Cold Turkey

  • „Ben-was ist los?“ drang plötzlich eine besorgte Stimme in sein Bewusstsein und eine Hand schüttelte ihn. Als er die Augen öffnete, beugte Semir sich über ihn und fragte: „Ist dir nicht gut?“ denn Ben war ein wenig in seinem Bürostuhl zusammengesackt. Ben lächelte ihn mit einem breiten Grinsen an und lallte. „Wie kommst du drauf?“ antwortete er „Mir geht´s sehr gut, ich weiss gar nicht, was du hast?“ und nun dachte Semir erst, sein Freund hätte, als er draußen war, eine Schnapsflasche geleert. Sein Atem roch zwar nicht nach Alkohol, aber Ben war, wie man mit ein wenig Erfahrung sofort erkennen konnte, breit. Nun reihte sich in Semir´s Kopf eins ans andere. Ben´s Unkonzentriertheit, die Schweißausbrüche, seine wechselnden Stimmungslagen, die erhöhte Aggressivität, die private Unzuverlässigkeit, irgendwie passte nun alles zusammen. Mit einer raschen Bewegung schob er Ben´s linken Sweatshirtärmel nach oben und sah, was er erwartet hatte. Lauter Einstiche in unterschiedlichen Heilungszuständen präsentierten sich seinen Augen und nun wurde es Semir beinahe übel vor Entsetzen. Das konnte doch nicht wahr sein? Wie kam sein bester Freund darauf, Drogen zu nehmen? Dann griff er noch nach der kleinen Plastiktüte, die Ben nachlässig zu Boden hatte sinken lassen und warf einen prüfenden Blick hinein. Wie er fast schon erwartet hatte, befand sich darin Fixerwerkzeug und schnell schloss Semir die Tüte wieder.


    Ben hatte ihn mit Entsetzen im Gesichtsausdruck beobachtet. Verdammt, er war aufgeflogen? Was würde Semir jetzt tun? Wenn die Chefin, oder auch nur irgendeiner der Kollegen das mitbekam, war seine Karriere bei der Polizei vorbei. Dabei hatte er gerade heute Vormittag, als das Adrenalin bei der Verfolgung der Bankräuber durch seine Adern geschossen war, wieder festgestellt, wie sehr er seinen Beruf doch liebte und dass er nichts anderes würde machen wollen. Durch die verdammten Drogen hatte er die wichtigsten Dinge in seinem Leben vernachlässigt, seine Familie, seine Freunde und den Beruf! So konnte es nicht weitergehen, das war ihm im tiefsten Inneren schon klar gewesen und es hatte ihm gestern auch unendlich weh getan, als Sarah seinetwegen so geweint hatte. Nur war er im Augenblick zu schwach gewesen, um sich zu offenbaren, dabei hätte ihm doch klar sein müssen, dass er das auf Dauer vor niemandem, der ihm nahe stand verbergen konnte.


    Als Semir jetzt in Ben´s Gesicht sah, der ihn voller Verzweiflung betrachtete, überkam ihn bei aller Wut und aller Erschütterung ein großes Mitleid. „Verdammt noch mal, Ben-wie bist du denn in so ne Scheiße hineingeraten?“ flüsterte er „und wie lange geht das schon?“ aber Ben konnte oder wollte ihm gerade nicht antworten. Er sah seinen Freund nur an wie ein waidwundes Reh und bat mit unendlicher Not in der Stimme: „Semir, bitte sag der Chefin nichts-ich versprech dir, ich höre auf, aber ich will doch meinen Job nicht verlieren!“ und nun begann es in Semir´s Kopf zu rattern. Er musste seinen Freund hier raus schaffen, ohne dass jemand bemerkte, dass der nicht ganz bei Sinnen war. Alles Weitere würde man sich in Ruhe überlegen. Klar war auch, dass Ben da wohl schon lange keine Kontrolle mehr darüber hatte und dieses Versprechen: „Ich höre auf!“ das war etwas, was ein Süchtiger ohne Hilfe von außen nur selten wahr machen konnte. Wenn es schon so schwer war mit dem Rauchen oder Trinken aufzuhören, um wie viel schwerer war es dann erst, wenn echte Drogen ins Spiel kamen und wenn Semir sich das Fixerwerkzeug so besah, dann sah das glasklar nach Heroin aus.


    Allerdings würde das auffallen, wenn er Ben in diesem Zustand hier raus schaffte und außerdem wartete die Chefin ja auch auf das zweite Verhör und den Bericht. Wenn sie beide jetzt einfach so verschwanden, würde das Ben erst recht verdächtig machen, wenn er zum Beispiel schwankte oder lallte und so sagte Semir: „Ben, wenn du mitspielst werde ich dir helfen. Wir werden nachher gemeinsam zu Sarah fahren und überlegen, wie´s weitergehen soll, aber du musst dich jetzt noch eine Weile zusammen reißen. Du legst dich jetzt hier aufs Sofa und wenn dich irgendjemand fragt, was los ist, sagst du einfach, dir wäre nicht gut und ich würde dich nachher nach Hause fahren!“ und Ben erhob sich nun ohne Protest von seinem Stuhl und rollte sich auf dem Ledersofa, das in der Ecke ihres Büros stand, zusammen. Semir ließ nach kurzer Überlegung das Fixerwerkzeug in Ben´s Schreibtisch verschwinden und machte sich dann auf, um das zweite Verhör durchzuführen. Obwohl er eigentlich andere Dinge im Kopf hatte, zog er es durch und hatte wenig später auch von dem anderen Täter ein Geständnis. „Wo steckt Jäger?“ fragte die Chefin verwundert, als sie Semir alleine das Verhör abschließen sah. „Dem ist nicht gut-der klagt schon die ganze Zeit über Magenschmerzen und hat vorhin erbrochen. Ich werde ihn nicht alleine nach Hause fahren lassen, nicht dass noch was passiert und darum hat er sich jetzt ein wenig in unserem Büro hingelegt. Ich werde nur den Bericht noch fertig machen und ihn dann zu seiner Lebensgefährtin bringen!“ erklärte Semir harmlos und hoffte, dass die Chefin jetzt nicht nachhakte, oder darauf bestand, einen Arzt zu rufen. „Gut, bringen sie mir den Bericht, sobald er fertig ist und dann schauen sie, dass sie ihren Kollegen ins Bett bringen, nicht dass uns der noch die ganze PASt ansteckt!“ beschied ihm Frau Krüger und Semir verschwand erleichtert wieder in seinem Büro und setzte sich an den PC. Ben war inzwischen eingeschlafen und während Semir wie wild auf der Tastatur umeinander hämmerte, tönte ein leises Schnarchen durch den Raum.

  • Sarah hatte sich der Verzweiflung hingegeben. Irgendwie hatte sie so gehofft, dass Ben irgendwann einfach vor der Tür stehen und sie um Verzeihung bitten würde. Klar war sie am gestrigen Abend zornig und hoch emotional gewesen und diese Verdächtigung mit der Freundin war ihr plötzlich ganz spontan eingefallen, aber weil Ben ihr nicht widersprochen hatte und bisher auch nicht erschienen war, war sie sich nun fast sicher, dass sie mit ihrer Vermutung Recht gehabt hatte. Als morgens dann auch noch Semir angerufen hatte und ihr Partner anscheinend auch nicht zur Arbeit gegangen war, erhärtete sich die Vermutung. Insgeheim hatte sie nämlich gehofft, er wäre einfach zu Semir und Andrea gefahren, hätte bei denen übernachtet und sich den Rat seines besten Freundes und Kollegen geholt. Aber so hatte sie nun keine Ahnung, wo er steckte und es war ziemlich naheliegend, dass er dann doch bei einer anderen Frau war. Klar wäre es auch möglich, dass er sich einfach ein Hotelzimmer genommen hatte, um eine Nacht drüber zu schlafen und mit ein wenig Abstand kam ihr ihr Benehmen am Vorabend auch ein wenig überzogen vor. Sie hatte ihn kurzerhand aus seiner eigenen Wohnung geschmissen, ein Wunder, dass er sich das hatte bieten lassen. Wenn sie sich tatsächlich trennen würden, würde sie schnellstmöglich noch vor der Geburt des Kindes ausziehen. Sie konnte sich so eine Luxuswohnung nicht leisten und außerdem würde sie dann bald wieder arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. Das Erziehungsgeld alleine würde nicht reichen, um sich in Köln eine einigermaßen ordentliche Bleibe leisten zu können. Sie würde also den Zwerg in der Krippe des Krankenhauses lassen müssen, während sie ihre Schichten ableistete. Vielleicht wäre es möglich die Stundenzahl ein wenig zu reduzieren, damit sie ein wenig mehr Zeit für das Kind hatte, aber eine andere Möglichkeit hatte sie nicht. Ihre Eltern waren auch beide noch berufstätig, klar die würden ihr am Wochenende den Enkel abnehmen, damit sie arbeiten konnte, wie ja auch Ben ein Recht darauf hatte, sein Kind zu sehen und sicher auch klaglos Kindesunterhalt zahlen würde, aber ihr Leben würde trotzdem total anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatte.


    Voller Wehmut dachte sie an ihre Träume. Sie hatte gedacht, einfach ein paar Jahre zuhause bleiben zu können, ihr Kind gemeinsam mit Ben aufzuziehen, den sie immer noch von ganzem Herzen liebte und zwar so, dass es ganz tief in ihr fürchterlich weh tat, sich eine Zukunft ohne ihn vorzustellen. Sie hatte gehofft Zeit zu haben und vielleicht in nicht allzu großem Abstand ein zweites Kind. Sie hatten gemeinsam Pläne geschmiedet vom Häuschen im Grünen mit Sandkasten, Schaukel und Planschbecken vorm Haus und da ging es nicht um materielle Dinge, sondern einfach darum, einem Kind Zeit zu widmen und es nicht im zarten Alter von wenigen Monaten fremd betreuen zu lassen. Sie dachte nach, warum sie überhaupt auf die Idee mit der Freundin gekommen war, aber Ben hatte sich in der letzten Zeit verändert. Er war abwesend gewesen und reizbar. Er hatte sich innerlich vor ihr zurückgezogen, obwohl er neben ihr im Bett lag. Sein Denken war von etwas beherrscht gewesen, wozu sie keinen Zugang hatte. Sie hatte es momentan auf das Trauma seiner Entführung und Verletzung vor wenigen Monaten zurückgeführt, aber als sie die Sache mit einer Psychotherapie angesprochen hatte, hatte er das schroff von sich gewiesen. Als er wieder zu arbeiten begonnen hatte, war es erst besser gewesen, aber seit etwa eineinhalb Wochen war die Sache eskaliert. Nein wie sie es auch drehte und wendete-da hatte er vermutlich eine andere Frau kennengelernt, die ihn von diesen ganzen Dingen ablenkte. Sie schwankte zwischen Wut und Verzweiflung. Diese Typen-die waren alle schwanzgesteuert-wenn da eine attraktive Frau mit dem Hintern wackelte, vergaßen sie Jahrtausende Evolution und folgten nur noch ihren Trieben. Und obwohl sie normalerweise ja nicht schlecht aussah, aber mit ihrem dicken Bauch fühlte sie sich unförmig wie eine Tonne, ihre Beine liefen an und so manche Schwangerschaftsbeschwerden wie Sodbrennen machten eben auch ihr zu schaffen. Zudem war sie-vermutlich durch die Hormone- reizbarer als sonst, hatte ein erhöhtes Schlafbedürfnis und ihre Gedanken drehten sich eben meist um ihr gemeinsames Kind und wie das wohl alles werden würde mit der Geburt und der Zeit danach. Trotzdem hatte sie ein dringendes Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung, wollte von Ben, wie früher ja auch, in den Armen gehalten werden und ihm körperlich nahe sein. Gut wenn er keinen Sex wollte, weil er Angst hatte, damit seinem Kind zu schaden, dann konnte man sich trotzdem nahe sein und streicheln und wenn sie daran dachte, wie ruhig ihr gemeinsames Kind immer geworden war, wenn sein Papa die Hand auf ihren Bauch gelegt hatte, hätte sie heulen können.
    Dem Kleinen ging es sicher gerade auch nicht gut, wenn die Mama so traurig war. Deshalb riss sie sich nun zusammen, legte ihre Hände auf ihren Bauch und streichelte das Ungeborene. „Geliebter kleiner Schatz! Mach dir keine Sorgen-wir kriegen das schon und für dich wird immer gesorgt werden, das verspreche ich dir!“ sagte sie weich und dann atmete sie tief durch. Das Leben würde weitergehen-irgendwie-und warum sollte sie nicht schaffen, was Generationen von Frauen vor ihr geschafft hatten, alleine ein Kind groß zu ziehen und ihm alle Liebe und Geborgenheit zu geben, die es benötigte?
    Sie warf einen kurzen Blick zum Telefon-sollte sie versuchen, Ben anzurufen? Aber kurz darauf verwarf sie den Gedanken-sie würde gar nichts unternehmen-er sollte zu ihr kommen und ihr sagen, wie er sich ihre Zukunft vorstellte. Aber vermutlich würde das auf eine Trennung hinauslaufen, sonst wäre er schon längst wieder auf der Matte gestanden, da kannte sie ihn gut genug dazu!


    Semir hatte inzwischen seinen Bericht fertiggestellt und brachte ihn nun zur Chefin ins Büro. „Frau Krüger, ich bin dann fertig und wenn sie nichts dagegen haben, nehme ich ihr Angebot von heute Morgen gerne an und mache jetzt früher Feierabend. Ben nehme ich mit und liefere ihn bei seiner Freundin ab-die ist Krankenschwester und wird schon wissen, was man da am besten macht. Ich denke aber, er wird schon einige Zeit ausfallen, denn diese Magenprobleme plagen ihn nicht erst seit heute!“ sagte er harmlos um gleich eine längere Auszeit Ben´s anzukündigen. „Sagen sie ihm gute Besserung und er soll dann eben die nächsten Tage eine Krankmeldung herschicken-ich werde jetzt nicht persönlich in ihr Büro gehen, nicht dass es etwas Ansteckendes ist und ehrlich gesagt, ich kann mir etwas Schöneres vorstellen, als eine Magen-Darm-Grippe!“ sagte sie trocken und begann den Bericht zu studieren. Semir atmete innerlich auf-so nun konnte er Ben hoffentlich problemlos hier raus bringen und dann mussten sie mit Sarah gemeinsam überlegen, wie es weitergehen sollte!

  • Semir trat an Ben´s Schreibtisch und holte die verfängliche Plastiktüte hervor. Ben schlief immer noch mit leicht geöffnetem Mund und selig lächelnd auf der Couch. Nach kurzer Überlegung filzte Semir schnell das Büromöbel. Zu seiner eigenen Erleichterung fand er nichts, was in irgendeiner Weise verfänglich war, nur Ben´s üblichen Müll und ein paar Schokoriegel für schlechte Zeiten. Nun weckte er seinen Freund, der ihn im ersten Augenblick verständnislos ansah. „Ben-du wirst jetzt deine Hand auf deinen Bauch legen und leidend aussehen. Ich habe der Chefin erzählt, du hättest gekotzt und schon eine Weile ziemliche Magenschmerzen. Sie befürchtet, du hättest eine Magen-Darm-Grippe und ich soll dich schnellstmöglich heimbringen, damit du niemanden anstecken kannst. Die Tüte habe ich-jetzt überleg-hast du noch andere verfängliche Sachen im Mercedes? Der bleibt nämlich hier, weil ich schon gesagt habe, dass du vermutlich ein wenig länger ausfällst. Bonrath wird den sicher als Fuhrparkleiter anderweitig einsetzen-es wäre eine Katastrophe, wenn da Drogen oder verfängliches Zubehör drin wären!“ sagte er kurz und Ben sah betreten zu Boden.
    „Du willst mir doch nicht erzählen, dass du das Polizeifahrzeug für den Drogentransport genutzt hast?“ fragte Semir entsetzt, aber Ben nickte nur. „Ich habe mir darin immer das Zeug gekocht und gespritzt!“ beichtete er verlegen. Er würde ehrlich sein, denn Semir würde das sowieso rausfinden. „Dann müssen wir den noch ausräumen, bevor jemand anderes Verdacht schöpft-Mann, Mann Ben, wie konntest du nur davon ausgehen, dass das unentdeckt bleibt?“ schimpfte Semir und griff nach seiner und Ben´s Jacke, die sie nachlässig über die Stuhllehnen gehängt hatten-eigentlich war es ja viel zu warm für ne Jacke, aber es war die Macht der Gewohnheit, die dabei zu haben, denn in ihrem Job wusste man nie, wann man einen Eiskeller durchsuchen musste.


