Stockholm

  • Im Wagen - zur gleichen Zeit


    Kevin spürte das Gerumpel, wie sein Körper über die harte Metallauflage des Geländewagens im Kofferraum schob, sein Kopf immer mal gegen die Blechwand schlug. Er lag gut verschnürt im hinteren Teil des Wagens, der zum Fahrerraum offen war, das Klebeband wieder auf dem Mund, die Augen wieder verbunden.
    Nachdem Jessy ihn in seinem Raum wieder allein gelassen hatte waren nur wenige Minuten vergangen. Dann kamen sie zurück, Andreas presste dem Polizisten die Waffe ins Genick und versprach dass die Waffe geladen war. Kevin hatte Jessy schon nicht unbedingt geglaubt, dass sie vorher nicht geladen war, und so konnte er sich schlecht wehren. Thomas band ihm die Arme vom Ring, um sie danach sofort wieder mit Kabelbinder zu fesseln... diesmal noch enger und schmerzhafter als zuvor. Die scharfen Kanten drückten sich noch tiefer ins ohnehin schon gerötete Fleisch an Kevins Handgelenken. Die Augen wurden ihm erneut verbunden, die Fussfesseln für den Weg zum Auto gelöst, um sie ihm dort wieder zu verbinden. Jessy hatte die ganze Zeit stumm im Raum gestanden und ihre beiden Brüder dabei beobachtet. Kurz warf Kevin ihr einen Blick zu, bevor ihm die Augen wieder verbunden wurden, auch er blieb stumm und leistete erstmal keinen Widerstand. Er musste warten, bis er seine Chance zur Flucht bekam.


    Irgendwann spürte der junge Polizist, dass die Schaukelei aufhörte, und der Wagen beschleunigte. Offenbar war man auf einer befestigten Straße angekommen. Im Fond war es mucksmäußchenstill, nur Jessy fragte einmal, wo man ihn denn jetzt hinbringe. Einzige Antwort von Thomas war: "Das siehst du gleich." Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Kevin aus. Die drei waren definitiv keine Profis, die würden niemals das Risiko eingehen, für einen Polizisten Lösegeld einzufordern. Aber freilassen würden sie ihn auch nicht einfach so, schließlich konnte er ihre Gesichter beschreiben, und man würde sie wohl schneller verhaften, als sie sich absetzen könnten. Doch waren sie so skrupellos ihn einfach umzubringen? Da hatte Kevin wiederrum seine Zweifel.
    Die Fahrt dauerte an, und der junge Polizist bemerkte nicht, was um ihn herum passierte. Er sah nur Schwärze und fühlte sich wie in einem stickigen Raum, in dem es zu wenig Luft zum Atmen gab... das lag an dem Klebeband auf seinem Mund, sein Atem war schnell und unruhig, beinahe mühsam. Irgendwann hörte er Jessys Stimme: "Können wir ihm nicht wenigstens das Klebeband vom Mund nehmen? Der erstickt uns da hinten ja noch." Sie kniete auf den hinteren Sitzen und sah über die Lehne in den Kofferraum herunter auf Kevin. Irgendwas an dem jungen Mann zog sie magisch an, was sie sich selbst nicht erklären konnte, und sie hatte Mitleid mit ihm. "Bist du wahnsinnig?", fuhr Thomas herum, der seitdem er wusste dass Kevin ein Polizist ist mehr als nur gereizt war. "Was soll er denn machen? Um Hilfe rufen?", fragte das Mädchen und kicherte, bevor sie sich wieder nach hinten drehte, wo Kevin sich ob des Gespräches von der Körperseite auf den Rücken rollte. "Ich hab NEIN gesagt.", rief der Fahrer des Geländewagens ungehalten. "Thomas, sie hat doch recht. Wenn er zuviel labert stellen wir ihn halt wieder ruhig.", hörte Kevin nun die Stimme des Muskelpaketes mit wenig Hirnmasse, Andreas. Diesmal klang er jedoch beinahe vernünftig. Thomas schwankte zwischen Ärger, Verzweiflung und Resignation. Die Situation überforderte ihn merklich, er hatte sich alles viel einfacher vorgestellt. "Macht doch was ihr wollt.", klang seine Stimme müde und er schüttelte den Kopf. Jessy lächelte, schnallte sich vom Sitz ab und stieg über die Rücklehne zu Kevin in den Kofferraum. Der lag auf dem Rücken, hatte die Beine angezogen da der Kofferraum nur begrenzt groß war. Doch man konnte bequem an einer Seitenwand nebeneinander sitzen.


    Der Polizist spürte, wie Jessy sich neben ihn kniete, er konnte ihre Knie an seinen Rippen spüren. Offenbar genoß sie ihre Rolle, mal das kleine süße Mädchen zu spielen, und mal die skrupellose Entführerin wie eben, als sie ihn bedroht hatte. Vorsichtig, ohne Kevin weh zu tun zog sie das Klebeband vom Mund und der Kommissar sog die Luft durch den Mund ein. Sein Kopf fuhr verwirrt herum, den nach wie vor konnte er nichts sehen. Als sich eine kleine Hand auf seine Brust legte, zuckte der muskulöse, aber nicht kräftige Körper von Kevin kurz auf, denn er sah die Hand nicht kommen. "Dein Herz schlägt ganz schnell.", flüsterte die Mädchenstimme so leise, dass ihre Brüder sie durch den Fahrzeuglärm nicht hören konnte... auch weil beide ihren Gedanken nachhingen, wie diese Entführung nun weitergehen sollte. "Hast du Angst?", fragte die flüsternde Stimme mit der Hand auf Kevins pochender Brust, der sich diesen Herzschlag selbst auch nicht wirklich erklären konnte. "Ich werd nicht jeden Tag entführt...", gab er mit seiner markanten Stimme zurück, und drehte den Kopf in die Richtung, aus der Jessys Stimme kam. Ihre Hand erhob sich langsam von seiner, sich hebend und senkenden Brust, und schob die Augenbinde wieder nach oben auf seine Stirn, so dass sich die Blicke sofort trafen, auch wenn Kevin erst einmal von der Sonne, die den Wagen erhellte, geblendet wurde und die Augen kurz zusammenkniff. "Hey, wehe du sagst wieder, ich hätte mir das Band hochgeschoben.", flüsterte er und erinnerte sich daran, wie Jessy ihm dafür die Schuld in die Schuhe geschoben hatte vor einigen Stunden. Sie musste kichern. "Das tut mir leid. Aber du kannst mich doch nicht einfach für so dumm halten, dass ich dich an dein Handy rangehen lasse." Offenbar hatte es sie geärgert, dass Kevin versuchte ihre scheinbare Naivität auszunutzen. Den Fehler würde er nicht noch einmal machen, denn egal wie naiv Jessy tat oder tatsächlich war... sie war absolut unberechenbar.


    Mit Kraft und Anstrengung schaffte Kevin es, sich nach hinten zu schieben und zumindest den Oberkörper mit dem Rücken an die Lehne der hinteren Sitze zu legen, und sich aufzusetzen. Die Lehnen waren hoch genug, dass Andreas und Thomas es nicht sah, dass er keine Augenbinde mehr an hatte. Jessy setzte sich neben ihn, auf dem Rücksitz war sie allein, vor allem weil ihre Brüder gerade keine Lust auf irgendwelche Gespräche hatten. "Ich dachte immer, Polizisten sind spießige Anzugsträger.", flüsterte Jessy und betrachtete den jungen Mann nochmal von oben bis unten. Seine bereits etwas abgelebte Lederjacke, seine stachlige Frisur, seine Ketten um den Hals, seine verschlissene Jeans. Er musste lächeln, wie oft beschwerten sich seine eher vornehmer gekleideten Kollegen bei der Mordkommission über den jungen Kollegen, der manchmal rumlief wie ein Verdächtiger selbst. "Und welche Verbracher jagst du so?", fragte sie neugierig. Was wurde das hier, waren Kevins Gedanken? Es war eine surreale Situation, ein Gespräch wie bei einem Flirt in der Discothek, allerdings war sie eine Entführerin, und er ihr Opfer. Aber etwas Vertrauen aufbauen konnte ja nicht schaden. "Ich war bei der Mordkommission.", antwortete er wahrheitsgemäß. "War?" "Momentan mache ich nichts." Er sah aus dem Heckfenster und sah nichts als blauer Himmel und ein paar weiße Wolken. "Und warum nicht?", fragte Jessi und lag ihre Hände auf ihre Jeans, die einige Löcher hatte. Kevins ernstes Gesicht bewegte sich hin und her, weil er den Kopf schüttelte. Die Wahrheit wollte er sicher nicht erzählen. "Ich muss mal was Neues machen.", war seine ausweichende Antwort. Glücklicherweise redete Jessy jetzt selbst, und was sie sagte überraschte den Polizisten und berührte ihn auch. "Ich wollte immer Lehrerin werden.", sagte sie und sah ebenfalls mit leuchtenden Augen aus dem Fenster. "Oder Krankenschwester. Irgendwas mit Leuten oder Kindern." Der junge Polizist spürte innerlich, dass sie das Leben, das sie jetzt lebte, selbst nicht gewollt hatte. "Und... warum bist du es nicht?", fragte er ehrlich und sah Jessy von der Seite her an, so dass er ihr Profil und ihre Gesicht von der Seite sah. "Ach...", meinte sie mit etwas trauriger Stimme... "weißt du... das ist schwierig...", dann wurde sie unterbrochen davon, dass der Geländwagen wieder verlangsamte und anhielt. In der Begegnung hatten beiden nicht mitbekommen, dass Thomas mehrmals abgebogen war und jetzt vor einem alten, größeren Haus anhielt. Jessy schien das Haus zu kennen als sie aus dem Fenster sah. Sie sah Kevin ein wenig mitleidig an und zog ihm die Augenbinde wieder herunter, um dann wieder über die Sitzreihe nach vorne zu klettern.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Verlassenes Haus – 11:45 Uhr

    Kevin konnte nicht sagen, wie lange er nun mit den drei Entführern Thomas, Andreas und Jessy durch den Wald und danach auf der Straße gefahren ist. Er konnte nicht mal genau sagen ob es schon Mittag war, oder vielleicht sogar schon nachmittag. Er spürte aber die Wärme unter seiner Lederjacke, die Sonnenstrahlen , sein Gesicht trafen als er von Andreas grob aus dem Kofferraum gezerrt wurde, der ihm dann erst mal den Kabelbinder von den Füßen befreite. Kevin spürte harte Pflastersteine durch seine dünnen Schuhsohlen. Er konnte Vögel zwitschern hören, die Luft roch frisch… es waren keine Autos zu hören. Sie mussten sich weit draussen vor der Stadt befinden, aber er hatte keine Ahnung wo er war. Andreas stand hinter ihm und stieß ihm die Waffe zwischen die Schulterblätter. „Los, immer geradeaus.“, herrschte er ihn an und der junge Polizist setzte sich langsam in Bewegung. Einige Steine knirschten auf den Pflastersteinen unter seinen Schuhen, und nur zögerlich setzte er einen Fuß vor den anderen, weil er nicht wusste, auf was er zusteuerte. Jessy bemerkte seine Unsicherheit und legte eine Hand um seinen Oberarm um ihn ein wenig zu führen. Ein leichtes Zucken durchfuhr seinen Arm, als er die Hand spürte, wieder weil er nicht damit rechnete, dass ihn plötzlich jemand berührte. Offenbar war man so weit draußen in Einsamkeit dass die Entführer es nicht für notwendig erachteten, ihm den Knebel wieder auf den Mund zu kleben.

    Als sie vor der schweren, wuchtigen Holztür des Hauses angekommen waren, bremste Jessy Kevins Vorwärtstrieb. Andreas hätte ihn gnadenlos mit dem Gesicht gegen die Tür laufen lassen. Sie standen nun vor dem Haus, das einsam in einer kleinen Nebenstraße, mehrere Kilometer ausserhalb von Köln stand. Saftige Wiesen ringsherum, ein großes Grundstück, beinahe ein Park. Das Haus wurde im 18ten Jahrhundert gebaut, wurde lange von reichen Bauersleuten bewohnt und immer wieder weiter vererbt. Es war massiv gemauert, hatte zwei Stockwerke und den ein oder anderen Erker und Turm. Doch bereits von aussen sah man, dass das Haus lange nicht mehr bewohnt war. Der Putz blätterte ab, viele Efeuranken hatten Besitz von der Hauswand ergriffen. Die Holzgeländer waren verblichen und morsch, die Fenster allesamt staubig und milchig. Das Gras wucherte im Garten und neben dem Haus, der Zaun war verfallen, das Dach längst nicht mehr dicht. Wind und Wetter hatten an dem alten Gebäude gezehrt, um das sich schon 40 Jahre niemand mehr kümmerte.
    Thomas stand neben der Treppe, die zur Haustür führte und zog aus einer kleinen Steinmauer einen Stein heraus. Dahinter lag der Haustürschlüssel, den sein Ur-Großvater dort schon immer versteckt hatte. Er war der letzte, der dieses Haus bewohnte. Danach hatte sich keiner mehr darum gekümmert, weder die Großeltern des Geschwister-Trios, noch die Eltern. Es verfiel zusehends vor sich hin. Thomas steckte den Schlüssel ins Schloß und ließ die schwere Holztür aufschwingen. Sofort schlug den Vier ein abgestandener modriger und muffiger Geruch entgegen. Das Haus hatte eine weite ausladende Diele, eine breite Holztreppe mit massiven verschlungenen Geländern. Überall lag dicker Staub, von den Wänden begannen Putz und Tapete abzublättern, einige Möbel standen noch an ihrem Platz, andere lagen wild verstreut im Raum. Eine Fensterscheibe, die vom Wohnzimmer in den Garten führte war zerbrochen. „Waren wohl wieder ein paar besoffene Kids hier.“, murmelte Andreas ärgerlich. „Müssen wir reparieren.“ , stimmte Thomas zu. „Los, pack ihn in den Keller, dann müssen wir uns unterhalten.“, gab er sofort Anweisungen weiter. Unter der Holztreppe, die nach oben führte war eine weitere Holztür. Sie hatte einen alten Eisengriff, und dort ging es eine Steintreppe hinab ins Kellergeschoss.

    Es war ein typischer Keller eines alten Hauses. Es roch modrig und feucht, die Luft war kalt. Jetzt war Kevin wieder froh, seine Lederjacke anzuhaben. Dass er sich in einem Haus befand wusste er mittlerweile, doch er wusste nicht wo, noch wie das Haus in etwa aussah. Jetzt merkte er, dass die Treppe die er herunterging nicht unbedingt ganz eben und gerade war. Das Haus musste alt sein. Ebenso das „Klack“ des typisch alten Drehschalters, statt eines Kippschalters als Andreas den dunklen Kellergang… ja es war mehr ein Gang, als ein Flur, erleuchtete sprach für Kevins Gedanken. Viel weiter mussten sie nicht gehen. In der zweiten Tür auf der rechten Seite befand sich eine weitere Holztür, diese wurde von Jessy geöffnet und Kevin hinein gestoßen. „Klack“ machte es und eine spärliche Glühbirne erleuchtete den Kellerraum, in dem ausser einem alten Holzregal mit einigen Flaschen nichts weiter stand. Ein kleines eckiges Fenster mit Eisengitter davor, und einer Menge Spinnenweben, spendete ebenfalls ein wenig Licht. „Los, rein da.“, knurrte Andreas und gab Kevin wieder einen Stoß, der somit den Raum betrat und verwirrt den Kopf hin und her drehte. „So, wo können wir dich denn hier festmachen?“, meinte der großgewachsene kräftige Kerl und sah sich um. Doch Jessy nahm ihm die Denkarbeit ab. „Gib mir die Kabelbinder, ich mache das… geh du hoch zu Thomas.“ Andreas sah Jessy zweifelnd an. Konnte er seine kleine Schwester wirklich mit dem Bullen alleine lassen? Aber naja, sie hatte schließlich die Waffe, und der Typ war gefesselt. Viel mehr Gedanken machte sich der einfältige Andreas nicht, und so überließ er die Kabelbinder und den Schlüssel Jessy, und stapfte wieder hinauf.
    Jessy wartete bis sie die Kellertür schliessen hörte und nahm Kevin erst mal die Augenbinde ab. Der junge Polizist presste die Augen zwei – dreimal aufeinander, um sich an das neue Umgebungslicht zu gewöhnen. „Wo sind wir hier?“, fragte er im ersten Affekt, nach dem er sich in dem Kellerraum umgesehen hatte. „Im Haus meiner Uroma.“, antwortete Jessy. Na klasse, dachte der junge Polizist. Gott weiß wo das ist… hier höre ich kein Auto, keine Autobahn… nichts. Ausser Vögel… „Was ist dir lieber? Wenn ich dich an das Gitter binde, oder deine Hände auf dem Rücken lasse, damit du ein wenig umher gehen kannst?“, fragte das junge Mädchen und sah Kevin in seltsamer Art und Weise vertrauensvoll an. „Lass mich ein wenig gehen bitte.“, antwortete er sofort. Die Chancen seine Fesseln dann irgendwie los zu werden, waren um ein Vielfaches höher als wenn er an diesem beschissenen Gitter angebunden war. Das Mädchen lächelte den Cop an, und schloss die Tür. „Die unterhalten sich bestimmt oben, da stör ich nur.“, gab sie sich selbst einen Grund noch ein bisschen weiter bei Kevin zu bleiben. Sie setzte sich auf den kalten buckeligen Steinboden und Kevin bewegte ein wenig seine eingeschlafenen Beine.

    „Du hast mir eben noch nicht gesagt, warum du keine Lehrerin oder Krankenschwester geworden bist.“, meinte Kevin dann plötzlich und warf einen Blick auf das so seltsame Mädchen. „Achja… ich… ich war in der Schule zu schlecht.“, meinte sie schnell. Kevin musste unweigerlich ob dieser offensichtlichen Lüge grinsen. „Wie lange bist du denn zur Schule gegangen?“, fragte er ohne spöttischen Unterton. „Bis ich 15 war.“, sagte sie, und ihre Stimme wurde ein wenig leiser. „Und dann?“ „Dann habe ich mit meinen Brüdern mitgemacht.“ Sie saß am Boden, den Rücken gegen die kalte Steinwand gedrückt, und die Beine ein wenig an den Leib gezogen. Es tat ihr gut, dass sie redete… mit jemandem, der ihr zuhörte. Wenn sie Sorgen oder Kummer hatte, traurig war weil sich ihre Träume nicht erfüllten, sprach sie mit niemandem. Sie würde zwar für ihre Brüder durchs Feuer gehen, doch sie wusste auch dass weder Thomas, schon gar nicht Andreas Männer waren, die ihr bei ihren Problemen zu hörten. Sie lösten Probleme, meistens mit Gewalt, aber diese waren nicht einfach zu lösen, und schon gar nicht mit Gewalt.
    Kevin ließ sich neben Jessy langsam auf den Boden nieder, und sah das Mädchen von der Seite an. „Wolltest du das damals unbedingt? Bei deinen Brüdern mitmachen?“ Ihn beschlich ein eigenartiges Gefühl, dass Jessy nicht so viel Freude an dem hatte, was sie hier tat. Das Gefühl wurde durch ganz leichtes Kopfschütteln ihrerseits bestätigt. „Wieso hörst du nicht auf?“ Ihr Kopf fuhr langsam zu Kevin herum, die Blicke trafen sich sofort. „Ich kann doch meine beiden Brüder nicht im Stich lassen.“ Den Gedanken kannte Kevin… das hatte er oft zu André gesagt, als der versuchte ihn aus der Straßen-Gang heraus zu holen… er könne seine Freunde doch nicht im Stich lassen. Es dauerte bis er merkte, dass seine Freunde ihn noch tiefer reinzogen. Er sagte nichts auf Jessys Begründung und schaute wieder geradeaus gegen die gegenüberliegende Wand. Das Schicksal des Mädchens interessierte ihn, er konnte nicht genau sagen, ob er sich einen eigenen Vorteil daraus versprach, wenn sie ihm vertraute… oder ob er es wirklich wissen wollte. Schließlich war sie seine Entführerin…

    „Was ist mit dir?“, fragte sie plötzlich und schaute den jungen Mann weiter von der Seite an. „Wer wartet zu Hause auf dich? Frau, Freundin, Kinder?“ Kevins kurzes Schmunzeln war eher bitter ironisch als belustigt. Dann schüttelte er langsam den Kopf. Im Prinzip war er so einsam wie Jessy, nur dass er mit Semir und Ben auch über private Probleme reden konnte. Doch von denen hatte er sich in den letzten Wochen mehr und mehr zurückgezogen, auch wenn Ben immer wieder Vorstöße unternommen hatte. „Ne… weder noch.“, sagte er dann mit seiner etwas eintönigen Stimmlage. „Soso“, lächelte Jessy. „Naja, was weißt du schon als Polizist von einem Leben auf der Straße.“, spottete sie dann plötzlich und erhob sich, so dass Kevin zu ihr heraufblickte. War er als Polizist plötzlich doch nicht mehr wert genug, ihre Geschichte zu hören? „Du hattest bestimmt eine schöne Kindheit, ne gute Schulausbildung und dann ne Ausbildung… oder?“ Sie zählte das auf, was sie sich gewünscht hätte, und bemerkte nicht Kevins Ausdruck in seinen Augen, als er mit einem zynischen Lächeln langsam zu Boden blickte und ein leises „Ja genau...“, beinahe vor seine Füße spuckte…

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Wald - 12:00 Uhr


    Es gab keinen Zweifel - rund um die Hütte waren auf den recht trockenen Waldboden eindeutige Reifenspuren. "Ziemlich breit, könnten von einem SUV oder Geländewagen sein.", vermutete Semir sofort. "Anders kommt man hier auch nicht rein.", gab Ben zur Antwort und sah ein wenig aufgeregt in die Richtung, in der sie verschwanden. "Kommen sie auch von dort?", fragte er in die Richtung seines Partners, der in gebückter Haltung wie ein Spürhund, der einer heißen Spur folgte, den Reifenspuren nachging, um ihrem Verlauf zu folgen. "Sieht so aus. Hier hat er geparkt und dann gedreht - oder umgekehrt." "Dann lass uns ihnen folgen... aber merk dir den Weg, dass wir wieder zurückfinden." Ben lächelte obwohl ihm eigentlich gar nicht zum Lächeln zu Mute war und die beiden Polizisten verfielen in einen schnellen Gang. Die Vögel zwitscherten aus dem Blätterdach und es hätte so ein schöner Tag sein können, wenn die beiden Männer nicht von ihrer Sorgenlast erdrückt werden würden. Ben in Gedanken bei Kevin, was ihm wohl zugestoßen war, und ein wenig immer noch die Angst, dass er aus freien Stücken in den Wald ging, bzw von der Bildfläche verschwunden war. Und Semir, der sich zwar auch Gedanken um seinen jungen Freund machte, aber nach wie vor André auf Mallorca im Hinterkopf hatte.


    Zweimal mussten sie abbiegen, ehe sie auf einen recht festgefahrenen Forstweg gelangten. "Er MUSS hier nach rechts abgebogen sein.", beharrte Semir, die Spuren die auf den Weg führten waren eindeutig. Auf den Weg selbst konnte man aber keine Spuren mehr feststellen, der Weg führte wie eine Schneise durch den Wald. "Der führt dann irgendwann auf die Landstraße. Dort können wir eh nicht nachvollziehen ob er rechts oder links abgebogen ist, weil wir schon hier keine Spur mehr sehen." Ben schaute ein wenig verzweifelt und beide atmeten auch ein wenig schneller, weil sie etwas schneller gegangen sind. "Scheisse!", rief der großgewachsene Kommissar voller Sorge und drehte sich um, den Blick zum Himmel gerichtet. Semir stand in etwas gebückter Stellung und hatte die Hände auf die Knie gestützt, bevor er sich wieder aufrichtete. "Komm, wir gehen zum Wagen zurück."
    Auf dem Rückweg zog Semir sein Handy um über GoogleMaps zu schauen, auf welche Landstraße der betreffende Weg stoßen könnte. Dass er die Info an Ben weiterreichte war das einzige Gespräch, was sie auf dem Weg zurück zu Semirs BMW führten, zu weit waren beide Polizisten in ihre eigene Gedankenwelt verschwunden. Semir beorderte ausserdem die Spurensicherung zur Hütte um die Reifenspuren aufzunehmen. Hartmut würde sicherlich ein Fabrikat dazu finden, ausserdem konnten die Beamten noch mehr Spuren in der Hütte finden, die für die beiden Autobahnpolizisten mit bloßem Auge nicht erkennbar waren.
    Als Ben sich auf den Beifahrersitz rutschen ließ, riss er plötzlich die Augen auf. Sein Kopf schnellte zu Semir herüber, der gerade seinen Wagen starten wollte: "Semir! Weißt du woran ich gerade denke?" Der Kommissar mit türkischen Wurzeln blickte verwirrt auf. "Nein... wie denn auch?" "Die Meldung heute morgen. Die versuchte Entführung im Rheinpark, bei dem die Frau entkommen konnte." Die Klarheit hatte Semir noch nicht erreicht. "Ja und?" Ben seufzte auf: "Mensch. Der Rheinpark ist nicht weit von Kevins Wohnung entfernt. Was ist, wenn er bei der versuchten Entführung dazwischen geplatzt ist. Und sie haben ihn mitgenommen, statt der Frau?" Die kleinen Rädchen in Semirs Kopf griffen ineinander und der Nebel lichtete sich, Durchblick stellte sich ein. Er nickte anerkennend ob Bens Gedanken und zog sein Handy erneut. "Andrea, mein Schatz", meldete er sich wie immer, wurde aber erst einmal unterbrochen. "Habt ihr Kevin gefunden?", meldete sich die sorgenvolle Stimme von Semirs Frau. Dieser seufzte: "Nein, noch nicht... aber wir haben vielleicht eine Spur. In den heutigen Lagemeldungen steht etwas von der versuchten Entführung einer jungen Frau. Kannst du bei der betreffenden Dienststelle Namen und Adresse der Frau rausfinden?" Andrea sagte sofort zu, dass sie sich direkt darum kümmern würde, während die beiden Beamten auf die SpuSi warten würde.


