Wellness ganz anders

  • Die Chefin war sofort ans Telefon gegangen, als sie sah, dass Semir sich meldete. „Herr Gerkan, wie geht es ihnen denn?“ fragte sie. Natürlich hatte Susanne, als sie die morgendliche Übergabe gemacht hatte, detailliert von den Geschehnissen der Nacht erzählt und Kim Krüger hatte sowieso vorgehabt, im Laufe des Tages im Krankenhaus vorbeizufahren, um sich nach ihren Männern und deren Familien zu erkundigen. „Wissen sie denn schon Bescheid, was heute Nacht los war?“ erkundigte sich Semir und die Chefin bestätigte das. „Mir und meiner Familie geht es soweit gut, was man von Ben und seiner Partnerin nicht behaupten kann!“ erklärte Semir. „Ich habe hier das Beweismittel, mit dem Sarah niedergestochen wurde, habe aber keinen Wagen zur Hand, der steht nämlich vor meinem Haus-oder viel mehr, was davon noch übrig ist!“ sagte Semir bitter. „Wissen sie was, Gerkan, ich würde gerne selber kommen, habe aber erst nachmittags Zeit. Ich schicke ihnen aber Bonrath, der soll sie zu sich nach Hause fahren, damit sie wenigstens ihren Wagen haben und dort nach dem Rechten sehen können. Wissen sie denn schon wo sie in der nächsten Zeit wohnen können?“ fragte Kim Krüger aber Semir war gerade dabei den Kopf zu schütteln, als ihm einfiel, dass die Chefin das ja gar nicht sehen konnte. „Nein, darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht!“ sagte er und die Krüger sagte daraufhin: „Wir haben so viele Schutzwohnungen in Köln, da werden wir schon etwas Passendes für sie finden, bis sie wissen, wie´s weitergeht!“ und Semir bedankte sich erst einmal.


    Es dauerte gar nicht lange und Dieter bog mit dem Streifenwagen vors Krankenhaus. „Mensch Semir, was hört man von euch denn für Sachen?“ fragte er betroffen, als Semir zu ihm in den Wagen stieg. Der zuckte mit den Schultern. „Die vergangene Nacht war ein einziger Alptraum, ich hätte beinahe Alles verloren, meine Frau, meine Kinder und meine besten Freunde, ganz zu schweigen von meinem Besitz!“ sagte er und lehnte sich im Beifahrersitz zurück. Je näher sie seinem Wohnviertel kamen, desto schweigsamer wurden sie. Als sie in die Straße einbogen, hatte sich Semir fast darauf eingestellt, dass sein Haus bis zu den Grundmauern niedergebrannt sei, aber er war dann ganz überrascht, als das von außen gar nicht so schlimm aussah. Ein einziges Feuerwehrfahrzeug stand noch vor dem Haus, bei dem drei Feuerwehrleute sich aufhielten. Als Semir ausstieg, kam der eine der Männer auf ihn zu. „Wir haben uns noch nicht kennengelernt!“ sagte er. „Sie sind sicher der Hausbesitzer! Wir, bzw. meine Kollegen von der Nachtschicht haben heute Nacht hier Feuerwache gehalten, damit es nicht zum Aufflackern eventueller Glutnester kommt, die wird auf jeden Fall noch über den Tag fortgeführt“ erklärte er. „Außerdem achten wir immer darauf, dass sich keine Unbefugten Zutritt zu den Häusern verschaffen. Wir haben auch gerade Pumpen laufen, die das Löschwasser aus dem Keller pumpen, um weitere Schäden am Gebäude zu verhindern!“ erklärte er und Semir sah eine Elektroleitung vom Nachbargrundstück herüberlaufen, klar, der Strom und das Gas waren sicher in der Nacht sofort abgestellt worden. „Ich würde ihnen raten, sich nun sofort mit ihrer Brandversicherung in Verbindung zu setzen, damit der Schaden schnellstmöglich geschätzt wird und die Sanierungsarbeiten beginnen können.“ sagte er und Semir, dem der Schock noch in den Gliedern saß, sah ihn beinahe fassungslos an. Er wusste im Augenblick noch gar nicht, wie es weitergehen sollte und ob sie nach diesem Erlebnis überhaupt noch in das Haus zurückwollten-das musste er erst mit Andrea entscheiden. Dann rief er sich allerdings ins Gedächtnis, dass das für den Feuerwehrmann, wie für ihn die Polizeiarbeit, ein gewohnter Ablauf war, dem der mit Routine begegnete und das war wohl auch gut so!