    Semir warf Ben dessen Jacke zu, während er die seine so über den Arm hängte, dass niemand die verfängliche Plastiktüte sehen konnte. Wie befohlen presste Ben nun seine Hand auf die Magengegend und ging mit leidendem Gesichtsausdruck durchs Großraumbüro ins Freie. Ihm gings zwar gerade prächtig, aber ein wenig schauspielern konnte nicht schaden. „Gute Besserung, Ben!“ rief ihm Susanne zu, die von der Chefin schon den Auftrag bekommen hatte, die Dienstpläne für die nächsten Tage umzuschreiben, weil Ben krank geworden war. „Danke, ich kanns brauchen!“ sagte er ein wenig schwach und schon waren sie im Freien.
    Semir sperrte den BMW auf und komplimentierte Ben auf die Beifahrerseite. Seine Jacke und die Tüte legte er in den Kofferraum. Dann ließ er sich von Ben den Mercedesschlüssel geben und fragte nur streng: „Wo?“ „Unterm Fahrersitz!“ sagte Ben kleinlaut und Semir wurde fast übel, als er von dort einen Umschlag vorzog in dem noch wenige Päckchen weisses Pulver waren. Jetzt war ihm auf einmal sonnenklar, warum heute Vormittag der Drogenhund so an Ben´s Wagen interessiert gewesen war! Semir sah sich nochmals prüfend um, aber er konnte keine verfänglichen Dinge mehr entdecken. Nur im Aschenbecher waren Bonbonpapiere und raussaugen hätte man den Wagen auch mal wieder gekonnt-oh Ben, würde der denn nie Ordnung lernen? Semir packte auch den Umschlag noch in seinen Kofferraum-Mann da musste er sich jetzt was einfallen lassen, wie er den Stoff entsorgen könnte-aber das würde er sich später überlegen. Auf jeden Fall würde der Drogenhund jetzt auch bei seinem Wagen anschlagen-na klasse!


    Nun stieg auch Semir ein und wenig später waren sie auf dem Weg zu Sarah. „Wie kommt die eigentlich drauf, dass du eine neue Flamme hättest? Sie hat mir heute Morgen, als ich sie angerufen habe erklärt, du hättest sie verlassen und wärst zu einer anderen Frau gefahren-ist da was dran?“ fragte Semir, aber Ben schüttelte den Kopf. „Ich weiss nicht, wie sie da draufkommt-ich liebe doch nur sie und fremdgehen täte ich nie-wie sollte ich das denn auch unserem Kind erklären!“ sagte er ein wenig ratlos. „Ich habe gestern den Geburtsvorbereitungskurs verschwitzt und als Sarah nach Hause gekommen ist, war sie stocksauer und hat mir lauter Dinge an den Kopf geworfen, die überhaupt nicht gestimmt haben!“ erklärte Ben. „Irgendwann hat sie mich dann rausgeschmissen und ich habe im Wagen gepennt und mir gedacht, die wird sich schon wieder beruhigen!“ erzählte er Semir von den Ereignissen des Vortags. „Und um deinen Kummer zu vergessen, hast du dir den nächsten Schuss gesetzt, nicht wahr?“ soufflierte Semir und Ben konnte nur nicken-er hätte es aber nicht geschafft, Semir jetzt in die Augen zu schauen, gut dass der eh seinen Blick auf die Fahrbahn gerichtet hatte. Mann er hatte sich benommen wie ein Schwein-würde Sarah ihm je verzeihen können?


    Sarah hatte inzwischen mit der Verwaltung der Mitarbeiterappartements telefoniert. Im Moment war nichts frei, aber sie ließ sich auf die Warteliste für ein Zweizimmerappartement setzen. Nachdem sie immer noch nichts von Ben gehört hatte, hatte sie jetzt im Verlauf des Tages die ganze Palette von Kummer bis Zorn emotional durch und würde sich jetzt um praktische Dinge kümmern-es half ja nichts. Irgendwann hörte sie auf einmal Stimmen vor der Haustür und schon drehte sich ein Schlüssel im Schloss.

  • Sarah erstarrte. Wie sollte sie sich verhalten und was würde Ben sagen? Vielleicht war er ja nur gekommen, um ein paar Sachen zu holen? Darauf hin deutete, dass er jemanden mitgebracht hatte. Wenn er mit ihr reden wollte, wäre er alleine gekommen, denn so ein Gespräch musste unter vier Augen stattfinden-also war es tatsächlich so, wie sie es vermutet hatte, Ben hatte nur auf eine Gelegenheit zur Trennung gewartet und war sogar noch zu feige, das mit ihr alleine zu besprechen-nein er musste sich Unterstützung mitbringen! Da standen auch schon Semir und er vor ihr. Sarah musste schlucken, denn so sehr sie auch zornig war-sie liebte ihn nach wie vor dermaßen, dass es beinahe weh tat! Wenigstens hatte er nicht seine neue Freundin mitgebracht, das hätte sie nämlich nicht ertragen können. Trotzdem beschlich sie eine unheimliche Wehmut. Auch Semir hatte anscheinend Bescheid gewusst-wie anders ließ es sich erklären, dass er nun mit dabei war-nur sie dumme Nuss hatte mal wieder nichts gemerkt, hatte gedacht ihre Liebe wäre für die Ewigkeit-und nun war es nach nicht mal ganz zwei Jahren schon vorbei!


    Nun ergriff Semir das Wort-verdammt noch mal, Ben war sogar zu feige, selber mit ihr zu sprechen-das hätte sie jetzt nicht erwartet!„Sarah!“ sagte er ernst. „Wir müssen mit dir reden!“ und sie nickte dazu. „Nicht zwischen Tür und Angel-das ist zu wichtig, was wir dir zu sagen haben-oder viel mehr, was Ben uns zu sagen hat!“ fuhr Semir fort und Sarah setzte sich schweigend und erwartungsvoll an den großen Esstisch. Ben blieb noch kurz stehen. „Wollt ihr was trinken?“ fragte er und Semir nickte. „Ein Wasser!“ sagte er und Ben nahm eine Flasche aus dem Vorratsschrank und stellte sie mit drei Gläsern vor sie und goss ein. Dann setzte auch er sich und Sarah fragte-mühsam die Tränen unterdrückend: „Und Ben-was hast du mir zu sagen und warum musstest du dir für dieses Gespräch Unterstützung mitbringen? Brauchst du einen Zeugen, oder fürchtest du dich so vor mir, dass du mir nicht alleine unter die Augen treten kannst?“ fragte sie gespielt ruhig und legte unbewusst ihre Hand auf ihren Bauch, wie um das Baby zu schützen. Ben´s Miene wurde weich und er wollte seine Hand ausstrecken und ebenfalls Kontakt mit seinem Nachwuchs aufnehmen, aber Sarah drehte sich brüsk weg. „Das sage ich dir-wenn das Kind auf der Welt ist, werden wir das mit dem Umgangsrecht regeln, aber solange der Zwerg in meinem Bauch heranwächst, lässt du die Finger davon!“ sagte sie wild und Ben, der sich halb von seinem Stuhl erhoben hatte, wurde blass und sank auf den Sitz zurück.


    Nun ergriff Semir die Initiative. „Sarah, ich glaube, dass du von falschen Voraussetzungen ausgehst! Ben hat mir schon erzählt, dass du sein Verschwinden gestern Abend mit einer Frau in Verbindung gebracht hast, aber ich kann dir versichern-das ist nicht das Problem. Wir beide haben bei unserem Partner und Freund leider mit anderer Konkurrenz zu kämpfen!“ sagte er und nun sah ihn Sarah erstaunt an. Was konnte es anderes geben und warum betonte Semir das „wir“? War das nicht eine Beziehungskiste, die vor allem die beiden Partner was anging? Versuchte sich Semir jetzt als Mediator, um zu retten, was noch zu retten war?
    Bevor sie nun allerdings Fragen stellen konnte, griff Semir unvermittelt nach Ben´s Arm, der im selben Augenblick fast unbewusst versuchte den zurückzuziehen, aber Semir ließ nicht locker und schob einfach Ben´s Ärmel nach oben und was sie dort sah, ließ sie beinahe zum Eiszapfen erstarren. Eine unbeschreibliche Kälte ergriff von ihr Besitz und kroch die Beine hinauf, bis sie am Kopf oben ankam. „Ben, was hast du getan?“ sagte sie schwach und dann musste sie erst mal einen Schluck Wasser trinken, denn ihr Mund war vor Entsetzen gerade völlig ausgetrocknet.


    Ben sah schuldbewusst zu Boden und schwieg. „Was hast du dir gespritzt? Heroin oder etwas anderes?“ fragte sie nach einer Weile und Ben zuckte daraufhin mit den Schultern. „Ich weiss es ehrlich gesagt nicht-ich denke schon, dass es Heroin ist!“ sagte er leise. Sarah konnte ihren Blick fast nicht von Ben´s Arm abwenden. Unbewusst zählte sie die Einstiche-es waren viele-zu viele und als sie die dicke Rötung an einer Stelle sah, die sichtlich entzündet war, ergriff der Krankenschwesternmodus von ihr Besitz und sie wäre am liebsten aufgestanden, um ihm einen Eisbeutel zu holen, aber in letzter Sekunde nahm sie sich zurück.
    Nun fügte sich in ihrem Kopf eines zum anderen. Darum hatte Ben in letzter Zeit immer langärmlige Shirts an-damit niemand sah, dass er ein Junkie war. Seine Unkonzentriertheit, die Unruhe-dann wieder sein Schlafbedürfnis, sein Versagen im Bett-alles fügte sich in ihr zu einem logischen Ganzen zusammen. Nur leider Gottes wusste sie jetzt nicht, ob ihr eine andere Frau unter diesen Umständen nicht lieber gewesen wäre. Das hier war ein absolut unberechenbarer Gegner, gegen den die Meisten den Kampf verloren, so motiviert sie auch waren. Sie hätte lieber nicht so gut Bescheid darüber gewusst, aber eine Intensivschwester auf einer inneren Intensivstation hatte leider Gottes von diesen Drogen und vor allem den Entzugssymptomen viel Ahnung . Kaum einer schaffte es, von der Nadel wieder wegzukommen. Klar-manche wechselten dann zu anderen Drogen, die vermeintlich weniger gefährlich waren, so versuchte man mit den Methadonprogrammen die Süchtigen aus der Illegalität zu holen, aber wie oft hatte sie wieder und wieder dieselben Patienten gehabt. Sie hatten nach jedem körperlichen warmen Entzug, wie er bei ihnen auf der Intensivstation praktiziert wurde, hoch und heilig versprochen, ab sofort clean zu bleiben, aber nur ein sehr geringer Prozentsatz schaffte das wirklich. Eher begleitete man in ihrem Beruf den zunehmenden Verfall. Anfangs hatten ihre Patienten noch einen festen Wohnsitz, Partner, Eltern und Freunde, aber mit jedem Mal wurden die weniger. Kaum einer kam damit zurecht, ständig angelogen, beklaut und hintergangen zu werden. Diese Droge war eine der Schlimmsten, wobei es natürlich mit Crack und den neueren synthetischen Drogen inzwischen beinahe noch eine Steigerung gab, weil die sehr viel schneller zum Tode führten. Und sogar wenn Menschen clean wurden-oft starben sie nach einiger Zeit an den Spätfolgen wie Leberzirrhose oder Aids, oder blieben zumindest chronisch krank. Je nachdem, wie lange jemand an der Nadel gehangen hatte-mit der Dauer der Suchtproblematik sank wie in einer mathematischen Gleichung die Chance auf Heilung-zumindest in der Theorie. Darum war es nun unbeschreiblich wichtig für sie, zu erfahren, wie Ben dazu gekommen war, sich zu dopen und wie lange es schon ging.
    Sarah straffte deshalb ihren Rücken und forderte ihn auf: „Erzähl-und sei bitte ehrlich-was anderes macht sowieso keinen Sinn!“ und Ben nickte.

  • Stockend begann Ben zu erzählen. Semir lehnt sich vor Anspannung in seinem Stuhl nach vorne und auch Sarah hörte aufmerksam zu. „Vor eineinhalb Wochen wurde ich doch von den beiden Dealern gekidnapped, wie ihr ja wisst!“ begann er und nun fiel es Semir wie Schuppen von den Augen. Na klar-seitdem war Ben´s Verhalten so merkwürdig gewesen. Allerdings war er schon vorher nicht der Alte gewesen. Er hatte ständig müde gewirkt und Semir hatte schon gedacht-na der würde sich erst anschauen, wenn das Baby mal auf der Welt war und ihm unruhige Nächte bescherte, aber nachdem Ben ja eh ein Morgenmuffel war, hatte er sich dabei nicht allzu viel gedacht-obwohl, wenn er so zurück dachte, dann war Ben früher mit Fortschritt des Tages immer munterer geworden und abends zu Höchstform aufgelaufen, während er seit seinen Verletzungen im Wellnessurlaub als Spaßbremse gedient hatte. Nur war auch Semir gerade mit der Renovierung des Hauses nach dem Brandanschlag dermaßen beschäftigt gewesen und hatte außerdem selber noch eine ganze Weile an seiner Armverletzung herum laboriert, so dass das nicht so aufgefallen war.


    „Leider habe ich euch danach nicht die ganze Wahrheit erzählt!“ fuhr Ben fort und Semir dachte an den Tag zurück und sein Erstaunen, als er Ben gesund und munter bei Sarah angetroffen hatte, als er der die Mitteilung von dessen Entführung hatte machen wollen. „In groben Zügen hat es ja gestimmt, was ich euch erzählt hatte, aber ich habe euch etwas verschwiegen. Die Entführer sind mit mir in diesen Schuppen gefahren. Dort haben sie meine Papiere durchsucht und dabei meine Adresse und ein Sonographiebild unseres Baby´s in meinem Geldbeutel gefunden. Sie haben mir damit gedroht, meiner Familie etwas anzutun, wenn ich nicht mitspiele und dann haben sie mir was gespritzt. Erst hatte ich Angst davor, aber als das Mittel durch meinen Körper geströmt ist, habe ich einen tiefen Frieden empfunden. Ich habe seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen, bin nächtelang wach gelegen und hatte Angst einzuschlafen, weil ich immer so schreckliche Träume hatte. Immer und immer wieder habe ich das Bild vor mir gesehen, wie der Chemiker dir Sarah, das Messer in den Bauch rammt, um unser Kind da heraus zu schneiden, während ich gelähmt da sitze und euch beiden-dem Wichtigsten was es in meinem Leben gibt-nicht helfen kann. Danach habe ich auch Schreckliches mitgemacht, aber das war nichts im Gegensatz zu der Angst und Sorge, die ich um euch verspürt habe!“ sagte er und nun wäre Sarah am liebsten zu ihm geeilt, hätte ihn mit Küssen überschüttet und ihn in den Arm genommen. In letzter Sekunde allerdings nahm sie sich zurück. Halt-Ben war ein Junkie-Süchtige logen und betrogen, dass sich die Balken bogen! Sie durfte jetzt nicht so handeln, wie ihr Herz es ihr befahl, sondern sie musste an ihr Kind denken, das ein Recht darauf hatte, in einem stabilen Umfeld ohne Drogen aufzuwachsen!


    Wie als wenn er es gespürt hätte, oder liefen durch Semir´s Kopf dieselben Gedanken, wie durch ihren, fragte aber nun Ben´s bester Freund: „Ben-das ist ja alles recht und schön, aber warum zum Teufel hast du uns das nicht einfach erzählt, als du freigelassen wurdest?“ und auf diese Frage hatte der junge Polizist momentan keine Antwort.Sarah sah ihn eine Weile prüfend an und begann dann langsam zu sprechen. Wie oft unterhielt man sich auf der Intensiv mit Patienten, die so langsam aus dem Delir wieder zu sich kamen, fragte sie nach ihren Gefühlen und der Motivation, dieses Teufelszeug wieder und wieder zu nehmen und häufig bekam man in diesem Augenblick auch ehrliche Antworten. „Kann es sein, das du dich zum ersten Mal seit Langem wieder entspannen konntest, dass du zur Ruhe gekommen bist, dich wohl gefühlt hast?“ wollte sie wissen und Ben nickte langsam mit dem Kopf, ohne sie direkt ansehen zu können. „Ist es möglich, dass du zwar schon Angst davor hattest, was deiner Familie angetan werden könnte, wenn du nicht mitspielst, aber im Gegenzug das Gefühl hattest, du möchtest mehr-immer mehr von diesem Zeug und da war dir jede Ausrede recht?“ fragte sie und Ben wollte erst protestieren, aber als er dann ein wenig in sich ging, musste er sagen, dass sie die Wahrheit sagte. Sicher hätte man ihm viel besser helfen können, wenn er gleich nach dem ersten Drogenkontakt Hilfe gesucht hätte, aber diese wunderbaren Gefühle-er konnte sich gerade nicht vorstellen, wie es wäre, die nie wieder zu spüren und ehrlich gesagt, begann er sich schon wieder nach dem nächsten Schuss zu sehnen. Dann sah er auf die Uhr und erschrak-es war kurz vor sechs, verdammt, er musste seine Auftraggeber anrufen!
    „Kleinen Moment, ich muss nur schnell aufs Klo!“ rief er, sprang auf und verschwand eilends in der Toilette. Sarah und Semir sahen sich an. „Verdammt-hoffentlich kriegen wir das wieder hin!“ bemerkte Semir und Sarah nickte unglücklich.

