tresor in ihrem Wohnzimmer. Sie hatten sie nicht mitgenommen, weil man ja nicht wusste, was Ben im Entzug so alles einfallen würde und sie persönlich konnte nicht schießen-und hatte es auch nicht lernen wollen. Jetzt allerdings wäre sie froh darüber gewesen, irgendetwas zur Verteidigung zu haben. Ben richtete sich langsam auf, aber im selben Augenblick überkam ihn ein Schwindel. Verdammt, es wäre doch jetzt sein Part da hinauszugehen und nachzusehen, was los war und dann seine Familie zu schützen. Und er kämpfte stattdessen verzweifelt gegen Schwindel und Übelkeit an. Während Ben versuchte, seinen Kreislauf irgendwie in Griff zu kriegen, hatte sich Sarah erhoben. Sie hatte einen Schlafanzug an und schlich nun barfuß aus dem Kellerraum. Während sie sich hektisch nach irgendeinem Gegenstand umsah, mit dem sie sich verteidigen konnte, hörte sie, wie oben die Haustür geöffnet wurde. Anscheinend bereitete der Eindringling seinen Fluchtweg vor. Sie musste hier raus und Hilfe holen! Ihr Handy hing ausgerechnet im Büro am Ladegerät-bis sie das erreicht hatte, hatte der Einbrecher sicher Ben schon erledigt und das durfte einfach nicht geschehen!


    Ohne lang nachzudenken ging Sarah zur Treppe. Im Büro brannte ein kleines Schummerlicht, das die unteren Treppenstufen erhellte. Oben erschien es heller-vermutlich war es das Licht des baldigen Vollmonds, das den Parterre erhellte, denn der Einbrecher hatte, bisher zumindest, kein Licht gemacht. Vielleicht hatte er es auch gar nicht auf sie beide angesehen und es handelte sich nicht um den Dealer, sondern einen Einschleichdieb? Dann allerdings verwarf Sarah den Gedanken wieder. Wer würde in ein Haus einbrechen, das ersichtlich gerade renoviert wurde? Da bewahrte man üblicherweise keine großen Wertsachen frei zugänglich auf-nein das galt schon ihnen und wenn sie jetzt nicht schnell reagierte, dann hatte vermutlich ihr letztes Stündlein geschlagen. Sarah hetzte die Stufen hinauf. Sie war noch nicht ganz oben, da stand sie plötzlich einem schwarz gekleideten Mann mit dunklen Haaren gegenüber, der sie wage an jemanden erinnerte, aber sie war jetzt schon ein wenig verblüfft, denn das war nicht der Redka, den sie auf den Fotos gesehen hatte. Mit einem fiesen Lachen hob er nun allerdings die Waffe, die mit einem Schalldämpfer versehen war und Sarah hörte im selben Augenblick, als sie die Treppe hinunterstürzte noch ein dumpfes „Plopp“ und dann wusste sie nichts mehr.


    Ben hatte den Kampf gegen seinen Körper gewonnen. Er musste jetzt sofort nach Sarah sehen! Mein Gott-hoffentlich machte die keine Experimente, sondern rief Semir an oder die Kollegen! Er wankte aus dem Kellerraum und war kaum am Fuß der Treppe angekommen, da hörte er schon das typische Geräusch einer Waffe mit Schalldämpfer und kaum einen Meter neben ihm stürzte Sarah die Treppe hinunter. Er hatte keine Chance sie aufzufangen und während sein Unterbewusstsein nur verzweifelt schrie: „Nein, bitte nicht!“ gaben seine Knie nach und wie ein Baum den man fällt, wurde er ohnmächtig und hörte den zweiten Schuss schon nicht mehr.