    In diesem Augenblick stürzte eine Nachbarin, deren Kinder im gleichen Alter wie Ayda und Lilly waren, aus dem Haus und kam auf ihn zu gerannt: „Semir, wie geht es Andrea und den Kindern-und natürlich dir? Als wir heute Nacht wach geworden sind, waren die Löscharbeiten schon in vollem Gange und wir haben nur noch gesehen, wie ihr weggebracht wurdet! Wenn ich euch irgendwie helfen kann-sag es nur!“ bot sie ihm an und Semir beantwortete nun erst ihre Frage. „Uns geht es allen miteinander gar nicht so schlecht. Andrea und die Kinder sind noch zur Überwachung in der Uniklinik, aber sie sind eher leicht verletzt!“ sagte er und die Nachbarin sagte herzlich: „Wenn du nichts dagegen hast, besuche ich sie mit meinen Kindern heute Nachmittag!“ und Semir beteuerte, dass die sich sicher darüber freuen würden.


    Voller Bangen betrat Semir nun in Begleitung des Feuerwehrmannes und Bonrath´s das Haus. Unten stank es fürchterlich nach Rauch, aber außer den schmutzigen Wasserspuren auf dem Boden war es hier gar nicht so schlimm. Langsam ging Semir die Treppe hinauf. Oben klaffte ihm an der Stelle, wo einst das Kinderzimmer gewesen war, eine ausgebrannte schwarze Höhle entgegen. Das Fenster war geborsten und innen war alles verkohlt, außerdem roch es nach verbranntem Fleisch. Semir musste sich beinahe übergeben. Ihm war zwar klar, wessen Körper man da aus dem Schutt geborgen hatte-die Umrisse konnte man quer vor der Stelle, wo einmal ein Kinderbett gestanden hatte, noch erkennen und der hatte es mehr als verdient, aber genauso könnte dieser typische Gestank auch von seinen Kindern und seiner Frau kommen. Wenn Josef nicht gewesen wäre, wäre hier das Grab seiner Familie gewesen! Josef-das würde das Nächste sein, was er tat, sich nach dem Retter seiner Familie erkundigen-hoffentlich ging es dem so einigermaßen!


    Semir ging nun nacheinander durch alle Räume. Oben war das Meiste verrußt, aber vielleicht konnte man einen Teil der Möbel sogar noch sanieren. Seine und Andrea´s Kleidung war völlig unversehrt, nur stank sie eben nach Rauch, nur von den beiden nebeneinanderliegenden Kinderzimmern war fast nichts mehr übrig. Von dort konnte man durch den Dachstuhl ins Freie blicken und die Feuerwehrleute hatten die Isolierung auch teilweise aufgemacht, um keine verborgenen Brände zu übersehen. Im Keller war das Wasser mehrere Zentimeter hoch gestanden-dort liefen gerade Pumpen, die es nach draußen beförderten. Gut, sie hatten Betondecken, die waren nicht beschädigt, aber das würden Fachleute entscheiden, was hier zu machen war. Gut war, dass alle wichtigen Papiere, die er im Arbeitszimmer im Keller aufbewahrt hatte, in einem dichten Metallschrank waren und daher nichts abgekriegt hatten. Mit zitternden Fingern holte er den Versicherungsordner hervor und ging mit diesem nun nach draußen. Im Wohnzimmer sah er in der Ecke noch zwei Puppen seiner Mädchen liegen-es waren ihre Lieblingspuppen-gut dass sie die gestern wohl nicht aufgeräumt hatten! Er holte auch die noch und dann war er froh, dass er diesen Ort momentan verlassen konnte.
    Anscheinend war er so weiß im Gesicht, dass Bonrath ihn sogar besorgt unterhakte. Draußen atmete er erst mal tief durch und aus den Augenwinkeln sah er ein ganzes Grüppchen besorgter Nachbarn, die gerade ihre Informationen ausgetauscht hatten. Er wählte nun zuerst die Schadenshotline der Brandversicherung und die Sachbearbeiterin versprach sofort einen Gutachter zu schicken. Dann bat er Dieter, doch für ihn herauszufinden, in welchem Krankenhaus Hintersteiner gelandet war, was dieser auch sofort erledigte.