  • Ben wählte die Nummer und sein Gesprächspartner am anderen Ende war sofort dran. „Na das war vielleicht ein Zufall, dass am Rastplatz tatsächlich ein Drogenfund stattgefunden hat. Jetzt ist die Aufmerksamkeit ein wenig von uns abgerückt!“ freute er sich. „Wie schaut`s denn mit ihren Vorräten aus? Brauchen sie bald wieder was, Jäger?“ fragte er und Ben antwortete leise: „Ja!“ „Also dann bis morgen am Telefon-ich werde ihnen gelegentlich wieder was zukommen lassen, aber nur, wenn sie weiterhin so gut funktionieren, wie bisher!“ sagte sein Gegenüber und Ben schwieg. Damit Sarah und Semir nicht misstrauisch wurden, betätigte er die Spülung, wusch seine Hände und ging dann, die Hände unsicher in den Hosentaschen, wieder zu den beiden zurück. Er hatte im selben Augenblick ein schlechtes Gewissen, aber wenn er nur daran dachte, dass er nun gar nie mehr in seinem Leben dieses befreiende wundervolle Gefühl spüren sollte, wenn die Droge durch seine Venen rauschte, dann überkam ihn im selben Moment eine große Wehmut. Natürlich konnte er Sarah und Semir verstehen, dass die da kein Verständnis dafür aufbrachten, aber die hatten auch keine Ahnung davon, was sie versäumten! Er hatte früher oft die Bilder von Woodstock angeschaut und die mitreißende Musik der Flower- Power-Bewegung gehört, in den Sechzigern und Siebzigern hatte man Drogen noch nicht so verteufelt, wie jetzt. Wie viele Künstler waren gerade deswegen so kreativ gewesen? Er hatte mal gehört, dass die Drogen selber gar nicht so gefährlich waren, sondern eher die Stoffe, die man zum Strecken verwendete. Nun hatte Hartmut ja festgestellt, dass das Zeug, das sie beschlagnahmt hatten, besonders rein war, vermutlich war das kaum gefährlich, es kam eben nur auf die Dosis an, wie beim Alkohol!


    Als er sich wieder gesetzt hatte, sah ihn Sarah aufmerksam an. Ben wirkte ein wenig schuldbewusst und plötzlich erhob sie sich: „Ben hast du gerade was eingeworfen?“ fragte sie, aber er schüttelte den Kopf. „Semir, durchsuch ihn!“ befahl sie barsch und Semir sah sie verwundert an. „Was soll das?“ protestierte Ben. „Vertraust du mir nicht?“ fragte er, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Nein Ben, das tue ich nicht! Solange du nicht entzogen hast und physisch wie psychisch von dem Zeug abhängig bist, traue ich dir keinen Millimeter über den Weg. Ob du es glauben magst, oder nicht, aber du bist nicht mehr du selbst, solange dieser Dämon von dir Besitz ergriffen hat-ich habe da leider genügend Erfahrung mit diesen Dingen. Du wirst lügen und betrügen, um an Stoff zu kommen und dein Wille alleine wird dich nicht davon abhalten können, dich auf die Suche zu machen und für alle in deiner Umgebung gefährlich zu werden!“sagte sie und Semir filzte nun seinen Freund und Kollegen nach allen Regeln der Kunst, während der sich völlig passiv verhielt. Sarah bemerkte seine Anspannung, als Semir in eine Hosentasche fasste und sagte: „Da ist was!“ und tatsächlich zog Semir fassungslos ein kleines Tütchen heraus. „ Verdammt noch mal, Ben-das kannst du doch nicht machen?“ klagte er ihn unglücklich an, aber Ben konnte ihm nicht in die Augen schauen. „Sonst noch was?“ fragte Sarah, aber nun schüttelte Ben kläglich den Kopf, während Sarah scharf sagte: „Du weisst, ich kann notfalls auch eine Leibesvisitation vornehmen und ich habe da keinerlei Skrupel!“ und Ben sah zu Boden.


    Alle drei setzten sich wieder und Ben sah Sarah nun mit anderen Augen an. Woher wusste die so viel von diesen Dingen? Er hatte gedacht, der was vorspielen zu können, aber anscheinend funktionierte das nicht. Er hatte geplant, er könne sich eben einfach allmählich ein wenig weniger zuführen und man konnte den Stoff ja auch rauchen oder einnehmen. Da war zwar die Wirkung angeblich nicht so stark, aber er würde nicht so schlimme Entzugserscheinungen haben und einfach die Dosis so nach und nach reduzieren, bis er clean war.
    Sarah hatte hier das Regiment übernommen. Sie zwang Ben sie anzuschauen und als er ihr geradewegs in die blauen Augen blickte, die plötzlich stahlblau waren und nicht mehr von dem angenehmen Farbton, den er sonst an ihr so liebte, betonte sie Wort für Wort: „So Ben-von meiner Seite aus hast du eine einzige Chance! Entweder du bist jetzt sofort ehrlich und lässt dir helfen, machst einen Entzug und beginnst von vorne, oder du hast mich das letzte Mal in deinem Leben gesehen. Gut-vielleicht nochmal vor Gericht, wenn ich sonst den Richter davon überzeuge, dass er dir jegliches Umgangsrecht mit deinem Kind untersagt-und glaub mir, da werde ich schaffen. Auch wenn du mir das im Moment vielleicht nicht glaubst, aber ich liebe dich immer noch über alles, aber es geht hier nicht mehr nur um dich oder mich. Diese Droge ist ein schlimmerer Nebenbuhler, als jede Frau und ich werde dir helfen, den Kampf dagegen aufzunehmen, aber das Spiel wird nach meinen Regeln gespielt, oder gar nicht. Schlag dir solche Dinge wie-ich nehme so allmählich immer weniger-aus dem Kopf, das funktioniert nicht. Ich bin es unserem Kind schuldig, dass ich es vor einem drogenabhängigen Vater schütze und wenn du jetzt wirklich clean werden willst, dann erzähl uns, wie es nach deiner Entführung weitergegangen ist-und dann möchte ich wissen, was du auf dem Klo gemacht hast-hast du da auch noch was versteckt, oder war was anderes?“ fühlte sie ihm auf den Zahn und Ben versank nun in diesen blauen Augen, die gerade so viel stärker waren als er. Im Gegensatz zu ihm gerade hatte Sarah einen Plan und allmählich begann er erstens den Ernst der Lage zu erkennen und zweitens zu verstehen, dass er zu ihr und auch Semir hemmungslos ehrlich sein musste, sonst würde sein Leben mit all seinen Träumen und Plänen den Bach hinuntergehen.

  • Ben begann stockend weiter zu erzählen: „Als ich die Drogen in mir hatte, haben mich die beiden Männer im Fahrzeug liegen gelassen. Allerdings war ich nur noch an den Füßen gefesselt und als ich seit Langem wieder einmal erholsam geschlafen hatte, bin ich am frühen Abend aufgewacht, habe mit Werkzeug aus dem Schuppen den letzten Kabelbinder entfernt und bin dann-wie ich es euch ja dann erzählt habe- nach Hause gelangt. Genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern, was sie gesagt haben, aber sie hatten irgendwas erwähnt, dass sie mich schon finden würden, was ja mit meiner Adresse ein Leichtes war. Am nächsten Abend stand der blonde Mann vor der Tiefgarage als ich nach Hause kam und hat mir dort im Wagen den nächsten Schuss gesetzt.“


    Nun stellte Semir eine Zwischenfrage: „Und zu welchem Zweck haben die dich angefixt? Die ganze Zeit stelle ich mir schon diese Frage. Hast du die mit Geld bezahlt, oder was für eine Motivation hatten die sonst, dir Stoff zu geben? Warst du ein Zufallsopfer oder war das irgendwie eingefädelt, weil sie wussten, dass du über Geld verfügst? Bei mir hätten sie da schlechte Papiere-ich bin jeden Monat froh, dass wir gerade so über die Runden kommen-ich wüsste nicht, wie ich da irgendwelche Drogen bezahlen sollte!“ sagte er nachdenklich, aber Sarah sah ihn ein wenig spöttisch an. „Oh Semir-auch du musst noch viel lernen über Sucht. Keiner von uns ist da besser als ein anderer. Jeder hat seine Schwachstellen und es gibt eben Drogen wie Heroin, die leider schon nach dem ersten Gebrauch zu Abhängigkeit führen und zwar physisch wie psychisch. Und auch du würdest deine Großmutter verkaufen-oder deine Kinder, würdest lügen, betrügen und stehlen, um an den Stoff zu kommen. Glaub mir, da ist keiner von uns besser, man kann nur versuchen den Kontakt zu vermeiden und wenn es eben passiert ist, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.“ sagte sie ernst, aber dann wandte auch sie sich Ben zu. „Ja erzähl uns, was die für eine Gegenleistung wollen!“ und nun merkte man, wie schwer es Ben fiel, sich jetzt zu offenbaren.
    „Ich war auf der Bank und habe da 5000 € geholt, um die Drogen zu bezahlen, aber die wollten kein Geld, sondern Informationen!“ beichtete er unglücklich. Nun war es an Semir ihn mit offenem Mund anzuschauen. „Du willst doch nicht sagen, dass du Dienstgeheimnisse verraten hast?“ fragte er fassungslos, aber Ben nickte mit gesenktem Blick. Nachdem Semir ja gut kombinieren konnte, war ihm dann auch klar, warum die beiden Zugriffe der Drogenfahndung nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatten. „Du hast die Termine und Orte der Drogenrazzien verraten!“ stellte er erschüttert fest und Ben hätte nun beinahe geheult, denn er hatte das Gefühl, er hätte Semir persönlich hintergangen. „Semir ich weiss das war völlig unverzeihlich und ich schäme mich ja auch dafür, aber die haben damit gedroht, Sarah was anzutun und nachdem ich den ersten Verrat begangen hatte, konnte ich da auch nicht mehr raus, denn ab da hatten sie mich in der Hand!“ versuchte er zu erklären, was abgegangen war.


    „Diese Typen sind schlau und haben sich auch genau den Richtigen rausgesucht!“ stellte Sarah fest. „Du warst nach diesen ganzen Traumen der letzten Monate sowieso anfällig und dann noch mich und das Kind als Druckmittel-klar hat du gemacht, was die wollten!“ stellte sie lapidar fest. „Nur werden die nicht seitdem jeden Tag gekommen sein, um dir persönlich das Heroin-nehmen wir jetzt einfach mal an, das ist der Stoff-zu spritzen, wie ging das also weiter und wie nimmst du mit denen Kontakt auf?“ wollte sie nun wissen und auch Semir lehnte sich gespannt im Stuhl nach vorne. „Am nächsten Tag hat mich der blonde Mann angeleitet, wie man sich nen Schuss zubereitet und spritzt. Er hat mir das ganze Zubehör mitgebracht und ne Telefonnummer, wo ich jeden Tag Punkt sechs anrufen muss, was ich vorhin auch auf dem Klo gemacht habe- und eventuelle Neuigkeiten mitteilen. Den blonden Mann habe ich seitdem nicht mehr gesehen und die Stimme am Telefon ist die des zweiten Entführers, dessen Gesicht ich aber nie gesehen habe, denn er war durchgehend maskiert. Ich weiss nur, dass er nen sehr qualitätvollen Anzug anhatte und teure Schuhe.“ berichtete er und Semir nickte nachdenklich.
    „Die letzte Lieferung war dann im Briefkasten-das war an dem Tag, als ich dir die Kette geschenkt habe!“ sagte Ben schuldbewusst und wagte fast nicht, Sarah anzusehen. Die richtete sich nun gespannt auf: „Moment-ich glaube, dann habe ich den Lieferanten gesehen. Ich hatte den Briefkasten ja schon geleert und als ich zufällig von ner Besorgung zurückgekommen bin, ist mir da ein unbekannter Mann im Eingangsbereich wo die Briefkästen sind, entgegengekommen. Danach war der Umschlag drin, den ich ja dann mit nach oben genommen habe!“ erzählte sie aufgeregt und nun sagte Semir: „Gut, wir wissen bisher nur von zwei Männern-vielleicht haben die auch gar keine Organisation im Rücken, sondern sind Einzelkämpfer. Wenn es mir gelingen würde, die zu identifizieren und festzunehmen, könntet ihr vielleicht bald wieder normal leben, aber fürs Erste müsst ihr untertauchen!“ und Sarah nickte zustimmend.

  • Semir sah nun aber Sarah besorgt an. „Wie machen wir das mit der Arbeit? Ben braucht ne Krankmeldung! Ich habe schon angedeutet, dass das länger dauern könnte und dass er mit dem Magen schon ne Weile Probleme hat. Aber wenn die dort erfahren, dass Ben irgendwas mit Drogen am Hut hat und vor allem, wenn rauskommt, dass er schon Geheimnisverrat begangen hat, dann wird er sofort entlassen und aus dem Beamtenstatus entfernt-damit ist seine Tätigkeit bei der Polizei gelaufen!“ überlegte er unglücklich und Sarah nickte. „Ich weiss und damit haben wir das nächste Problem.“ bemerkte sie.
    Ben sah von einem zum anderen-irgendwie gefiel es ihm überhaupt nicht, dass man über seinen Kopf hinweg so bestimmte, aber andererseits war er auch wieder froh, dass man ihm Verantwortung abnahm, denn in seinem Hirn fuhren die Gedanken Karussell!„Ben, wann haben in letzter Zeit bei dir die Entzugserscheinungen begonnen? Ich meine jetzt nicht die psychischen, also das reine Verlangen, sondern die echten körperlichen, also Zittern, Schweißausbrüche, Schmerzen oder so was ähnliches?“ fragte Sarah total sachlich und sowohl Semir, als auch ihr Partner sahen sie nun ein wenig geschockt an. Verdammt-die hatte von der Thematik anscheinend die volle Ahnung! Viel mehr als sie alle beide, obwohl Ben ja Betroffener war und Semir auf der Polizeischule da auch das eine oder andere gelernt hatte-ganz zu schweigen von den ganzen Verhaftungen wegen Drogen! „Sarah, woher weisst du das alles?“ fragte Ben leise und nun sah Sarah ihn voller Kummer an. „Weisst du Ben-leider Gottes ist das unser tägliches Brot auf der Intensivstation und mir wäre es fast lieber, wenn ich darüber nicht so kundig wäre, aber blöderweise ist das jetzt so-und glaub mir, ich kann mir ziemlich genau vorstellen, was jetzt auf uns zukommt!“ sagte sie und hatte doch ein paar Tränen in den Augen. „Sarah ich liebe dich und will dich nicht verlieren-und unser Kind bedeutet mir alles. Wenn ihr mir helft, werde ich es schaffen, ich versprechs!“ sagte Ben leise und weil das Kind wegen der Aufregung seiner Mama gerade im Bauch Samba tanzte, nahm Sarah nun Ben´s Hand und legte sie ganz sanft auf ihren Bauch, woraufhin das Kind sich wieder zu ihm herschmiegte und in kurzer Zeit ganz ruhig wurde, während Ben und Sarah nun beiden die Tränen in Strömen herunterliefen.


    „Wie soll´s nun weitergehen?“ fragte Ben, als sie sich wieder beruhigt hatten. Sarah atmete tief durch. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet!“ entgegnete sie und Ben überlegte sachlich. „Nach wenigen Stunden beginnt zwar das Verlangen, aber ich halte es so etwa 20 Stunden aus, ohne durchzudrehen.“ gab er Bescheid. „Wann hast du das letzte Mal gedrückt?“ fragte sie und diese Frage konnte Semir beantworten: „Das war so gegen vierzehn Uhr heute!“ kam wie aus der Pistole geschossen und Sarah nickte. „Gut dann können wir morgen noch gleich in der Frühe zum Hausarzt. Ich könnte da zur Not zwar was einfädeln, weil ich genügend Ärzte kenne, aber so ist das am Unverdächtigsten, wenn die Krankmeldung von dem kommt und dem werde ich schon was Passendes erzählen!“ beschloss sie. Semir wollte nun von Ben wissen: „Hast du deinem Dealer gegenüber irgendetwas Besonderes erwähnt?“ aber sein Freund schüttelte den Kopf. „Dann haben wir ja mal zumindest bis morgen Abend vor dem Ruhe-vielleicht fällt uns bis dahin ein, wie wir ihn orten können, wenn du dann mit ihm telefonierst!“ überlegte er, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Geh nicht davon aus, dass morgen um diese Zeit Ben noch zu irgendetwas fähig ist. Bis dahin müssen wir untergetaucht sein und wir brauchen für Ben eine Art Zelle ohne Fenster, oder wenn ja, dann Vergitterte. Die Tür muss stabil und verriegelbar sein und man sollte es nicht nach draußen hören, wenn er schreit.“ sagte sie und nun blickten Semir und Ben sie gleichermaßen entsetzt an.
    „Oder die Alternative wäre, du begibst dich auf eine Intensivstation, egal ob in Köln oder in irgendeiner anderen Stadt. Dort könnte man einen warmen Entzug mit Medikamenten durchführen-ob man das allerdings geheim halten kann, wage ich zu bezweifeln!“ sagte sie. „Dort gäbe es auch die Möglichkeit eines Blitzentzugs in Narkose, allerdings ist da die Rückfallquote relativ hoch!“ erklärte sie sachlich und so langsam begann es Ben zu dämmern, was da auf ihn zukommen würde. „Ich möchte von dem Zeug wegkommen, aber wenn möglich meinen Job behalten!“ sagte er leise und Sarah nickte und sagte nun mit fester Stimme: „Dann bleibt uns nur eine Möglichkeit: Der Cold Turkey!“

  • Ben fragte nun: „Und was bedeutet das konkret für mich-natürlich weiss ich schon ungefähr, was ein Cold Turkey ist?“ und Sarah antwortete: „Du wirst ohne dämpfende Medikamente durch den Entzug durchmüssen. Die Symptome sind verschieden, aber ich sag´s dir gleich-es wird nicht leicht werden!“ teilte sie ihm mit. Näheres wollte sie ihm im Moment ersparen, er würde das früh genug am eigenen Leib erfahren. „Ich muss dich allerdings darauf hinweisen, dass dabei lebensbedrohliche Zustände auftreten können-wenn das der Fall ist, werde ich-deinen Job hin-oder her, nicht zögern, einen Notarzt zu rufen und dich ins Krankenhaus bringen zu lassen. Allerdings gibt es Studien, dass ein kalter Entzug die geringste Rückfallquote hat, denn er hat einen gehörigen Abschreckungseffekt!“ teilte sie ihm mit.