    Verlassenes Haus - 12:30 Uhr


    Jessica war es nun, die Kevin von der Seite ansah, der seinerseits geradeaus blickte. "Was meinst du damit?", fragte sie ein wenig verwirrt ob Kevins ironischem Ausspruch, als sie über seine Vergangenheit spekuliert hatte. "Ich meine damit, dass nicht immer alles so ist wie es scheint.", sagte er mit eintöniger Stimmlage und sah das Mädchen, das neben ihm saß nicht an. Würde sie verstehen, was er damit meinte? Dass sie mit ihrer Vermutung über Kevins heile Welt völlig unrecht hatte? Er beschloß, nicht nach zu fragen und ließ sein Statement als solches stehen. Jessy blickte wieder in die gleiche Richtung wie ihr Nebenmann und schwieg... beide schwiegen. Entführerin und Opfer, sie saßen dicht beisammen, Kevins Oberarm berührte Jessys Schulter, bzw eher umgekehrt, denn sie lehnte sich sanft an den fremden Mann an. Dieser hatte plötzlich ein seltsames Gefühl in sich, mit dem jungen Mädchen an dessen Seite, das so naiv und zerbrechlich wirkte, aber gefährlich sein konnte wie eine Raubkatze. War es Mitleid? War es das Bedürfnis, ihr zu helfen, obwohl er sich gerade in erster Linie nicht mal selbst helfen konnte? Doch wollte sie überhaupt, dass man ihr half, oder fühlte sie sich ihren Brüdern so stark verpflichtet und verbunden dass jeder Hilfeversuch scheitern würde?
    "Ich weiß nur, dass du deinen Traum niemals leben wirst, wenn du weiter mit deinen Brüdern Verbrechen begehst.", sagte er nach einer kurzen Weile, ohne Jessy dabei anzusehen. "Im Gegenteil. Für Menschenraub gehst du lange ins Gefängnis... und ich weiß nicht was ihr vorher noch so angestellt habt." Jessy blieb stumm... denn sie dachte nach. Über das, was sie als Antwort bekommen hatte, auf ihre absichtlich falsche Spekulation. Jessy war nicht dumm, und sie wusste dass Kevin keine gute Schulausbildung genossen hatte... sie wollte es nur als Bestätigung hören, weil sie sich nicht ganz sicher war.


    "Und was hast du früher so angestellt?", fragte sie plötzlich und fuhr ihren Kopf herum. Kevin blickte sie überrascht an... dieses Mädchen steckte voller Überraschungen. "Wie meinst du das?" "Naja, du sagtest, es ist nicht alles so wie es scheint. Anscheinend lag ich ja mit meiner Vermutung über dich daneben." Der junge Polizist reagierte ablehnend... was wollte sie damit bezwecken dass ich ihr von mir erzähle? Was wollte dieses Mädchen von ihm? Sie steckte in einer Gang mit ihren Brüdern, die ihn gerade entführt hatten und jetzt offenbar überfordert mit der Situation, dass Kevin ein Polizist ist. Fühlte sie sich angezogen von ihm? Brauchte sie einfach jemanden zum Reden? Mein Gott, er hatte gerade wahrlich andere Probleme ...
    "Warum willst du das wissen?", fragte er misstrauisch. Jessy sah ihm dann zum ersten Mal, seit sie in diesem Haus waren, wieder direkt in die Augen, und ließ diesen Blick auch nicht sinken. "Weil ich spüre, dass du genauso einsam warst und bist wie ich. Weil ich spüre, dass du nicht glücklich bist." War das Mädchen eine Psychologin? Oder erkannte man an Kevins Schatten im Gesicht und seinen müden Augen wirklich, dass er sich langsam in seiner Einsamkeit verlor? Denn verdammt nochmal, sie hatte recht. Kevin hatte in seiner schwersten Zeit bevor sie Becker, den Mörder seiner Schwester, gestellt hatten wenigstens seine Arbeit, die ihn für einen Teil des Tages abgelenkt hatte. Danach ging es im zwar besser, er kam zeitweise von den Drogen weg, doch die Schatten holten ihn in letzter Zeit immer wieder ein... so sehr, dass er sich nicht mal mehr dazu aufraffen konnte, sich endlich auf eine neue Abteilung zu bewerben. Er hatte Semir nichts erzählt, er hatte Ben nichts erzählt... jetzt würde er ausgerechnet seiner Entführerin etwas erzählen, weil sie sich genauso fühlte wie er? Die Flut dieser Gedanken hatte ihn beinahe so weit überrumpelt, dass er dem inneren Drang nachgeben wollte, los zu reden... doch die Wand, die er sich um seine Seele gebaut hatte, in die er nur Semir und Ben kurze Zeit Einblick gewehrt hatte, ließ die Worte abprallen. "Du weißt gar nichts über mich.", sagte er in seiner arrogant anmutenden Art, die er gebrauchte um sein wahres Seelenleben zu verstecken. Jessy verharrte kurz neben ihm, dann erhob sie sich langsam wortlos und ließ Kevin eingesperrt und mir versteinerten Gesichtszügen im Keller zurück.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Verlassenes Haus - 12:45 Uhr


    Es hatte etwas Idyllisches, als Thomas und Andreas gemeinsam auf der, recht zerfallenen mit morschen Brettern ausgelegten Terasse saßen. Zumindest Andreas saß da, hatte die Füße auf den staubigen rostigen Metalltisch gelegt und zog an seiner Zigarette. Thomas ging nervös über die Terasse, blieb mal an der Hauswand gelehnt stehen, stützte sich mal auf das Geländer ab bis er merkte, dass es langsam krachend nachgab. Sein kleiner Bruder konnte die Nervosität nicht verstehen, die den Mann befiel. "Sag mal, was ist jetzt eigentlich genau dein Problem?", fragte er in aller Seelenruhe. Thomas blieb ruckartig stehen, beugte sich ein wenig nach vorne und machte eine vielsagene Handbewegung an seine Stirn. "Sag mal, kapierst du das nicht??", meinte er aufgebracht. "Wir haben einen Bullen im Keller sitzen. Einen Bullen!!" "Ja und? Für den wird bestimmt auch irgendeiner 20 Riesen bezahlen." Der groß gewachsene Mann schüttelte den Kopf. Warum dachte sein Bruder immer nur von 12 bis Mittag und konnte nicht mal die einfachsten Zusammenhänge erkennen. "Mann Andreas.", versuchte er ruhig zu bleiben. "Wenn wir irgendjemanden erpressen, und den Typ später freilassen, wird er uns jagen. Der wird nicht eingeschüchtert zu Hause rumsitzen und nichts unternehmen wie diese Tussi von gestern, verstehst du." Man konnte erkennen, dass Andreas einen Moment über die Worte seines Bruders nachdachte und es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihm zuzustimmen. Doch eine Antwort auf die Frage, die seinem großen Bruder im Kopf rumwanderte, konnte er nicht beantworten. "Und jetzt weißt du nicht, was wir mit ihm machen sollen?", versuchte Andreas die Gedanken zu verfolgen. "Richtig!" Thomas' Stimme klang beinahe erleichtert. Vielleicht hatte sein Bruder ja doch mal einen Geistesblitz.


    Stille herrschte, bis die beiden aus der geöffneten Terassentür das Geräusch der Kellertreppe hörten und das Zuschlagen der Tür, die zum Keller führte. Jessy kam durch die Terassentür getreten, ihre Miene verriet nichts von dem was im Keller passiert war... sie verriet überhaupt nichts. Sie war ausdruckslos, nicht freudig, nicht traurig. "Alles klar? Hast du ihn gut verschnürt da unten?", fragte Andreas vom Tisch aus, und Jessy ließ sich nur ein stummes Nicken entlocken, bevor sie sich auf eine alte, quietschende und völlig verwitterte Hollywood-Schaukel fallen ließ. Thomas sah sie ein wenig fragend an, er spürte dass etwas mit ihr nicht stimmte... aber vermutlich war sie gerade wieder auf dem Weg in ihre eigene Gedankenwelt. "Also, was tun wir jetzt?", fragte dessen Bruder und sah Thomas herausfordernd an. Er war der Denker der Dreien, er hatte immer eine rettende Idee in der Hinterhand, und darauf wollte sich Andreas auch jetzt verlassen. "Es gibt nur zwei Möglichkeiten...", dachte er laut nach und lehnte sich an einen Pfosten, der das Vordach über der Terasse hielt. "Entweder, wir nehmen unsere 20.000 Euro und verschwinden von der Bildfläche... irgendwohin ans Meer, wo uns niemand findet, oder...", er warf einen Blick in die Runde, wie sein erster Vorschlag wohl ankam. Jessy schaute ein wenig verschreckt mit offenen Augen ihren Bruder an. Einerseits, weil sie nicht unbedingt von hier weg wollte, andererseits hatte sie Angst vor dem "Oder". Andreas blickte seinen Bruder an und nickte. "Oder wir müssen dafür sorgen dass der Bulle niemandem mehr etwas erzählt." Es blieb still. Man spürte, dass keinem der dreien wirklich wohl bei dem Gedanken war. Sie waren bei ihren Überfällen nie zimperlich vorgegangen, Andreas hatte Spaß daran anderen schwächeren Typen weh zu tun. Dass dabei auch schon der ein oder andere nicht mehr aufgewacht war, daran verschwendete er keinen Gedanken, doch sein rational denkender Bruder wusste, dass bei den Überfällen mit Sicherheit bereits jemand zu Tode gekommen ist. Trotzdem war der Gedanke an vorsätzlichen Mord, um einen Zeugen verschwinden zu lassen, dazu noch einen Polizisten, unbehaglich für die beiden Männer.
    Jessy sagte gar nichts. Sie starrte in Thomas Richtung, und die Gesichtsfarbe wich langsam. Dieser bemerkte es und schaute ein wenig verwirrt. "Ist das ein Problem für dich, Jessy?" Jessy konnte auf diese Frage keine direkte Antwort geben, denn in ihrem Kopf fuhren die Gefühle plötzlich Achterbahn. Warum war es ein Problem für sie? Warum fühlte sie auf einmal eine Panik in sich aufsteigen bei dem Gedanken daran, dass ihre Brüder Kevin einfach umbringen könnten, und warum machte sie dieser Gedanke auch noch todtraurig? Was fühlte sie für diesen fremden Mann, von dem sie überzeugt ist, dass er die gleichen Sorgen und den gleichen Kummer hat wie sie, von dem sie sich so angezogen fühlt, dessen Stimme sie seltsamerweise stundenlang zu hören könnte, oder ihm stundenlang zu sehen könnte, wie er sie anschwieg. Mit seinen melanchonischen blauen Augen, die sich offenbar so schwer taten vor Freude zu funkeln statt ohne großen Ausdruck an ihr vorbeizusehen. Sie konnte sich keine direkte Antwort draufmachen, als ihre Schaukelbewegung langsam abebbte. "Aber... das... wenn sie uns dann erwischen... dann...", begann sie ein wenig zu stottern und zu ihrer großen Erleichterung pflichtete Andreas ihr bei, ohne auf ihren emotionalen Ausbruch wert zu legen: "Da ist was dran, Brüderchen. Bei einem Bullenmord werden die nicht nachgeben. Und vielleicht suchen sie ihn schon." Thomas' Blick war alleine auf Jessica gerichtet, und seine Alarmglocken läuteten. Warum reagierte seine Schwester so sonderbar auf den Plan, den Bullen umzulegen?


    Keller - zur gleichen Zeit


    Kevin war nicht erleichtert, dass Jessy ihn alleine ließ... im Gegenteil. Er genoß ihre Anwesenheit und erschrak selbst über diesen Gedanken. Brauchte sie nun Mitleid, oder brauchte er es? Wollte er jemanden zum Zuhören, oder sie... oder beide? Für einige Minuten saß er regungslos an der Wand, die Arme auf dem Rücken verschränkt, brennende Handgelenke. Warum redete er nicht mit Semir und Ben? Weil sie sowas nie durchgemacht haben? Semir als glücklicher Familienvater, Ben als wohlhabender Millionär durch einen reichen Vater? Fühlte sich der junge Kommissar mit seinen Sorgen vielleicht besser aufgehoben bei jemandem, der selbst von der Straße kam und selbst einsam war... wie Jessy? Seine Augen bewegten sich von der Wand, die er anstarrte weg, der mitunter etwas sture Ausdruck in seinen Augen wich dem resignierenden. Er seufzte und wusste nicht, wie er sich oder Jessy helfen sollte, könnte, wollte.


    Zumindest hatte er eine Idee, wie er sich momentan helfen konnte. Nach einigen Minuten brachte er seinen Körper wieder in die Senkrechte und ging in Richtung des alten Holzregals. Er schaffte es mit den Händen auf dem Rücken eine der Glasflaschen herunter zu nehmen und probierte sie, durch eine Körperdrehung möglichst fest gegen die Steinwand zu werfen. Erst im dritten Versuch, mit jedesmal mühsamen Aufhebens der Flasche, glückte es und die Falsche zersprang in einige scharfe Einzelstücke. Einige Minuten wartete Kevin, ob sich auf der Treppe oder im Flur irgendwelche Geräusche auftaten. Als sich nichts tat, nahm er eines Glasstücke und versuchte mühsam und mit leisen Stöhngeräuschen die scharfe Kante über den Kabelbinder zu streifen. Er sah nichts, das Glas in der Hand wurde warm und war rutschig, er kratzte sich selbst mit der scharfen Bruchkante ein wenig die Haut an den Handgelenken auf. Nach 10 Minuten spürte er, dass er Krämpfe bekam und ihm das Stück Glas aus der Hand fiel. Er atmete etwas schneller und ließ sich erneut an der Wand herunter rutschen, legte den Kopf gegen die Wand und schloß die Augen... Müdigkeit überkam ihn... wie immer wenn er am Abend zuvor Tabletten genommen hatte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Wald – 13:15 Uhr

    Wie auf Knopfdruck wurde der, so idyllisch und einsam wirkende Wald lebendig. Hartmut parkte den Polizei-SUV mit seiner Ausrüstung direkt neben Semirs BMW, ein weiterer Streifenwagen direkt dahinter. Wenige Minuten später wuselten mehrere Beamte in weißen Anzügen durch den Wald und die Hütte, einige Schritte vom Parkplatz entfernt. Man nahm Fingerabdrücke, suchte nach Hinweisen, sichere das Reifenprofil. „Da werde ich euch eher weniger sagen können, dafür ist der Boden zu trocken.“, machte Hartmut seinen beiden Kollegen eher wenig Mut. Semir und Ben beobachteten das Treiben noch einige Minuten, bis Semirs Handy klingelte. „Andrea?“, meldete er sich, denn er sah auf dem Display, dass seine Frau anrief. „Ich hab die Personalien der Frau. Es handelt sich um eine gewisse Katharina Schmieler. Wohnt ganz in der Nähe vom Rheinpark.“ Sie nannte noch die genaue Adresse und Semir bedankte sich mit einem Luftkuss. „Noch was…“, sagte die Sekretärin, bevor ihr Mann das Gespräch beendete. „Die Chefin hat nach euch beiden gefragt, und auch was von meinen Recherchen gesehen. Ich habe gesagt, dass ich keine Ahnung habe, für was ihr die Daten braucht. Es könnte sein, dass sie euch darauf anspricht.“ Semir stöhnte auf und runzelte die Stirn, wofür er einen fragenden Blick von Ben kassierte. „Das auch noch. Die Engelhardt weiß nichts davon, und streng genommen ist das nicht mal unser Fall.“ „Ich weiß, mein Schatz. Deswegen habe ich auch erstmal nichts gesagt. Kannst dir ja schon mal was gutes ausdenken.“ Der Polizist verzog das Gesicht. „Na herzlichen Dank auch.“ Sie verabschiedeten sich und Semir beendete die Verbindung. „Was ist los?“, fragte sein Freund, der direkt neben Semir mit verschränkten Armen an der Motorhaube lehnte. „Die Chefin wird wohl demnächst fragen, was wir eigentlich den ganzen Tag treiben.“, meinte Semir ein wenig missmutig und stieg ins Auto ein. Ben folgte ihm ohne Aufforderung und setzte schnippisch hinzu: „Sag ihr am besten, wir hätten auf dem Forstweg geblitzt.“ Dass sich die Chefin jetzt noch einmischen würde, gefiel Ben gar nicht. Doch wenn sie hörte, dass Kevin vermutlich in Gefahr ist, würde sie vielleicht nicht versuchen, die beiden von dem Fall abzuziehen.


    Verlassenes Haus – 13:15 Uhr

    Wie er es auch drehen und wenden würde… sie saßen in der Falle. Verdammt nochmal, in der Theorie hatte sich alles einfach angehört. Entführung, Angst einflößen, Lösegeld und fertig. Niemand riskierte für läppische 20.000 eine weitere Begegnung mit seinem Bruder Andreas. Doch nun hatten sie einen Bullen im Keller eingesperrt, und waren in einer Sackgasse gefangen. „Laufen lassen können wir ihn nicht, weil er dann hinter uns her wäre und umlegen ist riskant, weil wir dann die ganze Kavallerie an den Hacken haben.“, brummte Thomas in seine eigenen Hände, die er vors Gesicht hielt und sich auf den alten Tisch abstützte. Es war vertrackt, und er konnte sich nicht auf Hilfe verlassen. Andreas war in Sachen Nachdenken einfach nicht der Hellste, als dass ihm jetzt ein Geistesblitz erschien. Und Jessy war eigenartig still geblieben in den letzten Minuten. Sie saß auf der Hollywoodschaukel, die Beine an den Leib gezogen, die Arme darum geschlungen und das Kinn auf die Knie gestützt. Sie schien in ihrer eigenen Welt verschwunden zu sein, spürte nicht die zarte Wärme der Sonnenstrahlen und hörte die Stimmen ihrer Brüder nur noch weit weg. In ihrem Kopf sah sie Kevin, wie er sie eben ansah und mit abweisender Stimme "Du weißt gar nichts über mich“ ihr entgegenschleuderte. Und darüber, dass ihre Brüder den Polizisten gerne aus dem Weg schaffen würden. Sie konnte ihre Gedanken darüber nicht einordnen und schon gar nicht verstehen.

    „Und… wenn wir doch Lösegeld verlangen… und uns damit irgendwohin absetzen?“, fragte Andreas sachte, als hätte er ein wenig Angst davor wieder etwas falsches zu sagen. „Und dann? Wenn wir die Bullen anrufen und sagen, dass wir ihren Kollegen haben, setzen die alles in Bewegung. Es muss jemand sein, der solche Angst um den Typen hat, und eben nicht die Bullen anruft. Aber auf dessen beschissenen Handy waren nur Namen von Kerlen.“ Voller Wut schlug Thomas mit den flachen Händen auf den Tisch.
    „Engel…“. Die Brüder sahen herauf zu Jessy, deren Stimme sie vernommen hatten, ihre Lippen hatten sich bewegt und nur das eine Wort gesagt, ohne dass sie ihre Augen vom Rasen erhob. „Was meinst du, Jessy?“ Thomas war der erste, der die Stimme wiederfand, und seine Schwester dazu brauchte, aufzuschauen. „Das Pseudonym Engel, dessen Nummer es nicht mehr gab. Vielleicht seine…“, sie stockte bei dem Wort kurz, eine Form von Wut und Traurigkeit machte sich in ihr breit, ohne dass sie wusste, warum „… Freundin?“ Die beiden Brüder schauten sich gegenseitig an. „Du sagtest aber, die Nummer gibt es nicht mehr.“, gab Thomas ihr zu bedenken. „Vielleicht… hat sie jetzt eine andere. Man müsste… ihn fragen… vielleicht.“ Ihre Augen zuckten unsicher zwischen ihren Brüdern hin und her, als sie dazu setzte: „Soll ich?“ Thomas dachte nach, und wollte im ersten Affekt Andreas nach unten schicken. Dessen Fäuste waren jederzeit ein kräftiges Argument dafür, lieber auf Fragen zu antworten. Entgegen dieses Affektes nickte er sanft. „Okay, versuch es. Wenn er nichts sagen möchte, dann wird Andreas ihn fragen.“ Die Aussicht darauf ließ Andreas übers Gesicht grinsen…


    Keller – 13:25 Uhr

    Wenn Kevin abends, vor dem Einschlafen ein oder zwei seiner bunten Pillen nahm, die er seit den Erlebnissen um den Mörder seiner Schwester nur noch in besonders schlaflosen Phasen nahm, bewirkten dass er zwar Nachts ruhig schlief, dafür aber um die Mittagszeit in ein Loch fiel… und wenn er dann schlief, so schlief er unruhig und träumte wahnsinnige Träume. Die Alpträume, die er hatte waren aber nicht mehr die gleichen wie früher, als er die Nacht, als Jessy getötet wurde durchlebt hatte. Nein, meistens war er irgendwo alleine, einfach nur alleine. Doch das Gefühl, der letzte Mensch auf Erden zu sein war in diesem Traum so stark, dass er schweißüberströmt wach wurde. Auch Peter Becker tauchte manchmal in seinen Träumen auf, manchmal fand er Ben oder Semir mit aufgeschnittener Kehle in seiner Wohnung vor.
    Jetzt war er kurz eingenickt, doch er schreckte sofort hoch als er die Schritte auf der Treppenstufe hörte. Die Schritte waren nicht schwer, sondern leise und flink. Er würde sich schwer täuschen, wenn dies nicht wieder Jessy sei, die auf dem Weg zu seinem Gefängnis war, doch vorsorglich scharrte er mit dem Fuß die Glasscherben zur Seite.

    Als die Tür aufschwang sah Kevin sofort, dass er Recht hatte. Jessy lugte in den Kellerraum hinein, mit ihren schwarzen Haaren, die ihr über die Schultern fielen. Sie schloss die Tür hinter sich und steckte den Schlüssel von innen in die Tür. Der junge Polizist zog die Stirn in Falten. „Was soll das werden, wenn es fertig ist?“, sagte er mit misstrauischer Stimme. Jessy war ihm zusehends suspekt, auch wenn er erneut dieses eigenartige Gefühl im Bauch spürte, sobald sie den Raum betrat… und irgendwie ihre Anwesenheit auch genoss. Mit leisen Schritten und einem kurzen Blick auf das Holzregal, auf dem eine Flasche fehlte, kam Jessy wieder in Kevins Richtung, bis sie vor ihm stehen blieb. „Du hast gesagt, dass ich nichts über dich weiß.“, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme und schaute von oben herab in Kevins Gesicht, der den Kopf nach oben gehoben hatte. Dann ging sie langsam neben dem jungen Mann in die Hocke und sagte noch etwas leiser: „Ich will aber, dass ich etwas über dich weiß. Ich will wissen, wer du bist.“ Dabei legte sie eine Hand auf Kevins Oberschenkel, und ließ ihn dort ruhen. Wenn die beiden jetzt in Kevins Wohnung, in seinem Auto oder irgendwo sonst gewesen wären, hätte er sie jetzt vermutlich geküsst. Doch die Umstände machten diese Gedanken zu etwas Abstrakten…

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Keller – 13:30 Uhr

    Die Situation war nicht mehr komisch, sie war absurd. Kevin war gekidnappt, saß mit gefesselten Händen und blutverkrusteter Nase in einem dunklen Keller, ohne eine Ahnung wo er sich überhaupt befand. Und der weibliche Teil seiner Entführer saß da neben ihm, die Hand auf seiner staubigen Jeans und wollte reden… ja, sie wollte reden. Sie hatte über sich selbst gesagt, dass sie einsam sei, so einsam wie er. Fühlte er sich deshalb von ihr so angezogen, und sie fühlte sich von ihm so angezogen?
    Aber was wollte sie wissen? Wollte sie wirklich wissen, was er in seinem früheren Leben alles getan hat, verbockt hat. Im Prinzip wäre er fast so geendet wie ihre Brüder… Kleinkriminelle, die immer weiter auf die schiefe Bahn gerieten, bis es vorbei war. Bis man eines Tages zu weit ging, und der Weg zurück für immer versperrt war. Bei Jessy, so spürte der Polizist, war es wie bei ihm noch nicht zu spät. Der Drang zu reden drückte sich Kevins Kehle hoch… jedoch nicht über das, was ihm passiert war, sondern das was ihn momentan beschäftigte. Dass er an seiner Einsamkeit kaputt ging, dass er eine Antriebslosigkeit und innere Müdigkeit verspürte, seit die Wut und der Zorn auf Janines Mörder verschwunden war. „Du hast dich geirrt.“, sagte er und legte den Kopf ein wenig schief, während er zu Jessy herüber schaute, die sich jetzt vollends wieder neben ihn saß. „Keine schöne Kindheit, kein gutes Elternhaus, und die Schule nur über Umwege.“ Jessy hörte ihm interessiert zu, sie ließ sein Gesicht nicht aus ihren Augen und strich sich eine schwarze Strähne hinters Ohr. „Hast du Eltern?“, fragte sie und bewegungslos ruhte ihre Hand auf Kevins Oberschenkel, als dieser sich nicht recht entscheiden konnte, ob er nicken oder den Kopf schütteln sollte, und der Blick zu Boden ging. „Ich habe meine Mutter nie kennengelernt. Und mein Vater war und ist ein Arschloch.“ Mit Wut dachte er an seinen Vater zurück, der den kleinen Jungen damals abgeschoben hatte zu einem Transvestit, der in Erik Peters‘ Nachtclub regelmäßig auftrat. Sie kümmerte sich zwar liebevoll um den Jungen, doch die Straße erzog Kevin mehr als alles andere. Sein Vater war neben Clubbesitzer auch Zuhälter, und hatte mehr als einmal versucht, Kevin von dem Polizistenjob abzubringen. Seitdem hatte der den Kontakt komplett abgebrochen.