    Aus der Menge der Nachbarn hatte sich ein Anlieger gelöst, mit dem Semir schon öfter mal ein Bierchen gezwitschert hatte. „Semir, wir sind sehr froh, dass ihr dieses Inferno überlebt habt! Als die heute Nacht eine Leiche abtransportiert haben, haben wir das Schlimmste befürchtet. Ich möchte euch unsere Wohnung im ersten Stock unseres Hauses anbieten. Da sind die Vormieter gerade ausgezogen. Wenn ihr da einziehen wollt, bis euer Haus wieder saniert ist-ihr seid herzlich willkommen!“ sagte er und Semir war sehr gerührt wegen der Besorgnis seiner Nachbarn. Er versprach, sich das durch den Kopf gehen zu lassen und als Dieter nun mit der Adresse des Krankenhauses zurückkam, in dem Hintersteiner lag, atmete er tief durch. Er würde jetzt nach vorne sehen-es war eh nicht zu ändern, was geschehen war.
    Mit dem Feuerwehrmann sprach er sich noch ab-der würde den Sachverständigen herumführen und ihm Bescheid sagen, damit der sich nach dem Rundgang bei Semir meldete. Dann tastete er nach dem BMW-Schlüssel in seiner Tasche und ging dann mit langsamen Schritten zu seinem Wagen. Im Kofferraum lag eine Plastiktüte mit Wechselklamotten für ihn und Ben, er hatte also im Augenblick etwas Sauberes zum Anziehen und das legte er in der Garage auch an. „Dieter, du kannst jetzt fahren-ich schaue jetzt erst nach dem Lebensretter meiner Familie und bringe nachher die Tatwaffe, mit der Sarah niedergestochen wurde, zu Hartmut in die KTU. Danke dass du mich abgeholt hast!“ sagte er und Dieter lächelte ihn an: „Ach Semir, falls ihr nicht wisst, wo ihr bleiben sollt, bis euer Haus wieder bewohnbar ist: Ihr seid herzlich eingeladen, du weißt, ich habe Platz genug!“ sagte er noch und Semir musste nun lächeln. Mit solchen Freunden, Nachbarn und Kollegen würde es weitergehen!

  • Semir gab nun die Adresse des Verbrennungszentrums ins Navi ein. Zuerst musste er noch den Sitz des BMW verstellen und es gab ihm erneut einen Stich. Wenn Josef nicht seine Gesundheit, wenn nicht sogar sein Leben aufs Spiel gesetzt hätte, hätte er heute keine Familie mehr. Ein Schaudern lief ihm über den Rücken. Und sogar den BMW-Schlüssel hatte er ihm noch entgegengestreckt, obwohl er doch schon so schwer verletzt gewesen war und sicher schreckliche Schmerzen gehabt hatte-einfach von Grund auf anständig und korrekt, dieser Bayer, kein Wunder, dass die Polizeiführung in München ihn dazu auserkoren hatte, eine Verschwörung aufzudecken, denn bei ihm konnte man sicher sein, dass er nicht bestechlich war!
    Wenig später war Semir in der Klinik eingetroffen und wurde zu der Intensivstation durch geschickt, auf der Josef versorgt wurde. „Gut dass jemand kommt!“ sagte der behandelnde Arzt, der sofort geholt wurde. „Er ist zwar bisher stabil, aber das kann sich bei Verbrennungsopfern schnell ändern-wir würden gerne eine Telefonnummer von Angehörigen haben, aber bei seinen Papieren hat er nichts dabei, was uns Aufschluss geben könnte und sein Handy ist leider gesperrt!“ erklärte er. Semir versprach, sich darum zu kümmern und als Polizist bekam er auch hier Auskunft über den Gesundheitszustand. Wenig später wurde er an eine Glasscheibe geführt, hinter der Josef schlafend, das Gesicht und die Arme von dicken Verbänden bedeckt, an der Beatmungsmaschine hing. „Bis jetzt hält er sich gut!“ erklärte ihm der Arzt. „Wir konnten die großflächigen Brandwunden mit Kunsthaut abdecken. Er wird sicher noch mehrfach operiert werden müssen, weil man jeden Tag wieder neue Stellen, die absterben, abtragen muss, aber weil er von Anfang an professionell versorgt wurde, hat er große Chancen, das zu überleben, wenn keine Komplikationen dazukommen. Er ist aus mehreren Gründen noch beatmet-erstens weil er seine Lunge durch das Einatmen der Dämpfe doch ein wenig geschädigt hat, aber nicht irreversibel und außerdem auch zur Schmerztherapie. Wir denken aber, dass wir ihn in ein bis zwei Tagen problemlos extubieren können. Um jede unnötige Keimbelastung zu vermeiden, können im Moment noch keine Besucher direkt zu ihm, aber er schläft ja sowieso!“ sagte er und Semir nickte-das war einleuchtend. Er legte seine Hand an die Scheibe, sah auf den dicken Bayern, der sein Bett ganz schön ausfüllte und flüsterte: „Danke, Josef!“ bevor er sich zum Gehen wandte.
    Er ließ sich von der Schwester noch die Durchwahl geben und versprach, dass in Kürze jemand die erforderlichen Daten durchgeben würde. „Außerdem war das ein Arbeitsunfall-er wurde in Ausübung seiner Dienstpflicht verletzt!“ fiel ihm dann noch ein und die Schwester versprach ihm, das formal zu regeln-so etwas war gerade im Hinblick auf eine spätere Reha wichtig, außerdem hatte man keine finanziellen Einbußen während der Krankheit zu befürchten.