    Nun mischte sich Semir ein. „Wie geht´s nun konkret weiter? Mir ist inzwischen eingefallen, wo ich euch unterbringen könnte. Ich würde auch gerne weiter zur Arbeit gehen, damit ich den Polizeiapparat nutzen kann, um die Dealer zu überführen und verhaften zu können, denn erst wenn ich das geschafft habe, besteht für euer Leib und Leben keine Gefahr mehr!“ teilte er ihnen mit und Sarah nickte. „Dann schieß los und sag, wo wir uns verstecken können!“ sagte sie und Semir berichtete nun von seinem Plan. „In unserem Haus laufen ja die Sanierungsarbeiten. Allerdings muss im Obergeschoss jetzt etwas austrocknen und deshalb hat die Firma dort Trocknungsgeräte aufgestellt, wir müssen regelmäßig lüften, aber es sind für zwei bis drei Wochen keine Bauarbeiter dort zu Gange und es wird niemandem auffallen, wenn ich dort täglich ein-und ausgehe. Im Wirtschaftskeller gibt es einen gefliesten Raum ohne Fenster, aber mit Lüftung. Das Parterre war ja sowieso nicht maßgeblich zerstört und ist durchaus bewohnbar, auch der Rauchgeruch hat sich inzwischen gebessert, nur müsstest du halt abends mit dem Licht aufpassen, damit niemand misstrauisch wird. Ich werde Andrea einweihen, die kann für euch mit kochen und Fernseher und DVD-Player können wir dort unten auch installieren, damit euch nicht langweilig wird-Internetanschluss ist im Büro sowieso vorhanden!“ sagte er und Sarah nickte. „Das ist eine hervorragende Idee, ich würde sagen, ich packe dann gleich noch ein paar Sachen zusammen, die kannst du dann mitnehmen und schon ins Haus bringen. Ben braucht eine Matratze oder ein Bett dort unten, ab morgen wird er alleine schlafen, denn dann wird das für mich und das Kind zu gefährlich!“ teilte sie Semir mit und nun war Ben beinahe beleidigt. Was bildete sich Sarah ein? Dachte die, er würde ihr oder seinem geliebten Nachwuchs was tun?


    „Heute Nacht werden wir ein letztes Mal hier in der Wohnung verbringen, denn ich schätze die Gefahr, dass die Verbrecher jetzt gleich etwas unternehmen als relativ gering ein, weil Ben sich ja noch gemeldet hat und die sich in Sicherheit wiegen, erst ab morgen Abend wird’s gefährlich!“ sagte Sarah und begann auch gleich zwei Reisetaschen zu packen, eine für sich und eine für Ben. Wenig später verabschiedete sich Semir schwer bepackt und fuhr mit den Taschen zu seinem Haus. Dort stellte er die in den Keller. Er packte einen Wischer und machte Putzwasser an und wischte den leeren, gefliesten Raum heraus. In einem Abstellraum hatte er noch ein Metalleinzelbett in Einzelteilen gelagert-was man nicht so alles aufhob! Das baute er zusammen und stellte es in den Raum. Dann montierte er nach kurzer Überlegung einen großen Holzriegel außen an der Tür und als er nun fertig war, musste er schlucken. Der Raum sah beinahe aus, wie eine Gefängniszelle. Toilette gab es auf dem Flur-aber ob die Ben noch benutzen konnte, wenn er voll auf Entzug war? Nach kurzer Überlegung stellte er noch einen Eimer mit Deckel hinein und löschte dann das Licht.


    Als er die Tür zur gemieteten Wohnung aufsperrte, waren die Kinder schon im Bett, aber ausnahmsweise war ihm das gerade Recht, denn so konnte er Andrea in ihren Plan einweihen, die ihm mit offenem Mund zuhörte. „Oh mein Gott!“ sagte die erschüttert. „Wenn das nur gut geht!“

  • Als Semir verschwunden war, fragte Sarah: „Was magst du essen?“ denn sie war sich völlig im Klaren, dass das auf längere Sicht die letzte Mahlzeit sein würde, die Ben bei sich behalten würde. „Ach ist doch egal-essen wir halt ein Brot!“ sagte Ben, aber Sarah erhob sich, streckte aufseufzend den schmerzenden Rücken-so langes Sitzen tat ihr einfach gerade nicht gut-und sagte: „Ich hätte Lust auf Spaghetti mit frischen Tomaten, Käse und nem schönen Salat dazu!“ und da hatte Ben jetzt wirklich gar nichts dagegen. Mit großer Vertrautheit, wie in früheren Zeiten, bevor die Drogen ein Thema wurden, bereiteten sie miteinander das Essen zu. Ben wusch den Salat und hackte weisungsgemäß die Zwiebeln, den Knoblauch und die mannigfaltigen Kräuter. Wie schmerzhaft vertraut war dieses gemeinsame Kochen und die wohlschmeckende, leichte und zusätzlich gesunde Mahlzeit danach. Sarah behandelte ihn ganz selbstverständlich und erwähnte den Drogenmissbrauch mit keiner Silbe. Auch sie genoss die letzten Stunden Normalität! Nach dem Essen räumten sie gemeinsam die Spülmaschine ein und Sarah stellte die auch gleich an, obwohl sie nicht ganz voll war, was ihrem ökologischen Gewissen eigentlich widerstrebte-schließlich wusste sie nicht, ob und wann sie jemals wieder in diese tolle Wohnung zurückkehren würden! Sie hatte lange mit sich gerungen, aber dann sagte sie: „Ben ich liebe dich so sehr und es tut mir leid, was ich dir die nächsten Tage antun werde. Du musst einfach wissen-das ist nur zu deinem und damit unserem Besten!“ und Ben, der zwar schon ein wenig unruhig war, nahm sie fest in seine Arme, drückte und küsste sie und sagte: „Sarah, das weiss ich doch-und danke, dass du mir hilfst von diesem Teufelszeug loszukommen!“


    Sie gingen bald zu Bett und schliefen momentan auch eng umschlungen ein. Mitten in der Nacht wachte Ben auf. Sein Mund war trocken, er war unruhig und eine große Lust auf den nächsten Schuss hatte von ihm Besitz ergriffen. In der Wohnung war zwar nichts mehr, denn das Päckchen hatte Semir mitgenommen, aber er hatte in der Tiefgarage noch ein wenig Nachschub. Eine Kerze und einen Löffel hätten sie in der Wohnung und er begann zu phantasieren, wie es wäre, sich jetzt gleich den letzten, wundervollen Schuss seines Lebens zu geben. Leise stand er auf.


    Als Sarah ihm wenig später folgte, fand sie ihn im Wohnzimmer. Er hatte die Stirn gegen die große Fensterfront gepresst und genoss deren Kühle, während er lautlos weinte. Seine Schultern zuckten, aber kein Ton verließ seine Lippen. Sie trat hinter ihn, umschlang seinen nackten Oberkörper mit den Armen und legte ihren Kopf an seine Schulter. „Sarah, was macht dieses Teufelszeug aus mir? Obwohl ich doch dir und Semir absolute Ehrlichkeit versprochen habe, war ich jetzt kurz davor, in die Tiefgarage zu schleichen und mir die nächste Dosis zu genehmigen. Dort habe ich nämlich auch noch was versteckt!“ gestand er gepresst und Sarah sagte: „Aber du hast es nicht getan-und das ist gut so!“ Trotzdem warfen sie sich gemeinsam was über, gingen in die Tiefgarage und Ben offenbarte sein Versteck hinter den Winterreifen. Ein kleines Tütchen und der Umschlag mit den 5000€ traten zutage, was sie mit in die Wohnung nahmen. Dort streute Ben mit zitternden Händen den letzten Schuss ins Klo und zog ab. Als sie sich danach wieder hinlegten, konnten sie zwar beide erst nicht mehr einschlafen, so aufgewühlt waren sie, aber Sarah sagte zu ihm: „Ben, ich bin stolz auf dich-du wirst es schaffen, ich glaube fest daran!“ und er flüsterte zweifelnd: „Denkst du das wirklich, oder willst du mich nur beruhigen?“ aber als Antwort drückte Sarah ihn fest an sich und sie zogen beide Trost aus der liebevollen Nähe. Seine beiden Hände auf Sarah´s Babybauch gelegt, fand Ben doch noch in einen unruhigen Schlaf und als der Morgen graute konnte auch Sarah, der viele Gedanken durch den Kopf gingen, noch ein wenig eindösen.


    Als sie gegen sieben aufstanden, waren sie trotzdem beide wie gerädert und Ben hatte schon leicht zu zittern begonnen. „Magst du Kaffee?“ fragte Sarah, aber Ben schüttelte den Kopf. „Ich mag jetzt gar nichts essen oder trinken!“ gestand er und Sarah nickte. Es ging also los. Sie rief um acht beim Hausarzt an und machte es bei der Arzthelferin sehr eilig, so dass sie sofort einen Notfalltermin bekamen. Ben hatte sich geduscht, aber mehrmals war ihm das Duschgel aus der Hand gefallen, er war nervös und schreckhaft und sein Magen schmerzte wie verrückt. Semir hatte sich noch kurz gemeldet und gesagt: „Ich gehe jetzt zur Arbeit und ihr ruft mich einfach an, wenn ihr so weit seid, dann hole ich euch ab und bringe euch in unser Haus!“ und Sarah bedankte sich. Mit dem Polo fuhren sie zur Arztpraxis und wurden auch gleich drangenommen. Ben sagte nicht viel, sondern saß nur wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl und Sarah ergriff das Wort. „Dr. Martelhauser, ich denke, mein Lebensgefährte hat nach dem vergangenen Trauma einfach zu früh wieder zu arbeiten begonnen. Er ist unkonzentriert und hat Magenprobleme, leidet unter Unkonzentriertheit und Schlafstörungen und ich denke, er sollte einfach noch ein wenig zuhause bleiben, um sich zu erholen!“ erklärte sie und der Arzt sah sie nachdenklich an. Immer diese Krankenschwestern-stellten selber Diagnosen und versuchten den Ärzten ihre Meinung aufzudrängen! Als er allerdings seinen Patienten so ansah, musste er ihr Recht geben. Dieser Mann war nicht arbeitsfähig, so wie der aussschaute. Seine Augen waren schwarz umrandet, er hatte abgenommen, seitdem er ihn vor ein paar Wochen das letzte Mal gesehen hatte, er war leicht schwitzig und dessen innere Unruhe machte ihn selber ganz nervös. Um nichts zu übersehen, untersuchte er ihn kurz durch, er musste dazu aber sein Oberteil nicht ausziehen, was Sarah einen innerlichen Seufzer der Erleichterung entlockte. Hätte er die Einstiche gesehen, wären sie in Erklärungsnot gekommen. Ben betonte auf Nachfrage auch seine Magenschmerzen und die Appetitlosigkeit und der Arzt gab dann seinen Rezeptwunsch in den PC ein. „Ich denke auch, sie haben eine posttraumatische Belastungsstörung, Herr Jäger-ich schreibe sie jetzt erst mal zwei Wochen krank und dann sehen wir weiter. Ich gebe ihnen noch ein Rezept für ein Medikament gegen die Gastritis mit und wenn das damit und mit Ruhe nicht besser wird, sollten sie einen Termin zur Magenspiegelung vereinbaren. Meine Angestellte wird ihnen noch Blut abnehmen, da machen wir noch ein großes Blutbild und ich würde ihnen raten-schauen sie sich nach einem guten Psychotherapeuten um, der sich auf solche Störungen spezialisiert hat! Dann wünsche ich ihnen eine gute Besserung!“ sagte er und verabschiedete sich per Handschlag. Ben bekam noch Blut abgenommen und Sarah flüsterte ihm zu, er solle nur den Arm ohne Einstiche präsentieren, was er auch machte.


    Mit einem Rezept und der Krankmeldung bewaffnet, machten sie sich auf den Heimweg und wenig später holte Semir die beiden ab, um sie ins Haus zu fahren. Auf dem Weg dorthin beichtete Ben, dem es von Minute zu Minute schlechter ging: „Semir, Sarah-ich habe noch Nachschub bestellt, ich denke, der Dealer wird irgendwann kommen und den in den Briefkasten werfen!“ sagte er und Semir fluchte verhalten: „Warum hast du das nicht eher gesagt?“ fragte er ein wenig zornig, aber Ben lehnte nur stumm seinen Kopf gegen die Kopfstütze des BMW und schloss die Augen.

  • Noch während sie sich Semir´s Haus näherten, beschrieb nun Sarah den Mann, den sie am Briefkasten gesehen hatte. Eigentlich war das ja nur eine Vermutung, dass der unbekannte Mann auch der Drogenlieferant gewesen sein könnte, aber sie brauchten immerhin einen Anhaltspunkt. „Wenn ich euch abgeliefert habe, werde ich der Chefin erklären, dass Ben fraglich einen seiner Entführer wiedererkannt hat und ich deswegen eine Observierung vornehmen möchte. Vielleicht bekomme ich Jenni oder Bonrath dazu-werde die aber natürlich nicht einweihen!“ beschloss er. „Ben denkst du, du könntest dann noch ein klein wenig alleine bleiben, dann soll Sarah mit mir kurz in die PASt kommen, damit wir ein Phantombild erstellen können-ich würde gerne wissen, nach wem ich Ausschau halten muss?“ fragte er dann nach kurzer Überlegung und Ben nickte stumm. Er wollte nicht sprechen, denn seine Stimme hätte sonst gezittert.


    Als sie am Haus ankamen, gingen sie zügig ins Innere, allerdings musste Ben nun schon von ihnen gestützt werden, denn seine Beine trugen ihn kaum noch. Sarah hatte ihr Waschzeug und einige andere wichtige Dinge noch in eine Tasche geworfen. Schweigend folgten sie Semir in den Keller. Ben war dort schon gewesen, denn er hatte schließlich beim Umzug geholfen und das Haus auch vor dem Bezug schon komplett gesehen, aber Sarah war das erste Mal im Untergeschoss. Sie zog nun eine einzelne Webcam aus der Tasche. „Die funktioniert mit Funk, da brauchen wir nicht einmal ein Kabel nach draußen verlegen, nur einen Stromanschluss müssten wir haben!“ erklärte sie und musterte den kargen Kellerraum. Semir nickte, holte ein Verlängerungskabel und bald hatten sie die Webcam über der Tür so installiert, dass man einen Großteil des Zimmers, aber vor allem das Bett vom Laptop im Nebenzimmer aus, damit einsehen konnte. Ben hatte sich auf dieses sinken lassen und sah ein wenig gerührt auf die auf einem Stapel liegenden Zeitschriften und die beiden selbst gemalten Bilder von Ayda und Lilly, die Andrea da aufgehängt hatte. Das Bettzeug war sauber bezogen, denn Andrea war in Semir´s Abwesenheit ebenfalls dagewesen, um das Zimmer ein wenig wohnlich zu gestalten. Wasserflaschen und andere Getränke standen bereit, einige süße Teilchen lagen auf einem Teller und Andrea hatte noch einen kleinen Glastisch hineingestellt. Allerdings bat Sarah Semir nun, den wieder zu entfernen und nahm auch alle Glasflaschen und den Porzellanteller mit aus dem Zimmer, misstrauisch beäugt von Ben, der nicht wusste, was das sollte. „Ben, ich will die Verletzungsgefahr einfach minimieren!“ erklärte sie ihm und sah dann auf die Uhr. „Semir beeilen wir uns, denn ich möchte bald wieder da sein!“ sagte sie und dann verschwanden die beiden. Ben hört mit einem dumpfen Gefühl im Bauch den Riegel von draußen einrasten und rollte sich dann auf dem Bett zusammen. Seine Angst vor dem, was ihm bevorstand, stieg ins Unermessliche.