    Jessys Finger schienen nur Millimeter über den Jeansstoff an Kevins Bein zu gleiten, als sie seiner Stimme zuhörte. Sie sah ihn von der Seite an, und der junge Polizist war von ihr so fasziniert, dass die Absurdität der Situation für ihn immer unwichtiger wurde. „Mein Vater…“, sagte sie dann irgendwann… „war immer für mich da.“ Ihre Stimmlage, als sie das sagte, war eigenartig, denn es klang nicht liebevoll… es klang nicht stolz oder freudig. Ein Zwicken breitete sich in Kevins Magen zu einem leichten Brechreiz aus, als er nun von der Seite in Jessys Gesicht sah, die ihrerseits die Wand gegenüber anblickte. „Immer wenn ich nachts nicht schlafen konnte, kam er zu mir ins Bett. Oder wenn ich fror, dann hielt er mich warm.“, sagte sie mit einer seltsamen Stimmlage, so dass Kevin sich nicht sicher war, ob sie es ernst meinte oder völlig ironisch… und es einem weitaus ernsteren Hintergrund gab. Bestätigt wurde ihm das, als das Mädchen mit leiser Stimme sagte: „Er fing an, als ich 10 war und hörte erst auf, als ich mit Thomas und Andreas von zu Hause weggelaufen bin.“ Eine unfassbare Wut staute sich in Kevin auf, als er hörte was die junge Frau ihm erzählte, und er konnte es nicht glauben. „Er hat dich…“, fragte er fast tonlos, während er sie ansah und Jessy nickte.
    Kevin spürte, wie sein Herzschlag kurz aussetzte… plötzlich fühlte er sich wieder in der Rolle des Beschützers, des Fels in der Brandung der er immer für seine kleine Schwester da war. An dem man sich festklammern konnte bei stürmischer See, an dem jeder, der für Kevin wichtig war, Schutz fand. Er hätte Jessy in diesem Moment gerne umarmt, statt Worten eine Geste des Trostes oder des Schutzes gezeigt, doch ihm waren die Hände gebunden. So ließ er langsam seinen Kopf zur Seite gleiten, bis seine stacheligen Haare an die sanften schwarzen Haare von Jessy stießen. Sie verstand die stumme Geste, ließ sich ein wenig weiter in eine tiefere Sitzposition gleiten und legte ihren Kopf auf Kevins Schulter, bis dessen Wange nun vollends auf ihren Haaren lag. „Meine Mutter wusste es, und hat nie etwas dagegen getan.“, sagte sie traurig. Sie sahen sich einander nicht mehr an, in der Haltung, in der sie nun an der Wand saßen, doch sie spürten eine tiefe Verbindung zueinander, in diesem Moment.

    „Du hast gesagt, dass du einsam bist, so wie ich.“, sagte Kevin leise nach einem kurzen Moment der Stille. Er spürte, wie Jessy auf seiner Schulter nickte. „Du hattest recht damit, dass ich einsam bin. Aber du bist nicht einsam… du hast doch deine Brüder.“ Der Satz entlockte dem Mädchen ein Lächeln auf ihr hübsches Gesicht. Ja, sie hatte ihre Brüder, die für sie durchs Feuer gehen würden. Die auf sie aufpassten, und die sie wohl niemals würden im Stich lassen. Aber zum Reden waren sie nun mal nicht da, sich Jessys Sorgen und Träume anzuhören. Andreas sagte immer, sie solle ihn „mit dem Scheiß nicht langweilen.“, und Thomas wollte nie an sein Elternhaus erinnert werden. Irgendwann hatte sie es aufgegeben. „Ich weiß… aber das ist etwas anderes.“, sagte sie nur. Obwohl die Erklärung nur lapidar war, so spürte Kevin doch, dass es ihr mit ihren Brüdern offenbar ähnlich ging, wie ihm mit Ben und Semir. Jessy war nicht so wie ihre Brüder, und Kevin war nicht wie Ben und Semir. Aber Jessy und Kevin, sie waren ähnlich… still, melanchonisch, nachdenklich und beide hatten ihre Vergangenheit, die so eng verwoben sein könnte.
    „Ich habe eine Schwester.“ Kevins Satz kam so unvorbereitet, dass er selbst überrascht war, dass er dieses Thema anschnitt. Doch er war eingenommen von Jessy, wie eine Droge, die auf ihn wirkte, die ihn plötzlich alle Schranken und Mauern vergessen ließen, die er sich um seine Seele herum aufgebaut hatte. „Das Mädchen in deinem Geldbeutel?“, fragte Jessy und sah nun wieder ein wenig zur Seite hinauf, in Kevins Augen, der ihren Blick erwiderte und nickte. „Und der Engel in deinem Handy?“ stellte sie erneut eine Frage ohne bemerkte erst gar nicht, dass sie damit ihren Auftrag erfüllt hatte, mit dem sie in den Keller ging. Wieder ein stummes Nicken und Jessy lächelte. „Warum nennst du sie Engel?“ Unbewusst und mit inniger Überraschung lächelte Kevin… er lächelte, weil Jessy ebenfalls die Mundwinkel leicht nach oben verzog trotz dieses, für ihn früher so schwierigen Thema. „Weil sie ein Engel ist…“, gab er zur Antwort und ließ Jessys Lächeln noch ein wenig breiter werden. „Weil sie so nett und unschuldig ist?“, fragte sie ein wenig neckisch, und das Lächeln des Kommissars blieb… es blieb freundlich und ehrlich und es überraschte ihn mehr als alles andere in den letzten Jahren, während er sagte: „Nein…“ und dabei den Kopf schüttelte „… weil sie seit 11 Jahren tot ist.“ Er spürte keine Bitternis in der Stimme, keine Trauer und keine Wut. All das war über den Rand des Daches einer Batteriefabrik gestürzt, als Peter Becker, der Mörder seiner kleinen Schwester, sich das Leben nahm… und damit Kevins Antrieb und sein einziges Ziel. Danach suchte er jetzt wieder.

    Diesmal war es Jessy, die die stumme Geste des Trostes suchte und ihren Kopf wieder langsam an Kevins Schulter legte. Sie spürte seine raute Haut und den Stoff seiner Lederjacke auf ihrer Wange. Obwohl sie Kevin kennen wollte, fragte sie nichts weiter nach seiner Schwester… wie sie umkam, warum und weshalb, und der junge Polizist war dankbar darum, diese Geschichte nicht nochmal erzählen zu müssen. Stattdessen formte sich ihr Mund zu einer vorsichtigen Frage: „Und… wen hast du jetzt noch?“ Kevin hörte ihre Stimme leise von schräg unterhalb seiner Wange. Einen Moment brauchte er um die Frage zu beantworten und ob er Semir und Ben dazu zählen sollte, bis er antwortete: „Niemanden mehr…“

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Keller – 13:45 Uhr

    Ein sonderbares Gefühl beschlich Kevin in diesem Moment, als er die beiden Worte als Antwort auf Jessys Frage gab. War die Antwort wirklich richtig? Wer war Ben und Semir für ihn? Freunde, Kollegen, Bekannte? Er konnte es nicht beantworten. Klar, sie wussten mehr von dem jungen Mann als jeder andere, André ausgenommen. Von seiner Vergangenheit, seiner Jugend und seinen Lastern. Sie hatten zusammen diesen gefährlichen Fall erlebt, der alle drei beinahe auf unterschiedliche Art und Weise das Leben hätte kosten können. Und trotzdem empfand es der junge Polizist so, als wären die beiden unendlich weit weg, als wollten sie als ehrbare saubere Polizisten nichts mit dem Bullen mit krimineller Vergangenheit zu tun haben. Bens Versuche, ihn aus seiner Wohnung zu locken, als sie gemeinsam Musik machten, empfand er als Pflicht-Mitleid. Irgendwo war die Natürlichkeit verloren gegangen, weshalb er sich auch immer mehr abgekapselt hat und Verabredungen kurzfristig wieder abgesagt hatte. Er empfand einfach keine emotionale Bindung, doch genau die war es, die ihn jetzt so an Jessy fesselte, die neben ihm saß, ihr Kopf auf seiner Schulter, ihre Hand auf seinem Oberschenkel, der Zeigefinger der leichte Kreisbewegungen über seine Jeans vollführte. Kevin fühlte sich einerseits wieder in seiner früheren Rolle als großer Bruder, andererseits aber auch in einer neuen Rolle des Unterlegenen, Schutzbedürftigen. Seiner kleinen Schwester hatte er diese Rolle niemals aufgehalst und blieb unantastbar… doch damals hatte er auch noch keine zentnerschweren Sorgen und Gedanken mit sich herumgetragen.
    Jessy blieb zunächst einige Minuten still nach seinen Worten und sie fühlte sich in ihrer Annahme bestätigt. Obwohl sie ihre beiden Brüder hatte, die sich um sie zumindest körperlich gekümmert hatten, fühlte sie sich geistig ebenfalls einsam. Niemand der mit ihr über ihre Träume, ihre Sehnsüchte, ihre Ängste sprach. Die Überfälle ließen eine harte Schale aufrechterhalten, von der bei Kevin auf der Schulter nicht mehr viel übrig blieb. Was sie an den jungen Mann so faszinierte (ausser natürlich äusserlich seine blauen Augen) konnte sie gar nicht recht erklären. Es war mehr so ein Gefühl, eine Aura die er ausstrahlte. Etwas ernstes, melanchonisches, das sie sofort gepackt hatte, als sie zum ersten Mal die Augenbinde nach oben zog und dem Mann ins Gesicht sah. Letztendlich fühlte sie sich bestätigt. Und zum ersten Mal fühlte sie sich wohl, obwohl dieser Mann ihr noch immer fremd war, und doch so vertraut. Eine unsichtbare emotionale Verbindung, die ohne Worte zwischen den beiden bestand. „Einsame Herzen erkennen sich.“ An dieses Zitat aus einem Liedtext eines Sängers, der eigentlich gar nicht zu Kevin passte, musste er sich gerade erinnern. Es war etwas Wahres dran.

    Die beiden waren von dieser eigenartigen Stimmung so fasziniert, dass sie für kurze Zeit ihre Umwelt vergaßen. Nur das unangenehme Drücken der Kabelbinder um Kevins Handgelenke ließen ihn zurück in die Wirklichkeit finden. Doch er wollte diesen Moment nicht zerstören, und er hörte Jessys leise, fast brüchige Stimme. „Ich weiß dass meine Brüder auf mich aufpassen…“, sie stockte kurz und ihre Augen drehten sich kurz nach oben zu Kevin, als wolle sie sichergehen, dass ihr der junge Mann zuhörte. Doch die Sorge war unbegründet… der Polizist hing an ihren Lippen. „… aber ich sehne mich nach jemanden, der nicht nur auf mich aufpasst. Sondern, bei dem ich so sein kann wie ich bin. Verstehst du?“ Sie reckte den Kopf ein wenig nach oben und stieß mit der Stirn gegen Kevins Wangenknochen… wie eine Katze, die ihrem Herrchen ihre Liebe bewies, in dem sie ihn mit dem Kopf an Kopf stieß. „Ja…“, antwortete Kevin mit seiner markanten Stimme, und es könnte alles so schön sein, wenn er nicht gerade gefesselt da sitzen würde, und das Mädchen, mit dem er sprach, drauf und dran war wegen Menschenraub und Erpressung ihr ganzes Leben zu versauen.
    Ihre Hand wanderte von Kevins Oberschenkel an seinen Arm, nach hinten zu seinem Handgelenk. „Tun die Kabelbinder sehr weh?“, fragte sie und richtete ihren Kopf wieder auf seine Höhe, weg von seinem Blick. Obwohl er sich nichts sehnlichster wünschte, dass sie die Dinger durchschnitt, so hielt ihn etwas davon ab, danach zu fragen. Die Situation in der Hütte, als er sie um das Handy bat, hielt ihn davon ab. Er wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass er sie ausnutzen wolle. „Angenehm sind sie nicht…“, meinte er und versuchte ein Lächeln, das Jessy nicht erwiderte. Sie sah stattdessen hinter den Rücken des Mannes auf die Hände. „Du würdest fliehen, wenn ich dich losbinde… oder?“ sagte sie plötzlich. Unbehagen stieg in Kevin hoch, als er die Frage vernahm. Das Mädchen war klug genug nicht zu glauben, wenn er jetzt verneinte. Natürlich würde er versuchen zu fliehen, denn egal wie Jessy zu ihm stand, ihre Brüder ein Stockwerk höher waren tickende Zeitbomben. Also kam für ihn nur die Wahrheit in Frage… die beschönigende Wahrheit. „Es würde mir leichter fallen, wenn ich dich mitnehmen könnte.“, sagte er leise. Jessys Kopfschütteln löste eine Gänsehaut auf seiner Haut aus. „Ich kann meine Brüder nicht einfach… im Stich lassen.“ In Kevins Kopf arbeitete es, und er dachte in Sekundenschnelle nach, wie er das Mädchen positiv beeinflussen könne, ohne jeglichen Hintergedanken. Sollten ihre Brüder doch abhauen, dachte er. Hauptsache, sie kommt aus dem Dreck heraus. „Noch hast du vielleicht eine Chance… auf deinen Traum.“, sagte er vorsichtig. Er hatte keine Ahnung, welche Möglichkeiten er, vielleicht Anna Engelhardt hatte, Jessys Geschichte so zu drehen, dass sie mit einem blauen Augen davonkam. Er wollte ihr auch keine falschen Versprechungen machen, doch Jessy hörte vorerst eh nicht darauf. Sie lächelte und erhob sich von dem jungen Mann, als wäre das ein klares Nein auf Kevins Wunsch.

    Zunächst schien sie den Raum zu verlassen, allerdings nur um in den Nebenraum zu gehen, dort einen Seitenschneider zu holen, und zurück zu kehren. Sie kniete sich auf den Boden neben Kevin, und mit einem leisen „Klack“ entspannte sich der Druck um dessen Handgelenke. Für Kevin war klar, was das hieß… Jessy wollte ihm helfen. Wollte ihn schützen vor ihren Brüdern, wusste offenbar dass sie nichts Harmloses mit dem Polizisten im Sinn hatten. „Bitte nimm mir nicht meine Brüder...“ begann sie und sah Kevin tief in die Augen. Es war wie eine Bitte, das Trio nicht zu verfolgen, wenn er fliehen konnte. „… auch wenn sie meine Sehnsucht nicht nehmen, meine Träume nicht erfüllen. Sie sind das Einzige was ich habe.“ Sie erhob sich erneut und Kevin erhob sich mit ihr nach oben, als sie leise sagte: „Diese Viertelstunde hat mir bereits sehr viel Sehnsucht gestillt.“ Die Worte verschafften dem Polizisten, den äußerlich normalerweise nichts aus der Ruhe bringt, die zweite Gänsehaut. Er konnte nicht anders, ergriff Jessys Hand zärtlich und zog sie an sich heran. Er spürte, als er sie umarmte, ihren Herzschlag dicht an seinem, ihre Haare an der Wange und ihre Hände auf seinem Rücken. Eine Umarmung, innig und wundervoll, und doch völlig bizarr, denn er umarmte seine Entführerin. Das Gefühl sollte ihn noch Stunden verfolgen, das wusste er als Jessy sich leise verabschiedete und die Tür hinter sich schloss, ohne diese abzuschließen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Wohngebiet – zur gleichen Zeit

    Semir hielt den BMW in einer Einfahrt eines Einfamilienhaus in einem kleinen Vorort von Köln. Eine Wohnsiedlung, wie man es sich wohl nur in den schönsten Familienträumen ausmalen konnte. Viele kleine Straßen, Sackgassen, kleine Wege die zwischen den Gärten hindurch führten und vor jedem dritten Haus spielten mindestens zwei Kinder, die gerade aus der Grundschule oder aus dem Kindergarten kamen. Die ersten Blumen in den Vorgärten gingen auf und erwachten langsam aus dem Winterschlaf. Hier wohnte Johanna Seidlitz, die heute Morgen die versuchte Entführung zur Anzeige gebracht hatte. Andrea hatte die Infos vorhin durchgegeben, mit dem kleinen Zusatz, dass die Chefin bereits nach ihnen gefragt hätte. „Was hast du ihr gesagt?“, hatte Semir noch übers Handy die Frage an seine Frau gestellt, die sofort antwortete: „Dass ihr einen Unfall aufgenommen habt. Kann also sein, dass sie nachher etwas danach fragt. Das heisst, ihr solltet demnächst mal wieder hier auftauchen.“ „Du bist ein Schatz.“, flötete der Polizist durchs Handy an seine Frau weiter, die immer einen Weg fand, ihren beiden Männern, wie sie zwinkernd öfters sagte, den Rücken frei zu halten. Wenn es allerdings hart auf hart kam war auch Anna Engelhardt nie um eine Lüge beim nächsthöheren Vorgesetzten verlegen, sollten sich Ben und Semir mal wieder in Schwierigkeiten gebracht haben.

    Doch momentan waren die beiden von Schwierigkeiten weit weg, und es schien ihnen, dass hier in dieser hübschen Wohnsiedlung noch nie jemand etwas von Verbrechen gehört hat. Sie drückten auf die Klingel, an der in geschwungener Schrift: „Familie Seidlitz“ stand und warteten kurz. Die Tür wurde von einer hübschen Frau geöffnet, allerdings nur so, dass man ihr Gesicht sah und die Tür von einer Kette gesichert, ungefähr Mitte 20 mit kurz geschnittenen modischen Haaren. Ihr Gesicht, das nur sehr dezent geschminkt war, wirkte müde und ihre Augen leicht schreckhaft. „Ja, bitte?“, fragte sie ein wenig unsicher, offenbar innerlich gezeichnet von dem Überfall heute Morgen. „Guten Tag, Gerkhan Kripo Autobahn, das ist mein Kollege Jäger. Wir hätten ein paar Fragen zu dem… ähm… Überfall heute Morgen im Rheinpark.“, sagte der erfahrene Kommissar freundlich, und beiden hielten ihren Ausweis so vor den Spalt, dass die junge Frau ihn erkennen konnte. Sie nickte kaum merklich mit halb offenem Mund und entriegelte die Tür, dass man sie komplett öffnen konnte und bat die beiden Polizisten herein. Ben und Semir traten in einen modernen hellen Flur, der sofort in den Wohnraum mündete. Offenbar wohnte die Familie noch nicht sehr lange in dem Haus, den überall standen Kartons herum, an der Decke hingen noch keine Lampen sondern nur Fassungen mit Glühbirnen. „Bitte setzen sie sich doch… Entschuldigen sie die Unordnung.“, meinte die Frau mit leicht zittriger Stimme und schon einen Stapel Zeitschriften zur Seite. „Unordnung… so siehts bei mir aus, wenn aufgeräumt ist.“, murmelte Ben, der kein Musterbeispiel für Ordnung war, und Semir runzelte die Stirn… die flapsige Bemerkung glaubte er seinem Freund aufs Wort. Johanna schien sie nicht bemerkt zu haben setzte sich auf einen Sessel, den beiden Polizisten schräg gegenüber. „Ich hab ihren Kollegen auf der Polizeidienststelle doch schon alles erzählt… und warum überhaupt Kripo Autobahn… was…“, sagte die junge Frau nervös und wurde von Semir sofort unterbrochen. „Frau Seidlitz, wir untersuchen momentan einen anderen, vermutlichen Entführungsfall, der sich an der Autobahn abgespielt hat. Deswegen wollen wir ihnen noch ein paar Fragen stellen.“ Die junge Frau nickte, sah sich aber trotzdem immer wieder unsicher im Zimmer um, als würde gleich einer der Verbrecher hinter der Gardine hervorspringen, und sich auf sie stürzen. „Wie lief der Überfall den genau ab?“, fragte nun Ben, der sich leicht nach vorne gebeugt auf das Sofa gesetzt hatte und die Hände unterm Kinn gefaltet hatte. Die junge Frau schien erst nach Worten zu suchen, und bemühte sich dann, ruhig und stukturiert zu erzählen. „Ich ging spazieren… alleine heute morgen, also vor der Uni.“ ‚Studentin, und dann so eine Hütte? Bei der wäre wohl einiges zu holen gewesen.‘, dachte sich Ben für einen Augenblick, bevor er weiter konzentriert zuhörte. „Da war plötzlich diese Frau… sie hatte mich nach einem Euro gefragt.“ „Konnten sie die Frau beschreiben?“, hakte Semir ein. Ben wollte ihn im ersten Affekt unterbrechen, er brannte darauf zu erfahren, ob Kevin in diesen Überfall irgendwie hineingeraten war. „Ich habe bei der Dienststelle die Beschreibungen hinterlegt… muss ich das denn nochmal…“ „Nein, müssen sie nicht.“, unterbrach Ben die Frau und erntete dafür einen verwirrten Blick von seinem Kollegen. „Erzählen sie weiter.“, setzte Ben mit Nachdruck dahinter. „Ich hatte nichts und drehte mich um… und auf einmal standen diese beiden Männer vor mir, und griffen nach mir. Ich bekam sofort Panik, hatte das Mädchen getreten, und wollte davon laufen. Einer ergriff mich, der andere kniete plötzlich neben mir, und der dritte…“, plötzlich hob Semir die Augenbrauen und unterbrach die Frau: „Der Dritte? Sie hatten doch gerade nur von zwei Männern gesprochen.“ „Ja, da waren auch nur zwei Männer… der dritte kam dazu gelaufen, aber was der genau gemacht hatte weiß ich nicht. Ich wollte nur so schnell wie möglich weg und habe mich von dem Mann, der mich festhielt, losgerissen.“ Ihre blauen Augen huschten bei der Erzählung hektisch zwischen den beiden Kommissaren hin und her, in deren Köpfen es arbeitete. „Haben sie den dritten Mann auf dem Revier auch beschrieben?“, fragte Semir und Johanna nickte. „Die Beschreibung bräuchten wir von ihnen doch nochmal direkt.“, forderte Ben nun plötzlich, der wie auf glühenden Kohlen saß. Ein ungutes Gefühl im Magen verriet ihm, dass er mit seiner vagen Vermutung wohl voll ins Schwarze getroffen hatte.

    Johanna räusperte sich kurz. „Ich konnte ja nicht viel erkennen… der war ja erst da, als ich mich losreißen wollte. Seine Haare waren kurz und ziemlich durcheinander. Aber das kann auch vom Laufen gekommen sein. Er war größer als ich… recht jung.“ Innerlich hakte Ben die Beschreibung bereits bei den durcheinander liegenden Haaren ab… das MUSSTE Kevin gewesen sein. Was für ein Zufall… aber wurde er danach tatsächlich anstelle der Frau gekidnappt? Waren die Kidnapper wirklich nur auf ein Zufallsopfer aus? „Können sie ausschließen, ob der dritte Mann zu den beiden Entführern gehört hatte?“, fragte Semir ein wenig unsicher. Er war von der Theorie noch nicht 100 % überzeugt. Johanna dachte einen Moment nach, sie schien angestrengt zu sein, bis sie plötzlich aufseufzte, als hätte sie während des Denkens die Luft angehalten. „Ich weiß es nicht… es ging alles so schnell. Als ich mich losgerissen hatte, wollte ich einfach nur weg, in Richtung Straße. Ich wusste ja nicht, ob die mir hinterherlaufen würden.“ Ben und Semir nickten verständnisvoll. Sie würden wohl erst Gewissheit haben, wenn sie auf die örtliche Dienststelle fuhren, und sich dort die Beschreibungen genau durchlesen würden…


    Verlassenes Haus – 14:00 Uhr

    Andreas hatte Thomas längere Zeit angesehen, bis er sich traute, den Mund aufzumachen. „Du Thomas… eins verstehe ich nicht.“, begann er zaghaft und zog an seiner Marlboro. Thomas blickte auf, und ein stummes Signal, dass er aufnahmebereit war, war ein kurzes Heben der Augenbrauen. „Du hast doch gesagt, wir können den Bullen nicht freilassen, weil er wohl nicht einzuschüchtern wäre, wie die anderen. Du hast aber auch gesagt, dass wir ihn nicht einfach umlegen könnten. Wenn wir jetzt aber Lösegeld verlangen… was machen wir dann?“ Thomas erhob sich von seinem Sitzplatz und schnappte sich einen freien Stuhl neben seinem, manchmal etwas langsam denkenden Bruder. „Pass auf. Wenn wir wirklich die Freundin von dem Typen erwischen, wird die wohl eher Angst um ihn haben, und nichts unternehmen. Wir verlangen 50.000 Euro für ihn. Das wird die wohl auch noch hinkriegen. Und dann müssen wir den Typen eben noch irgendwo verstecken, statt ihn sofort freizulassen, und wir haben erst mal genug Knete, um ins Ausland zu flüchten. Von dort aus geben wir der Tüte dann Bescheid, wo sie ihren Helden findet, okay?“ Thomas war zwar kein dummer Kerl, doch er gab zu dass Überfälle auf Kiosks definitiv eher sein Metier waren als Entführungen. An zuviel musste man denken, doch Andreas schien überzeugt, auch wenn sein Nicken noch sehr zaghaft ausfiel.