    Nachdenklich stieg Semir wieder in seinen Wagen und fuhr nun zur KTU, um Hartmut das Messer auszuhändigen.Der Rotschopf war gerade dabei, gemeinsam mit einem Kollegen im weißen Schutzanzug, den goldenen Mercedes zu untersuchen. „Semir, wie geht´s dir und allen anderen?“ fragte er und Semir zuckte mit den Schultern. „Ich denke, mir geht´s noch am besten von allen!“ sagte er. „Ich habe aber auch am wenigsten Rauch eingeatmet und außer einer Schnittverletzung am Oberarm habe ich auch keine Blessuren davongetragen. Andrea und die Kinder sind noch im Krankenhaus, aber ich denke, die werden bald entlassen werden, die sind körperlich jetzt nicht allzu schwer verletzt, aber sie haben sicher ein Trauma erlitten. Bei Hintersteiner war ich gerade in der Verbrennungsklinik, wenn er Glück hat, wird er das auch einigermaßen überstehen, aber am Schlimmsten hat es Sarah und Ben erwischt!“ sagte er und Hartmut sah ihn fragend an.


    „Als Josef und ich vergangene Nacht in Ben´s Wohnung gekommen sind, fanden wir die beiden gefesselt im Schlafzimmer vor. Ben hatte zuvor anscheinend noch mit dem Chemiker gekämpft, so sah es wenigstens aus und er hatte auch eine kleine blutende Verletzung. Sarah war aufs Bett gebunden und der Verbrecher wollte ihr gerade den Bauch aufschneiden, vermutlich um sie und das Baby zu töten. Hintersteiner hat den Irren angeschossen, aber leider nicht richtig erwischt und so konnte er, nachdem er mich mit einem Messer verletzt hatte, erst einmal fliehen. Ich dachte erst, Ben wäre nicht allzu schwer verletzt, er saß auch im Stuhl und sollte anscheinend zusehen, wie Sarah aufgeschnitten wurde…“ nun brach Semir´s Stimme einen Moment und Hartmut beeilte sich, ihn zu einem Stuhl zu befördern und ihm eine Tasse Kaffee in die Hand zu drücken. Man merkte gerade, wie Semir von den Erinnerungen überrollt wurde. Welche schrecklichen Minuten sein Freund da wohl durchlebt hatte?
    „Aber gerade als ich mich um Sarah kümmern wollte,“ fuhr er fort „hat sie mich völlig panisch darauf hingewiesen, dass Ben Schlangengift gespritzt gekriegt hat und plötzlich nicht mehr atmen konnte. Ich habe ihn losgebunden und beatmet, bis endlich Hilfe kam. Währenddessen wurde Sarah immer instabiler und inzwischen weiß ich auch warum-der Verbrecher hatte sie mit diesem Messer“-das er Hartmut mitsamt der Tüte hiermit überreichte-„ schwer an einem großen Blutgefäß im Bauch verletzt. Sie wäre beinahe verblutet und konnte nur durch eine Notoperation gerettet werden-vorerst! Die Ärzte haben mir gesagt, wenn sie die nächsten zwei Tage übersteht, besteht Anlass zur Hoffnung, aber noch sind die nicht vorbei!“ erzählte Semir unglücklich. „Und Ben-ist der inzwischen wieder wohlauf?“ wollte Hartmut nun wissen, aber Semir schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil, der ist immer noch beatmet und als ich heute Morgen nach ihm geschaut habe, sah er schrecklich aus, so eingefallen und krank und er hat immer noch nicht reagiert!“ erklärte er Hartmut.