    Sarah nahm neben Semir auf dem Beifahrersitz Platz und während der zügig und konzentriert den BMW Richtung PASt lenkte, fragte er bedrückt: „Sarah-was erwartet uns denn jetzt die nächsten Tage? Ich bin mir gerade wie der Kerkermeister in Person vorgekommen, als ich den Riegel vorgelegt habe. Ben ist doch kein wildes Tier, dass man wegsperren muss!“ sagte er, aber Sarah wiegte mit dem Kopf. „Noch nicht, Semir, aber wir müssen auf alles vorbereitet sein. Ein Heroinentzug dauert typischerweise ein bis zwei Wochen, aber die schlimmste Zeit ist etwa 36-72 Stunden nach dem letzten Schuss. Da müssen wir einfach damit rechnen, dass es Ben nicht nur körperlich schlecht geht, sondern dass sich auch sein Verstand verwirrt, denn Heroin wirkt direkt im Gehirn an den Opioidrezeptoren. Da kann es-muss aber natürlich nicht-zu Fehlschaltungen kommen. Darauf möchte ich vorbereitet sein, denn es ist möglich, dass Ben da nicht nur für sich, sondern auch für andere eine Gefahr darstellt!“ erklärte sie. Was sonst vermutlich noch alles auf sie zukommen würde, wollte sie jetzt nicht näher erläutern-vielleicht wurde es ja auch gar nicht so schlimm, immerhin hing Ben ja noch nicht so lange an der Nadel.


    Wenig später betraten sie die PASt und Semir bat Sarah doch mit dem PC-Experten, der sich auf Phantombilder spezialisiert hatte, ein realistisches Bild zu erstellen und ging dann schnurstracks zur Chefin ins Büro. Er legte Ben´s Krankmeldung auf den Tisch und sagte: „Frau Krüger-Ben meint, einen der Männer erkannt zu haben, die ihn vor knapp zwei Wochen entführt haben, als wir den Deal am Rastplatz verhindert haben. Ich habe ihn und seine Freundin an einem sicheren Ort untergebracht, an dem er sich von seiner Magengeschichte auskurieren kann, denn er ist im Augenblick wirklich nicht arbeitsfähig. Allerdings bräuchte ich jetzt einen zweiten Mann in Zivil, der mir bei einer Observierung und den Ermittlungen hilft.“ bat er und Frau Krüger musterte ihn mit einem leisen Lächeln. Da war der Terrier auf der Spur und sie sagte großzügig: „Suchen sie sich jemanden aus-Bonrath oder Dorn stehen zu ihrer Verfügung!“ sagte sie und nach kurzer Überlegung entschied sich Semir für Jenni. Der sah man die Polizistin am Allerwenigsten an. Die Chefin nickte mit dem Kopf und teilte Jenni, die in Uniform am PC saß, mit, dass sie bis auf weiteres Semir zugeteilt war. Dieter seufzte auf. „Dann kann ich ja diese ganzen Dinge, die unseren Fuhrpark betreffen wieder alleine managen!“ jammerte er, aber Jenni verschwand strahlend in der Umkleide-es war ihr eine Ehre, Semir bei den Ermittlungen zu unterstützen.


    Sarah war inzwischen mit dem Phantombild des Mannes, den sie im Eingangsbereich des Hauses gesehen hatte, zufrieden und Semir zog das auf sein Tablet aus dem BMW. Alle drei stiegen sie in den Wagen und Semir setzte Jenni erst einmal vor Ben´s Wohnung ab. Sarah ging noch kurz wie selbstverständlich zum Briefkasten, in dem aber außer einigen Werbebriefen nichts zu finden war. „Jenni-halte Ausschau nach diesem Mann, aber unternimm bitte alleine nichts, der ist zu gefährlich, ich komme so bald wie möglich wieder!“ bat er und hoffte, dass der nicht gerade auftauchte, solange er nicht da war. Sarah stieg wieder ins Auto, nicht ohne vorher Semir den Briefkastenschlüssel ausgehändigt zu haben. Jenni bezog im Hauseingang gegenüber Stellung und nun fuhren Semir und Sarah eilig zurück zum Haus. Semir ging noch kurz mit Sarah in den Keller, aber nach einem Blick auf den Laptop stellten sie zufrieden fest, dass Ben zu schlafen schien. „Ich verschwinde wieder-bis später und wenn du Hilfe brauchst, dann melde dich!“ sagte Semir und klopfte auf sein Handy, das er wie Sarah immer bei sich trug. „Danke dir!“ sagte Sarah und machte sich dann auf den Weg zu ihrem Freund.

  • Jenni hatte sich im Hauseingang gegenüber unauffällig herumgedrückt. Plötzlich sah sie ihn. Der gut gekleidete Mann vom Phantombild näherte sich zielsicher dem Eingangsbereich von Ben´s Wohnhaus. Er probierte, ob die Tür aufging, was aber nicht der Fall war. Kurz überlegte er anscheinend, ob er irgendwo läuten solle, aber dann begann er sich, wie Jenni gegenüber, die sich immer tiefer in den Schatten zurückzog und nebenbei so tat, als würde sie das Klingelschild polieren, im Eingangsbereich des Hauses aufzuhalten, um abzuwarten, bis zufällig jemand die Tür öffnete. Jenni kramte hektisch ihr Handy hervor und wählte mit zitternden Fingern Semir´s Nummer. Der hatte seine Freisprecheinrichtung an und war gerade auf dem Rückweg. „Semir-die Zielperson ist eingetroffen, was soll ich tun?“ fragte Jenni flüsternd und Semir fluchte verhalten. Er schaltete sein Blaulicht an und versuchte dadurch schneller durch den mittäglichen Kölner Verkehr zu kommen. „Geh kein Risiko ein, ich versuche so schnell wie möglich da zu sein. Lass ihn im Zweifelsfall entkommen und versuche sein Fluchtfahrzeug zu identifizieren. Ich bin wenn´s gut geht in knapp 10 Minuten bei dir!“ rief Semir aufgeregt und ging aufs Gas.


    Wenig später kam aus dem Hauseingang, in dem Jenni geschäftig tat, ein älterer Mann, stutzte kurz und maulte sie dann an: „Was tun sie hier, junge Frau?“ fragte er laut. „Ich habe sie hier noch nie gesehen! Und übrigens, nehmen sie ihre Finger von meinem Klingelschild, das geht sie überhaupt nichts an!“ rief er zornig und in voller Lautstärke und nun drehte sich der Mann gegenüber um, um sich nach der Ursache des Disputs umzusehen. Jenni hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst, aber so versuchte sie zu retten, was zu retten war, indem sie zu ihrem Gegenüber sagte: „Ich wurde aber von der Hausverwaltung verständigt, um defekte Klingelschilder auszutauschen!“woraufhin der Hausbewohner immer lauter wurde: „Da wüsste ich aber was davon, mir gehört nämlich dieses Haus, aber warten sie nur, ich rufe jetzt die Polizei!“ schrie er fast und packte Jenni am Arm, so dass der gut gekleidete Mann von der anderen Straßenseite sie irritiert ansah. Als er das Wort Polizei hörte, drehte er sich auf dem Absatz um und ging eiligen Schrittes davon.


    Jenni sagte leise und gepresst zu dem Mann, der sie festhielt. „Ich bin Polizistin im Einsatz, lassen sie mich sofort los, ich zeige ihnen meinen Ausweis!“ und schon griff sie nach ihrer Tasche, um das kleine Kärtchen mit ihrem Bild und dem Hoheitszeichen herauszuholen. Der ältere Mann stutzte und auch als er die Waffe an Jenni´s Holster erblickte, die nun zu sehen war, als sie ihre leichte Jacke anhob, begann er ihr zu glauben, ließ ihren Arm los und sagte nun in friedlicherem Ton. „Woher soll ich das auch wissen- also nichts für ungut!“ und Jenni ging nun eilig in die Richtung los, in die der Mann verschwunden war. Der war inzwischen um eine Ecke gebogen und gerade dabei in einen schwarzen neueren Porsche einzusteigen. Gerade wollte Jenni sich das Kennzeichen einprägen, da drehte sich der Anzugträger um und bevor Jenni reagieren konnte, holte sie ein Schlag gegen die Schulter und danach ein schrecklicher Schmerz von den Beinen. Während sie aufschrie und mit der Hand nach der verletzten Stelle griff, sprang der Schütze in sein Auto und jagte mit quietschenden Reifen davon.


    Als wenig später Semir um die Ecke bog, sah er schon unweit von Ben´s Wohnhaus einen Menschenauflauf auf der Straße und als er entsetzt näher kam, erkannte er Jenni in ihrem Blut auf dem Boden liegen und einige Passanten, die sich um sie kümmerten. „Jenni, was ist passiert?“ fragte er verzweifelt, sprang aus dem BMW und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. „Semir, er ist weg-ich habe es verbockt!“ weinte Jenni und wurde dann vor Schmerzen ohnmächtig.


    Sarah hatte inzwischen den Riegel von der Tür genommen und war zu Ben getreten. Er schlief gar nicht richtig, sondern war in einem merkwürdigen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Seine Nase lief, als ob er einen schrecklichen Schnupfen hätte und auch sein Mund produzierte Speichel ohne Ende, den er wie eine heiße Flüssigkeit empfand, die schmerzhaft seine Kehle hinunterlief, wenn er schluckte. Das erste Päckchen Taschentücher war schon verbraucht und Sarah konstatierte innerlich distanziert, aber doch voller Mitleid, dass es begonnen hatte. Der sogenannte Gierschlaf war eingetreten und nun würde sie abwarten, welche weiteren Symptome Ben bekommen würde.

  • Ben schlug die Augen auf, als er Sarah kommen hörte. In seinem Kopf waren die wirren Gedanken Karussell gefahren. Er konnte keinen so richtig fassen, aber ständig waren da Eindrücke aus der Vergangenheit. Er sah Semir vor sich, wie er ihn gerettet hatte, als dessen Wagen in Flammen aufgegangen war. Damals waren ihm von den Verbrechern auch irgendwelche Drogen verabreicht worden und er hatte tagelang in einem Dämmerschlaf auf einer schmutzigen Matratze in einem Abbruchhaus verbracht-allerdings danach nie Entzugserscheinungen gehabt. Als Semir ihn dann befreit hatte, war er durch eine morsche Decke gebrochen und zwischen lauter Trümmern im eiskalten Wasser gelandet. Wenn Semir und Frau Krüger ihn nicht herausgezogen hätten, wäre das sein Ende gewesen. Seine Gedanken waren noch weiter in die Vergangenheit geschweift und er hatte sich in dem Sarg wiedergefunden. Das war eines seiner schlimmsten Erlebnisse gewesen-lebendig begraben und dann noch von einer Kamera im Sargdeckel beim Sterben gefilmt. Voller Angst, Zorn, Verzweiflung und zuletzt Wehmut hatte er da schon mit dem Leben abgeschlossen gehabt und war bewusstlos geworden, als der Sarg sich mit Wasser gefüllt hatte und ihn ertrinken ließ. Er hatte es beinahe nicht glauben können, als er wenig später in Semir´s Armen zu sich gekommen war.
    Immer wieder Semir- und dann Sarah, die durch einen Zufall in sein Leben getreten war. Er war auf ihrer Intensivstation gelandet als er nach einem gemeinsamen Verkehrsunfall mit Semir bei einer Verfolgungsjagd schwere Komplikationen erlitten hatte. Auch Semir wäre da beinahe gestorben, aber sie beide hatten es durchgerissen und seitdem war seine Sarah sein großes Glück und die Liebe seines Lebens geworden, das nun in einem gemeinsamen Kind gipfelte. Für sie alle-für seine Familie und für seinen besten Freund würde er das hier durchstehen und clean werden!


    Er hatte den Riegel vor der Tür gehört und dann hatte sich Sarah neben ihn gesetzt und ihm wissend ein frisches Päckchen Taschentücher gereicht. Sie öffnete eine Flasche Wasser und forderte ihn zum Trinken auf. „Ben, du musst versuchen, möglichst viel Wasser drin zu behalten-die Austrocknung ist eine der größten Gefahren während des Entzugs!“ sagte sie eindringlich und Ben trank folgsam die halbe Flasche aus. Allerdings zitterten seine Hände dermaßen, dass er sich ziemlich vollschüttete. Sarah erhob sich und holte eine Jogginghose und ein frisches Shirt aus seiner Tasche. „Zieh das an-das ist bequemer als die Jeans!“ forderte sie ihn auf und klaglos wechselte Ben die Kleidung. Allerdings musste ihm Sarah helfen den Jeansknopf und den Reißverschluss zu öffnen, er hätte das selber nicht hingebracht, so wenig Feinmotorik hatte er im Augenblick. „Oh Mann Sarah-wer hätte das gedacht!“ sagte Ben mit einem trockenen Grinsen. „Früher wäre ich über dich hergefallen, wenn du so an meiner Hose herumgefummelt hättest und jetzt bin ich wie ein alter Mann, dem man helfen muss, damit er pinkeln gehen kann. Ich könnte es dir nicht verdenken, wenn du mich verlässt!“ und nun huschte auch über Sarah´s Gesicht ein Lächeln. „Wenn du es schaffst mit den Drogen aufzuhören werde ich noch bei dir sein, wenn du alt und krank bist-da hast du deine Rechnung ohne uns Krankenschwestern gemacht-wir sind nicht so leicht abzuschütteln und ekeln uns auch nicht so schnell. Meine Bedingungen kennst du-die Finger von den Drogen, alles andere ist mir egal!“ sagte sie voller Überzeugung. Ben sah sie liebevoll an. „Ich werde es schaffen!“ versprach er, aber dann musste er wieder den feurigen Speichel schlucken und seine Nase putzen.


    Semir war derweil an Jenni´s Seite geeilt und fragte die Umstehenden: „Hat bereits jemand den Rettungsdienst verständigt?“ und eine junge Frau nickte. „Schon geschehen!“ sagte sie und da hörte man aus der Ferne das Martinshorn. Semir drehte Jenni sanft zur Seite, aber die begann nun wieder das Bewusstsein zu erlangen. Wenig später standen zwei Mitarbeiter des Rettungsdienstes und ein Notarzt vor ihnen und nahmen die Erstversorgung vor. Jenni bekam eine Infusion gelegt und ein Schmerzmittel verabreicht. Man verband ihre Schulter provisorisch und nachdem Semir vom Fahrer des Rettungswagens erfragt hatte, in welches Krankenhaus sie gebracht würde, sagte er zu ihr: „Ich komme dann in die Klinik und schaue nach dir!“ und Jenni schenkte ihm ein schiefes Lächeln. Als sie abtransportiert war, fragte Semir die Umstehenden nach ihren Beobachtungen aus. Auch ein Streifenwagen war inzwischen eingetroffen, denn wenn über die Leitstelle eine Schussverletzung gemeldet wurde, wurde automatisch die Polizei mit verständigt. Wenig später hatte Semir gemeinsam mit seinen uniformierten Kollegen die Protokolle aufgenommen und hatte das Kennzeichen und die Baureihe des Porsche. Während er sich auf den Weg in die Klinik machte, zischte er durch die Zähne: „Freundchen-dich werde ich kriegen-jetzt bist du mein persönlicher Feind!“

  • Semir funkte Susanne an: „Kannst du mir bitte den Halter des Fahrzeugs mit dem Kennzeichen K-LM-433 heraussuchen?“ fragte er. „Der Typ hat gerade Jenni angeschossen und ich bin auf dem Weg zu ihr ins Krankenhaus!“ sagte er und Susanne meldete sich Sekunden später: „Das Kennzeichen gehört zu einem weissen Opel Zafira und der Halter wohnt in Köln-Deutz“, teilte sie ihm mit und Semir fluchte verhalten. „Dann war das Kennzeichen mal wieder eine Doublette, denn mehrere Zeugen haben übereinstimmend ausgesagt, dass das Fahrzeug ein schwarzer Porsche der letzten Baureihe war. Ein Autoverrückter konnte sogar sagen, dass das ein 911er Turbo war-der kannte sich anscheinend mit Porschemodellen aus!“ sagte Semir und nun meldete sich auch schon die Chefin auf dem Funk, die von Susanne informiert worden war, dass Semir in der Leitung war. „Gerkhan-was zum Teufel war da los? Kaum haben sie jemand zum Observieren angefordert, da bekomme ich mitgeteilt, dass Frau Dorn angeschossen wurde. Wie geht es ihr und wo sind sie gerade?“ fragte sie teils besorgt und geschockt, aber dann auch wieder verärgert. „Frau Krüger-ich bin auf dem Weg ins Marien, wohin Jenni gebracht wurde. Sie hat eine Schussverletzung an der Schulter und war zwar kurz ohnmächtig, aber der Notarzt meinte, dass keine akute Lebensgefahr besteht!“ teilte Semir ihr mit. „Ich sehe jetzt nach ihr und melde mich dann wieder.“


    Innerlich seufzte er auf. Verdammt noch mal-das hätte es jetzt nicht gebraucht! Hätte er nur alleine ermittelt, aber so war erstens Jenni verletzt worden und zweitens war jetzt die Chefin an dem Fall hoch interessiert. Wenn es ihm tatsächlich gelänge die Verbrecher zu ermitteln und zu verhaften, brauchten sie nur den Mund aufzumachen-und was sollte sie daran hindern, das zu tun-und Ben´s Drogenabhängigkeit wäre publik und seine Polizeikarriere gelaufen. Aber das war jetzt nicht zu verhindern-wichtig war, dass Ben von dem Zeug wegkam, seine kleine Familie in Frieden leben konnte und das Kind gesund aufwuchs. Würde er die Verbrecher nicht finden, musste Ben sowieso woanders ein neues Leben unter anderem Namen anfangen, denn sonst wären Sarah, er und das Kind ein Leben lang in Gefahr. Hoffentlich waren diese Tatsachen nicht Ben ebenso bewusst, wie ihm, denn sonst sah Semir schwarz für den Entzug. Wobei-schließlich ging es da nicht nur um den Beruf, sondern auch Sarah hatte ihren Standpunkt unmissverständlich klar gemacht. Ben musste sich entscheiden zwischen ihr und der Droge und Semir nötigte deren Entschlossenheit höchsten Respekt ab. Wenn Ben es allerdings nicht schaffen sollte, dann graute es Semir. Unter diesen Umständen würde der alles verlieren, was ihm wichtig war und da konnte auch er als Freund vermutlich den Komplettabsturz nicht mehr verhindern.