  • Redka sah zufrieden den Treppenabsatz hinunter. Die hatte er beide erledigt! Nach einem Blick auf die Uhr, drehte er sich um und lief, nachdem er die Haustür sorgfältig hinter sich ins Schloss gezogen hatte, zu seinem Wagen. Er hatte erst überlegt, ob er den hier stehen lassen sollte und zur aktuellen Wohnung der Gerkhans hinüberlaufen, aber dann nahm er ihn lieber mit, vielleicht musste er dort ja schnell verschwinden!
    Drüben angekommen, stellte er das Fahrzeug direkt hinter dem silbernen BMW ab. Er schlich leise ums Haus, aber dort war alles finster, allerdings stellte er mit einem leisen Lächeln fest, dass anscheinend wegen der lauen Nacht in der unteren Wohnung ein Fenster ganz auf war. Katzengleich stieg er dort ein und sah ein kleines Mädchen tief schlafend in seinem Bett liegen. Das ging ihn nichts an und er würde auch einem Kind nie etwas tun-obwohl, wenn er so darüber nachdachte, hatte er ja Jäger´s Baby im Bauch seiner Mutter soeben auch erledigt, aber das war irgendwie etwas anderes!
    Leise öffnete er die Tür des Kinderzimmers. Er würde nun die untere Wohnung still verlassen und droben erst Gerkhan, den Mörder seines besten Freundes erschießen. Danach würde er noch überlegen, ob er dessen Frau verschonte, oder eher nicht. Ob der Kinder hatte, wusste er gar nicht, aber wenn ja, dann würde er die Frau und die Kinder am Leben lassen, er war ja kein Unmensch!
    Gerade als er in Gedanken versunken aus dem Kinderzimmer in den weiten Flur getreten war, hörte er nur ein leises Knurren und dann stürzte sich ein schwarzer Schatten plötzlich auf ihn. Erschrocken versuchte er sich wegzudrehen, aber der Schäferhund packte ihn, wie er es gelernt hatte, am Arm und überraschte ihn dermaßen, dass er beinahe die Waffe hätte fallen lassen. Das tiefe Grollen, das aus der Brust des Hundes kam, machte ihm Angst und als nun plötzlich das Licht angemacht wurde und ein Mann und die Frau, die ihm heute Morgen so freundlich Auskunft gegeben hatten, voller Entsetzen vor ihm standen, richtete er die Waffe, die er schnell mit der anderen Hand gegriffen hatte, irgendwie gegen den Hund und drückte ab. Mit einem Jaulen ließ der ab und bevor die vor Schreck beinahe erstarrten Bewohner reagieren konnten, war er aus der Wohnung gesaust und wie von Furien gehetzt zu seinem Wagen gelaufen, hatte den gestartet und war mit quietschenden Reifen davongefahren.


    Semir´s Vermieter waren nach der kurzen Schrecksekunde wieder zum Leben erwacht. Während die Frau ins Kinderzimmer stürzte und laut „Mia!“ schrie, woraufhin sich ein verschlafener Wuschelkopf aus dem Bett hob, wählte der Mann mit zitternden Fingern den Notruf und begann gerade dem Mann in der Zentrale zu schildern, was geschehen war, während er sich zu seinem Hund hinunter beugte, da stand auch schon Semir mit gezückter Waffe in der Tür und fragte: „Was ist passiert?“ Seine Vermieterin kam heulend, ihr unversehrtes Kind fest an sich gedrückt, aus dem Kinderzimmer und sagte: „Semir, der Mann, der heute früh nach dir gefragt hat, ist bei uns eingebrochen.“ „Ist einem von euch irgendwas passiert?“ wollte Semir nun wissen und sie schüttelte den Kopf, während sein Vermieter sich nun ebenfalls schluchzend zu seinem Hund beugte. „Fido-du hast uns gerettet, was ist mit dir?“ fragte er, während er den winselnden Hund streichelte. Als Semir näher trat, sah er, dass der Hund eine Schussverletzung am Vorderlauf hatte, aber anscheinend nicht lebensbedrohlich getroffen war. „Habt ihr gesehen, mit was er geflohen ist?“ fragte Semir der Form halber, aber er hatte ja selber den Motor aufheulen hören und wusste, dass seine Freunde nichts hatten sehen können, aber die beiden schüttelten den Kopf. Semir hatte gehört, dass sein Vermieter den Notruf abgesetzt hatte-hier würde in Kürze Hilfe eintreffen und dass es Andrea und den Kindern gut ging, davon hatte er sich, bevor er in seine Jeans geschlüpft und die Treppe herunter gekommen war, überzeugt.


    Als er aber nun hörte, dass der Einbrecher derselbe Mann gewesen war, der sich am Morgen für ihn interessiert hatte, zählte er zwei und zwei zusammen. Verdammt-vielleicht war das ein Komplize Redka´s-und wenn das so war, dann schwebten Sarah und Ben in höchster Gefahr! Noch bevor die uniformierten Kollegen und der Krankenwagen eintrafen, was Standard nach einem gemeldeten bewaffneten Einbruch mit Schussabgabe war, rannte Semir zu seinem Wagen. Andrea, die inzwischen ebenfalls schreckensbleich heruntergekommen war, wusste sofort, wohin Semir raste, als der Motor des BMW aufheulte. Ayda und Lilly schliefen derweil seelenruhig in ihren Betten und als die Polizei mit einem großen Aufgebot erschien, musste sich der Einsatzleiter erst mal einen Überblick verschaffen, was überhaupt passiert war.