    Der erhob sich nun und holte ein Kästchen her, das er Semir zeigte. Als er es öffnete, sah man darin fünf Ampullen in jeweils einer Halterung, die sechste fehlte. Die Ampullen waren mit Punkten in drei verschiedenen Farben gekennzeichnet und auf der anderen Seite des Kästchens waren einige Einmalspritzen und Nadeln. „ Das haben wir im Handschuhfach des Mercedes gefunden. Ich denke, Ben hat den Inhalt der sechsten Ampulle gespritzt gekriegt-aber was war da drin?“ sinnierte Hartmut. „Sonst haben wir bisher außer Wechselkleidung eine Menge Zeug gefunden, um sein Aussehen zu verändern, dazu mehrere Reisepässe auf unterschiedliche Namen-ich denke, der Chemiker hat seine Flucht im großen Stil vorbereitet. Wenn die jetzt aber im Krankenhaus nicht vorankommen mit der Suche nach dem Gift, dann werde ich jetzt alles andere für den Augenblick liegen und stehen lassen und den Inhalt dieser fünf Ampullen analysieren!“ beschloss er. Das wäre doch gelacht, wenn er nicht herausfinden konnte, wie man seinem Kollegen helfen konnte!
    Während Hartmut sich sofort an die Arbeit machte, fuhr Semir in die PASt, um der Chefin Bericht über den momentanen Stand der Dinge zu erteilen und die Personalien von Hintersteiner´s Angehörigen herausfinden zu lassen. Hoffentlich würde sich bald Alles zum Guten wenden!

  • Im Krankenhaus meinte Ben wahnsinnig zu werden. Inzwischen war die große Visite bei ihm eingetroffen. Obwohl er es nicht sehen konnte, fühlte und hörte er, wie sich das Zimmer mit Menschen füllte. Er hatte diesen Ablauf ja nun schon ein paarmal mitgemacht und erkannte auch so manche Stimme. Der Stationsarzt begann zu berichten: „Herr Jäger, den wir ja erst gestern entlassen haben, wurde heute Nacht erneut mit einer unklaren Intoxikation eingeliefert. Laut Aussage des Notarztes habe er eine unbekannte Substanz-die Rede war sogar von Schlangengift-gespritzt gekriegt. Er war schon intubiert und beatmet, als er eintraf, bekommt keinerlei Sedierung, zeigt aber auch keine Reaktionen. Nur der Pupillenreflex funktioniert!“ erklärte er seinen Kollegen und Ben fühlte nun, wie seine Augenlider gehoben wurde und ihm jemand mit einer grellen Lampe in die Augen leuchtete und ihn so blendete. „Die gängigen Screenings auf Opiate in Blut und Urin waren alle negativ, also wissen wir wie beim letzten Mal nicht, was er in sich hat und was diesen komatösen Zustand auslöst!“ erklärte er seinen Kollegen. Der Chefarzt besah sich die Laborwerte, fasste Ben nochmals an, kniff ihn ein wenig und konstatierte eine schlaffe Lähmung. Dann sagte er: „Wie ich sehe ist er kreislaufstabil, eher bradykard und reagiert nicht einmal mit einem Anstieg der Herzfrequenz oder des Blutdrucks auf Schmerzreize. Anscheinend ist er sehr weit weg. Auch sehe ich an der Maschine keinerlei Eigenatmung. Bitte einen Neurologen zuziehen und sonst können wir nur hoffen, dass das weitere Tox-Screen irgendetwas zutage bringt. Gut, beim letzten Mal hat sich sein Zustand ja auch von selber mit den gängigen intensivmedizinischen Maßnahmen gebessert, nun hoffen wir einfach darauf, dass sein Körper das Teufelszeug auch diesmal wieder selbstständig abbaut. Wie ich sehe, hat er seit heute Morgen aufgefiebert, ich würde vorschlagen, wir geben ihm weiter das Breitbandantbiotikum i.v. , das er gegen die Pneumonie bisher oral bekommen hat, anscheinend flackert die gerade wieder auf.“ ordnete er an und dann zog der Ärzteschwarm weiter.