    Kaum war er den trüben Gedanken nachgehangen, da stand er auch schon vor der Notaufnahme des Marienkrankenhauses. Er stellte sein Fahrzeug ab und fragte sich zu Jenni durch, die gerade in einem Behandlungsraum war. Er setzte sich auf einen der Besucherstühle und wartete, bis sich die Tür öffnete. Das dauerte und dauerte und Semir nickte ein wenig ein. Als ihn plötzlich ein Pfleger ansprach, schreckte er hoch-er hatte gerade im Halbschlaf Ben vor sich gesehen, der sich soeben den goldenen Schuss gesetzt hatte. Voller Entsetzen hatte er auf die Szene gesehen-Ben lag völlig heruntergekommen auf einer schmutzigen Matratze und hatte die Nadel noch im Arm stecken, war aber mausetot. Du lieber Himmel-hoffentlich wurde diese Vision nie Wirklichkeit!


    „Sie wollten zu Frau Dorn?“ fragte der Pfleger und Semir nickte und erhob sich. Man führte ihn in den Behandlungsraum, in dem Jenni ein wenig blass mit einem dicken Verband um die Schulter in einem Krankenhausbett lag. „Wie geht´s dir?“ wollte Semir wissen und Jenni antwortete: „Ganz gut-der Arzt sagt, es ist eine reine Fleischwunde, der Knochen und das Gelenk haben nichts abgekriegt. Sie haben das sauber gemacht und ich muss ein paar Tage Antibiotika nehmen. Ich soll bis morgen noch zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben, aber wenn dann nichts nachkommt, darf ich nach Hause. Allerdings bin ich mindestens drei Wochen krankgeschrieben und muss anfangs den Arm auch noch in einer Schlinge tragen!“ erzählte sie und Semir nickte. „Jenni mir tut das so leid, dass der Typ gerade dann gekommen ist, als ich nicht da war! Ich verspreche dir aber, ich werde alles tun, um ihn zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen und du hast absolut nichts falsch gemacht, hörst du?“ Jenni nickte und sagte erschöpft: „Ich wollte wirklich nur schauen, in was für ein Auto der steigt, aber dann hats auch schon geknallt. Ich habe echt nichts gemacht-weder versucht ihn festzunehmen, noch sonst was. Ein Anwohner hat gemeint, ich würde was an seiner Rufanlage kaputtmachen und hat so die Aufmerksamkeit des Gesuchten auf mich gelenkt, dabei fiel auch das Wort Polizei!“ erklärte sie. „Ach ja und Semir, er ist in einen schwarzen 911er Turbo gestiegen, das wollte ich dir auch noch sagen und das Kennzeichen fällt mir auch gleich wieder ein-Moment!“ sagte sie und zog die Stirne kraus. „Das hab ich schon-mach dir keine Mühe!“ sagte Semir und Jenni fragte nun: „Na warum hast du den Typen dann noch nicht festgesetzt?“ und Semir lachte trocken auf. „Na vielleicht weil der auch nicht blöd ist und das Kennzeichen ne Doublette ist! Aber ich verspreche dir-den Kerl schnappe ich mir!“ sagte er voller Überzeugung und dann wurde Jenni, deren Eltern man derweil bereits verständigt hatte, in ihr Krankenzimmer gefahren und Semir machte sich auf den Weg zur PASt. Er würde der Chefin persönlich Rapport erstatten und dann nach Feierabend direkt zu Ben und Sarah fahren.


    Vielleicht fiel ihm auch noch ein, wie er eine Spur des skrupellosen Schützen finden konnte-und wo war übrigens die Kugel? Semir verharrte. Er war schon kurz vor seinem Fahrzeug gewesen, da drehte er nochmal um. Er ging zurück in die Notaufnahme und suchte Jenni´s behandelnden Arzt. Als er den gefunden hatte, fragte er: „Konnten sie die Kugel entfernen, die in der Schulter meiner Kollegin gesteckt hat?“ aber der verneinte. „Das war ein glatter Durchschuss, ich habe die Kugel nie zu Gesicht gekriegt!“ erklärte er und nun fuhr Semir sofort zum Ort des Attentats zurück. Verdammt noch mal-warum hatte er keine SpuSi angefordert? Irgendwie war alles anders, wenn Freunde und Bekannte in einen Fall verwickelt waren. Er war persönlich dermaßen involviert, dass er die Grundregeln der Polizeiarbeit vernachlässigt hatte: Tatortsicherung und Spurensicherung! Die uniformierten Kollegen hatten sich auf ihn als den Ranghöheren verlassen und selber nichts initiiert, was ihnen auch nicht zu verdenken war.
    Semir fand auch sofort anhand des Blutflecks auf dem Boden die Stelle an der Jenni gelegen hatte. Laut Zeugenaussagen wusste er auch den ungefähren Ort, an dem der Schütze gestanden hatte. Systematisch begann er nun die Gegend abzulaufen, wo die Kugel wohl gelandet sein könnte und tatsächlich-wenig später sah er das unscheinbare Projektil im Rinnstein liegen. Er holte eine Plastiktüte aus seiner Jackentasche und nahm die verformte Kugel mit ihr auf. Vorsichtshalber kontrollierte er danach auch noch, ob irgendwelche Reifenspuren vom Porsche zu entdecken waren, aber es war trockenes Wetter, da würde auch Hartmut nichts finden und somit hatte er jetzt nichts mehr versäumt. Froh, dass er einen weiteren Hinweis gefunden hatte, sprang Semir nun in den BMW, um endgültig zu KTU und PASt zu fahren.

  • Sarah hatte inzwischen Ben´s Shirt aufgehängt und holte aus seiner Tasche eine Bettunterlage. Sie hatte mehrere wasserundurchlässige Moltontücher für das Baby gekauft und die geistesgegenwärtig mitgenommen. „Was soll das?“ fragte Ben, der auf der Bettkante saß und versuchte sein Zittern und seine hellwache innere Unruhe zu kontrollieren. „Frag lieber nicht-du wirst noch schnell genug erfahren, wozu die notwendig sind!“ antwortete Sarah kurz angebunden. Sie hoffte zwar, dass Ben´s körperliche Symptome eher mild verlaufen würden, weil er ja noch nicht so lange Drogen konsumierte, aber sie wollte auf Alles gefasst sein. Sie ging auch hinaus, um einen zweiten Eimer zu suchen. Momentan warf Ben die benutzten Taschentücher hinein und wurde immer unruhiger. Er begann im Zimmer herumzulaufen, ging dann auf die Toilette und blickte dabei beim Händewaschen sein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken an. Das Licht erschien ihm unheimlich grell und er musste die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden, so dass er sich gar nicht richtig erkennen konnte. Allerdings konnte er eines konstatieren: Er sah nicht taufrisch aus, seine Haare klebten strähnig an seinem Kopf, obwohl er doch morgens erst geduscht hatte, aber langsam begannen zusätzlich zu dem feurigen Speichel auch noch Tränen aus seinen Augen zu laufen, ohne dass er es kontrollieren konnte. Eine große Sehnsucht nach nur einem winzig kleinen Schuss ergriff von ihm Besitz. Wenn er nur eine kleine Dosis zu sich nahm, wäre das doch gar nicht so schlimm? Aber im selben Moment, wo er das dachte, wurde ihm bewusst, dass dann alles vorbei war. Sarah würde ihn endgültig verlassen, er würde vielleicht sein Kind nie kennenlernen und außerdem war das gar nicht er, der solche Gedanken hatte. Er hatte schon viel ausgehalten in seinem Leben und würde auch das durchstehen! Das flüsterte ihm die Droge ein, dass er unbedingt Nachschub brauchte!


    Als er aus der Toilette kam, stand Sarah vor der Tür und beobachtete ihn besorgt. Ihr fiel auf, dass Ben´s Augen in Tränen schwammen und seine Pupillen unnatürlich erweitert waren. „Leg dich ein wenig hin und schließ die Augen!“ sagte sie, aber Ben schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht!“ sagte er und begann eine ruhelose Wanderung durch den Kellerraum. Wie schön wäre es jetzt, mit Sarah am Rhein entlang zu laufen, oder wenigstens ein wenig durch die Stadt zu marschieren, aber klar-er sah schon ein, dass das nicht möglich war, solange die Dealer auf freiem Fuß waren. Er wollte sich eigentlich gar nicht näher mit diesem Thema beschäftigen-zu belastend war das im Augenblick- aber trotzdem war ihm durchaus bewusst, dass er schon sehr viel Glück brauchen würde, um unbeschadet aus dieser Sache rauszukommen!
    Ben lief wie ein Tiger im Käfig immer hin und her, so dass Sarah selber ganz nervös wurde, die auf dem Bett Platz genommen hatte. Noch konnte er laufen, aber niemand wusste, wie lange! Hoffentlich bemerkte sie es rechtzeitig, wenn sein Verstand sich verwirrte, sonst waren sie und das Kind in höchster Gefahr, auch wenn Ben sich das nicht vorstellen konnte. Sie versuchte ihm etwas zu erzählen, aber er konnte nicht richtig zuhören und so hörte Sarah nach einer Weile damit auf-es machte sowieso keinen Sinn. Das Baby in ihrem Bauch hatte wieder Turnstunde und sie bekam einige schmerzhafte Leberhaken ab. Normalerweise hätte Ben das bemerkt und seine beruhigenden Hände auf ihren Bauch gelegt und seinen Nachwuchs damit, wie schon hundertmal erprobt, zur Ruhe gebracht aber er war im Moment völlig auf sich fixiert, lebte in einer eigenen Welt und bemerkte gar nicht, wie sie unbewusst ihre Lage änderte, um den schmerzhaften Tritten zu entgehen. Nun begann Ben zu gähnen, wie er noch nie in seinem Leben gegähnt hatte. Er war ja eigentlich auch gar nicht müde, aber das war ein Zwang, der ihn den Mund aufreißen ließ. Anfangs hielt er, gut erzogen, noch die Hand vor, aber nachdem die Gähnattacken immer häufiger wurden, hörte er irgendwann damit auf. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah und Sarah dachte mit Schaudern daran, dass in der Literatur beschrieben war, dass sich manche Junkies da schon den Kiefer dabei ausgerenkt hatten. Nun hörte Ben plötzlich auf herumzulaufen und setzte sich neben Sarah aufs Bett. Ein Frösteln überlief ihn und er sagte leise: „Sarah, mir ist so unendlich kalt!“ und damit rollte er sich unter der Zudecke zusammen.


    Semir war indessen in der KTU angekommen und überreichte Hartmut das Projektil. „Mit dieser Kugel wurde Jenni angeschossen, ich habe sie aber im Rinnstein gefunden-es war ein glatter Durchschuss!“ sagte er und Hartmut, der von der ganzen Geschichte noch nichts gehört hatte, wurde blass und erkundigte sich erst einmal, wie es der jungen Polizistin ging, die ihm sehr am Herzen lag. Danach sah er ihn- diesbezüglich fürs Erste beruhigt- prüfend an. Semir wirkte total fertig und besorgt-irgendwas war da im Busch, das merkte Hartmut sofort. „Semir, wenn du Hilfe brauchst, wende dich an mich!“ sagte er und Semir nickte dankend mit dem Kopf. „Die Chefin muss das auch nicht unbedingt erfahren!“ fügte der Kriminaltechniker hinzu und Semir nickte. „Ich werde die Kugel untersuchen und dir das Ergebnis noch mitteilen, danach fahre ich zu Jenni ins Krankenhaus!“ bestimmte Hartmut und Semir dankte ihm, während er sich schon auf den Weg zur PASt machte, um Frau Krüger Rapport zu erstatten.

  • Semir ging nun schnurstracks zu Frau Krüger. Schweren Herzens näherte er sich ihrem Büro. „Gerkhan, kommen sie rein!“ befahl sie ihm und Semir betrat mit einem inneren Seufzer den Arbeitsplatz. „Was genau ist denn passiert?“ fragte ihn die Chefin und Semir versuchte verzweifelt, einen Mittelweg zu finden. Er wollte nicht lügen, aber die ganze Wahrheit sagen konnte er auch nicht!
    „Ben hat gestern vor seiner Wohnung einen der Männer wiedererkannt, der ihn vor zwei Wochen entführt hat. Auch seine Freundin hatte ihn gesehen und deshalb war sie vorher mit in der PASt, um das Phantombild zu erstellen. Ben ist im Augenblick an einem sicheren Ort, aber er hat eine posttraumatische Belastungsstörung und wäre im Augenblick nicht fähig, seinen Entführern gegenüberzustehen oder auch nur eine Beschreibung abzugeben-er würde dann vermutlich zusammenbrechen. Wir müssen ihm einfach Zeit geben!“ schwindelte Semir ein wenig, aber im Kern war das eigentlich gar nicht so richtig gelogen-fand er zumindest! „Ich glaube nicht, dass das ein Zufall war, dass der Mann zu Ben´s Wohnung kam und ich wollte ihn deswegen ein wenig befragen!“ erklärte Semir und nun musste die Chefin grinsen. Ja-Semirs Befragungen-die waren berühmt, da konnte so mancher Verbrecher ein Liedchen davon singen!
    „Ich hätte nie gedacht, dass Jenni in Gefahr wäre, sonst hätte ich sie nicht alleine dort gelassen, aber wie man sieht-das ist ein skrupelloser Verbrecher, der vor nichts zurückschreckt und wir müssen alles daran setzen, ihn zu überführen!“ erklärte Semir und auch da musste die Chefin ihm zustimmen. „Hartmut hat das Projektil zum Untersuchen, von dem Jenni getroffen wurde und wenn auch das Kennzeichen des Porsche gefälscht war-so wahnsinnig viele schwarze Porsches dieser Baureihe werden ja rund um Köln nicht zugelassen sein. Vielleicht finden wir so einen Anhaltspunkt, der uns den Weg zu den Entführern zeigt. Ich habe vorhin nachgesehen-so ein Fahrzeug kostet so um die 170 000 €-die zahlt der Otto Normalverbraucher nicht mal so eben aus der Portokasse!“ sagte Semir und dann erzählte er noch, was er von Jenni erfahren hatte. Die Chefin hatte aufmerksam zugehört und auch ein wenig aufgeatmet, als sie hörte, dass die Verletzung der jungen Polizistin wohl nicht so sehr schwerwiegend war. Klar war es blöd, dass sie nun länger ausfallen würde, aber die Hauptsache war, dass das hoffentlich folgenlos ausheilen würde und keine Spätschäden bei der jungen Frau zurückblieben.


    „Frau Krüger-trotzdem würde ich heute gerne pünktlich Feierabend machen. Ich denke nicht, dass wir heute noch einen Ermittlungserfolg haben werden. Wenn Susanne bis morgen die ganzen Adressen heraussucht, dann werde ich mich da gleich in der Früh auf den Weg machen.“ setzte Semir noch hinzu, denn nach einem Blick auf die Uhr hatte er festgestellt, dass die reguläre Feierabendzeit gerade gekommen war. In diesem Augenblick läutete auch sein Telefon und Hartmut war dran. „Semir, ich kann dir nur sagen, dass das Projektil ein Winchester 9mm ist-das kann man aus vielen gängigen Pistolen abfeuern. Wenn du mir eine Waffe bringst, kann ich es wohl zuordnen, aber sonst habe ich keine weiteren Hinweise!“ erklärte er und Semir bedankte sich und teilte Frau Krüger das auch noch in kurzen Worten mit. „Gut Gerkhan-machen sie Feierabend, aber morgen werden wir versuchen, den Schützen und Entführer zu finden-wenn meine Leute verletzt werden, werde ich sauer, das sollen diese Typen büßen!“ sagte sie und Semir seufzte innerlich auf. Oh je, die Chefin war persönlich an diesem Fall interessiert-hoffentlich konnte er Ben schützen, aber wenns blöd lief, würde er mit dem untergehen. Aber mitgefangen-mitgehangen-jetzt hatte er A gesagt, er würde auch B sagen und die Verantwortung für sein Handeln übernehmen.