    Jessy kam aus dem Inneren des Hauses zurück in den Garten und blinzelte in die Sonne. Ihre Gesichtsfarbe war ein Stück weit blasser als vorher, bevor sie ins Haus gegangen war. „Na… was hast du rausgefunden, Schwesterlein?“, fragte Thomas mit prüfenden Blick. Jessy ließ sich mit der Antwort kurz Zeit, bis sie sich erneut auf die Hollywood-Schaukel saß. „Also… die Nummer ist… sie ist von… seiner Freundin.“, sagte das Mädchen ein wenig zaghaft und sah weder Andreas noch Thomas wirklich an. Ersterem fiel dies nicht sonderlich auf, doch dem ältesten gefiel ihr Blick überhaupt nicht, und sie kam dichter an Jessy heran und setzte sich neben sie. „Und warum gibt es die Nummer nicht mehr?“, fragte er mit geduldiger und beinahe zuckersüßer Stimmlage. Jessy biss sich ein wenig auf die Lippe, und es fiel ihr wirklich schwer, Thomas anzulügen… vor allem weil Thomas bereits eine leichte Ahnung hatte, wusste er doch um seine sensible Schwester und hatte er vor allem die ihre Blicke auf den Polizisten vorhin im Wagen schon bemerkt. „Ihr… Vertrag ist die Tage ausgelaufen, sagt er. Und sie hat noch keinen Neuen.“
    Im ganzen Garten herrschte Stille… unheilvolle Stille. Als würden auch die Vögel aus Angst nicht mehr zwitschern, so scharf war die Spannung in diesem Moment. Thomas war nicht der Typ, der schrie und brüllte mit seiner Schwester… er strich ihr nur sanft über den Arm. „Entweder lügst du mich an, Jessy… was ich aber nicht glaube, denn es gibt keinen Grund dafür.“, sagte er mit ruhiger Stimme, und bewegte Jessys Blick mit einem Finger am Kinn sanft zu ihm. „… oder der Kerl hat dich gerade angelogen.“ Jessy versuchte zu lächeln und zuckte nur mit den Schultern, während Thomas das Lächeln leicht nickend erwiderte… bevor er zu Andreas sah. „Andy… ich bin mir sicher, dass die Freundin von dem Bullen mit Sicherheit ne Privatnummer hat, oder eine zweite Handynummer. Und dass er sich bestimmt daran erinnern kann, wenn du ihn fragst.“ Jessy zuckte innerlich zusammen, als ihre brutaler Bruder lächelnd aufstand und sich die Pistole in den hinteren Hosenbund steckte. Was sollte sie tun… unter welchem Vorwand sollte sie ihren Bruder jetzt aufhalten. Ihr fiel keiner ein, ihr wurde schlecht und schwindlig während sie beobachtete, wie Andreas im Inneren des Hauses verschwand.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Verlassenes Haus – 14:10 Uhr

    Kevin hatte noch mehrere Minuten still am Boden gesessen, bevor er reagierte. Jessy wollte also, dass er fliehen konnte, und in seinem Inneren begann ein Kampf. Konnte er einfach so abhauen, und das Mädchen hier zurücklassen? Aber wollte sie überhaupt mit ihm gehen? Sie hing an ihren Brüdern, könne sie nicht verraten. Kevin sah mit ernster Miene in die Ecke des Raumes, als würde dort die Antwort auf seinen inneren Seelenkampf erscheinen, bis er endlich begriff: Er musste hier weg. So lange er hier war, war er in Gefahr, denn die beiden Brüder waren unberechenbar.
    Mit einem leisen Aufstöhnen drückte er sich auf die Beine und ging langsam zur Tür. Vorsichtig, Stück für Stück ohne ein Geräusch zu fabrizieren, drückte er die Holztür nach außen und sah in den schwach erleuchteten Flur, wo Jessy für ihn das Licht hat brennen lassen. In eine Richtung lag die rettende Treppe, in die andere Richtung weiterer Flur und noch mehr Holztüren. Der junge Polizist schlüpfte aus der Tür in den Flur und ging mit vorsichtigen Schritten in Richtung der Treppe, die um 180 Grad gedreht nach oben führte. Er war gerade beinahe bei der ersten Stufe, da hörte er wie schwere Schritte immer näher zur Eingangstür des Kellers schritten, oberhalb der Treppe. Es waren diesmal nicht die Schritte von Jessy, das hörte er genau. „Fuck…“, zischte er leise und trat sofort den Rückwärtsgang an. Er huschte an seinem Gefängnis vorbei und betete kurz zum Himmel, dass die nächste Holztür nicht verschlossen war. Sein Gebet wurde erhört, und Kevin schlüpfte in den Kellerraum, und zog die Holztür nicht ganz ins Schloss.

    Andreas freute sich bereits darauf, dem jungen Kerl eine Abreibung zu verpassen. Egal ob er vor Angst reden würde oder nicht… der gewaltbereite Kerl würde erst schlagen, und dann fragen. Die Vorfreude stand ihm ins Gesicht, als er zur Tür kam, und sie war schuld daran dass es ihm gar nicht auffiel, dass er der Schlüssel nicht in der Tür steckte, und er ihn hat auch nicht umdrehen müssen um die Tür zu öffnen. Mit lautem Knarren öffnete sich die Tür und Andreas schaute in einen leeren Raum. „Was zum…“, waren seine Worte, als er langsam begriff dass der Gefangene nicht mehr an seinem Platz war. Für Kevin dagegen war das Knarren das Signal zum Aufbruch. Er schlüpfte aus seinem Versteck und verpasste es nicht dem breiten Kerl, der mit dem Rücken zum Flur stand und immer noch fassungslos in den leeren Raum blickte, einen wuchtigen Karatetritt in den Rücken zu geben. Andreas fiel nach vorne auf den Boden, und versuchte sich sofort, unter schmerzhaftem Stöhnen, wieder aufzurappeln. Kevin war es zu riskant seine Waffe zu greifen, er verließ sich auf seine Schnelligkeit und sprintete die Treppenstufen hinauf. Von unten hörte er das Brüllen des kleinen Bruders. „Du verdammter Drecksack!!“, als er gerade die Tür zum Erdgeschoss aufdrückte und hinter sich verschloss. Der junge Polizist hatte keine Zeit zu verlieren, denn das Brüllen war deutlich zu hören, außerdem war der Kerl so robust dass ihn der Tritt zwar aus dem Gleichgewicht brachte, aber sicher nicht lange aufhielt.
    Kevin lief eher blind als gezielt um die erste Zimmerecke, als er abrupt abstoppte, den er blickte genau durch das Wohnzimmer, die gläserne Terrassentür, durch die Thomas stieg, der auf das Brüllen aufmerksam geworden ist. Hinter ihm stand Jessy, mit leichenblasser Miene, die wusste was passiert war. Der junge Cop sah gerade noch, wie Thomas Hand zum Hosenbund griff, als er seinen Körper um sich selbst drehte und in die entgegengesetzte Richtung beschleunigte. Er hörte gerade noch ein schreiendes „NEIN!“ von Jessy und er konnte sich ausmalen was als nächstes kam, als er blitzschnell durch eine Tür nach links abbog, ein weiterer Flur, und die Kugel, die aus Thomas‘ Waffe gefeuert wurde, krachend in den Holzrahmen neben ihm einschlug. Ein großes Fenster lag am Ende dieses Gangs, Meter noch von ihm entfernt. Kevin sprintete um sein Leben, er sah sich gar nicht erst um ob Thomas ihm folgte, oder sofort wieder schoss, sobald er ebenfalls durch die Öffnung eingebogen war. Die Holzdielen unter seinen Schuhen knarrten laut und gaben genug Haftung. Es war ihm auch egal, was hinter dem Fenster lag, ob Misthaufen oder Ententeich… und Zeit zum Öffnen hatte der Cop sowieso nicht.

    Gerade als Thomas fluchend um die Ecke bog, die Waffe auf den, bereits kleiner gewordenen Rücken seiner flüchtenden Geisel richtete, setzte diese zum Sprung an. Leicht seitlich, die Beine angezogen um nicht am Fensterbrett hängen zu bleiben, den Kopf zur Seite und geduckt, die Arme und Hände ein wenig zum Schutze des Kopfes hochhaltend, krachte Kevin durch das splitternde Fenster. Die Geschwindigkeit, die Härte seines Ellbogenknochens und seiner Hüfte waren genug für die alte Einfachverglasung und die Landung im hohen, seit Jahren nicht mehr gemähten Gras war weicher als er während des Fluges noch gedacht hatte. Doch zum Verschnaufen war keine Zeit, genauso wenig um sich die brennenden beiden kleinen Schnitte an der Wange abzutasten, noch den blutenden Einschnitt an seiner linken Hand anzusehen. Schnaufend raffte sich Kevin auf und gab sofort wieder Fersengeld, gezielt nach rechts und um die Ecke des Hauses… wäre er geradeaus gelaufen, wäre er ein zu leichtes Ziel gewesen für Thomas, der im Flur stand und gar nicht mehr geschossen hatte, war er doch zu perplex von Kevins kompromisslosen Fluchtversuch. Der kam jetzt erst ans zersplitterte Fenster, sah hinaus und konnte den jungen Polizisten nicht erkennen. „Los, raus!!“, fuhr er Jessy an, die ihre Waffe ebenfalls in der Hand hielt. Beide stürzten zurück in den Hausflur, in dem mittlerweile auch Andreas aus dem Keller angekommen war, tiefrot im Gesicht und schäumend vor Wut. „Wo ist der Kerl?“, schrie er und fuchtelte mit seiner Waffe umher, doch Thomas Laufweg war Antwort genug. Er stürzte die Haustür heraus, lief über den Kiesweg um das Haus herum auf die Seite, aus der Kevin durch das Fenster geflohen war. Das Gras war um das Haus herum so hoch gewachsen, dass man sich im Knien locker darin verstecken konnte. Außerdem grenzte ein Wald nur wenige Meter neben dem Grundstück an. Thomas atmete heftig, als er stehenblieb und nirgends ein Geräusch, eine Bewegung vernehmen konnte. „Verdammt nochmal…“, stöhnte er. Er musste den Kerl finden, sonst war alles vorbei. „Los, wir suchen ihn!“, wies er seine Geschwister an, und alle drei begannen rund um das Haus zu suchen.

    Kevin unterdrückte seinen schnellen Atem. Er war gerannt und hatte erst gestoppt, als er das Holzhäuschen, das fast an der Grenze zum Garten stand, erreichte. Dort ging er in die Hocke und verkroch sich im tiefen Gras. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Thomas so hartnäckig war und die Geschwister nun im Garten suchten, und er versuchte alle im Auge zu behalten. Sollte sich einer der Brüder näheren, hätte er ihn überraschen können und dann hätte er zumindest eine Waffe… dann würde er auch mit dem Zweiten fertig werden. Als er Jessys lautes „Nein“ hörte, beschloss er nicht ohne das Mädchen von hier zu verschwinden. Denn die beiden Brüder würden 1 und 1 zusammenzählen, denn einfach so hätte Kevin nicht aus dem Versteck herauskommen können. Und egal wie sehr Jessy ihre Brüder liebte… die beiden waren einfach unberechenbar und der junge Polizist wähnte Jessy in Gefahr.
    Die Gedanken sprangen ihm gerade im Kopf umher, als er erschrak… er sah niemanden mehr von den Brüdern durch den Garten schleichen. Hatten sie aufgegeben? Waren sie ins Haus zurückgekehrt? Verdammt, er hatte nicht aufgepasst. Sein mulmiges Gefühl wurde schlagartig zum Schock, als er plötzlich die kalte, harte Mündung einer Pistole an seiner Halsschlagader spürte. Oh Mann, wer auch immer hatte sich da verdammt gut angeschlichen. Seine Augen wanderten nach rechts, von wo die Mündung herrührte, und eine Mischung aus Erleichterung und noch mehr Unsicherheit ergriff ihn. „Jessy…“, sagte er leise, als er die Statur und ihr Gesicht erkannte… sie stand da, hatte eine Hand um den Griff der Waffe und den Finger am Abzug. Ihr Gesicht drückte ein wenig Verzweiflung aus… und viel mehr Entschlossenheit. Warum zielte sie auf ihn… war die Flucht nur eine einmalige Chance… stand sie jetzt wieder auf der Seite ihrer Brüder? Sie würde doch nicht… „Jessy… komm mit mir.“, sagte Kevin leise und eindringlich, wagte es aber nicht, sich gegen die Waffe zu bewegen. „Nein…“, sagte die, ebenfalls leise, ihm bereits so vertraute Stimme neben ihm. „Das kann ich nicht…“ Die Mündung nahm Abstand von Kevins Haut, doch zeigte immer noch auf seine, vor Anstrengung pochende Halsschlagader. „Es tut mir leid, Kevin.“ flüsterte sie und der Satz hatte in den Ohren des Polizisten etwas Endgültiges… das nächste, was er vernahm, war ein lauter Schuss…

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Garten – 14:20 Uhr

    Kevin atmete heftig, und schaute völlig perplex zu Jessy herüber. Was war denn jetzt in sie gefahren? Sie nahm blitzartig die Waffenmündung herüber und feuerte einen Schuss in den nebenan liegenden Wald. Dann rief sie laut in Richtung des Hauses. „HIER! Er ist in den Wald gelaufen!!“ Einen kurzen Blick warf das Mädchen dann auf den, nach wie vor am Boden kauernden Polizisten. „Verschwinde endlich.“, zischte sie beinahe böse und lief dann in Richtung des Waldes, wo sie den Schuss abgegeben hatte. Der Laufweg der beiden Brüder führte so in den Wald, dass sie ein gutes Stück am Holzhaus vorbeiliefen und es so ausgeschlossen war, dass sie den Polizisten entdeckten, der für einen kurzen Moment noch am Boden knien blieb, bis alle drei in dem kleinen Waldstück verschwunden waren. Beeindruckt von Jessys Aktion raffte Kevin sich wieder auf und lief nun in die entgegengesetzte Richtung, über hohe Wiesen, flankte über einen wackeligen Holzzaun und erreichte dann einen Forstweg.
    Kevin lief bestimmt eine Viertelstunde, 20 Minuten, schlug immer wieder Haken über einige Felder, bis er sich weit genug weg von dem Haus wähnte, dass er von dort nicht mehr erkannt werden konnte, wenn die Brüder zurückkehrten. Als das Haus außer Sichtweite war, wurde er langsamer, atmete schwer und setzte sich an einen Baum, der am Wegesrand stand. Er schwitzte, die Sonne war bereits warm und er trug immer noch seine Lederjacke von heute Morgen, als die Luft noch kalt war. „Scheisse…“, murmelte der junge Polizist resignierend… er hatte Jessy nun doch bei ihren Brüdern gelassen, und er war geschockt von ihrer Stimmlage, als sie im einschärfte, endlich zu verschwinden. War es, weil sie Angst um ihn hatte? Oder weil sie doch bei ihren Brüdern bleiben wollte… soviele Gedanken schwirrten Kevin im Kopf herum, und seine meist tollkühne Ader hätte ihn beinahe dazu bewogen, zu dem Haus zurück zu kehren. Doch was sollte er tun, unbewaffnet wie er war?

    Nach einigen Minuten erhob er sich wieder von seinem Schattenplatz, streifte die Lederjacke von seinem Körper und hängte sie sich über die Schulter. Dann ging er, den Forstweg entlang, in die entgegengerichtete Richtung, von der er kam, und hoffte, dass er irgendwann auf eine Landstraße stieß, oder einen Bauer, der ein Handy dabei hatte. Unterwegs hatte er viel Zeit darüber nachzudenken, was in den letzten Stunden passiert war. Eine Achterbahn der Gefühle, die Entführung und die Geschichte von Jessy. Ihr Geruch, ihre zarte Haut als sie sich an Kevin lehnte und sie endlich jemanden gefunden hatte, der ihr zuhörte, der ihre Gedanken verstand und sie nachempfinden konnte. Kevin hatte es regelrecht gespürt, wie sehr sie es genoss, dass sie jemanden zum Reden gefunden hatte, und sie beide es regelrecht verdrängten, welche Rollen sie hatten… Entführerin und Opfer. Der junge Cop hatte von dem sogenannten Stockholm-Syndrom gehört, dass Entführer und Opfer sich gegenseitig anziehend oder sympathisch fanden, doch bei Jessy spürte er so etwas wie eine unsichtbare Verbindung… und diese quälte ihn jetzt bei jedem Gedanken an sie, so lange sie mit ihren Brüdern auf freiem Fuß war, und jederzeit gefasst werden konnte… wer weiß, was sie als nächstes anstellen würden.
    In der Ferne konnte Kevin nach einiger Zeit Häuser erkennen… endlich. Ein kleines Dorf tat sich vor ihm auf, und der junge Cop hielt Ausschau nach einer Telefonzelle, die es in großen Städten längst nicht mehr gab. Bevor er eine fand, fiel sein Auge auf eine kleine Kneipe, die offenbar geöffnet war. Kühle, verrauchte Luft empfing ihn, als er durch die Türe trat. Es war recht dunkel im Inneren der Gastwirtschaft und einige ältere Männer saßen am Tresen und drehten sich zu dem Neuling um… die Gesichter waren sofort misstrauisch, „niemand aus dem Ort“, murmelte einer von ihnen. Nur die etwas ältere Frau hinter der Bar schien freundlicher gesinnt und kam sofort zu dem Polizisten, als er sich ans Tresen gesellte. „Was darf’s denn sein, junger Mann?“, fragte sie mit einem Lächeln. „Ich müsste mal dringend telefonieren.“, brachte er sein Anliegen sofort auf den Tisch, und das Lächeln verschwand aus dem Gesicht der Frau, die eigentlich mit einer Bestellung gerechnet hatte. Doch obwohl der Polizist seit heute Morgen nichts mehr getrunken hatte, und gerade einen recht weiten Dauerlauf hinter sich gebracht hatte, Durst verspürte er momentan keinen. „Hören sie, ich muss für meine Telefonrechnung auch bezahlen…“, meckerte die Frau, die Kevin plötzlich überhaupt nicht mehr sympathisch war. Sie hoffte, den Mann damit überreden zu können, doch wenigstens ein Pils zu trinken, doch der war gerade nicht in Stimmung zu Verhandlungen. Glücklicherweise hatte er seinen Geldbeutel inklusive Dienstausweis noch bei sich und hielt diesen der verdutzten Frau unter die Nase. „Wenn sie nicht wollen, dass ich Ihnen demnächst die Steuerfahndung vorbeischicke, dann geben sie mir jetzt das scheiß Telefon!“, drohte er mit leiser Stimme und eindringlichen Blick. Die Frau verstand und brachte Kevin, der sich nur schwer zurückhalten konnte, das schnurlose Telefon. Er wusste jetzt schon, in seinem Zustand würde er heute Abend wieder seine Helferlein brauchen um herunter zu kommen. Warum er gerade diese Gedanken hatte, während er Bens Nummer im Büro wählte, wusste er nicht.

    Es dauerte einige Zeit, bis sich am anderen Ende der Leitung etwas tat. Es war nicht Bens Stimme, die er vernahm, sondern die von Andrea. „Autobahnpolizei Gerkhan, Apparat Jäger?“ „Andrea? Ich bins, Kevin.“ Andreas Stimme klang überrascht, erleichtert und beinahe auch etwas geschockt. „Kevin?? Um Gottes Willen, wo bist du? Ben und Semir sind auf der Suche nach dir?“ Nun war es Kevin, der einen überraschten Blick aufsetzte. „Woher… wieso das denn?“ „Ich weiß es nicht…“, antwortete Andrea wahrheitsgemäß, denn in all der Aufregung hatte sie nicht gefragt. „Semir hat mich heute Morgen angerufen, dass ich dein Handy orten solle. Was ist denn passiert?“, fragte sie und immer noch schwang etwas Sorge in ihrer Stimme mit. „Andrea, das erzähle ich alles später. Irgendjemand müsste mich aber hier in…“, er hielt die Hand vor die Sprechmuschel des Apparates und wandte sich zu der Dame hinterm Tresen. „Wie heisst das Kaff hier?“, fragte er nun auch mehr als unfreundlich. Die Frau nannte ihm mürrisch den Namen des Ortes, den Kevin nie zuvor gehört hatte, und gab es an Andrea weiter. „Ich sag Ihnen Bescheid… sie werden froh sein, dass du aufgetaucht bist.“ Danach beendeten sie das Gespräch, Kevin gab den Apparat zurück und verließ die Einrichtung ohne ein Wort des Dankes. Er trat hinaus auf die Treppe und ließ sich auf dieser nieder, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, den Blick in die Ferne gerichtet. Was sollte er jetzt tun? Ben und Semir einweihen? Die würden ihn für verrückt halten. Nein, er musste die Brüder selbst suchen, und hoffen dass er Jessy überzeugen konnte, sich von ihnen zu trennen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Dienstwagen – 14:40 Uhr

    Gerade kamen Semir und Ben aus der städtischen Dienststelle heraus, und hatten endlich Gewissheit. Die Beschreibung, die Johanna Seidlitz auf den dritten Mann, der nachträglich dazu kam, abgab passte eindeutig auf Kevin. Außerdem hatten sie sich die Bilder, die der Phantomzeichner versuchte nachzustellen, mitgenommen und saßen nun kurze Zeit recht bedrückt in ihrem Dienstwagen… denn erst mal gab es, außer den Bildern keine Spur von ihrem Kollegen und Freund. „Wer weiß, wie der reagiert, wenn er eingesperrt wird.“, murmelte Ben mit dunkler Vorahnung, wusste er doch mittlerweile ungefähr wie der junge Polizist tickte und dass er sich von niemandem umher schubsen lassen würde. Semir nickte beifällig. „Dahingehend ist Kevin sicherlich nicht einzuschüchtern. Die Typen haben den Falschen entführt.“ Diesmal erntete Semir Bens Nicken. „Was jetzt?“, fragte dieser ein wenig ratlos, und sah herüber zu seinem Partner, der aus der Frontscheibe sah und die Lippen ein wenig zusammenpresste, was er immer tat, wenn er nachdachte. „Die Phantombilder soll Andrea mal durch die Datenbank schicken. Vielleicht haben wir irgendjemanden, auf den sie passen. Was anderes bleibt uns wohl erst mal nicht übrig.“ Er startete den BMW, doch sein Partner wollte sich damit nicht zufrieden geben. „Aber wir müssen doch irgendwas unternehmen. Wer weiß, in welcher Gefahr Kevin schwebt, wenn er überhaupt…“ ‚noch lebt‘ beendete Ben den Satz in Gedanken, wurde von dem erfahrenen Polizisten an seiner Seite aber unterbrochen. „Ben, darüber darfst du nicht nachdenken. Wenn wir mal davon ausgehen, dass die Entführung von Inga Trewka ebenfalls auf das Konto der Typen ging, dann werden die wohl kein Risiko eingehen und der Geisel etwas antun.“ „Allerdings hat die Trewka sich auch einschüchtern lassen. Du glaubst doch nicht, dass die so dämlich sind und nicht merken dass Kevin da ein bisschen anders gepolt ist, wenn er sich so verhält, wie wir es uns gerade beide vorstellen.“ Damit hatte Ben allerdings recht… während Inga Trewka vermutlich geweint und gezittert hat vor den Drohungen der beiden Männer, wird Kevin mit seiner arrogant, provokanten Art und Weise eher nicht dazu beigetragen haben, dass bei den Entführern die Vermutung entsteht, Kevin würde nach der Freilassung derart eingeschüchtert sein, dass er schweigt. Der Polizist presste die Lippen wieder zusammen und meinte dann: „Aber wir können sonst momentan nichts machen. Wir haben keinen Anhaltspunkt auf die Entführer ausser die Fotos, wir können kein Handy orten, wir haben keine Location, wo wir suchen können…“ Ben musste ihm zähneknirschend zustimmen und sah aus dem Seitenfenster. „Na fahr schon…“, murmelte er und Semir brach endlich in Richtung Dienststelle auf.

    Er war gerade auf der Landstraße, als sein Handy läutete und die Nummer von Andrea auf dem Radio durch seine Freisprechanlage erschien. „Was gibt’s mein Schatz?“, meldete er sich. „Ihr werdet es nicht glauben.“, meldete sich die freudige Stimme von Andrea, und die beiden Polizisten hoben die Augenbrauen, und schauten beide wie automatisch auf das Display, als würde dort in Bild und Ton der Grund für Andreas‘ Euphorie erscheinen. „Kevin hat sich gemeldet! Ihr sollt ihn abholen gehen.“ Wie auf Knopfdruck schauten sich Ben und Semir gegenseitig an, und Zweiterer verlangsamte die Fahrt ein wenig. „Hat er sich befreit?“, fragte Ben hektisch. „Ich hab keine Ahnung, er hat mir nichts gesagt. Er hat nur gesagt, dass er in einem kleinen 100 Seelen-Dorf sitzt und keine Ahnung hat, wie er von dort wegkommt.“ „Wo ist er?“, wollte Semir nun wissen und Andrea nannte den Ort, den Kevin ihr am Telefon genannt hatte. „Okay, wir sind unterwegs, danke mein Schatz.“, rief Semir, warf einen Blick in den Rückspiegel und als er sah dass niemand direkt hinter ihm war, und auch gerade niemand entgegen kam, packte er den Hebel seiner Handbremse und vollführte eine gekonnte 180° - Drehung auf die andere Straßenseite, so dass Ben, der darauf nicht vorbereitet war, instinktiv nach dem Haltegriff an der Tür packte. „Mann ey.“, prustete er vorwurfsvoll um direkt danach erleichtert ein „Gott sei Dank“, zu seufzen, im Hinblick darauf, dass Kevin offenbar frei und vor allem am Leben war.