    Ben blieb völlig verzweifelt zurück. Er hatte versucht, irgendwie mit den Augen zu rollen, oder sonst ein Zeichen von sich zu geben, damit die merkten, dass er wach war, aber nicht nur seine Lider, sondern auch die Augenmuskeln waren gelähmt. Inzwischen hatten sich die Ganzkörperschmerzen noch durch massives Bauchweh vermehrt. Er hätte zu gerne die Beine an den Bauch gezogen, so weh tat das, aber er konnte keinen Muskel rühren. Die morgendliche Ganzkörperpflege war eine einzige Tortur gewesen, als man seinen Bauch gewaschen hatte. Er wollte die Hände wegschlagen, um Hilfe betteln, aber nichts geschah, so sehr er sich auch anstrengte!
    Wenig später kam ein Neurologe und auch der untersuchte seine ganzen Reflexe, die wunderbar funktionierten, außer dem Schluck-und dem Hustenreflex, weil die ja von Muskelarbeit abhängig waren. Der Stationsarzt kam gerade dazu, als er den Patellarsehnenreflex mit einem kleinen Hämmerchen auslöste und sah interessiert zu, was sein Kollege so machte.„Ich weiß ja nicht, aber ich finde das extrem merkwürdig, dass derselbe Patient zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit mit einer unklaren Vergiftung eingeliefert wird. Angeblich wurde ihm diesmal, wie auch beim letzten Mal, ein Mittel unfreiwillig gespritzt, aber für mich ist das ein wenig zu viel Zufall. Ich denke ja eher, dass wir es hier mit einem kleinen Giftler zu tun haben, der mit Substanzen, die man im Internet bestellen kann, herumexperimentiert hat und jetzt was schief gegangen ist. Mir tut es ja für die kleine Schwester leid, die von diesem Typen auch noch ein Kind erwartet. Man weiß ja, wie sowas normalerweise endet!“ vertraute er dem Neurologen an, der zu dieser Theorie mit den Schultern zuckte. „Ich weiß nicht, ob man ihm das unterstellen soll, aber mir persönlich ist das auch egal!“ sagte er. „Ich mache hier meine Arbeit, schreibe ´nen Konsiliarschein raus und damit hat sich´s!“ erklärte er, desinfizierte seine Hände und erledigte den Schreibkram. Zurück blieb ein fassungsloser Ben, der sich nicht wehren konnte und zusätzlich zu seinen Schmerzen den Vermutungen und Unterstellungen hilflos ausgeliefert war!