    Ben hatte inzwischen auf seinem Lager heftig zu zittern begonnen. Er fror, wie er noch nie in seinem Leben gefroren hatte. Sein Körper wurde von Schüttelfrösten heimgesucht, dass es ihn auf dem Bett herumwarf. Er klapperte mit den Zähnen und Sarah ging hinaus, um mehr Decken zu holen. Aber so sehr sie ihn auch zudeckte-gegen diese innere Kälte kam sie nicht an. Zugleich begann Ben am ganzen Körper schmerzhafte Krämpfe zu kriegen. Seine Wadenmuskulatur verzog sich, dass er laut aufschrie. Als Sarah dorthin fasste, fühlte es sich an, als wäre seine Wade ein einziger Klumpen und sie versuchte, ihm durch Strecken des Bein´s und Massagen Erleichterung zu verschaffen, aber es war vergeblich. „Ben, trink etwas!“ forderte sie ihn auf, denn im Mineralwasser war ebenfalls Magnesium, nur würden diese Dosen nicht ausreichen, um die Krämpfe zu lösen. Ben wusste nicht-sollte er eher zittern oder schreien und als die Decke von ihm rutschte, als er nach der Wasserflasche griff, die Sarah ihm hinhielt, konnte man erkennen, dass er am ganzen Körper eine Gänsehaut hatte, die wesentlich erhabener war, als man es sonst gewohnt war. Natürlich verschüttete er wieder etwas und so holte Sarah klaglos das nächste Shirt und half ihm, die Kleidung zu wechseln. Nun konnte man deutlich sehen, warum die Indianer den Ausdruck Cold Turkey für die Entzugssymptome gewählt hatten-Ben´s Haut sah aus, wie die eines gerupften Truthahns. Sarah hüllte ihn noch in eine weitere Decke und konnte nun nur voller Mitleid zusehen, wie er sich zitternd in Krämpfen wand. Sie sah auf die Uhr. Inzwischen war es siebzehn Uhr geworden-siebenundzwanzig Stunden waren seit dem letzten Drogenkonsum vergangen. Irgendwie hatte sie nun eine Ahnung, dass Ben doch nicht mit einer milden Form des Entzugs rechnen konnte. Das würde eine schreckliche Nacht werden!

  • Semir war aufatmend nach Hause gefahren. Sein Gespräch mit der Chefin war ihm wie ein Spießrutenlauf vorgekommen, aber irgendwie hatte er alles offen gelassen und vielleicht kamen sie doch noch irgendwie aus dieser Sache raus, ohne ihren Job zu verlieren-oder in seinem Fall eine Degradierung und ein Disziplinarverfahren in Kauf zu nehmen. Mehrmals hatte er auf sein Handy gesehen, ob Sarah einen Hilferuf ausgesandt hatte, aber sie hatte sich nicht gemeldet. Semir ging erst in die gemietete Wohnung, wo er freudig von seinen Kindern begrüßt wurde, allerdings hatte er da gerade gar keinen Nerv dazu, mit denen zu spielen und Andrea erlaubte ihnen deshalb, vor dem Abendbrot noch ein wenig fernzusehen, was sonst bei den beiden nicht üblich war und so saßen sie sofort mucksmäuschenstill vor dem Fernseher im Wohnzimmer und starrten gebannt auf die Sendung im Kinderkanal.„Semir, ich habe Gulasch mit Nudeln gemacht, das könnt ihr kurz erhitzen, dann haben Sarah und Ben was Warmes im Bauch-und du natürlich auch, denn ich glaube, du hast jetzt keine Lust auf ein gemeinsames Abendessen mit mir und den Kindern!“ sagte sie zutreffend und holte die Transportbehälter aus dem Schrank. „Geschirr ist noch genug im Haus-ihr müsst es vorher eben gründlich spülen!“ teilte sie ihm noch mit und gab die Behälter in einen Korb, wo schon einige Tafeln von Ben´s Lieblingsschokolade, Bonbons und Kekse drin waren. Gerührt küsste Semir seine Frau auf die Wange „Du denkst auch an Alles!“ sagte er und war auch schon wieder weg.


    Er hatte ein ungutes Gefühl, als er in die Garageneinfahrt seines Hauses einbog und den Wagen abstellte. Er packte seinen Korb und verschwand in der Haustür. Immer langsamer wurden seine Schritte, als er in den Keller ging. Es war leise, kein Laut war zu vernehmen, so sehr er auch lauschte und nun überfiel ihn eine Riesenangst. Was war, wenn die Dealer schon längst den Aufenthaltsort seines Freundes und dessen Familie herausgefunden hatten und er nun entweder gar niemanden, oder zwei Leichen vorfand? Er beschleunigte nun seine Schritte und als er die Tür zu dem Kellerraum aufstieß, die nur angelehnt war, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Ben lag dick eingemummelt unter einem riesigen Deckenberg und Sarah saß neben ihm und hielt seine Hand. „Hallo ihr drei, wie geht´s euch?“ wollte Semir wissen und Sarah wies auf ihren Freund. „Dem Kind und mir geht´s gut, aber ihm dafür umso weniger. Er hat bisher alle klassischen Symptome des Opiatentzugs geboten und ich befürchte, er wird da auch nichts auslassen, sondern das durchstehen müssen!“ teilte sie Semir mit und erhob sich seufzend, um ihren schmerzenden Rücken zu strecken. In diesem Augenblick stöhnte Ben wieder schmerzerfüllt auf, denn ein neuer Wadenkrampf hatte ihn heimgesucht, dass er meinte, seine Muskeln würden reißen. Sarah fragte nur kurz: „Wo tut´s weh, Ben?“ und er wies mit schmerzverzerrtem Gesicht zu seinem Bein, woraufhin Sarah geduldig die Decken ein wenig zur Seite schlug und versuchte die Zehenspitzen nach oben zu biegen und die Muskulatur durch Reiben zu lockern. Aus Ben´s Mund kam eine Art Schluchzen, das dann aber wieder abrupt abbrach, denn schon wieder schlugen seine Zähne aufeinander, so dass er kein vernünftiges Wort herausgebracht hätte.
    Entsetzt starrte Semir auf die Szene, denn Ben hatte sich in den paar Stunden, in denen er ihn nicht gesehen hatte, schrecklich verändert. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen und waren gerötet und die Pupillen maximal erweitert. Seine Wangen waren eingefallen, ein dünner Film aus kaltem Schweiß bedeckte seinen Körper, soweit er erkennen konnte und die Haare klebten strähnig an seinem Kopf. „Was kann man da tun?“ fragte Semir besorgt, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Im Moment nichts, außer da sein und ihm beistehen!“ sagte sie. Nun setzte Semir sich an den Bettrand und griff nach Ben´s eiskalter Hand. „Ben du schaffst das!“ sagte er voller Überzeugung in der Stimme, was aber nur gespielt war, denn er wagte innerlich zu bezweifeln, dass Ben das aushalten konnte- das war ja furchtbar!
    Nun drang Sarah´s Stimme wieder zu ihm durch. „Semir, ich möchte ein wenig herumgehen und mich frisch machen-bleibst du inzwischen bei ihm?“ fragte sie und Semir fiel nun noch ein, was er ja mitgebracht hatte. „Sarah-oben steht ein Korb mit Essen und Süßigkeiten. Solange es draußen hell ist, kannst du dich im ganzen Haus frei bewegen-bleib nur von den Fenstern weg. Erst wenn es finster wird, musst du dich auf die Kellerräume beschränken, aber das dauert noch ein paar Stunden!“ erklärte er ihr, denn es war erst 19.00 Uhr und um diese Jahreszeit war es mindestens bis 21.00 Uhr hell. „Möchtest du für uns was warm machen? Andrea meinte, da wäre genug Geschirr im Haus, wir müssten es nur vorher gut durchspülen! Ich kanns aber natürlich auch erledigen, dann bleibst du derweil bei Ben!“ sagte er, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Nein, das mache ich doch gerne-ich sitze hier jetzt doch schon eine Weile und freue mich, ein wenig rauszukommen!“ antwortete sie und fragte dann ihren Freund: „Ben möchtest du auch was essen?“ obwohl sie die Antwort schon vorher kannte. „Nein!“ stieß der gepresst hervor und schüttelte vehement den Kopf. „Semir, er soll aber immer wieder was trinken-da muss man ihm dabei helfen!“ erklärte Sarah noch, bevor sie nach oben ging und Semir nickte und hielt Ben auch gleich die Wasserflasche an die Lippen. Folgsam schluckte der, obwohl er eigentlich überhaupt nichts zu sich nehmen wollte, aber ihm war klar, dass Sarah am besten wusste, was gut für ihn war.


    Hartmut war inzwischen von banger Sorge erfüllt ins Marienkrankenhaus gefahren. Hoffentlich war Jenni´s Verletzung nicht allzu schlimm! Er bemerkte erst jetzt, wie gern er sie hatte. Es hatte zwischen ihnen schon länger einmal gefunkt, als er sogar im Drogenrausch eine Nacht mit ihr verbracht hatte, ohne sich daran erinnern zu können-wie ihm später erzählt worden war. Damals hatte sein Freund der Freak ihm irgendwelches Teufelszeug in den Drink getan und er hatte den totalen Filmriss danach gehabt. Ihm war erzählt worden, dass er nackt in einem geklauten Fahrzeug über die Autobahn gebrettert war, wo ihn Semir und Ben dann aufgehalten hatten und er hatte nebulöse Erinnerungen daran, dass er neben Jenni im Bett gelegen hatte, konnte sich aber sonst an gar nichts erinnern-leider, wie er zugeben musste. Er kam aber irgendwie nicht weiter, obwohl Ben sich alle Mühe gab, sie beide zu verkuppeln, sie auf Konzerte mitschleppte und auch sonst alles machte, damit sie sich näher kamen. Aber so sehr seine Phantasien, wenn er alleine war von der hübschen jungen Polizistin ausgefüllt waren und er sich jedes Mal vornahm, sie zum Essen einzuladen oder ihr sonst irgendwie näher zu kommen-sobald sie vor ihm stand, war seine Kehle wie zugeschnürt und er schwafelte bloß noch Blödsinn, für den er sich hinterher ohrfeigen könnte.
    Aber jetzt musste er sie dringend sehen, auch wenn sicherlich gerade nicht der geeignete Moment war, ihr seine Liebe zu gestehen. Aber er musste einfach wissen, dass es ihr gutging, sonst könnte er in der Nacht kein Auge zutun!

  • Als Hartmut in der Klinik ankam, bekam er Jenni´s Zimmernummer an der Pforte mitgeteilt. Immer langsamer werdend ging er zu ihr. Aus der Entfernung wusste er immer genau, was er ihr sagen wollte, aber sobald er vor ihr stand, verschlug es ihm die Sprache. Als er an der Zimmertüre klopfte, war er kurz davor wieder umzudrehen, aber als er ein fragendes „Herein!“ hörte, drückte er die Klinke herunter. Jenni hatte bereits Besuch. Ein älteres Ehepaar-anscheinend ihre Eltern-waren gerade dabei, ein paar Sachen für sie in den Schrank zu räumen. Als Jenni sah, wer da mit unsicherem Gesichtsausdruck in der Tür stand, überflog ein Lächeln ihr Gesicht. Sie war zwar blass, hatte einen dicken Verband um die Schulter und eine Infusion am gesunden Arm hängen, aber sonst sah sie eigentlich gar nicht so krank aus. Hartmut flog ein Stein vom Herzen und er nahm seinen ganzen Mut zusammen und trat an ihr Bett: „Hallo Jenni-wie geht´s dir denn-ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!“ sprudelte er heraus und streckte ihr die Hand entgegen. Jenni nahm die Hand ein wenig ungeschickt und da fragte auch schon Jenni´s Mutter:“Wer ist das?“ und sie stellte ihn nun vor. „Das ist Hartmut Freund-ein sehr lieber Kollege! Harmut-meine Eltern, Herr und Frau Dorn!“ und Hartmut schüttelte nun auch deren Hände. Verdammt, er war jetzt bis zu den Haarspitzen errötet. Genügte es nicht, dass seine Haare diese Farbe hatten, sondern musste ihn die Verlegenheit auch noch aufblühen lassen, wie eine Tomate? Er war doch sonst nicht auf den Mund gefallen, aber jetzt wusste er einfach nicht, was er sagen sollte.
    Gott sei Dank rettete ihn Jenni, indem sie auf seine Frage antwortete. „Mir geht´s schon wieder einigermaßen gut, ich habe nen glatten Durchschuss an der Schulter, aber der Arzt meint, wenn sich nichts entzündet, wird das ohne Folgen ausheilen!“ teilte sie ihm mit, was er ja eigentlich von Semir schon wusste. Hartmut konnte seine Augen nicht von Jenni lassen-die brauchte keine Schminke um gut auszusehen. Er hatte sie zwar schon gestylt erlebt, aber so natürlich gefiel sie ihm am allerbesten.
    Jenni´s Eltern verabschiedeten sich mit einem leisen Lächeln und ihre Mutter bemerkte noch: „Sag halt den Ärzten morgen, dass ich dich erst mittags abholen kann, denn Papa muss morgen sehr früh auf Geschäftsreise und ich habe ebenfalls am Vormittag einen wichtigen Termin in der Firma, aber ich denke, so ab zwölf könnte es klappen!“ und Jenni antwortete bedauernd: „Das ist aber blöd-ich weiß ja nicht, ob die das Bett schon vorher brauchen!“ aber nun beeilte sich Hartmut zu sagen: „Ich kann dich doch abholen! Ich habe so viele Überstunden-ich fange morgen einfach ein wenig später an zu arbeiten!“ und Jenni sagte erfreut: „Das wäre super!“ Hartmut saß noch ein wenig an ihrem Bett, aber nach einer Weile fielen Jenni nach dem ganzen Stress beinahe die Augen zu. „Hartmut, ich möchte jetzt ein wenig schlafen-geh doch auch nach Hause, du siehst ja, dass es mir ganz gut geht. Ich freue mich, wenn du mich morgen abholen kommst!“ bat sie und nun stand Hartmut auf. Er hielt Jenni´s Hand zum Abschied ein wenig länger, als es notwendig gewesen wäre und war glücklich, weil sie die ihm nicht entzog. Dann allerdings verließ er das Zimmer und sein Herz schlug Purzelbäume-vielleicht empfand ja Jenni doch auch etwas für ihn?


    Sarah war nach oben gegangen. Sie hatte im Keller jegliches Zeitgefühl verloren gehabt und war fast erstaunt, dass es draußen noch so hell war. Klar hatte sie auf die Uhr gesehen, aber als sie nun die letzten Strahlen der Abendsonne um die Hausecke leuchten sah, war ihr erst wieder bewusst, dass es noch ein anderes Leben gab, als Ben´s Entzug in dem kargen Kellerraum. Hoffentlich würde er es schaffen! Nun bemerkte sie auch, dass ihr Magen knurrte und sie begann deshalb im Schrank nach einem Topf, einer Pfanne, Tellern und Besteck zu suchen. Mit Scheuerpulver und viel heißem Wasser und Spülmittel entfernte sie die Rußreste und leerte das Gulasch in den einen Topf. Die Nudeln briet sie noch ein wenig in der beschichteten Pfanne an und dann ging sie an die Treppe und rief hinunter: „Semir-das Essen wäre fertig!“ und der antwortete: „Ich komme gleich!“ Kurz überlegte er, ob er die Tür verriegeln sollte, aber dann ließ er es bleiben und ging nach oben zu Sarah.
    Sie aßen in der Küche und auch Semir merkte erst jetzt, welchen Hunger er hatte. Als sie fertig waren, wusch Sarah das Geschirr gleich wieder ab und Semir machte sich wieder auf den Weg zu seinem Freund. Als er in der Kellertür stand, meinte er seinen Augen nicht zu trauen-Das Bett war leer! Ben war sicher auf der Toilette und dort wollte Semir gerade nachsehen, als er oben die Haustür ins Schloss fallen hörte. Zwei Stufen auf einmal nehmend rannte er nach oben und schrie laut: „Ben!“ so dass Sarah ganz erschrocken aus der Küche kam. Auch sie hatte die Haustür gehört, aber gedacht, Semir wollte vielleicht etwas aus dem Auto holen. „Verdammt noch mal-was macht der denn!“ rief Semir und rannte schon aus der Tür. Sarah wollte ihm erst folgen, aber dann beschloss sie, dass sie Semir erst einmal alleine losziehen lassen wollte. Wenn Ben den Entzug abbrechen wollte, dann war es seine Entscheidung. Er würde mit den Konsequenzen leben müssen, wenn er sich jetzt etwas zum Spritzen besorgte-sie wäre dann weg und zwar für immer. Eigentlich hatte sie gedacht, sich klar genug ausgedrückt zu haben, aber anscheinend hatte er den Ernst der Lage nicht begriffen.