  • Sarah kam stöhnend zu sich. Erst wusste sie überhaupt nicht, wo sie war, aber dann durchzog ein scharfer Schmerz ihr Handgelenk und verursachte ihr sogar Übelkeit, so weh tat das! Auch am Oberarm spürte sie ein unangenehmes Brennen, aber dann fiel ihr blitzartig wieder ein, warum sie hier am Fuß von Semir´s Kellertreppe lag. Ben-um Himmels Willen-der fremde Mann war sicher primär auf der Suche nach ihm gewesen! Voller Angst und Entsetzen riss sie die Augen auf. Im Dämmerlicht konnte sie erkennen, dass niemand mehr auf der Treppe war, aber als sie den Kopf wandte, sah sie im Halbschatten den leblosen Körper ein kleines Stück neben sich. „Ben, was ist mit dir?“ flüsterte sie voll bangem Entsetzen und begann zu ihm hin zu robben. Es war ihr völlig egal, ob der Verbrecher noch in der Nähe war. Wenn Ben tot war, wollte sie auch nicht mehr leben! Er war die Liebe ihres Lebens und sie hatte seinen Heiratsantrag nicht angenommen. Sie tat immer so taff und dabei spielte sie ihrer Umwelt eben oft auch was vor. Nur in seinen Armen fühlte sie sich sicher und geborgen und nun würde sie dort vielleicht nie mehr liegen? An das Kind dachte sie im Augenblick erst mal gar nicht-zu stark war die Sorge um den geliebten Menschen!


    Endlich war sie bei ihm angelangt und streckte die eine Hand aus. Wenn er sich jetzt kalt anfühlte, würde sie zu schreien beginnen und nie mehr damit aufhören, aber als sie ihn mit der unverletzten Hand anfasste, war sein Körper ganz warm. Gut-sie wusste jetzt auch nicht, wie lange sie bewusstlos gewesen war, es konnte ja sein, dass ihr Sturz erst einige Sekunden her war, als sie dann aber zufällig ihren Blick zu dem Brennen an ihrem Oberarm wandte, wusste sie, dass das durchaus schon ein wenig her war, denn dort war der ganze Schlafanzug blutdurchtränkt und das Blut begann an den Rändern bereits zu trocknen. Dort war sie angeschossen worden, wie sie jetzt mit hundertprozentiger Sicherheit wusste, immerhin sie lebte, aber was war mit Ben?


    Redka war mit einem Fluch aus der Wohnung geflohen. Dieser Scheißköter! Hoffentlich hatte er ihn wenigstens erledigt! Sein ganzer Plan war nun missglückt, aber er war sich sicher, dass er diesen Gerkhan schon noch kriegen würde. Der war bei der Polizei, er wusste, wo er wohnte und wenn er nur genügend Zeit ins Land gehen ließ, würde der sich auch irgendwann wieder sicher fühlen und dann würde er ihn schnappen! Aber jetzt fuhr er erst einmal einige Kilometer, bog dabei mehrmals ab und kam dann in einer Seitenstraße zu stehen. Dort zog er seinen dunklen Baumwollrolli aus und besah sich im Licht der Straßenlaterne die Verletzung an seinem rechten Arm. Wie man es bei der Schutzhundausbildung lernte, hatte der Schäferhund seinen rechten Unterarm gepackt und festgehalten. Wäre er in dieser Sekunde stehen geblieben, hätte er nicht mal einen Kratzer gehabt, aber der Hund hatte den Druck seiner Kiefer verstärkt, als er versucht hatte, loszukommen. So hatte er einen kompletten Gebissabdruck, rot-bläulich verfärbt und aus den vier Löchlein, die die Fangzähne beim Zupacken verursacht hatten, floss ein kleines bisschen Blut. Redka hatte Hunde schon immer gehasst-jetzt wusste er nochmals warum! Er bewegte prüfend seine Hand und beugte den Arm. Nun gut, es war anscheinend nichts ernsthaft verletzt und so holte er aus dem Autoverbandskasten einen Pflasterstreifen und verklebte die vier kleinen Wunden. Dann zog er im Schutze der Dunkelheit den Rollkragenpulli wieder über und startete den Motor.
    Nach einem Blick auf die Uhr stand sein Plan fest. Er würde jetzt das Rauschgift vom Hafen holen und wenn er auch gemütlich fuhr, würde er ohne Probleme rechtzeitig am Bodensee in der Schönheitsklinik ankommen. Er würde unterwegs den Stoff irgendwo verstecken, wo er ihn jederzeit holen konnte und dann ganz vorschriftsmäßig in der Klinik eintrudeln. Er hatte dort schon angerufen und mitgeteilt, dass er einen dringenden Geschäftstermin wahrnehmen musste, aber pünktlich am Vormittag wieder da sein würde. Die sollten die geplante OP durchführen und ihn nochmals ein wenig verändern, da vertraute er dem Können des Professors. Obwohl er ja immer noch verschwollen war, sah er jetzt schon wesentlich besser aus als vorher und so eine Typveränderung konnte schließlich das ganze Leben beeinflussen. Wenn nun noch das überflüssige Bauchfett abgesaugt und hier und da etwas nachgebessert war, sah er besser aus denn je und hatte sowohl der Natur als auch seinen Verfolgern ein Schnippchen geschlagen. Vielleicht würde er seine Haare dann eine Weile rot färben, bis Gras über der Sache gewachsen war, aber er würde seine Rache noch bekommen. Der Anfang war mit Jäger auf jeden Fall gemacht!

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