    Semir hatte der Chefin Bericht erstattet und der Tagschichtsekretärin den Auftrag gegeben, Hintersteiner´s Angehörige zu ermitteln. Noch während Semir im Büro Kim Krüger´s war, hatte die über dessen heimatliche Dienststelle die Telefonnummer einer Schwester-Elfriede-herausgefunden und nach kurzer Überlegung griff Semir selber zum Telefon und erklärte der den Sachverhalt und gab ihr die Telefonnummer der Klinik. „Ich komme so bald wie möglich nach Köln!“ teilte die ihm entsetzt mit. „Ich muss das nur noch mit meinem Mann organisieren, aber dann setze ich mich sofort ins Auto und fahre los!“ erklärte sie und Semir gab ihr gleich noch die Adresse des Hotels, in dem Josef ja immer noch das Zimmer gemietet hatte. Vielleicht konnte seine Schwester das gleich übernehmen!
    Inzwischen war es später Vormittag geworden und Semir tätigte nun noch einige wichtige Telefonate. Er rief seine Schwiegereltern an, die aus allen Wolken fielen, als sie hörten, was passiert war und versprachen, sofort ins Krankenhaus zu fahren. „Und Semir-wenn Andrea und die Kinder entlassen werden-ihr könnt natürlich gerne bei uns wohnen, bis euer Haus wieder renoviert ist!“ sagte Margot herzlich und Semir fand das für die ersten Tage vermutlich eine gute Option für Andrea und die Kinder, dann waren die ein wenig aus der Schusslinie und konnten sich in vertrauter Umgebung erholen.
    Das nächste Telefonat galt Konrad Jäger, der versprach, gleich Julia zu verständigen und bei Gelegenheit im Krankenhaus vorbeizuschauen.
    Nun kam das heftigste Telefonat: Die Sekretärin hatte die Telefonnummer von Sarah´s Eltern herausgefunden und als Semir denen am Telefon erklärte, was passiert war, brach Sarah´s Mutter in Tränen aus. „Um Himmels willen, mein armes Kind!“ schluchzte sie. „Wir kommen sofort nach Köln und ich benachrichtige noch ihre Geschwister!“ teilte sie Semir mit. Der war nun selber fix und fertig. Dieter kam mit einem Kaffee und ein paar Keksen: „Semir, du musst dich ein wenig stärken, nicht dass du uns noch zusammenklappst!“ sagte er mitleidig und Semir aß und trank. Danach nötigte ihn Jenni, die auch gerade um die Ecke bog, sich ein wenig in den Ruheraum der PASt zu begeben. Semir streckte sich nur schnell auf der Liege aus und war binnen Kurzem eingeschlafen.

  • Hartmut hatte derweil begonnen, den Inhalt der Ampullen zu analysieren. Binnen Kurzem stand fest, dass das organisches Material war, was sich darin befand, aber die Zusammensetzung war ihm erst mal völlig unbekannt. Er hatte mit der einzelnen Ampulle begonnen, denn von der Logik her konnte man ja davon ausgehen, dass Ben dasselbe Mittel gespritzt bekommen hatte, wenn die Ampullen alle paarweise vorhanden waren. Oder die zweite Alternative war, dass es sich jeweils um Gift und Gegengift handelte. Hartmut kam zwar voran, aber langsamer, als er sich das vorgestellt hatte. Ihm war schnell klar, dass es sich tatsächlich um tierische Gifte handelte. Viele Enzyme und Polypeptide waren nachweisbar. Hartmut konzentrierte sich nun tatsächlich schwerpunktmäßig auf den Inhalt der einzelnen Ampulle, nachdem in den anderen gleichfarbigen Ampullen jeweils die selbe Substanz war, wie er nach kurzen Tests feststellen konnte. Immer mehr Inhaltsstoffe kamen zutage und Hartmut hatte sich die Seiten über Schlangengifte im Internet bereits intensiv angesehen. Je mehr Stoffe er entschlüsselte, desto mehr konnte er die Suche eingrenzen. Irgendwann unterbrach er die Analysen und begann auf Seiten namhafter Toxikologen, die sich mit Schlangengiften beschäftigten, zu suchen. Er musste das Rad nicht neu erfinden, sondern die bereits einwandfrei herausgefilterten typischen Substanzen nur einer speziellen Schlangenart zuordnen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie viele Forschungen und Untersuchungen es dazu gab, aber verschiedene Schlangengifte wurden in der Medizin eingesetzt. Man hatte damit Erfolge in der Krebstherapie, in der Herstellung von Mitteln gegen Bluthochdruck, in der Hämatologie und sogar in der Labordiagnostik. Der Renner auf dem Markt war allerdings der Einsatz der Gifte in der Kosmetik. Durch die teilweise muskellähmenden Substanzen erhoffte man sich faltenglättende Wirkung und so wie ja auch Botox, ein Nervengift, das aus Bakterien gewonnen wurde, zur Unterspritzung eingesetzt wurde, so testete man auch viele Schlangengifte in ihrer diesbezüglichen Wirkung. Es war schon Abend, als Hartmut endlich der Durchbruch gelang. Er konnte das Gift eindeutig einer speziellen, hoch giftigen Seeschlange zuordnen, die ausschließlich in Australien vorkam. Die sonderte ein Nervengift ab, das unter anderem neurotoxisch wirkte, also auf die Nervenzellen und so die Atmung lähmte. Zusätzlich wirkte es noch dämpfend aufs Herz und verursachte nebenbei stärkste Schmerzen. Die Symptome würden passen und so griff Hartmut nun, nachdem er noch einige Recherchen angestellt hatte, zum Telefon, um erst mal Semir zu informieren.