    Semir sah seinen Freund zwischen den Bäumen im Garten verschwinden. Wo wollte der hin? Hier ging es nicht zur Straße, wo er sich sicher hinwenden würde, wenn er sich Stoff besorgen wollte. Instinktiv griff Semir nach dem BMW-Schlüssel, aber der war Gott sei Dank in seiner Hosentasche. Er folgte Ben, der nun immer langsamer wurde und schließlich auf die Knie fiel und die Hände auf seinen Leib presste. „Ben-wo willst du denn hin?“ fragte er verständnislos, als er ihn erreicht hatte, aber Ben sah ihn nur merkwürdig an und faselte dann etwas von Bandprobe und Dienstbeginn. Verdammt-der war ja völlig verwirrt! Er musste versuchen, ihn wieder ins Haus zu schaffen. Nun hob Ben sein T-Shirt und starrte fassungslos auf seinen Bauch, wo sich die Darmschlingen unter der Bauchdecke deutlich abzeichneten. Es sah aus, als wären da Schlangen unter seiner Haut und dann kam es Ben auch schon hoch. Er begann zu kotzen, wie er noch nie in seinem Leben gekotzt hatte. Der erste Schwall schoss sicher einen Meter weit aus seinem Mund. Semir musste sich abwenden, so eklig war das. Ben lief das Wasser aus Mund und Nase und sein Magen entleerte sich explosiv das eine um das andere Mal.
    Sarah hatte inzwischen aus dem Fenster gesehen und festgestellt, dass da irgendetwas gar nicht in Ordnung war. Ben kniete auf dem Boden und verkotzte Semir´s Rasen, während der hilflos daneben stand und anscheinend gar nicht hinschauen konnte. Seufzend erhob sie sich-da waren ihre professionellen Fähigkeiten gefragt-das sah sie schon. Semir stand wie gelähmt neben seinem Freund und wirkte, als wenn er gleich mitreiern würde. Sarah lief nach draußen und als sie bei den beiden ankam, sagte Semir hilflos: „Er ist völlig verwirrt und kotzt sich die Seele aus dem Leib!“ was er gar nicht hätte erwähnen brauchen, denn das war offensichtlich. „So was in der Art hatte ich schon erwartet!“ sagte Sarah, während sie sich zu dem zitternden Bündel Mensch hinunter beugte. „Wir warten jetzt, bis sein Magen leer ist und dann schaffen wir ihn wieder in den Keller!“ sagte Sarah und legte Ben ihre kühle Hand auf die Stirn, die nun fieberheiß zu glühen begonnen hatte. Wenig später zogen sie ihn auf die Füße und von links und rechts gestützt wankte Ben, den seine Beine fast nicht mehr trugen, zurück ins Haus.

  • Auf der Treppe schon überkamen ihn wieder schmerzhafte Krämpfe und sein eines Bein knickte weg. Wenn Semir ihn nicht so fest untergefasst gehabt hätte, wäre er die Kellertreppe hinunter gestürzt. Sarah und er waren deshalb heilfroh, als sie ihn wieder halbwegs unversehrt auf dem Bett liegen hatten. „Ab sofort bleibt die Tür zu, wenn einer von uns den Raum verlässt!“ teilte Semir nun Sarah mit und die nickte ernst. „Was glaubst du, warum ich eine fest verschließbare Tür haben wollte? Ich wusste, was auf uns zukommt!“ sagte sie schlicht „Ich hätte in hundert Jahren nicht gedacht, dass er zu sowas noch fähig ist!“ teilte Semir ihr entsetzt mit und Sarah erwiderte: „Das Problem bei jeder Art von Entzug ist, dass die Menschen Kräfte entwickeln, die man ihnen gar nicht zugetraut hätte und weil sie zusätzlich nicht Herr ihrer Sinne sind, können sie ihr Handeln auch nicht abwägen. Sie sinken in eine Art vegetativen Zustand zurück und sind in diesem Augenblick nichts anderes als wilde Tiere, deren Handeln nicht von Moral, Erziehung oder Überlegung eingeschränkt wird. Das ist auch das Gefährliche daran-sie werden zur Gefahr für sich und andere und man kann nichts machen, als darauf zu warten, dass die Rezeptoren im Gehirn, die nun längere Zeit von der Droge besetzt waren, wieder frei werden und ein selbstbestimmtes Handeln zulassen.“


    Ben der wie im Halbdämmer auf dem Bett gelegen hatte, fuhr nun plötzlich hoch. Man sah, wie er sich wieder übergeben musste, aber überhaupt nicht wusste wohin. Sarah griff schnell nach dem einen Eimer und hielt ihn vor seine Nase. Unter heftigem Würgen kam aber nur noch Galle und Wasser und nach einer Weile beruhigte sich Ben wieder und Sarah hielt ihm die Wasserflasche hin, worauf er ein paar kleine Schlucke zitternd trank, die er wenige Minuten später wieder von sich gab. „Semir, dem jedes Mal ganz anders wurde, wenn Ben sich übergab, sagte: „Sarah, wie kannst du da nur so cool bleiben-ich muss jedes Mal beinahe mitreiern, wenn Ben speit“, aber Sarah lief nur ein gequältes Lächeln übers Gesicht. „Das ist ein Teil meines Berufs. Als Krankenschwester oder in jedem anderen Medizinberuf darfst du keinen Ekel vor Ausscheidungen, Blut oder anderen Körperflüssigkeiten haben, sonst wirst du in diesem Job nicht alt. Man gewöhnt sich auch ehrlich gesagt dran. Du dürftest in der Arbeit nicht mit uns am Tisch sitzen, denn wenn wir unsere Pause machen und essen fällt immer irgendjemandem etwas besonders Ekliges ein, was er unbedingt erzählen muss und du wirst dann fünf Pflegepersonen und zwei Ärzte um den Tisch sitzen sehen, die auf beiden Backen voller Appetit ihr Frühstücksbrötchen kauen, während ein sechster bildhaft die Eröffnung eines Abszesses beschreibt, wo der Eiter bis zur Decke gespritzt ist!“ erzählte sie ihm und Semir schüttelte sich.


    Ben hatte zwar auch zugehört, aber irgendwie hatte man das Gefühl, dass er nicht richtig mitbekam, worüber Sarah gerade sprach. Sarah richtete nun ihre Aufmerksamkeit auf ihn, sah ihn geradewegs an und fragte: „Ben, wo bist du gerade?“ und Ben starrte sie erst verständnislos an, bevor er stockend sagte: „Na im Büro natürlich!“ um sich dann aber wieder zusammen zu krümmen und die Hände auf seinen Bauch zu pressen, so fürchterliche Leibschmerzen überfielen ihn gerade. Sarah und Semir wechselten einen Blick und Sarah fragte weiter: „Ben, wie alt bist du?“ und nach kurzer Überlegung stöhnte Ben: „Siebenundzwanzig!“ und nun zuckte Sarah mit den Schultern. „In der Arbeit würden wir jetzt dokumentieren: „Patient zeitlich, örtlich und zur Person nicht orientiert!“ und dazu konnte Semir nur nicken, während Ben nun wieder laut jammerte und beide Hände erneut auf seinen Leib presste. Der Schweiß brach ihm aus und Semir fragte hilflos: „Kann man denn da gar nichts machen?“ und Sarah sagte: „Doch-spritze ihm nur eine kleine Menge irgendeines Opiats und er wird innerhalb von Sekunden genesen, wird Scherze machen, unter die Dusche springen, sich umziehen und sich wieder auskennen.
    Wenn er sein zukünftiges Leben aber ohne Drogen bewältigen will, muss er da durch! Weisst du ich habe in den Jahren meiner Tätigkeit schon so viele Menschen an diesem Teufelszeug zugrunde gehen sehen, dass ich da eine ganz klare Linie habe. Du wirst dir jetzt denken, ich wäre so kalt, aber das ist nicht so. Ich liebe Ben immer noch von Herzen, aber diese Droge ist mein schlimmster Feind. Deshalb muss ich mich, um mich selber und auch unser Kind zu schützen, innerlich distanzieren, sonst stehen wir alle miteinander das hier nicht durch!“ erklärte sie.
    Ben hatte doch zugehört und machte plötzlich die Augen weit auf, sah sie an und sagte völlig klar: „Sarah, ich liebe dich!“ und nun brach diese in Tränen aus und floh aus dem Kellerraum. Semir blieb ein wenig hilflos zurück-mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit so einer Reaktion. Ben krümmte sich schon wieder in Krämpfen und die Bauchschmerzen raubten ihm beinahe den Verstand. Semir strich ihm mitleidig über den Oberarm und sagte: „Ben-ich muss mal kurz nach Sarah sehen! Ich komme gleich wieder zu dir!“ und damit erhob er sich, ohne eine Reaktion seines Partners abzuwarten. Als er diesmal den Raum verließ, verriegelte er aber die Tür. Er kam sich zwar vor, wie der Gefängniswärter in Person, aber seit dem Vorfall vor wenigen Stunden wusste er nun, dass das notwendig war.


    Draußen war es inzwischen finster geworden und Semir fand Sarah, die nur ein schummriges Nachtlicht angemacht hatte, schluchzend in seinem Büro auf einem aufblasbaren Gästebett mit Bettzeug liegen. Andrea hatte das vorbereitet und Semir dankte innerlich seiner Frau für deren Umsicht. „Sarah, was ist denn los?“ fragte er weich, während er sich neben dem Bett in Hockstellung hinkauerte. Nach kurzer Überlegung setzte er sich dann aufs Bett, zog sie in seine Arme und sie weinte, wie sie in ihrem Leben noch nie geweint hatte. „Semir, was tun wir Ben gerade an? Ich dachte, es ist richtig, was wir hier machen, aber inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Denkst du er will das überhaupt? Irgendwie habe ich gerade das Gefühl, ich habe alles verkehrt gemacht!“ teilte sie ihm mit. Semir hielt sie noch eine Weile fest, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte und dann gingen sie gemeinsam zu Ben zurück.


    In dem Kellerraum roch es inzwischen ganz fürchterlich und Sarah war sofort klar, was das zu bedeuten hatte-die Durchfälle hatten begonnen. Zu ihrer Überraschung hatte Ben aber den Eimer benutzt, sich auch abgewischt und den Deckel wieder aufgelegt. Kommentarlos leerte sie in der Toilette beide Eimer aus, während Semir mit ein wenig Deo für einen besseren Geruch sorgte. Ben lag immer noch zusammengekrümmt und wimmernd auf seinem Lager, aber als er nun „Danke!“ sagte und Sarah relativ klar ansah, war ihr bewusst, dass es das Beste war, was sie für ihn tun konnte. Mit einem Waschlappen wusch sie ihm Gesicht und Hände ab und sagte schlicht: „Ich liebe dich auch!“ woraufhin Ben die Augen schloss und ein wenig nickte.

  • Semir sah auf die Uhr. Es war inzwischen 23.00 Uhr geworden und er überlegte, wie sie weiter verfahren sollten. Kurz entschlossen sagte er: „Sarah, ich würde vorschlagen, du legst dich ein wenig hin und versuchst zu schlafen und ich bleibe derweil bei Ben!“ Zu seiner Überraschung nickte die und sagte: „Du hast völlig Recht-ich lege mich jetzt ein wenig hin und später tauschen wir. Wir müssen unsere Kräfte beide einteilen, weil kein Mensch weiss, wie lange sich das bei Ben hinzieht-da gibt es keine festen Zeitangaben, wann ein Entzug vorbei ist!“ und damit verschwand sie auch schon, um sich im Büro ein wenig aufs Gästebett zu legen. Sie hätte erst nicht gedacht, dass sie würde schlafen können, aber die Erschöpfung machte sich breit und bis sie sich versah, waren ihr die Augen zugefallen.


    Für Semir und Ben begannen lange Stunden. Ben war einerseits furchtbar müde und erschöpft, aber andererseits innerlich hellwach. Wie gerne hätte er einfach geschlafen und wäre gesund wieder aufgewacht, aber stattdessen wurde er mit jeder Minute kränker. Ab und an war er klar, wusste ungefähr, wo er war und in der nächsten Minute war er wieder in seiner Kindheit auf dem Internat und suchte da irgendetwas. Auch dort war schon mit Drogen gedealt worden, aber wer klug war, hatte den Mund gehalten, wenn er davon erfahren hatte, denn sonst gabs was auf die Mütze von den Initiatoren des Drogenhandels. Im Traum versuchte Ben nun mit den Drogenlieferanten Kontakt aufzunehmen. Er lief durch endlose Gänge des alten, weitläufigen Gemäuers, schlich durch finstere Ecken, immer auf der Suche nach jemandem, der ihm Stoff verkaufen könnte. Manchmal meinte er jemanden zu entdecken und begann dann hinter ihm herzulaufen, aber er konnte ihn nicht erreichen.
    Semir hatte nach kurzer Überlegung einen einigermaßen bequemen Stuhl für sich von oben geholt, denn so wie Ben sich auf seinem Lager herumwarf, war da kein Platz für ihn. Immer wieder fuhr Ben hoch, griff nach dem einen Eimer und übergab sich. Allerdings kam nun wirklich kaum noch was und so sehr ihn das angestrengte Würgen seines Freundes mitnahm, stellte Semir mit Erstaunen fest, dass man da tatsächlich abhärtete. Ben schwitzte inzwischen ganz fürchterlich. Sein Shirt und die Jogginghose klebten an ihm und irgendwann half Semir ihm, die warme Hose einfach auszuziehen und nun lag Ben schwer atmend in T-Shirt und Retro-Shorts da. Fast fasziniert beobachtete Semir, wie er mit den Füssen immer wieder tretende Bewegungen machte, als würde er vor irgendetwas weglaufen, oder eher treten.
    Dann bekam Ben wieder Durchfall. Irgendwie schaffte er es aber jedes Mal auf den Eimer und Semir verließ dann höflich den Kellerraum. Er hatte keine Ahnung, wie Ben das immer wieder hinbekam, denn eigentlich wirkte er zu krank, als dass er überhaupt aufstehen könnte, aber er vermied es streng, sich zu beschmutzen und mit einem letzten Rest an Willensanstrengung benutzte er den Eimer und legte danach den Deckel auch wieder auf. Allerdings waren die Durchfälle massiv und wässrig und mit jeder Minute kam Ben immer mehr runter. Als das Shirt einmal ziemlich hochgerutscht war, sah Semir voller Entsetzen, wie sich tatsächlich auf Ben´s flacher Bauchdecke die Darmschlingen abzeichneten, die sich von außen sichtbar wanden wie Schlangen. Um Himmels Willen-wie musste sich das denn bloß anfühlen? War das auch normal, oder musste Ben jetzt doch ins Krankenhaus?


    Inzwischen war es zwei Uhr geworden und Ben war nun völlig am Ende. Immer wieder überfielen ihn nun am ganzen Körper Krämpfe und irgendwann begann er vor Schmerzen und Verzweiflung zu brüllen, wie ein Tier. Sarah wachte davon auf, aber in wenigen Minuten hätte sowieso ihr Handywecker geläutet, um Semir abzulösen. Sie war erst ganz durcheinander und wusste im ersten Moment nicht, was eigentlich los war, aber als sie dann Ben´s Schreie durch den Keller hallen hörte, war ihr in Windeseile wieder klar, wo sie sich befanden und was Ben gerade durchstand. Vorsichtshalber aktivierte sie erst die Webcam, bevor sie in den Kellerraum ging, aber Semir saß auf einem Stuhl vor Ben´s Bett und war anscheinend wohlauf, während der sich auf seinem Lager vor Schmerzen wand.
    Sarah trat in den Raum und es schlug ihr ein fürchterlicher Geruch entgegen. Sie atmete trotzdem tief durch und entleerte die beiden Eimer. Das Erbrechen war nicht mehr nennenswert, nur war der gallige Schleim von dünnen Blutfäden durchzogen, was aber noch nicht gefährlich war. Als sie allerdings die Menge an wässrigen Durchfällen sah, wurde ihr ganz anders. Sie trat an Ben´s Lager und tastete erst einmal nach seinem Puls. Der war schwach und fadenförmig und das Herz jagte nur so vor sich hin. Prüfend nahm Sarah eine Hautfalte Ben´s und als die stehenblieb und nicht sofort von selber verschwand, als sie losließ, war ihr klar: Ben war völlig ausgetrocknet und das war eine Situation, die einfach lebensbedrohlich werden konnte. Sie versuchte ihm, beobachtet von Semir, ein wenig Wasser einzuflößen, aber er war so am Ende, dass er nicht einmal mehr schluckte. Trotzdem bewegten sich seine Beine unentwegt und als sie Semir´s fragenden Blick sah, erklärte sie: „Das ist auch etwas, was typisch für einen Opiatentzug ist. Diese Bewegungen werden von den Süchtigen: kicking the habit-also die Gewohnheit wegtreten-genannt, sie sind vom Kranken nicht zu beeinflussen-wie auch die massive Darmperistaltik, die man bei schlanken Patienten sogar von außen sehen kann!“ Aha-das war also schon normal-inwieweit man einen Entzug überhaupt als etwas Normales ansehen konnte, konstatierte Semir für sich.
    Sarah fuhr fort: „Nun wird’s allerdings gefährlich, denn Ben ist jetzt so ausgetrocknet, dass es lebensbedrohlich werden könnte-was denkst du, sollen wir tun?“ fragte sie Semir und der folgte ihr einen Moment nach draußen, um die neue Situation zu besprechen.

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