    Wald – 14:50 Uhr

    Andreas stand der Schweiß auf der Glatze, Thomas fluchte unkontrolliert vor sich her und Jessy schwankte in ihrer Gefühlswelt zwischen Verzweiflung und Erleichterung darüber, dass Kevin offenbar erfolgreich geflohen war. Die drei waren nun eine halbe Stunde durch den Wald gelaufen, hatten sich mindestens 2 Kilometer vom Haus wegbewegt und hinter jeden Baum gesehen… ohne Erfolg. „Verdammte Scheiße nochmal, der Kerl kann sich doch nicht in einem Ameisenloch vergraben haben.“, feuerte Andreas durch den Wald und keine Amsel traute sich, ihm zu widersprechen. Thomas wischte sich ebenfalls den Schweiß von der Stirn und schüttelte den Kopf. „Das hat keinen Sinn. Der ist weg.“ Dabei warf er einen misstrauischen Blick auf Jessy, die sich immer noch umsah. Ihr Innerstes hoffte, dass sie Kevin irgendwo noch sah, um ihn wieder mitnehmen zu können… doch sie wusste, dass er weg war, und darüber war sie dann doch auch froh. Ihre Zerissenheit spiegelte sich in ihren Augen wieder, die traurig blickten.
    Das Trio trat den Rückweg an und steuerte zielstrebig wieder auf das Haus zu. Gerade als sie rückwärtig den Garten betreten hatten meinte Thomas in Jessys Richtung: „Wie hat der eigentlich den Kabelbinder abbekommen und die Tür aufbekommen?“ Seine Schwester wich dem Blick ihres Bruders aus und setzte sich wieder auf die Hollywoodschaukel. Am liebsten war sie jetzt ganz allein mit ihrem Kummer, wollte mit niemandem reden, wollte niemanden sehen… so wie sie es immer tat. Doch den Gefallen tat ihr Thomas diesmal nicht. „Du warst doch bei ihm unten, Jessy…“ Das Mädchen sah zu Boden und antwortete erst mal nicht, und ihr großer Bruder hatte zwar eine leise Ahnung, konnte diese aber noch nicht wirklich glauben… vor allem weil es keine Gründe dafür gab, warum Jessy den Kerl hätte befreien sollen. „Jessy!!“, wiederholte Thomas etwas lauter und sie sah nun mit einer schnellen Bewegung nach oben. „Ich weiß es nicht! Als ich unten war, war er noch gefesselt.“ Der großgewachsene Mann kam näher an die Hollywoodschaukel heran, und auch Andreas, der normalerweise nicht so schnell schaltete, war aufmerksam auf Jessys Unsicherheit geworden. Das konnte ja nicht wahr sein. „Was hast du dann so lange dort unten gemacht? Du solltest nur nach der Nummer fragen.“, bohrte Thomas weiter nach und Jessy hielt seinem Blick nicht lange stand. „Er… er hat mir nicht sofort geantwortet.“, druckste sie ein wenig herum und der Mann wurde langsam wütend. Die Ahnung begann sich immer mehr als Verdacht zu erhärten. „Hast du den Kerl befreit?“, fragte er sofort und Andreas zog die Augenbrauen nach oben, und stand nun direkt schräg hinter seinem großen Bruder, der nun vor Jessy stand. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, warum sollte ich…?“, doch sie wurde von einer Handbewegung ihres Bruders unterbrochen… ein Griff zu ihrer Hosentasche, aus der nur ein wenig des Seitenschneiders rausstand, den sie dummerweise im Keller eingesteckt hatte. „Und was ist das? Hä?“, schrie Thomas voller Zorn, als ihm bewusst wurde, was seine, manchmal sehr naive kleine Schwester angestellt hatte.

    Andreas erster Ärger wurde von einem mulmigen Gefühl im Hinblick auf seinen aufbrausenden Bruder verdrängt, doch so schnell wie der war, konnte er nicht eingreifen. Eine kurz klatschende Ohrfeige fand den Weg in Jessys Gesicht, als Thomas seine Wut nicht mehr zügeln konnte. Sofort füllten sich ihre Augen mit Tränen, das Mädchen rutschte von der Hollywood-Schaukel, drängte sich an den beiden Männern vorbei und lief wieder zurück in den Wald. Der großgewachsene Mann stand wie festgenagelt da, kurz ungläubig dass er seine Schwester geschlagen hatte und wurde von seinem kleinen, normalerweise eher aufbrausenden Bruder an der Schulter gepackt. „Sag mal, du hast sie auch nicht mehr alle, oder? Du kannst ihr doch nicht einfach eine runterhauen.“, rief dieser erregt und zeigte Thomas den Scheibenwischer vorm Gesicht. Dieser schüttelte die Hand seines Bruders schnell ab. „Ach hör doch auf, du fehlst mir jetzt grad noch.“, blockte er ab und war gerade im Begriff in Richtung Terrasseneingang zu stapfen. „Denk dir lieber mal aus, was wir jetzt machen, bevor der Kerl die Bullen informiert!“, warf Andreas seinem Bruder hinterher, bevor er den Weg von Jessy langsam folgte.

    Kurz vor dem Waldrand, in den Jessy verschwunden war, legte der Glatzkopf die Hände um den Mund und rief in den Wald hinein: „Jessy! Komm hör auf zu heulen, er hat’s nicht so gemeint. Jessy!!!“ Der Mann wartete kurz und seufzte auch… wirklich Lust seiner Schwester jetzt nach zu laufen hatte er nicht wirklich, auch wenn sie ihm leid tat. Er war nicht der Hellste, doch er hatte oftmals mehr Verständnis zu seiner kleinen Schwester, dass er sich dachte, dass es einen bestimmten Grund haben musste, warum sie den Mann freigelassen hatte. Hatte er sie vielleicht bedroht?
    Er wusste aber auch, dass Jessy oftmals Zeit für sich brauchte, und die wollte er ihr lassen, und so kehrte er erst mal zum Haus zurück.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Vor der Kneipe – 15:20 Uhr

    Kevin saß nun bereits eine halbe Stunde beinahe bewegungslos auf der Treppe der kleinen Kneipe. Immer mal kam einer der älteren Männer hinaus, sah ihn an, rauchte eine und ging wieder herein. Ein anderer, der zum Rauchen vor die Tür ging bot dem jungen Polizisten eine filterlose Zigarette an und er griff dankbar zu. Obwohl er äußerlich bewegungslos da saß und scheinbar völlig entspannt war, war sein Inneres aufgewühlt wie bei einem Orkan. Einerseits wegen Jessy, andererseits auch wegen Ben und Semir, die sicherlich gleich eine Menge Fragen zu stellen hatten. Außerdem spürte er nun Anzeichen von Hunger und Durst und seine Nikotinsucht (die mit einer Zigarette zwar beruhigt, aber nicht gestillt wurde). Nervös, weil er keine seiner Pillen greifbar hatte, wurde er nie… die brauchte er höchstens, wenn er nicht schlafen konnte, oder zu Hause die Wände zu eng wurden. War er auf Achse, das Adrenalin im Anschlag, brauchte er die Helfer nie.

    Er hatte sich gewisse Worte zurecht gelegt, die er seinen beiden Kollegen sagen wollte, als der silberne bekannte BMW auf dem Kieselparkplatz der Kneipe anhielt und Ben das Fenster herunterließ. „Mensch Kevin, sind wir froh dich zu sehen…“, seufzte der erleichtert auf, als ihr junger Kollege ans Seitenfenster getreten kam, und sich nach unten beugte. Semir legte den linken Arm aufs Lenkrad und sah, etwas nach vorne gebeugt, an Ben vorbei in Kevins Gesicht. „Du siehst aber nicht gut aus…“, meinte der nun, als er die zwei kleineren Schnitte in Kevins Gesicht sah, und ausserdem die blutverschmierte Hand mit dem etwas größeren Cut. „Was ist passiert?“ „Fensterscheibe war im Weg.“, bemerkte Kevin trocken und stieg hinter Ben in den BMW. „Warum habt ihr mich überhaupt gesucht?“, fragte er dann mit seiner markanten Stimme, nachdem der erfahrene Kommissar den Wagen wieder auf die Landstraße lenkte. „Naja, du warst von der Bildfläche verschwunden, und…“, begann Semir, wurde aber direkt von Kevin unterbrochen. „Und das ist für euch Anlass, mein Handy anzuzapfen?“ Seine Stimme klang vorwurfsvoller, als er eigentlich wollte. „Von deinem Handy aus wurde angerufen, aber niemand sprach. Als ich zurückgerufen hatte, ging niemand ran… deswegen hatten wir uns Sorgen gemacht.“, erklärte Ben mit ruhiger Stimme, während Kevin hinter ihm sich ein wenig in den Sitz sinken ließ und den Kopf seitlich gegen die Stütze legte, damit er aus dem Fenster sehen konnte. „Und das ja offenbar nicht zu Unrecht.“, fügte der junge Mann vor ihm noch hinzu. Semir warf während der Fahrt unauffällig immer mal einen Blick in den Rückspiegel, allerdings nicht um den nachfolgenden Verkehr zu beobachten, sondern Kevin. Er war still, sein Blick schien unendlich weit weg, als er die Wiesen und Wälder an sich vorbeiziehen sahn, und seine Gedanken waren einzig und alleine bei Jessy. Der erfahrene Polizist bemerkte Kevins Entrücktheit sofort, kein Impuls des Erzählens was denn nun geschehen sei ging von ihm aus, also versuchte er, ein wenig nachzuhelfen. „Was ist denn jetzt genau passiert?“ Kevin seufzte innerlich, er hatte mit dieser Frage gerechnet, doch wäre auch froh gewesen, wenn er damit in Ruhe gelassen worden wäre. „Ich hab zufällig beobachtet, wie eine Frau im Rheinpark überfallen wurde, hatte aber gegen zwei Männer keine Chance, und sie haben mich niedergeschlagen.“ Weiter erzählte er von selbst nicht, und diesmal bemerkte er Semirs Blick im Rückspiegel. „Und weiter?“ „Ich wurde in dieser komischen Hütte wach, danach fuhren wir nochmal woanders hin in…“ seine Stimme stockte kurz, bevor er fortfuhr… „in irgendeine Scheune… ich hatte die ganze Zeit die Augen verbunden. Dort konnte ich mich befreien und bin abgehauen.“ Ben hatte bereits aufgehorcht, als Kevin nur zwei Männer erwähnte… aber keine Frau. Ein kurzer, prüfender Seitenblick zu Semir, der beim Reden immer wieder in den Rückspiegel sah, um Kevins Reaktion zu beobachten. „Hast du die Typen erkannt?“ Kevin leckte sich kaum merklich über die Lippen, bevor er antwortete. „Ne, bei dem Überfall ging alles sehr schnell. Groß und kräftig waren sie jedenfalls. Danach hatte ich die ganze Zeit die Augen verbunden.“ Der junge Cop wollte verhindern, zuviele Hinweise zu geben, schon gar keine Hinweise die auf Jessy zurückfielen. „Das vermeintliche Entführungsopfer hat angegeben, dass da noch eine junge Frau dabei war.“, sagte Ben nun, und sah seinerseits links über die Schulter zu seinem Hintermann, der bereits den Blick wieder aus dem Fenster gerichtet hatte, seine Augen aber nun langsam wieder zu Ben richtete. Sein Blick war ernst und fest. „Ich hab keine Frau bemerkt.“, sagte er und ein bedrückendes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. In seinem Inneren tobte ein Kampf, und es machte ihm mehr aus, als er dachte, Ben und Semir anzulügen… seine beiden Kollegen, die ihn als Freund sahen und sich ihm eng verbunden fühlten. Doch der junge Polizist sah momentan jeden misstrauisch und fühlte sich von den Blicken der beiden überprüft… als würden sie bereits wissen, dass er lügt, als würden sie damit rechnen. „Auch keine weibliche Stimme gehört, oder sonst etwas?“, hakte Semir nach. Ach, könnte er ihnen nur erzählen, was er fühlte, und dass er Jessy versuchen wollte, aus der Sache rauszuhalten… die Hauptschuld später den beiden Brüdern zuschieben und Jessy würde mit einem blauen Auge vor Gericht davon kommen. Doch der junge Polizist, der Semir und Ben zwar mittlerweile ganz gut kannte, aber eben doch nicht so in- und auswendig, konnte sich nicht vorstellen, dass sie da mitmachen würden.

    Semir merkte zwar, dass Kevin nach außenhin völlig unaufgeregt war, doch das kannte er mittlerweile von dem schweigsamen Jungen. Wenn er etwas konnte, dann war es sein Unberührbarkeit und Gelassenheit, mit der er andere reizvolle Personen leicht zur Weißglut treiben konnte. Erstaunlich, dachte Semir, dass André, der eher temperamentvoll war und Kevin früher so gut verstanden. Aber Gegensätze ziehen sich bekanntlich an.
    Allerdings hatte der erfahrene Polizist auch mittlerweile genügend Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, denn er spürte dass Kevin nicht die Wahrheit sagte. Er log nicht vorsätzlich, er verschwieg einfach einen Teil… nämlich das Mädchen, das bei der Entführung offenbar mitgewirkt hat. Dass er es im Kampf übersehen hatte war zwar möglich, aber unwahrscheinlich. Dass er aber in der ganzen Zeit in 8 Stunden nicht einmal die Stimme des Mädchens vernommen hatte, obwohl sie sogar gemeinsam den Standort wechselten, das glaubte Semir einfach nicht, denn es war unlogisch. Auch Ben, der zwar weniger Erfahrung hatte als Semir, Kevin dafür aber ein wenig besser kannte, fühlte sich unwohl ob Kevins kurzen und eher unwilligen Erzählungen über die Entführung. Er kannte den jungen Mann als jemand, der sich am liebsten sofort wohl auf die Suche nach seinen Entführern machen wollte und ihnen so viele Infos mit auf den Weg gab, wie irgendwie möglich. Dass er sich nun so sparsam präsentierte, wunderte Ben ebenso, und es musste einen Grund dafür geben. War der Grund das fremde Mädchen, dass er ihnen in seiner Version verschwieg? Vielleicht eine alte Bekannte aus seiner Jugendgang, die er erkannte und schützen wollte?

    „Würdest du die Scheune wiederfinden?“, fragte Semir dann plötzlich nach einer Weile Stille, als er den BMW auf die Autobahn in Richtung Innenstadt lenkte. Äußerlich blieb Kevin erneut ruhig, doch innerlich lief ihm ein Schauer über den Rücken. Wie solle er sie zu einer Scheune führen, die es nicht gab. „Keine Ahnung.“, sagte er kurz und setzte hinzu. „Als ich da abgehauen bin, bin ich erst mal gerannt, denn ich war nicht bewaffnet. Ich musste mehrmals die Richtung ändern, bin durch einen Wald… ich weiß nicht, ob ich die Scheune nochmal finde.“ Spätestens jetzt war Semir sich völlig sicher, dass Kevin nicht die Wahrheit sagte, denn er sah die beiden Kommissare bei seinen letzten Sätzen keine Sekunde in die Augen…

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Wald – 15:30 Uhr

    Ihr Weinen wurde langsam ruhiger, und das Vogelgezwitscher, das sie den ganzen Winter über vermisst hatte, übertönte das leise Schluchzen. Jessy hatte sich auf einem Baumstumpf niedergelassen, hatte ihren Bruder noch rufen gehört, aber keine Antwort gegeben. Sie wollte alleine sein mit ihrem Kummer, ihren Gedanken. Es war das erste Mal, dass Thomas ihr eine Ohrfeige gegeben hatte, und das Gefühl, dass es zwischen ihr und ihren Brüdern einen Bruch gegeben hatte schmerzte mehr als der Schlag selbst. Das Mädchen fühlte sich schuldig, ihre Brüder verraten zu haben und war andererseits aber davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben, in dem sie Kevin zur Flucht verholfen hatte. Doch tief in ihren Gedanken fragte sie sich, warum? Was erhoffte sie sich jetzt davon? Dass er zurückkommt, und sie mitnimmt, was nur ein Teil ihres Kopfes wollte, denn der andere war tief verwurzelt mit ihren Brüdern. Würde er überhaupt nochmal zurückkommen, nachdem sie ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie nicht von hier weg wollte? Oder tat er das, was er als Polizist tun musste, und würden demnächst viele Beamte hier auftauchen, um die drei zu verhaften? Die Ratlosigkeit trieb ihr weiter die Tränen in die Augen, und es schien, als hätte sie alles falsch gemacht… Kevin, dem sie auf sonderbare Art und Weise vertraut hatte, war weg… und das bis vor kurzem völlig intakte Vertrauensverhältnis zu ihren Brüdern war zumindest gestört, wenn nicht sogar zerbrochen.
    Das Mädchen stand von ihrem Baumstumpf auf, und wollte sich gerade auf den Weg zurück zum Haus machen, als sie plötzlich stehenblieb. „Nein, das ist nicht richtig… Thomas wird mir nicht verzeihen.“, murmelte sie zu sich selbst. Zwei Schritte ging sie dann noch tiefer in den Wald, als wolle sie von ihren Brüdern davon laufen. „Ich stelle mich… dann… dann geschieht meinen Brüdern nichts.“, sagte sie leise, als würde sie jemandem ihre Sorgen und Gedanken erzählen. Doch wie in all den Jahren zuvor war niemand da. Nach einigen Metern stoppte sie erneut… ihr war klar dass dann niemand mehr etwas für sie tun könnte, wenn sie sich stellte. Sie würde ins Gefängnis kommen, ohne Thomas und Andreas, ohne Kevin. Jessys Augen bewegten sich schnell hin und her, als suche sie einen Ausweg aus dem Labyrinth, in das sie sich selbst hinein manövriert hat. Wieder nahm sie Fahrt auf während sie leise sagte: „Ich muss zu Kevin… er kann mir helfen.“ Doch ihr Misstrauen ließ sie erneut nach wenigen Metern anhalten. Konnte sie dem fremden Mann wirklich vertrauen? War diese Verbindung zwischen ihnen nur dem geschuldet, dass er selbst alleine war, oder hatte er nur ihre Einsamkeit ausgenutzt, um zu fliehen… und hat sein Ziel erreicht. Plötzlich war sie davon überzeugt, dass er sie einfach verhaften würde, wenn sie bei ihm aufkreuzte. Und ausserdem… wie solle sie ihn finden?

    Verzweiflung machte sich in Jessy breit, sie kam sich vor als wäre sie umzingelt von Misstrauen und Sorgen… überall, wo sie einen Ausweg sah, tat sich eine neue Mauer auf. Sie wollte nur noch weg, weg von allem… Gedankenverloren griff sie in ihre Jeanstasche und fühlte einige Scheine… sie hatte sich von dem Lösegeld der Frau ein wenig was eingesteckt. Durch die Bäume sah sie das Haus ihrer Großeltern, etwas weiter entfernt, dann lief Jessy. Was sie früher in Gedanken getan hatte, tat sie nun zum ersten Mal in Wirklichkeit… Jessy lief vor ihren Problemen davon. Sie lief, bis sie auf die Landstraße stieß, wo sie einige Minuten später ein Autofahrer mitnahm.


    Dienstwagen – 15:40 Uhr

    Es herrschte eine Stille zum Schneiden. Semir und Ben waren einerseits verwirrt darüber, dass Kevin nur so sparsam Informationen verteilte, andererseits auch ein wenig enttäuscht von ihm. Warum redete er nicht, warum machte er den Mund nicht auf. Ben war bereits kurz davor seinem Kollegen energischer ins Gewissen zu reden, doch er hielt sich noch zurück. Er fand, dass er einen etwas besseren Draht zu Kevin hatte als Semir, weil er näher an ihm dran war, altersmäßig und sie beide einige Male zusammen Musik machten. Semir sagte selbst nichts mehr und auch Kevin verfiel in Schweigen, während er den Kopf ans Seitenfenster gelegt hatte und mit melancholischen Blicken nach draußen sah. In seinem Kopf arbeitete es, doch es kam kein klarer Gedanke dabei raus, der ihm eine Richtung vorgab, was er als nächstes tun wollte. Er musste erst mal nach Hause, duschen, abschalten… und nachdenken. „Kommst du noch mit auf die Dienststelle?“, hörte er plötzlich Semirs Stimme, die sich in seinen Ohren ungewohnt feindselig anhörte. Er wandte den Blick vom Seitenfenster ab und sah durch den Rückspiegel in Semirs braune Augen. „Wieso?“ „Für die Aussage. Da wir auch davon ausgehen, dass Inga Trewka entführt wurde, und das auf der Autobahn passiert ist, werden wir den Fall wohl übernehmen.“ Innerlich verdrehte Kevin die Augen… auch das noch. Das machte die Sache nicht einfacher. „Kann ich das auch morgen früh machen?“, fragte er dann und versuchte, nicht genervt zu klingen. Der erfahrene Polizist am Steuer tauschte mit seinem Nebenmann kurze Blicke aus, und Ben hatte ebenfalls gemerkt, dass Semir von Kevins Verhalten genervt war. Er zuckte nur kurz mit den Schultern. Er verstand seinen Partner, wollte sich aber erst ein Bild von Kevins Beweggründen machen, bevor er urteilte. Semir gab nach… „Na schön. Du könntest uns auch gern bei den Ermittlungen unterstützen. Ich hab gehört, du hast momentan keine feste Dienststelle.“ Spontan kam ihm der Einfall, Kevin wieder zur Autobahnpolizei zu lotsen… so würde er den jungen Mann ein wenig unter Kontrolle haben, und Ben dachte offenbar das gleiche, auch wenn er auch emotional darüber freuen würde, wieder mit Kevin zusammen zu arbeiten. „Das wäre ne gute Idee.“, meinte dieser dann. Doch Kevin hatte gerade ganz andere Gedanken, auch wenn er grundsätzlich nicht abgeneigt war. „Ich denke drüber nach…“, wich er dem Thema ein wenig aus.


    Kevin’s Wohnung – 16:30 Uhr

    Sie hatten sich verabschiedet, und Kevin konnte den Schuss Misstrauen in Semirs Blick deutlich erkennen, und er konnte ihn nicht verübeln. Er ahnte bereits, dass die beiden Polizisten ihm nicht glaubten, was er erzählte. Er hatte sich beim Lügen auch keine große Mühe gegeben. Würde er nur wissen, dass Ben und Semir ihren Freunden immer versuchten so gut es geht zu helfen, hätte er von seiner unheimlichen Verbindung zu Jessy erzählt, dass sie in ihrem Innersten eigentlich etwas anderes wollte, dass sie versuchen würden, die Brüder zu schnappen und Jessy bei den Gerichten nur die kleinste aller Rollen zukommen zu lassen. Die beiden Polizisten hätten sicherlich allerlei dagegen gehabt, an die Risiken um ihren Beruf appelliert, aber letztendlich hätten sie dem Mann, den sie als Kollegen und Freund liebgewonnen hatten, geholfen. Doch sie wussten nichts davon, als sie die Plattenbausiedlung wieder verließen.

    Der junge Polizist hatte geduscht und sich andere Klamotten angezogen, sich eine Zigarette angezündet und das letzte, was er an Essbaren Dingen im Haus hatte, zwei Äpfel, zu sich genommen. An seine Pillen dachte er im ersten Moment nicht, denn zum Nachdenken brauchte er einen klaren Kopf. Er saß auf der Couch, die Arme auf die Knie gestützt und ließ den gesamten Vormittag nochmal an sich vorbeigleiten. Die Entführung, das erste Aufeinandertreffen mit Jessy… als sie ihm die Waffe ans Herz gedrückt hatte, als hätten sie gerade da ihre unheimliche Verbindung geschlossen, als hätte Jessy durch das Schlagen seines Herzens gespürt, dass sie etwas gemeinsam hatten. Das Bild, als das Mädchen seinen Geldbeutel in der Hand hatte, kam ihm in den Sinn… als sie den Personalausweis hervorzog und seinen Namen murmelte. Seine Augen glitten durch den Raum, die Zigarette zwischen den Fingern fand Halt zwischen seinen Lippen während er aufstand und seine Geldbörse aus der Lederjacke zog. Kevin klappte den ledernen Behälter auf, und zog, wie Jessy, seinen Personalausweis heraus. In dem Fach neben seinem Personalausweis lächelte ihn ein hübsches Mädchen an, ein Bild seiner Schwester. Das hatte Jessy auch gesehen, und angeschaut als sie leise seinen Namen flüsterte. Der junge Polizist versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie sie den Namen geflüstert hatte. Mit der Zigarette zwischen den Lippen murmelte er: „Sie hat den Nachnamen betont…“

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienstwagen – zur gleichen Zeit

    Die ersten Meter, nachdem Kevin ausgestiegen war, waren von Stille erfüllt. Als hätten die beiden Polizisten Angst, ihr Kollege könnte etwas von ihrem Gespräch mitbekommen, solange sie in der gleichen Straße fuhren wie er wohnte, was natürlich Quatsch war, begann Semir erst auf der Hauptstraße zu reden, und sagte mit einer Bestimmtheit, die keine Widerworte zu dulden schien: „Er lügt.“ Ben nickte schweigend, denn er hatte exakt die gleichen Gedanken, und präzisierte: „Er sagt zumindest nicht die Wahrheit…“ Für den Satz wurde er von seinem Partner schräg angesehen. „Wo liegt denn da der Unterschied?“ „Er muss uns nicht unbedingt etwas Falsches erzählt haben, aber er hat uns nicht alles erzählt… er verschweigt uns etwas.“ Semir schüttelte ein wenig den Kopf… Für ihn war da kein besonderer Unterschied zu sehen, aber er vermied es mit Ben nun über solche Nichtigkeiten zu diskutieren. „Aber wir sind uns jedenfalls einig, dass er sich komisch verhält, oder?“, fragte er dann, während er den Wagen wieder Richtung Autobahn steuerte. „Ja sind wir.“, bestätigte ihm sein Freund mit resignierender Tonlage. Semir wusste, dass Ben Kevin besonders gut leiden konnte, und es machte ihm wohl zu schaffen, dass Kevin ihn anlog.
    Wieder herrschte Stille, Ben sah zum Seitenfenster heraus und strich sich mit dem Zeigefinger über die Lippen. „Warum ist er nicht ehrlich?“, fragte er, mehr zu sich selbst, als dass er Semir die Frage stellte, der diese sowieso nicht beantworten konnte. „Ich meine… warum verschweigt er uns etwas? Warum erzählt er nichts von dem Mädchen?“ Während er sprach drehte er den Kopf zu Semir, diesmal war die Frage an seinen Partner gerichtet. Der Deutschtürke hatte meistens Vermutungen, die oft in die richtige Richtung gingen. Ben wollte seine Meinung hören, wie so oft, denn er legte großen Wert auf Semirs Gefühl. Auch Semir machte eine Geste des Denkens, in dem er den Kopf ein wenig schief legte und die Lippen spitzte. „Entweder es ist zwischen ihm und dem Mädchen etwas vorgefallen…“ „Ach komm…“, wurde er von Ben sofort unterbrochen, der diesen Gedanken absurd hielt. „Willst du nun meine Meinung hören, oder nicht?“ „Ja, entschuldige… sprich weiter.“ Semir sah wieder geradeaus und legte sich die Worte zurecht, die ihm im Kopf umherschwirrten. „Oder er kennt das Mädchen vielleicht. Von früher… aus seiner Jugendgang. Aus irgendeinem Grund will er sie jedenfalls schützen.“ Semirs zweiter Gedanke gefiel Ben besser… warum auch immer. Er würde zumindest einen Sinn ergeben, dass der junge Polizist eine Bekannte aus Jugendzeiten versuchte zu schützen und nicht unter Verdacht zu stellen. „Das wäre eher möglich.“, murmelte er. „Wir können eh nur vermuten. Wir müssen ihm morgen ordentlich ins Gewissen reden. Hoffentlich… hoffentlich hat er einen guten Grund.“, meinte Semir, als er auf die Autobahn auffuhr und er nur noch wenige Kilometer bis zur Dienststelle zurücklegen musste. „Was meinst du damit?“ „Ich meine seine Vergangenheit… sonst nichts.“ Ben schwieg ein wenig betreten. „Ich mache mir meine Meinung erst, wenn ich den Grund weiß… er wird einen haben. Aber lass mich das bitte machen… ich glaube, dass ich nen guten Draht zu Kevin habe.“, bat Ben seinen Partner, der nickte.

    Plötzlich wurde die Musik aus Semirs Radio unterbrochen, und die Freisprecheinrichtung des Radios piepte. Auf dem Display erschien eine Telefonnummer, mit spanischer Vorwahl, und Semir lief plötzlich ein eiskalter und brühheißer Schauer über den Rücken… gleichzeitig. Auch Ben blieb der letzte Satz beinahe im Halse stecken. Urplötzlich wurden Semirs Sorgen und Gedanken ins Gedächtnis zurückgerufen, die er mit sich rumtrug und in den letzten Stunden mehr oder weniger erfolgreich verdrängt hatte. „Das ist André…“, flüsterte Semir beinahe, als könne sein Freund ihn auf der anderen Seite der Leitung hören, bevor er abgenommen hatte. „Willst du denn nicht abnehmen?“, fragte Ben und sah seinen Freund herausfordernd an. Oh Mann, so lange hatte Semir über ein Gespräch nachgedacht und sich Worte zu Recht gelegt… und jetzt war alles weg, ein gedanklicher Blackout wie bei einer Klassenarbeit in der Schule. Sein Daumen fuhr zitternd über die Taste am Lenkrad, um das Gespräch anzunehmen. „Ja, Semir?“ „Semir, mein Freund. Ich hatte gedacht, dass du dich mal meldest.“, hörten die beiden Polizisten sofort die kratzige Stimme von André Fux. Semirs ehemalige Partner war vor Monaten plötzlich aufgetaucht und hatte mit Semir, Ben und Kevins Hilfe die Hintermänner eines Mordes hochgehen lassen, den man ihm in die Schuhe schieben wollte. Doch gerade als André, der 14 Jahre für die Gangster gearbeitet hatte, abgereist war, tauchten Bilder von einer Exekution auf, die André selbst begangen hatte. Semir hatte seinen Freund bisher nicht darauf angesprochen, er konnte einfach nicht glauben, was auf den Bildern zu sehen war. „Ehm… ja, tut mir leid. Die Arbeit ist momentan echt… die macht zu schaffen.“, stotterte Semir ein wenig hilflos, und sah zu Ben herüber nach dem Motto ‚Sag doch auch mal was‘. „Wo bist du?“, war die wenig intelligente Frage, die Semir einfiel. „Ich bin nicht mehr auf Mallorca, ich hab nen Job gefunden auf Gran Canaria.“, lachte sein Freund am anderen Ende der Leitung und schien sich glücklich und zufrieden anzuhören. „Na, das ist ja toll…“, meinte Semir weiterhin unsicher. Ben saß im Beifahrersitz und wartete nur darauf, dass Semir die Fotos ansprach. „Du André, wir müssen grad zu ner wichtigen Dienstbesprechung. Ich… ich melde mich später nochmal bei dir, okay?“ Der erfahrene Polizist fühlte sich hundsmiserabel seinen Freund anzulügen und sah ein wenig hilflos zu Ben herüber. „Ja, kein Problem Semir. Meld dich einfach, wenn du Zeit hast. Hau rein.“ „Du auch… ciao ciao.“ – und zack unterbrach Semir die Leitung und atmete tief durch, als hätte er gerade einen Dauerlauf hinter sich. „Warum hast du ihn nicht auf die Fotos angesprochen?“, fragte Ben ein wenig überrascht. „Bist du wahnsinnig? Doch nicht am Telefon.“ „Wie willst du es sonst machen? Ne Ansichtskarte schicken?“ Semir krallte die Finger ins Lenkrad und schwieg, bis sie auf der Dienststelle ankamen.


    Kevin’s Wohnung – 16:45 Uhr

    Die Haare standen querbeet, waren noch etwas feucht. Kevin hatte sich den Kopf zerbrochen, er war sich sicher, dass Jessys Reaktion auf seinen Namen ein Hinweis war. Und dass sie Janines Foto gesehen hatte. Der Polizist tigerte durch seine Wohnung, bis ihm eine Idee kam. Er ging schnellen Schrittes ins Schlafzimmer, zog einen Karton unter dem Bett hervor und öffnete ihn. Innen drin lagen einige persönliche Dinge seiner Vergangenheit, Fotos, Briefe und ein Jahrbuch seiner Schule. Er nahm es hinaus, es war die letzte Ausgabe, in der ein Foto von Janine drin war, und setzte sich aufs Bett. Die Zigarette drückte er im Aschenbecher auf dem Nachtisch aus während seine Finger schnell durch die Seiten blätterten, bis er auf der Seite mit den Einzelfotos der Klasse seiner Schwester angekommen war. Unter jedem der Fotos waren Name und Geburtsdatum abgedruckt, und der junge Polizist brauchte nicht allzu lange, bis er fand was er suchte. Vor Erstaunen öffnete sich sein Mund leicht, und das Buch sank auf seine Knie. In der dritten Reihe, das vierte Foto von links lächelte ihn ein Gesicht an, das ihm seit Stunden nicht aus dem Kopf ging, die schwarzen Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden, der ihr auf der Schulter lag und die grünen Augen blickten keck und lebensfroh. Man sah ihr das Leben, das sie zu diesem Zeitpunkt bereits führte, keinesfalls an. Kevin las den Namen unter dem Bild… „Jessica Stern“. Er nickte unmerksam… Jessy hatte Janine auf dem Foto erkannt, und sich vielleicht auch an ihren Nachnamen erinnert, als sie den von Kevin las. Und ihre mitfühlende Trauer, die er in dem Moment spürte, als er davon sprach, dass Janine tot sei, schien nicht unehrlich gewesen zu sein, auch wenn sich der Polizist in keinster Weise an Jessy erinnerte, und sie scheinbar nicht zu Janines Freundinnen gehört hatte.

    Kevin legte das Buch aufs Bett und zog sein Handy aus der Tasche. Er wählte die Nummer eines Bekannten, der auch sofort abhob. „Ja?“ „Hi Phil… hier ist Kevin.“, meldete sich der Polizist, als er die Stimme hörte. „Mensch Kevin… das ist lange her, was kann ich für dich tun.“ Phil war etwas älter als Kevin, die beiden hatten sich in Jugendzeiten kennengelernt. Während Kevin sich von der Gang losgesagt hatte, verließ auch Phil die Gang, schlug aber keinen ehrlichen Weg ein. Er hatte sich zu einem Hackergenie gemausert, und ließ sich seine legalen, teilweise auch illegalen Dienste gut bezahlen. Kevin hatte er manchen Gefallen getan, was auf Gegenseitigkeit beruhte… denn der verriet dessen Kokserei nicht an die Kollegen. „Du könntest mal eine Adresse für mich rausfinden.“ Kevin griff auf die Dienste seines Freundes zurück, weil er momentan nicht gefahrlos an einen Polizeicomputer kam. Mittlerweile wurde jede Personensuche im Polizeinetz dokumentiert, aus Datenschutzgründen. Ausserdem war Kevin momentan nicht im Dienst… und Semir oder Ben konnte er natürlich auch schlecht fragen. Andrea würde die Adresse sicher auch rausbekommen, aber sie würde es wohl kaum vor ihrem Mann verbergen. „Lass hören.“, meinte die gutgelaunte Stimme am anderen Ende des Telefons. „Ich brauche die Adresse von den Eltern einer gewissen Jessica Stern. Weitere Kinder sind Thomas und Andreas. Den Vornamen der Eltern hab ich leider nicht. Brauchst du sonst noch was?“ Er hörte durch das Telefon schnelle Finger auf der Tastatur tippen. „Ne, ich denke das krieg ich hin.“ „Wie lange brauchst du?“ Kevin saß auf glühenden Kohlen, er erhoffte sich von den Eltern mehr Informationen über Jessy. „Ich ruf dich übermorgen nochmal an.“ „Bist du bescheuert? Ich brauch die Info so schnell wie möglich.“, polterte Kevin und wanderte von Schlafzimmer zurück in die Küche. „Kevin, mein Bester. Gut Ding will Weile haben.“, lachte Phil am anderen Ende der Leitung. „Wenn du nicht willst, dass ich mit dem besten Drogenspürhund morgen in deiner Straße Gassi gehen soll, dann rufst du mich in spätestens einer Viertelstunde zurück, paletti?“, schnarrte der Polizist in den Hörer und das Lachen verstummte. „Ist ja gut, du Irrer. Ich meld mich.“, meinte der Gesprächspartner und trennte die Verbindung.

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Dienststelle - 17:00 Uhr


    Semir hatte, als er den BMW vor der PAST geparkt hatte, nur noch das 2-Minuten-Gespräch mit André im Kopf. Während Ben durch die Glastür des Großraumbüros schritt, verschwand der kleine Polizist erstmal auf der Toilette und warf sich minutenlang Wasser ins Gesicht. "Komm jetzt auf andere Gedanken... konzentrier dich auf deine Arbeit.", murmelte er sich selbst zu und mahnte sich, nicht wieder in Gedanken um André zu versinken. Von Deutschland aus würde er sowieso nichts unternehmen, er wolle mit André Auge in Auge die Dinge, die geschehen sind und durch die Fotos dokumentiert wurden, besprechen.
    Mit den Papiertüchern trocknete er Gesicht und seine hohe Stirn, bevor er zu Ben ins Büro ging. "Alles klar?", fragte er ein wenig besorgt, den sein Freund war etwas blass um die Nasenspitze und wiegelte ab, es sei alles okay.


    Semir saß noch nicht richtig an seinem Platz als das Telefon klingelte und der Name der Chefin erschien. "Ja?" "Semir, würden sie wohl so freundlich sein in mein Büro zu kommen? Und bringen sie Ben gleich mit." Die Frage war keine Frage, sondern eine Anweisung. Und die katzenfreundliche Stimme der Chefin klang, als duldete die Anweisung keinerlei Aufschub. "Die Chefin will uns sehen.", sprach der kleine Polizist und erhob sich wieder von seinem Platz. Ben legte den Stift, den er gerade zur Hand genommen hatte um ein Formblatt auszufüllen wieder auf den Schreibtisch und folgte seinem Freund bis ins Büro der Chefin.
    Auch sie war gerade etwas am Schreiben, denn ihren Computer nutzte sie nur wenig. Anna Engelhardt war eine Verfechterin der guten alten Polizeiarbeit und kommunizierte über E-Mail nur so wenig wie möglich. Als ihre beiden besten Männer ins Büro traten und auf den beiden Stühlen vor ihrem Schreibtisch Platz nahmen, sah sie kurz auf, vervollständigte den letzten Satz und legte dann alles bei Seite. Sie lehnte sich in ihrem Sessel erst ein wenig zurück und betrachtete Ben und Semir mit freundlichem Lächeln, bevor sie vielsagend fragte: "Was haben sie heute eigentlich den ganzen Tag getrieben? Ich habe mir eine Rückmeldung erwartet von dem zweiten Besuch des Fahrzeugbesitzer auf dem Rastplatz." Semir, der es als Dienstältester gewohnt war zu reden, begann von dem Besuch zu erzählen. Dass Frau Trewka äusserlich unverletzt wieder zu Hause erschienen ist, aber den beiden Polizisten sehr aufgelöst erschien. "Ich glaube nicht, dass das nur von dem Streit war. Beide wollten eine Entführung partout nicht bestätigen." Die Chefin nickte mit den Fingern vor dem Mund, eine typische Geste wenn sie selbst nachdachte und versuchte die Informationen zu einem Bild zu formen. Sie saß nun auch wieder etwas nach vorne gebeugt. "Wir sind dann... aus Zufall... auf ein weiteres... Entführungsopfer gestoßen.", sagte Semir dann ein wenig stockend und Ben drehte den Kopf beinahe ruckartig zu seinem Kollegen. Dem jungen Polizisten war es unbehaglich, denn sie hatten sich vorher nicht abgesprochen, was sie der Chefin sagen wollten, und was nicht. "Aus Zufall?", wiederholte die Chefin und zog die Augenbrauen etwas in die Höhe. "Ich bin gespannt..." Semir kräuselte die Lippen etwas nach innen, sah kurz zu Boden um sich die Worte zurecht zu legen. "Von Kevins Rufnummer wurde mehrfach auf Bens Handy angerufen, als wir zurück gerufen hatten ging er nicht ran. In seiner Wohnung war er auch nicht, und wir hatten uns Sorgen gemacht..." Bens Geste, ein schnelles Zum-Fenster-raus-schauen, weil er sonst eingegriffen hätte, blieb der Chefin nicht unverborgen. Auch schaute sie ein wenig verwirrt, als Semir davon sprach, dass sie sich um Kevin Sorgen gemacht hatten, nur weil er nicht zu Hause war und an sein Telefon ging. Doch im Moment stand für sie der Fall im Vordergrund, und so unterbrach sie Semir nicht.


    Ben allerdings war noch aufgewühlter und befürchtete, dass Semir etwas von Kevins Geheimnis verraten würde. "Jedenfalls haben wir herausgefunden, dass bei der versuchten Entführung heute morgen im Rheinpark Kevin dazwischen geplatzt sein muss, und statt des ursprünglichen Opfers hat man ihn mitgenommen.", erzählte der erfahrene Kommissar weiter. Wieder ein Nicken von Anna Engelhardt, die sich auf einen leeren Block kleinere Notizen machte. "Und was ist jetzt mit Herrn Peters?", fragte sie sachlich. Ben warf warnende Blicke in Richtung seines Partners, der diese empfing, ohne sie zu erwiedern. "Der konnte entkommen, und hat sich bei uns gemeldet. Wir haben ihn eben nach Hause gebracht." Schweigen... ein Schweigen dass der Chefin nicht gefiel, denn sie schaute Semir an und hob die Augenbrauen, weil sie noch weitere Informationen erwartete. Nach kurzer Zeit half sie mit einem "Und weiter..." nach, und Semir fiel es schwer einen Mittelweg zwischen absoluter Lüge und absoluter Wahrheit zu finden. "Er konnte nicht viel sagen, weil alles so schnell ging und er die Augen verbunden hatte.", sagte er schnell, während Ben weiterhin zum Fenster hinaussah, als gäbe es dort etwas wundervolles zu beobachten. "Konnte er eine Beschreibung der Täter liefern?", fragte die Chefin erneut, doch Semir schüttelte zögerlich den Kopf. "Einen Aufenthaltsort?" Wieder nur Kopfschütteln. "Und sie glauben ihm das?" Semir war von der direkten Frage der Chefin und den eindeutigen Unterton verwundert... dass Anna Engelhardt so schnell Misstrauen aus den Erzählungen zog, hätte er nicht gedacht. Ben reagierte diesmal sofort und ergriff das Wort: "Warum sollte man ihm nicht glauben?", fragte er direkt. Die Chefin legte den Kopf ein wenig schief: "Ich freue mich, dass sie sich am Gespräch beteiligen. Und ich finde die Erzählung, die zumindest Semir jetzt dargelegt hat sehr weit hergeholt. Er hat nichts gesehen, obwohl er mit den Entführern gerangelt hat. Er konnte fliehen, obwohl er die Augen verbunden hat? Wie ist er von dem Ort weggekommen? Mit verbundenen Augen?" Ben schwieg betreten, und strich sich mit einem Finger über den Mund. Auch Semir sah schweigend zu Boden, und die Chefin blickte zwischen ihren Angestellten hin und her. "Was wird hier gespielt, meine Herren?", sagte sie autoritär und mit einer gewissen Drohung. Sie stand immer hinter ihren Männern, doch im Gegenzug verlangte sie, auch selbst ehrlich behandelt zu werden, darauf legte sie großen Wert... und das wusste vor allem Semir.


    Der atmete jetzt tief durch, sah Ben nochmal kurz an und meinte dann zögerlich: "Wir... wir haben den Verdacht dass... dass Kevin die dritte Person der Entführer, eine Frau, schützen will." Ben fühlte, wie das Unbehagen im Magen sich zur Übelkeit steigerte, als er mit etwas heiserer Stimme hinzufügte: "Wir sind uns aber sicher, dass es dafür einen triftigen Grund geben muss." Dazu sagte Semir nichts, sondern schaute jetzt seinerseits in eine andere Richtung. Die Blicke der Chefin wechselte zwischen ihren Männern hin und her, und sie spürte, dass die beiden Polizisten sich nicht einig waren, was die Vermutung über Kevin anging. "Sie sind sich sicher?", fragte sie Ben direkt, der nach kurzem Zögern nickte. Ihr Blick wechselte zu Semir: "Und sie?" Semir überlegte kurz, seine Zunge umspielte kurz seine Lippen. "Mir fällt momentan kein Grund ein, ausser dass er das Mädchen kennt." Es schien eine unsichtbare Wand zwischen Semir und Ben zu herrschen, und für Frau Engelhardt war es klar, dass Ben Kevin eher schützen wollte, während Semir der Ansicht war, dass Kevin vielleicht ein falsches Spiel trieb. Sie blickte auf ihre Notizen, und ihr Ton war nicht mehr ganz so scharf wie bei den letzten beiden Fragen: "Inwiefern glauben sie, dass er diese Person schützen möchte?" Ben schwieg und für seinen erfahrenen Kollegen war das das Signal, dass er antworten solle: "Er hat sie in seinen Beschreibungen nicht erwähnt. Er hätte sie beim Überfall nicht gesehen, er hätte sie nicht gehört. Das weibliche Opfer von heute morgen hat aber klar ausgesagt, dass sie beim Überfall dabei war."
    Anna Engelhardt nickte erneut, die Puzzleteile setzen sich Stück für Stück zu einem vorläufigen Bild zusammen... ein Bild, das einen nächsten Schritt erforderte. "Sehen sie zu, dass Herr Peters morgen hier erscheint. Reden sie nochmal eindringlich mit ihm, und falls er Interesse daran hat, jemals nochmal im Polizeidienst zu arbeiten, wäre es besser wenn er uns die Wahrheit erzählt.", drohte sie mit bestimmter Stimme, dass es Ben ein wenig den Nacken herunterlief. "Das war's, meine Herren." Alternativen wollte sie gar nicht aufzeigen, denn für Anna Engelhardt war es eine Forderung an ihre Beamten, aus Kevin die Wahrheit herauszufinden.


    Als Semir und Ben sich bereits zur Tür wandten, erklang doch nochmal die Stimme der Chefin. "Glauben sie, dass er irgendwelche Dummheiten machen wird?" Beide drehten sich um, ohne einander an zu sehen. "Ich glaube nicht...", sagte Semir zögerlich, während Ben nur den Kopf schüttelte. Beide merkten dass die Chefin von dieser Antwort nicht überzeugt war, entließ die beiden Polizisten dennoch aus ihrem Büro.
    Kaum hatte Semir die Tür verschlossen schnarrte Ben ihm leise zu: "Du glaubst also nicht dass er irgendwelchen Unsinn macht." Seine leise Stimme war aufgebracht, denn er kämpfte damit die Vorwürfe gegen Semir, alles erzählt zu haben, zu unterdrücken. "Quatsch, aber das musste ich der Chefin ja jetzt nicht unbedingt noch auf die Nase binden... und die weiß auch selbst, dass es nicht stimmt. Bevor sie aber irgendwelche Kollegen zu Kevins Wohnung schickt, fahren wir besser selbst hin... na los." Ben sah seinem Partner etwas überrascht hinterher, war er doch die ganze Zeit der Meinung, Semir würde Kevin völlig misstrauen und ihn bei der Chefin in die Pfanne hauen. Dass er ihr nicht direkt erzählte, dass er davon ausging, dass Kevin irgendwelche Dummheiten machen könnte, (wovon er selbst freilich ausging) ließ ihn von dieser Meinung ein wenig abrücken.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Verlassenes Haus – 17:30 Uhr


    Die Frühlingsgrillen zirpten bereits ein Konzert, als sich dieser aufregende Tag dem Ende zuneigte, und die Sonne langsam tiefer rutschte. Auch wenn der heutige Tag recht sonnig und frühlingshaft warm war, so waren die Tage immer noch recht kurz, und der Abend wurde bereits eingeläutet. Andreas stand erneut am Waldesrand und rief nach Jessy, doch erneut bekam er keine Antwort. „Das gibt’s doch gar nicht.“, murmelte der Glatzkopf verstimmt und stapfte zurück ans Haus. Thomas war im Haus, hatte sich im Speisezimmer eingeschlossen und brütete. Jetzt stand er in der Terrassentür, eine Zigarette im Mundwinkel und blicke zu seinem Bruder, der ans Haus heran kam. „Und?“ Kopfschütteln und Schulterzucken waren die Antwort des kleinen Bruders auf die Frage des Verbleibs von Jessy. Der großgewachsene Mann stöhnte auf und blickte zum Himmel. „Herr Gott… nicht nur dass sie unsere Geisel befreit, jetzt versteckt sie sich auch noch im Wald. Wir können hier nicht mehr bleiben, verdammt.“ Andreas machte ein vorwurfsvolles Gesicht und antwortete barsch: „Bist du selbst schuld.“ Darauf erwiederte sein großer Bruder nichts, denn er machte sich selbst Vorwürfe, dass ihm gegen seine Schwester die Hand ausgerutscht ist. Am liebsten hätte er den Schlag sofort zurückgenommen. Jetzt gab er nicht zu, dass er sich Sorgen um seine kleine Schwester machte, und ohne sie würde er nicht von hier verschwinden. „Los, wir holen Taschenlampen und dann suchen wir sie eben… so groß ist der Wald ja nicht.“ Die beiden Männer verschwanden nochmal kurz innerhalb des Hauses, zogen sich Jacken über die nackten Ärmel, den der Wind frischte nun auf… man merkte eben, dass es noch kein Sommer war.


    Mit Taschenlampe bewaffnet zogen Andreas und Thomas in den Wald. Sie leuchteten hinter Büsche, Holzstapel und Baumgruppen. Andreas rief Jessys Name mehrmals, und Thomas fügte hinzu, dass es ihm leid täte, was er getan hatte, und dass sie doch rauskommen sollte und mit ihm reden sollte. Doch nichts rührte sich, außer einem aufgeschreckten Rehkitz, das durch die Büsche brach, weil es sich durch die Ruferei geängstigt hatte. „Du Thomas… ich glaube fast… Jessy ist weggelaufen.“, murmelte Andreas nach einiger Zeit der erfolglosen Suche. Der wiederrum stand resignierend auf dem Weg, und sah sich um. Seine Miene drückte beinahe schon Ratlosigkeit aus. Er, der Denker des Trios, durfte die Kontrolle nicht verlieren, beziehungsweise musste sie wieder erlangen. Souverän sein, denken, handeln. Das verkörperte er normalerweise. Andreas sah seinem Bruder an, dass er nachdachte und fragte: „Wo denkst du, könnte sie hingelaufen sein?“ Die Antwort ließ ein wenig auf sich warten und kam eher zögerlich als überzeugend. „Wenn sie wirklich gezielt zu jemandem will, dann gibt es nicht viele Möglichkeiten. Mama, allerdings trifft sie dann auf das Dreckschwein.“ Gemeint war Jessys Vater, der sie vergewaltigt hatte, als sie ein Kind war. „Wenn sie aber einfach nur irgendwohin ist, dann kann sie sich in jeder bekackten Scheune zwischen hier und Köln verstecken.“, meint Thomas missmutig. Damit waren die Chancen, sie zu finden, bei Null. Der größte Mann zündete sich eine weitere Zigarette an, während sein kleiner Bruder sich erschöpft auf einen Baumstumpf sinken ließ. „Wir müssen warten, ob sie wieder zurückkommt, Thomas. Wir können nicht ohne sie weg.“ Thomas wusste, dass es unmöglich war, ohne Jessy zu fliehen… die Gefahr aber, dass in einigen Stunden mehrere Mannschaftswagen der Polizei vor dem Haus stehen, war aber größer denn je, seit ihre Geisel geflohen war. „Denkst du, sie ist zu dem Bullen?“, fragte der kahlköpfige Andreas, und hob den Kopf zu seinem Bruder. Der ließ die Zigarette zwischen den Fingern langsam sinken. „Das wäre vielleicht möglich. Ich meine, es kann ja nur einen Grund geben, warum sie ihn freigelassen hat, oder?“ „Ja eben… sie hatte den Ausweis doch vorher schon gesehen, als wir die Waffen holen waren. Vielleicht hat sie sich die Adresse gemerkt.“ Thomas drehte sich ruckartig nun mit dem ganzen Körper zu seinem Bruder: „Hast du dir die Adresse gemerkt?“ In Andreas Kopf arbeitete es, eine Menge Zahlen und Buchstaben wollten sich aber nicht zu einer Straße zusammenfinden. Er lächelte erst, weil er die Idee gehabt hatte, doch das Lächeln erlosch dann schnell wieder. „Ne…“, meinte er nur und Thomas schüttelte den Kopf. „Los, das bringt nichts. Es ist schon fast dunkel, lass uns zurückgehen.“



    Plattenbausiedlung – 17:40 Uhr


    Phil hatte Wort gehalten, und Kevin innerhalb von Minuten zurückgerufen. Er hatte tatsächlich eine Adresse für den jungen Polizisten, was diesen veranlasste, sich über das frische Shirt eine leichte schwarze Jeansjacke anzuziehen, die zu seiner verwaschenen schwarzen Jeanshose passte. Im Dunkeln war er beinahe unsichtbar.


    Nun saß er auf seiner Harley, vor der Hochhaussiedlung am Stadtrand, die einen miserablen Ruf besaß und stellte diese auf dem Bewohnerparkplatz ab. Die Sonne hatte sich gerade hinter den Horizont verzogen, es war noch hell, würde aber jetzt schnell dunkel werden. Seinen Helm legte er auf den Sitz, ein Zug durch die etwas gedrückten Haare ließ diese wieder nach Steckdosengriff aussehen. Der Polizist ging über einen Plattenweg aus den 80er Jahren, der zwischen den drei Wohnsilos hindurch führte. Alles hier war in einem miserablen Zustand, und ließ seine Wohnung wie eine Penthouse-Wohnung wirken. Umgestoßene Mülleimer, Graffitiy-Schmiereien an den Hauswänden. Erst am zweiten Hochhaus fand er den Namen „Stern“ auf eine der unzähligen Klingeln. Die Eingangstür, die teilweise aus Glas bestand, war zerbrochen, und so konnte er die Klinke von innen aufdrücken, um so ins Treppenhaus zu gelangen, ohne vorher bereits klingeln zu müssen. Im Inneren des Treppenhauses schlug ihm der Geruch von Exkrementen und Erbrochenen entgegen, beim Gang um die Ecke wusste er auch weshalb. Ein Stadtstreicher lag dort in einer Ecke, die Hand noch um eine Fusel-Flasche geklammert, und schlief mit lautem Schnarchen. Wenige Meter daneben hatte er offenbar seine Notdurft verrichtet, und was sonst noch passieren konnte, wenn man zu viel Alkohol trank… Kevin kannte das.


    Dem baufälligen Fahrstuhl traute Kevin ganz und gar nicht, und so stieg er die Stufen hinauf bis zum 15ten Stockwerk. Er war auf alles und nichts gefasst, was ihn jetzt erwarten würde, wenn er zu Jessys Eltern ging. Seine Miene war versteinert, sein Atem flach und doch schlug sein Herz, denn er hatte den ganzen Hinweg über nur einen Gedanken… er hatte Jessys Stimme im Kopf, wie sie sagte: „Mein Vater war immer für mich da.“ Auf dem Weg an den Wohnungstüren vorbei warf Kevin immer wieder einen Blick auf die, meist handbeschriebenen Türschilder. „Immer wenn ich nachts nicht schlafen konnte, kam er zu mir ins Bett. Oder wenn ich fror, dann hielt er mich warm.“ Das Geräusch von Kevins Schuhen auf den kalten Steinböden, der schmutzig war als wäre er vor 20 Jahren zuletzt gewischt worden, hallte durch den kahlen Flur. Dann sah er das Schild „Stern“ und atmete nochmal tief durch. Durch die dünne Holztür konnte er einen Fernseher laufen hören, es war also jemand zu Hause. Ein prüfender Griff mit der linken Hand in die Tascheninnenseite seiner Jacke, dass sein Dienstausweis sofort greifbar war. „Er fing an, als ich 10 war und hörte erst auf, als ich mit Thomas und Andreas von zu Hause weggelaufen bin.“ Der Polizist presste die Zähne ein wenig aufeinander, als er mit der rechten Hand seine Waffe befühlte, die er sich in den hinteren Hosenbund gesteckt hatte um sicher zu gehen, dass die Jeansjacke sie ganz verdeckte, während er seine eigene Stimme im Kopf hörte. „Er hat dich…“


    Dann klingelte er…

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Plattenbausiedlung – 17:50 Uhr

    Die Klingel an der Wohnung von Theodor und Miriam Stern hatte sie Form eines Lichtschalters, und der Klingelton hörte sich fast exakt so an, wie der von Kevins Wohnung. Einige Geräusche drangen nach draussen, nachdem er geläutet hatte, Schritte waren zu hören, die Richtung Tür kamen. Langsam, beinahe zögerlich öffnete sich die Tür nach innen, und eine etwas kleinere, zierlich gebaute Frau stand Kevin gegenüber. Sie hatte schwarze Haare, und die gleichen Augen, in die Kevin vorhin im Keller versunken war. Kein Zweifel, vor ihm stand Jessy’s Mutter und schaute den Polizisten neugierig an. „Ja?“ „Guten Tag. Mein Name ist Peters, Polizei.“, sagte der junge Mann mit ruhiger und nach außen völlig gelassener Stimme. Der Ausdruck in ihren Augen schien von Neugierigen in einen etwas ängstlich verschreckten Zustand sich zu verändern. „Ähh… ja… um was geht’s?“ stotterte sie unsicher und sah ein wenig um sich. „Es geht um ihre Tochter, Jessica Stern. Kann ich kurz reinkommen?“
    Immer noch unsicher überließ die Frau Kevin den Zutritt zur Wohnung. Der viel zu kurze Flur mündete sofort in ein kleines Wohnzimmer, direkt daneben die Küche, auf der anderen Seite nur eine weitere Tür. Offenbar wohnte man hier auf engstem Raum zusammen, und Kevin stellte sich die Enge vor, wenn hier noch drei Kinder zusammenlebten. Die Wohnung war abgelebt, die Möbel aus den 70er Jahren, im Raum stand Zigarettenrauch und der Fernseher lief. Auf der Couch saß ein dicklicher Mann mit lichtem grauen Haar im Jogginganzug und kleinen braunen Augen, die tückisch aussahen. Er blickte Kevin auch sofort an, der in den Raum trat. „Wer sind sie?“, fragte er barsch und ließ die Bierflasche auf den Wohnzimmertisch sinken. „Peters, Kripo. Ich habe ein paar Fragen zu ihnen, wegen ihrer Tochter.“, sagte Kevin mit ruhigem Ton, auch wenn sein innerstes gerade kochte, als er den Mann erblickte, und daran dachte, dass er sich an der damals jungen hilflosen Jessica zu schaffen machte. Bevor Theodor Stern sich weiter äußern konnte kam ihm seine Frau zuvor: „Ist etwas mit unserer Jessy passiert?“, fragte sie voll Sorge, und Kevin ekelte sich… war das nun Heuchelei, nachdem ihre Tochter vor über 10 Jahren bereits abgehauen war? „Wann haben sie Jessy das letzte Mal gesehen?“, fragte er ohne auf die Frage der verschüchterten Frau einzugehen. Sie wiederrum sah ein wenig hilflos zu ihrem Mann, als hätte sie keine Erlaubnis alleine zu antworten. Der sah kurz auf den Fernseher und ließ sich wieder auf die Couch sinken, von der er eben aufgestanden war. „Unsere Tochter ist schon vor einigen Jahren mit ihren Brüdern von hier…“, er stockte kurz als suche er nach einem passenden Wort… „ausgezogen.“ Der Polizist zog die Augenbrauen ein wenig nach oben. „Ausgezogen?“, wiederholte er gespielt ungläubig und der Mann nickte. „Ja… weggelaufen. Ihre Brüder haben sie mitgenommen.“

    Der junge Polizist sah kurz aus dem Fenster, aus von dessen Balkon man einen herrlichen Blick auf ein Industriegebiet inklusive rauchender Schornsteine hatte, die allesamt bereits im Abendschatten lagen. „Wieso sind ihre Kinder weggelaufen, Herr Stern?“, fragte er mit weiterhin völlig ruhigen und distanziertem Ton, als wäre er ein völlig unbefangener Polizist der einfach seine Arbeit tat. Doch innerlich musste er mit sich kämpfen. „Ich weiß es nicht.“, sagte Theodor Stern kopfschüttelnd. „Wir konnten ihnen hier sicherlich kein Paradies bieten, aber ich und meine Frau haben uns den Rücken krumm gearbeitet, um ihnen möglichst alles zu geben.“, heuchelte der Mann und sah plötzlich ganz unglücklich drein. „Sie haben hier sicherlich nicht schlecht gelebt.“ Selbst als distanzierter Polizist hätte sich Kevin im normalen Fall einen zynischen Kommentar nicht verkniffen, als er den Blick nochmal durch die Wohnung schweifen ließ. Das konnte der Mann nicht ernst meinen. Wollte der Kevin nun ein Stück „Schwierige, aber heile Welt“ verkaufen? Er sah Herr Stern weiter gefühlslos an, der den kalten Blick des Polizisten nicht deuten konnte. „Und sie haben sich seit dem nicht mehr hier sehen lassen?“ Frau Stern presste zitternd die Lippen zusammen und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Als wolle sie etwas sagen, aber es fand nicht den Weg aus ihrem Mund. „Nein.“, sagte ihr Mann und schüttelte den Kopf. „Ich kann ihnen auch nicht sagen, wo meine arme Tochter ist. Sie hat sich von ihren Brüdern immer sehr beeinflussen lassen… ich bin mir immer noch sicher, dass sie eigentlich nicht fort von hier wollte.“ Das reichte… Kevins innerer Druck wuchs ins Unermessliche, und es wunderte ihn dass seine Stimme nicht zitterte als er Frau Stern um eine Tasse Kaffee bat. Die Frau nickte und ging, immer noch leicht zitternd in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Der junge Polizist schloss die Küchentür hinter ihr, und kam wieder auf Theodor Stern zu. Dieser schien zuerst nicht wirklich wahr zu nehmen, was Kevin vor hatte, sondern realisierte es erst, als er von ihm an der Joggingjacke gepackt wurde, und nach oben gezogen wurde. Eine Mischung aus Alkoholatem und Zigarettenqualm schlug dem Polizisten entgegen. „Was ziehst du hier eigentlich für eine Nummer ab?“, zischte Kevin mit bedrohlicher Stimme und überwand seinen Ekel, als er den Kerl mit sich auf Augenhöhe zog. „Was… was soll das?“, zitterte Theobald, als er bemerkte dass Kevin ernst meinte. „Ich weiß, was du deiner Tochter jahrelang angetan hast.“ sagte Kevin leise und bemerkte sofort den geschockten Blick in den Augen seines Gegenübers. „Was… woher?“ Stern bekam einen Ruck durch seinen Körper, als er von Kevin kurz geschüttelte wurde. „Deine beiden Söhne haben ihre Schwester vor dir perversem Schwein gerettet. Also hör auf mir irgendeine Scheiße zu erzählen.“ Er spürte wie der Atem des dicklichen Mannes immer schneller wurde und er zu wenig Kraft besass, sich von Kevins hartem Griff an der Jacke zu befreien.

    „W… was wollen… was wollen sie von mir? Warum, sind sie hier?“ Mit eiskalten Augen sah Kevin den Mann an, dass diesem weiter Angst und Bange wurde. „Am liebsten würde ich das machen, was Thomas und Andreas nicht zu Ende gebracht haben.“, sagte er kalt. „Bitte… ich… ich tu alles was sie… was sie wollen.“ Kevin spürte, die Angst des Mannes war echt. Er zitterte, er fürchtete sich davor dass der junge Mann wirklich keine Skrupel hatte… wer weiß, vielleicht war er kein Bulle, der Ausweis gefälscht. „Wo könnten sich deine Kinder versteckt halten, außer in dem alten Landhaus?“, fragte Kevin und merkte wie dem Mann Panik ins Gesicht fuhr. „Ich… weiß… nicht…“, stotterte er und litt Todesängste, vor allem als Kevins Hand hinter seine Jacke fuhr und der die glitzernde Waffe in der Hand des jungen Mannes sah, und den Lauf unter seinem Nasenflügel spürte. Kevin blieb äusserlich kalt, auch wenn er wusste, dass er jetzt an der Grenze stand… weiter konnte er nicht gehen, selbst wenn er gewollt hätte. „Ich schwöre dir, ich verteile die Reste deines Gehirns an der Fototapete, wenn du mir nichts erzählst.“ Innerlich erschrak er selbst über sich, wohin ihn die Wut treiben konnte, und der Finger legte sich bedrohlich um den Abzug der gesicherten Waffe. „Ich weiß wirklich nichts! Ich habe meine Kinder jahrelang nicht gesehen! Das alte Haus gehörte meinen Eltern, ich war dort schon ewig nicht! Wenn sie dort nicht sind, dann habe ich wirklich keine Ahnung… bitte… bitte tun sie mir nichts.“, jammerte der feige Mann beinahe um sein Leben.
    Auch wenn Kevin innerlich aufgewühlt war, so spürte er jedoch… der Mann wusste wirklich nichts. Er hörte in der Küche den Kessel pfeifen, und wusste dass es nur noch einige Augenblicke dauerte, bis die Frau zurückkam. „Morgen früh gehst du zur Polizei, und zeigst dich für den jahrelangen Missbrauch selbst an. Die Taten sind noch nicht verjährt, und du wirst einfahren. Ansonsten komme ich wieder, das verspreche ich dir.“, zischte er nochmal bedrohlich dem Mann ins Gesicht, bevor er ihn losließ und aufs Sofa stieß. Seine, immer noch gesicherte Waffe, verschwand hinter seiner neuen Jacke und angewidert bemerkte er den dunklen Fleck, der sich bei Herrn Stern im Schritt unter der Jogginghose breit gemacht hatte… die Angst war echt und nicht gespielt. Schluckend und zitternd stand Theodor auf und verschwand schnellen Schrittes im Badezimmer, wo er die Tür hinter sich zuschloß in dem Moment, als Miriam hereinkam mit einer Tasse Kaffee, die sie Kevin in die Hand gab.

    Kevin war äußerlich immer noch ruhig, aber enttäuscht, nichts erfahren zu haben. „Sie suchen Jessy?“, fragte Miriam nun unvermittelt und ließ sich auf einen abgewohnten Sessel fallen. „Ja.“, antwortete Kevin, und bemerkte wie die Frau sich ängstlich umsah… sie schien gerade festgestellt zu haben, dass ihr Mann nicht da war, und winkte Kevin ein wenig zu sich heran, der sich zu ihr runterbeugte. "Sie kommt alle ein, zwei Monate zu mir… immer wenn mein Mann nicht da ist. Sie sagt immer, dass ich es nicht erzählen soll…“, flüsterte sie unsicher und Kevin sah die Frau hoffnungsvoll an. Er war sich nicht sicher, ob sie von dem jahrelangen Missbrauch etwas wusste. „Können sie mir vielleicht sagen, wo sie sich verstecken könnte, ausser dem Landhaus ihrer Schwiegereltern.“ Es war der schönste Moment des Tages als die Frau scheu lächelte und nickte. „Meine Eltern haben ein Schrebergartenhäuschen im Schrebergarten „Grüne Freunde.“ Ich weiß, dass sie da hin und wieder ist. Aber viel erzählt sie nicht von sich…“, sagte Frau Stern leise und Kevins Gesicht hellte auf. „Danke Frau Stern… sie haben mir sehr geholfen.“ Er war sich nun fast sicher, dass sie nichts von der damaligen Geschichte wusste… und er sagte auch nichts um den Kummer nicht zu vergrößern… denn leicht schien sie es hier nicht zu haben.
    Kevin erhob sich wieder und verabschiedete sich, ohne zu warten bis Theodor Stern aus dem Bad zurückkam. Kurz bevor er an der Tür war, hörte er erneut die Stimme von Frau Stern. „Was ist mit meiner Tochter… warum suchen sie nach ihr?“ Kevin drehte sich um zu Frau Stern und machte eine vertrauensvolle Miene. „Ihrer Tochter geht es gut… machen sie sich keine Sorgen. Ich suche nicht als Polizist nach ihr, sondern als Freund.“ Dann verließ er die Wohnung, nachdem er eine beruhigende Geste von Miriam erhalten hatte… sie nickte und lächelte, denn sie schien Kevin zu vertrauen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Kevin’s Wohnung – 18:00 Uhr

    Das orangene Licht der Straßenlaternen, die erst im letzten Jahr dort neu aufgestellt worden, tauchten den Weg, der zur Haustür des mehrstöckigen Gebäudes führte, in ein beinahe gemütliches Licht. Semir und Ben hatten sich ihre Lederjacken übergezogen, denn sobald die Sonne weg war sank die Temperatur schneller als sie morgens geklettert war.
    Den Weg zu Kevins Wohnung kannten sie mittlerweile auswendig, es kam ihnen wie ein Deja-Vu vor, weil sie dort heute Vormittag schon einmal standen. Und genauso wie heute Vormittag gab es keinerlei Reaktion auf das Klopfen und Klingeln. Semir seufzte: „Das darf doch nicht wahr sein… was hat man denn so dringendes vor, wenn man gerade von einer Entführung geflohen ist.“, meinte er genervt und verdrehte die Augen. „Du würdest natürlich erst einmal zu Hause sitzen und dich entspannen, was?“, merkte sein Partner schnippisch an und Semir musste ihm recht geben. Nein, das würde er in der Situation natürlich nicht tun. Er würde wohl auch mit allen Mitteln die Täter suchen, vor allem wenn man persönlich involviert ist, auch wenn beiden Männern noch nicht ganz klar war, wie Kevin nun involviert war. Beide hatten sich Gedanken gemacht, weiter Gedanken gemacht und noch mehr Gedanken gemacht. Ben war sich sicher, dass es eine Erklärung dafür geben musste, warum Kevin das Mädchen schützen wollte. Einfach so tat Kevin so etwas nicht. Semir tat sich da ein wenig schwerer zu glauben, dass nicht etwas völlig banales für den jungen Mann im Vordergrund stand.

    Diesmal brachen sie die Tür nicht auf, dazu hatten sie keinen Grund. Heute Vormittag hatten sie noch Sorge darum, dass Kevin sich etwas angetan haben könnte, aber nun zogen sie wieder von Dannen. „Machen wir Feierabend?“, fragte Ben, als sie sich wieder in die Autositze sinken ließen, und Semir wollte bereits nicken, als der Bereitschaftsdienst der PAST sich über Funk meldete und Cobra 11 rief. Ben nahm als Beifahrer das Funkgerät zur Hand und meldete sich zurück, dass er höre. „Interessiert euch vielleicht noch vor Feierabend.“, hörten die beiden Hotte Herzbergers bekannte warme Stimme. „Eine Zeugin hat sich gemeldet, sie hat auf den Fahndungsfotos das junge Mädchen erkannt und ausgesagt, dass sie sie mehrfach und regelmäßig sehen würde.“ Ben und Semir schauten sich überrascht an… das ging schneller als gedacht. „Ja, Hotte… und wo?“, fragte Ben hastig nach, während Semir bereits das Blaulicht einschaltete. „Schrebergärten „Gründe Freunde“, Gartenlaube 38.“ „Danke Hotte, wir schauen uns da mal um.“, meldete Ben und beendete die Funkverbindung.

    Schrebergärten – 18:30 Uhr

    Der Himmel hatte sich nun endgültig verfinstert, einige Sterne standen bereits am Himmel und nur am fernen Horizont war schwach noch ein hellblau-rot schimmernder Streifen zu sehen. Die kleinen Laternen, die die Wege zwischen den einzelnen Gartenhäuschen säumten erhellten diesen zwischen grünen Hecken, die Sichtschutz boten. In der Ferne hörte man die Abendrufe einer Eule, es war eine Mischung aus einer gemütlichen und etwas schaurigen Stimme.
    Die beiden Polizisten fanden die Laube recht schnell, denn auf kleinen Straßenschildern wurden die Nummern der einzelnen Wege angezeigt. Die „Laube“ stellte sich aber als recht stattliches Gartenhaus heraus, auf das Ben und Semir nun zu hielten. „Sieht leer aus.“, flüsterte Ben, der aufgrund der Dunkelheit kaum noch was erkennen konnte. „Schauen wir mal nach.“, meinte sein Partner und griff sich an die Tasche seiner Jeans um mit seine Taschenlampe auf das Türschloss zu leuchten. Sie unterhielten sich im Flüsterton, wussten sie ja nicht ob sich vielleicht doch jemand in der Hütte aufhielt. Ein wenig Mondlicht fiel auf die Eingangstür, die einen Spalt weit offenstand, und die beiden Polizisten sofort zum Anhalten bewegte. Stumme Blicke tauschten sie aus, und zogen beide ihre Waffe, bevor sie die Gartenlaube betraten. Natürlich waren sie schon oft durch dunkle Gebäude mit der Waffe im Anschlag geschlichen, doch jedes Mal schlug ihr Herz unweigerlich schneller. Ganz wenig Licht fiel durch das Mondlicht in den Raum, der eine Art Wohnstube war, von dem zwei Türen abzweigten. Die Taschenlampe erhellte nur spärlich, und nur einen bestimmten Bereich.

    Mit den Fingern wies Semir auf die eine Tür, dann auf Ben und auf die anderen Tür… sie sollten sich aufteilen. Ben nickte und ging langsam, die Waffe im Anschlag auf die Tür zu, und öffnete sie. Sie schwang zu Ben langsam und knarrend auf, vorsichtig, Schritt für Schritt wagte sich der Polizist in den Raum, die Taschenlampe etwas nach vorne gestreckt, die Waffe darunter haltend. Unerwartet aus dem Dunkeln spürte Ben plötzlich, dass jemand die Taschenlampe packte und nach unten drückte… der Kerl musste sich neben der Tür versteckt haben und schien auf ihn gewartet zu haben. Offenbar waren sie zu laut draußen. Ben konnte gar nicht so schnell nachdenken, das Licht im Raum verschwand und eine krachende Rechte landete im Gesicht des Polizisten, der sofort zu Boden fiel. „SEMIR!“, rief er noch schnell weil er befürchtete, dass der Kerl nochmal zuschlagen würde. Offenbar aus Angst, dass der Eindringlich nicht alleine war, als Ben nach seinem Freund rief, machte er auf dem Absatz kehrte und sprintete durch die Hintertür, die sich in dem Raum befand hinaus ins Freie. Semir kam, angelockt sofort von Bens Schrei, angelaufen und fiel fast über seinen Partner. „Wo ist der Kerl?“, fragte er noch schnell, als Ben sich stöhnend aufsetzte. Beide sahen die offene Hintertür, auf die Semir schnell leuchtete. „Warte hier, Partner.“, sagte er noch und wetzte mit seinen kurzen Beinen durch die Tür, wo er direkt dahinter auf einen Lattenzaun stieß, der das andere Grundstück abgrenzte. Der kleine Polizist leuchtete nach links, rechts und geradeaus, doch weder war eine Gestalt zu erkennen, noch konnte er irgendwelche Schritte auf den Asphalt-Wegen vernehmen. Nur die Eule, die nun näher gekommen schien meldete sich wieder zu Wort. „Fuck…“, murmelte er und steckte die Waffe weg.

    Ben quälte sich stöhnend wieder auf die Beine und hielt sich die Handfläche auf sein rechtes Auge, wo die Faust ihn getroffen hatte. Semir kam zu ihm zurück und leuchtete ihm ins Gesicht: „Lass mal sehen.“ Ben zwinkerte ins helle Licht der LED-Taschenlampe und gab einige Schmerzenslaute von sich. „Das gibt ein Veilchen, mein Freund.“, meinte er grinsend und Ben äffte sein Grinsen höhnisch nach. „Hast du was erkannt?“ Ben schüttelte den Kopf. „Nein, es war zu dunkel, und zu schnell. Er hat mir erst die Taschenlampe runtergedrückt von der Seite, und hat direkt zugeschlagen.“ Der junge Polizist ärgerte sich wahnsinnig über seine Unvorsichtigkeit. „Na komm, wir stellen die Laube hier morgen früh mit der KTU auf den Kopf… ich fahr dich nach Hause.“ So zogen die beiden Polizisten von dannen und zogen die Tür der Laube zu, bevor Semir seinen Partner zu Hause absetzte und sich durch die Innenstadt ebenfalls auf den Heimweg machte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Verlassenes Haus – 19:15 Uhr

    Wäre es nicht so kalt gewesen, hätte man es für einen gemütlichen Grillabend, oder einfach nur ein geselliges Beisammensein zweier Brüder halten können, die sich in ihrem Garten ein Bierchen gönnten. Doch bei einem Bier blieb es nicht, und zum Feiern war Thomas und Andreas auch nicht zu Mute. Sie saßen da, eingehüllt in ihre Jacken auf den Gartenstühlen, mehrere zusammengedrückte Bierdosen lagen um sie herum und seit einer Stunde hatte keiner mehr einen Ton gesagt. Andreas Atmung ließ mittlerweile einen leichten Schlaf vermuten, während Thomas in die Ferne sah und immer noch hoffte, dass seine Schwester zurückkam. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, er hatte die Kontrolle verloren. Er, der sich als Kopf sah, der ruhig und besonnen blieb, auf seinen kleinen Bruder und seine kleine Schwester Acht gab und sich manchmal wie ein Vater fühlte… einen Vater, den er selbst haben wollte.
    Doch jetzt hatte er einen quälendes schlechtes Gewissen und keine Idee wo Jessy hingelaufen sein könnte. Und er wusste nicht was er machen sollte, er wusste nur eins. Er wollte bis morgen früh hier sein, falls sie hierher zurückkam. Er wollte nicht weg ohne sie, und es würde ihm das Herz brechen, wenn seine Schwester hier auftauchen würde, und glauben würde dass die beiden Männer und sie geflohen sind. Er hoffte, nein beinahe betete er, dass sich die Bullen bis morgen Mittag noch Zeit ließen…


    Kneipe – 20:00 Uhr

    Semir hatte seinen Partner und Freund Ben nach Hause gefahren, und kurz hatten sie sich noch über den morgigen Tag unterhalten. Wie man weiter vorgehen wollte hing vor allem davon ab, ob Kevin nun bereit war Informationen rauszurücken oder nicht. Außerdem wolle man die Gartenlaube durchsuchen, wohin Ben per Funk noch einen Streifenwagen abgestellt hatte, der dort über Nacht öfters mal vorbeischauen sollte.
    Bens Gesicht schmerzte, und er hatte keine Lust mehr auf ein Feierabend-Bier. Semir verstand dies, er wünschte gute Nacht und fuhr durch die dunkle Hauptstraße, die aus der Innenstadt führte, wo Ben wohnte. Als er die Kneipe passierte, wo er und Ben öfters mal ihren Feierabend verbrachten, damals auch mit Kevin, stutzte er kurzzeitig. Das Nummernschild des Motorrades, was dort vor der Tür parkte, kam ihm bekannt vor. „Wenn das mal kein Zufall ist…“, murmelte der kleine Kommissar und stellte seinen BMW direkt daneben auf einen freien Parkplatz.

    Die Kneipe empfing ihn mit gedämpfter 80er-Jahre Musik, vielen Gesprächen, warmer Luft und auch hier ließ der Wirt es, auch unter dem Risiko einer Geldstrafe, zu dass die Gäste rauchten. So auch der junge Mann, der direkt vorne am Tresen saß, seine schwarze Jeansjacke über den Hocker nebendran gelegt, vor sich ein Glas mit dunkler Flüssigkeit stehen hatte, die wir Cola aussah, vom Glas her aber sicherlich mit Hochprozentigem gemischt. Die Frisur hätte Semir unter Tausenden wieder erkannt, und ohne ein Wort der Begrüßung setzte er sich neben Kevin auf den anderen freien Hocker und bestellte bei der freundlichen Dame hinter dem Tresen ein Kölsch.
    Semir blickte kurz zur Seite, legte die Hände verschränkt auf den Tresen und schwieg erst einmal. Er wollte, dass Kevin sprach… das Kevin zumindest mal „Hallo, was machst du denn hier?“ sagte, oder einfach nur mal den Blick zu Semir bewegte. Klar hatte er bemerkt, wer sich da neben ihn gesetzt hatte, doch sein stoischer Blick zeigte geradeaus, während seine rechte Hand, die die Kippe zwischen Zeige- und Mittelfinger hielt das Whiskeyglas unaufhörlich immer wieder ein Stück um die eigene Achse drehte. Bis Semir sein Bier hatte konnte man meinen, dass die beiden Männer sich nicht kannten und sich noch nie im Leben begegnet waren. Semir spürte genau dass Kevin etwas bedrückte, er verhielt sich ihnen gegenüber sonderbar, und doch so wie Semir es kannte. Es herrschte Misstrauen und der junge Mann baute sich eine Wand aus Schweigen. Semir leckte sich ein wenig über die Lippen, als er nach Worten suchte, denn er merkte dass er das Gespräch beginnen musste, sonst würde er noch bis morgen früh hier sitzen. „Du hast dich verändert, Kevin.“, sagte er ohne Vorwurf in der Stimme… es war die vertrauenserweckende Stimme von Semir, die mit Lebenserfahrung und gut gesinnt war. „Als wir beide den Doppelmord im Rotlicht-Viertel aufgeklärt haben, da warst du… anders. Du hattest mir doch damals vertraut, oder?“ Er sah den schweigenden Mann an, der den Blick auf das Tresen und das sich immer wieder gedrehte Glas richtete. Kevin hatte Semir kennengelernt, als sie beide zusammen einen Fall für die Mordkommission lösten. Der junge Polizist hatte sich erst spät wirklich mit Semir zusammengerauft und ihm gestanden, sich in die Tatverdächtige verliebt zu haben, die sich später tatsächlich als Mörderin herausstellte und erschossen wurde. Kevin hatte das sehr getroffen und auch zu einem Tiefpunkt geführt, als er längst wieder an den Drogen hing, was Semir damals aber nicht mitbekommen hatte. Er empfand Kevin damals aber lange nicht so distanziert, wie in diesem Moment, den damals hatte er sich zwar spät, aber er hatte sich Semir anvertraut und ihm die Wahrheit gesagt… warum jetzt nicht?
    Das kalte Bier lief Semirs Kehle herab als er die ersten Schlucke davon trank, und es schmeckte heute ganz gut, auch wenn er sich in einer unangenehmen Situation befand, denn Kevins Schweigen war wie eine Wand. „Was ist es, Kevin? Warum schützt du das Mädchen? Wir wissen von der Zeugin, dass eine weibliche Person dabei war, und wir werden es morgen auch aus dem anderen Entführungsopfer rausquetschen. Erspar uns die Arbeit.“ Das Geräusch des immer wieder aufklackernden Glases auf dem Tresen begann den Deutsch-Türken langsam zu nerven. Es wurde nur kurz unterbrochen als sein Nebenmann einen Schluck des süß-bitteren Getränkes nahm, nachdem er die Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt hatte. „Tut sie dir leid, weil sie in der gleichen Situation ist, wie du damals warst?“ Kevins Augen blickten vom Tresen kurz auf, seine kalt blauen Augen wirkten müde. Müde davon, wie er die letzten Wochen und Monate verbracht hat, müde davon sich wieder ein Lebensziel zu suchen. Sein Kollege sah ihn von der Seite an, hob die Augenbrauen und Sorge sprach aus seinem Blick. Heute Nachmittag misstraute er Kevin noch, ja er hatte kurzzeitig tatsächlich gedacht dass der Mann, der als jugendlicher Straftäter auf der Straße war, wieder zu seinen Wurzeln zurückgekehrt war. Doch so, wie er Kevin jetzt beobachtete, verwarf er den Gedanken schnell wieder.

    Als erneut keine Antwort kam, sah Semir ebenfalls geradeaus. Es war als würde er mit einem taubstummen Mann reden, einer Puppe die innerlich zerbrochen war und nun keinen Mucks mehr von sich gab. Ein wenig seufzte Semir auf. „Wenn du nicht redest, dann können wir dir nicht helfen.“, sagte er resignierend und dachte an seine eigenen Sorgen, seine eigenen Probleme… bei denen ihm auch keiner helfen sollte. Skurril. Er hörte Kevin hörbar ausatmen, ein Ausatmen als würde er gerade ansetzen etwas zu erzählen… doch nichts drang durch seinen Mund. Der erfahrene Polizist begann langsam einige Puzzleteile zu einem Bildabschnitt zusammen zu setzen. Das Mädchen in einer Gang, Kevin der momentan mit Problemen kämpfte und sich niemandem anvertraute... er sah wieder zu dem jungen Mann auf den Nebenhocker. „Denkst du, sie versteht deine Gedanken besser, weil sie in der gleichen Situation ist?“ Fast dachte er, er konnte ein leichtes Nicken an Kevins Körperhaltung ausmachen, doch er war sich nicht sicher, ob er es sich nicht einbildete. Ein weiterer Schluck aus seinem Bierglas floss Semirs Hals herunter, als sein Blick auf Kevins rechte Hand fiel, auf der sich eine leichte, bläuliche Schwellung auf den Fingerknochen zeigte. Es sah wie eine Prellung aus, und ein weiteres Puzzleteil setzte sich zusammen. Mit etwas zusammengepressten Lippen sah der Polizist Kevin noch einmal an, und dann schwiegen beide.
    Semir leerte sein Glas und legte Geld auf das Tresen. Dann rutschte er etwas an Kevin heran, sprach leiser und eindringlicher. „Kevin… wenn ich das recht sehe, dann hast du momentan Niemanden, außer uns.“ Er wartete auf eine Reaktion, die sich in einem kurzen Kopfheben äußerte, jedoch drehte Kevin den Kopf immer noch nicht in Semirs Richtung. „Außer Ben und mich. Wir würden dir helfen, aber wir können dir nur helfen, wenn du dir helfen lässt. Egal, was zwischen dir und diesem Mädchen passiert ist… vertrau uns.“ Seine Stimme senkte sich: „Oder haben wir dein Vertrauen missbraucht, als du uns deine Drogengeschichte erzählt hast?“ Nun war das leichte Kopfschütteln des jungen Polizisten deutlicher wahr zu nehmen. Nein, sie hatten dicht gehalten vor allem und jedem… sogar vor ihrer Chefin. Das musste Kevin zugeben. Semir redete noch weiter: „Ich kann es verstehen, wenn dich dieses Mädchen innerlich getroffen hat. Dass es dich berührt hat, mit was auch immer.“ Semir spekulierte, aber anders konnte er sich Kevins Verhalten nicht erklären… und da dieser keinerlei Widerworte gab, fühlte er sich von seiner Theorie irgendwie bestätigt. „Aber bitte Kevin… lass uns das Problem gemeinsam lösen. Mach bloß keinen Scheiß.“ Jetzt wendete der junge Mann den Blick zu Semir und ein kurzes Schmunzeln kam ihm übers Gesicht, doch es war kein ehrliches Schmunzeln… eher ein ironisches, bitteres Schmunzeln und erneut ein leichtes Kopfschütteln. Dann wandte er den Blick wieder ab, drehte den Kopf zurück und sagte mit seiner monotonen Stimme nur: „Zu spät…“

    Semir sah ein wenig verzweifelt aus, er hatte es sich zwar schwer vorgestellt, zu Kevin durchzudringen, doch dass es so schwierig wäre… Er war innerlich verschlossen wie ein Gefängnis, hatte Herz und Gefühle eingemauert. Wer oder was hatte ihn nur so enttäuscht, dass es ihm so schwer fiel, Vertrauen zu anderen Menschen zu fassen?
    Der erfahrene Polizist ließ sich vom Hocker gleiten und gab Kevin noch ein „Bis morgen.“ Bevor der Kommissar zur Tür herausging, drehte er sich nochmal um, und wollte Kevin noch einmal kitzeln. „Entschuldige dich morgen noch bei Ben. Du hast ihm ein Veilchen beschert.“ Dass Kevin auch hierauf keine Reaktion zeigte, war für Semir ebenfalls eine Bestätigung. Er war in der Gartenlaube, und hatte offenbar nach dem Mädchen gesucht… und um Fragen zu vermeiden, ist er abgehauen. Die Schwellung an der Hand hatte er von dem Schlag gegen Bens Augenhöhle. Eine weitere Frage, wie Kevin auf die Laube gekommen ist, die morgen zu klären war… wenn Kevin in der Dienststelle auftauchte. Doch da war Semir sich sicher, denn er spürte, dass er in Kevin etwas bewirkt haben könnte…

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • PS: Wer bei der nachfolgenden Szene ab dem dritten Absatz vielleicht dazu "Filmmusik" hören will, wie ich sie mir vorgestellt hätte, hört sich das ungefähr ab 0:40 an: http://www.youtube.com/watch?v=w7jkJjCbens ;)


    Kevin's Wohnung - 22:00 Uhr


    Er fühlte sich schlecht, und nicht von Alkohol. Kevin hatte in der Zeit in der Bar nur zwei Cola-Wodka getrunken, und fühlte sich weder betrunken noch angeheitert. Nein, er fühlte sich schlecht von dem, was an diesem Abend passiert war, denn er spürte dass er langsam die Kontrolle verlor, und gerade dabei war alles zu verlieren. Semirs Worte hatten ihn ziemlich beeindruckt, vor allem als er ihm klarmachte, dass er keine Verbündeten hatte, ausser Semir und Ben. Wer sollte ihm helfen bei dem, was er vor hatte bezüglich Jessy. Wer würde ihm selbst helfen, wieder Fuß zu fassen im Polizeidienst, wenn alles rauskommt, was er bisher getan hatte. Eingebrochen in die Gartenlaube, einen Kollegen niedergeschlagen, Informationen zu einer Gewalttäterin und Entführerin zurückbehalten. Kevin fühlte sich alleine gelassen, als er heute mittag mit Jessy sprach, fühlte sich, als hätte er niemanden auf dieser Welt. Doch eben wurde ihm klar, dass er mit Semir und Ben doch noch zwei Menschen hatte, auf die er sich verlassen könne. Die dicht gehalten hatten über seine Drogenprobleme, die ihm vertraut haben, dass er diese in den Griff bekommt. War dieses Gefühl, dass er auf Jessy projeziert hatte, vielleicht doch "nur" dieses "Große-Bruder" - Gefühl? Eben jener Beschützerinstinkt, diese Aufgabe, die er selbst als gescheitert sah seit Janine umgebracht wurde? Der junge Polizist versuchte sich das Gefühl, das er hatte, als er mit Jessy gesprochen hatte, wieder vorzustellen doch es gelang ihm nicht. Was war das, was hatte ihm sein Kopf da vorgespielt?


    Die kalte Luft auf dem Motorrad, die ihn an seiner leichten Jeansjacke zerrte, konnte die Gedanken nicht vertreiben. Er würde heute wieder kein Auge zu machen, das wusste er, denn er versprach sich innerlich heute keine Medikamente oder sonstiges Teufelszeug zu nehmen... ja, er versprach es sich wie so oft vorher. Er versprach es sich nochmal, als er die Treppenstufen nach oben nahm, das kalte Licht im Flur aufflackerte und er das Gefühl hatte, dass die Treppe immer länger und länger wurde. Als der junge Mann auf seiner Etage angekommen war und um die Ecke bog, entglitten ihm beinahe die sonst so coolen Gesichtszüge, seine Augen weiteten sich und sein Mund blieb etwas offen. Grund dafür war die kleine, an der Wand sitzend, kauernde Gestalt, die ungefähr auf Höhe seiner Wohnungstür saß. Sie hatte die Beine an den Leib gezogen, sie mit ihrem Armen umschlungen und den Kopf auf die Knie gelegt. Samtgrüne Augenpaare schauten ihn an, als er mit langsamen Schritten näher kam. Ohne Fessel, ohne Augenbinde strahlte er eine ganz andere Sicherheit aus, als heute morgen. "Wie kommst du denn hierher?", fragte Kevin ein wenig überrascht, als er auf Jessy herabblickte, die ihren Blick nicht von ihm ließ. Mit zwei schnellen Kopfbewegungen schaute er nach links und rechts, als würde er erwarten dass Thomas und Andreas hinter einer Ecke lauerten. "Ich bin alleine, Kevin...", sagte sie beinahe verletzt, als würde der Polizist ihr zutrauen ihm eine Falle zu stellen. Kevin fühlte sich zerrissen, auf der einen Seite freute es ihn Jessy zu sehen, auf der einen Seite war sein Gefühl ein eher ablehnendes... gerade hatte er sich innerlich entschlossen, morgen seine Gefühle zu überwinden und mit seinen beiden Kollegen zusammen zu arbeiten... und nun stand der Grund seiner Befangenheit vor seiner Wohnungstür. "Und was machst du hier?", fragte er erneut, und er erschrak darüber dass seine Stimme so kalt klang. "Darf... darf ich reinkommen?", fragte Jessy, immer noch den Blick nach oben zu Kevin gerichtet. Sie hatte sich das Wiedersehen anders vorgestellt, hatte gehofft dass sich der junge Mann freute, wenn sie zu ihm zurückkehrte. Sie war verzweifelt, nachdem sie von ihren Brüdern weggelaufen war, und nun auf sich gestellt war, und sie suchte in Kevin den Felsen in der Brandung, den sie brauchte.


    Kevin öffnete die Wohnungstür und ließ Jessy den Vortritt. "Willst du etwas trinken?", fragte er, doch das Mädchen verneinte, hatte die Hände tief in der Tasche vergraben und setzte sich auf die kleine Couch. Kevins Vernunft, der versuchte gegen sein Gefühl Widerstand zu leisten, bröckelte, als er sich selbst dicht zu Jessy saß, und sie anblickte. "Du hast dir die Adresse aus dem Ausweis gemerkt, hmm?", fragte er rhetorisch, und das Mädchen nickte. "Was ist passiert?" Jessy seufzte und sah nun kurz auf den Boden. "Ich hab mich mit meinen Brüdern gestritten und bin weggelaufen. Sie haben direkt gewusst, dass ich dich befreit habe.", sagte sie dann zerknirscht und Kevin spürte plötzlich Schuldgefühle in sich aufsteigen. "Oh, scheisse...", murmelte er und fuhr sich mit einer Hand durch die abstehenden Haare. Jessy schaute traurig geradeaus an die gegenüberliegende Wand und eine Gänsehaut befiel sie, als der Mann neben ihr den Arm um ihre Schultern legte und sie ein wenig an sich drückte. "Jetzt hab ich, wie du, auch endgültig niemanden mehr...", murmelte sie leise und spürte wie Kevin ihr sanft über die Haare strich. "Ich hab gehört, dass du immer mal zu deiner Mutter gehst." Jessy schien von Kevins Worten ein wenig aufzuschrecken, als sie plötzlich sagte: "Wer hat dir das gesagt?" "Deine Mutter selbst." "Du warst bei mir zu Hause??" Jessy sah Kevin ein wenig geschockt an. Schämte sie sich, oder war sie wütend auf ihre Mutter, dass sie etwas erzählt hatte. "War mein Vater... war er da, als...", stotterte sie und Kevin legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Hey... keine Angst. Er war nicht da, als sie mir das gesagt hat. Sie macht sich Sorgen um dich... und ich glaube, das machen deine Brüder auch." Mit leicht glänzenden Augen schaute Jessy den fremden und doch so vertrauten Mann an, der nach aussen für sie wie eine Festung wirkte, an der sie sich nur festhalten musste. "Meinst du wirklich?", fragte sie unsicher. "Jessy... deine Brüder haben dich von deinem Vater befreit. Sie haben jahrelang auf dich aufgepasst. Glaubst du, das ist Vergessen weil du jetzt in ihren Augen einen Fehler gemacht hast?" Kevin lächelte ein wenig, doch es war ein trauriges Lächeln. Im Prinzip hatten Jessys Brüder das getan, bei dem er versagt hatte, nämlich auf die kleine Schwester aufzupassen. Sein Lächeln wurde ein wenig bitter. "Wenn Janine solche Brüder gehabt hätte, würde sie noch leben.", meinte er leise und offenbarte sich keinesfalls als starke Festung. Jessy spürte genau, spürte es schon bei der ersten Begegnung, dass diese Selbstsicherheit eine bröckelige Fassade war, und sie Eintritt erhielt, das wahre Gesicht von Kevin zu sehen... und dass er sich immer noch Vorwürfe machte. "Sowas darfst du nicht sagen...", sagte sie obwohl sie keinerlei Ahnung hatte, was damals passiert war. Und sie fragte auch nicht, sie fand dass sie nicht das Recht dazu hatte.


    Für einige Minuten sagten sie nichts... sie saßen da, und schwiegen sich an, Kevin den Arm um Jessys Schultern gelegt, sie ihren Kopf wieder an seinen Körper gelehnt. "Was... was soll ich jetzt tun?", fragte sie dann irgendwann. Eine Frage, die sie sich so oft stellte, aber niemandem stellen konnte. Kevin dachte nach, was sollte er ihr sagen? Falsche Hoffnungen machen, oder die bittere Wahrheit sagen. Fakt war, dass sie, egal was sie tat, ihre Brüder verlieren würde. Selbst wenn Kevin so gut es ging versuchen würde, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen.... ihre Brüder mussten über die Klinge springen. "Ich kann nur versuchen, dich so gut es geht zu schützen.", sagte der junge Polizist leise, und es fiel ihm deutlich schwer. "Aber dafür musst du uns helfen, deine Brüder zu finden." Jessy erschrak und nahm den Kopf von Kevins Schulter, sah ihn ein wenig entgeistert an. "Ich soll meine Brüder verraten?", fragte sie ungläubig. "Jessy... nach euch wird bereits gefahndet. Früher oder später werden meine Kollegen euch finden und festnehmen, dann kann ich dir nicht mehr helfen. Mir fällt das auch nicht leicht." Das junge Mädchen spürte, wie ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. Ihre Gedanken überschlugen sich und ihr Puls schlug schneller. "Wenn du bei deinen Brüdern bleibst, kannst du all deine Träume begraben. Wenn ich dir helfen kann, dann hast du eine Chance, so wie ich sie hatte." Kevin sah das Mädchen an, und nun fasste sie den Mut doch eine Frage zu stellen. "Was meinst du damit?" "Ich war wie du. Ich war in einer Jugendgang, ich hab Drogen genommen und verkauft, ich hab Einbrüche gedreht... ich war kriminell. Und ein Polizist hat mir geholfen." Jessys Augen wurden größer, mit so einem Geständnis hatte sie nicht gerechnet, doch es würde ihre Entscheidung nicht einfacher machen. Sie drehte sich von Kevin weg, beugte sich nach vorne und stützte den Kopf mit den Armen auf den Knien ab. "Ich werde wirklich alles tun was ich kann, damit du mit nem blauen Augen davon kommst... vertrau mir.", hörte sie Kevins Stimme neben sich, ganz nah. Seine innere Stimme, die Kevin auslachte, hörte sie natürlich nicht. "Du blinder Vollidiot redest von Vertrauen, das du selbst zu niemandem hast.", sagte die innere Stimme und der junge Mann musste ihr recht geben.
    Jessy aber sah sich nicht in Stande, Kevin eine Antwort zu geben. Sie fühlte sich innerlich kaputt und müde, und sah Kevin noch einmal an. "Kann ich... vielleicht nur heute nacht hier bleiben?" "Na klar...", antwortete Kevin in der Hoffnung, dass sie sich morgen früh ausgeschlagen dafür entscheiden würde, ihnen zu helfen. Er sah noch, wie Jessy die Schuhe auszog und sich seilich auf die Couch lag. Sie war müde, und ihr schienen die Augen augenblicklich zu zu fallen. Der junge Polizist stand auf, nahm aus seinem Schlafzimmer Wolldecke und ein Kissen, und als er die Decke über das junge Mädchen lag, schien sie bereits in einen Halbschlaf versunken. Kevin ging vor ihr in die Hocke, und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, bevor er ihr einen sanften Kuss auf die Stirn gab. Jessy spürte es, und lächelte sanft während ihr die Tränen in die Augen stiegen.



    Kevin's Wohnung - 4:00 Uhr


    Jessy war aufgewacht und hatte zuerst nicht gewusst, wo sie sich befand. Der Mond schien nun durch das Wohnzimmerfenster und schemenhaft konnte sie die Küche erkennen. Sie hatte ungut geschlafen, schlecht geträumt und sich immer wieder die Frage gestellt, ob sie wirklich im Stande war, sich zwischen Kevin und ihren Brüdern zu entscheiden. Andreas und Thomas begegneten ihr immer wieder im Traum, wie ihren Vater, der sich an ihr vergangen hatte, verprügelten und Jessy aus dieser Hölle gerettet hatten. Sie fasste einen Entschluß, den sie schon teilweise gestern abend gefasst hatte.
    Leise, ohne Geräusche zu machen stand sie von der Couch auf und schlich durch die Tür ins Kevins Schlafzimmer. Auch hier fiel der Mond ins Zimmer, und das Mädchen konnte den Polizisten genau erkennen. Er lag auf dem Rücken, hatte ein paar Schweißtropfen auf der Stirn, und das Bett wirkte zerwühlt, gab es seinen nackten Oberkörper zur Hälfte preis. Jessy sah, dass er unruhig schlief, und etwas schneller atmete. Ein paar Tränen liefen ihr über die Wange bei dem Gedanken daran, ihn vielleicht nie wieder zu sehen, und sie tropften auf sein Gesicht als sie ihm, fast berührungslos, ihre Lippen nun ihrerseits auf die Wange drückte. Geräuschlos verließ sie dann die Wohnung, und zog die Tür hinter sich zu.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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