    Der war nach einem erholsamen Mittagsschlaf einigermaßen erfrischt gegen 15.00 Uhr aufgewacht. Er hatte fast ein schlechtes Gewissen deswegen, aber dann machte er sich klar, dass er ja die wichtigsten Dinge am Vormittag erledigt hatte. Alles andere würde nun auch ohne ihn laufen! Außerdem schmerzte die Schnittverletzung an seinem Arm und so nahm er dann doch eine der Schmerztabletten, die er vom Krankenhaus mitbekommen hatte. Als er nach einer Flasche Wasser endlich ins Auto stieg, steuerte er auch erst noch den nächsten Imbiss an, an dem er schon so oft mit Ben Mittag gemacht hatte. Würde das je wieder möglich sein?
    Nach einer kurzen Stärkung fuhr er dann nochmals zu seinem Haus. Irgendwann am Vormittag hatte der Sachverständige von der Versicherung angerufen, dass der Schaden geschätzt sei und man nun mit den Aufräumungsarbeiten anfangen konnte-wenn er wollte, würde er schon mal erste Sicherungsmaßnahmen einleiten und Semir hatte zugestimmt. Tatsächlich waren zwar einerseits noch die Feuerwehrleute anwesend, die bis zum Abend noch Feuerwache halten würden, aber auch eine Handwerkerfirma mit einer fahrbaren Hebebühne war da und deckte notdürftig das offene Dach mit Brettern und Folie ab, damit nicht beim nächsten Unwetter der Schaden ins Unermessliche stieg. Nachdem hier alles am Laufen war, machte sich Semir nun auf den Weg zurück ins Krankenhaus. Alle konnten ihn übers Handy erreichen und er musste jetzt dringend nach seiner Familie und seinen Freunden sehen. Unterwegs kaufte er noch ein paar Anziehsachen in einem Bekleidungsmarkt-wenigstens ein paar Shirts und Unterwäsche für sich und Andrea und zwei Jogginghosen waren sicher nicht verkehrt!


    Er stellte sein Fahrzeug auf dem Parkplatz ab, nahm die beiden Puppen heraus und machte sich auf den Weg zur Station. Dort wurde er freudig von Andrea begrüßt-seine Mädels hatten gerade kaum Zeit für ihn, denn sie machten gerade mit Oma ein Würfelspiel. Erst als sie ihre Puppen sahen, unterbrachen sie es kurz und drückten die liebevoll an sich. Nur Ayda bemerkte dann: „Papa, meine Annabelle stinkt!“ und nun musste Semir ihr Recht geben. Der Rauchgeruch war durchdringend. Margot sagte: „Wisst ihr was, ich wasche heute eure Puppen und dann kriegt ihr sie morgen ganz frisch und sauber wieder!“ und damit waren die Mädchen einverstanden. Alle drei hatten keinen Sauerstoff mehr über die Nasensonde und deshalb ging Semir mit seiner Frau, nachdem er ihr die Anziehsachen gezeigt hatte und Andrea sich umgezogen hatte, ein wenig auf dem Krankenhausflur spazieren. „Wie hat´s ausgesehen?“ fragte sie bang und Semir erzählte im Detail davon und auch von allen Hilfsangeboten. „Andrea, was denkst du? Sollen wir in unserem Haus bleiben, oder sind die Erinnerungen an gestern Abend zu belastend für dich und die Kinder?“ fragte er. „Du musst dich aber nicht sofort entscheiden!“ erklärte er ihr noch, aber Andrea hatte sich dazu schon ihre Gedanken gemacht. „Ich denke, dass ich schon wieder in unser Haus zurück will, wenn das möglich ist. Wir haben uns dort immer sehr wohl gefühlt, die Nachbarschaft ist nett, Schule und Kindergarten sind in der Nähe und die Mädchen haben auch ihre Freunde da-übrigens war Evelyn mit ihren Töchtern vorher schon zu Besuch da und hat Spielsachen und Kleidung für die Mädchen mitgebracht! Das Haus kann ja nichts dafür, was gestern passiert ist und der Verursacher ist tot. Ich denke, ich werde darüber hinwegkommen und die Kinder nach einer angemessenen Zeit sicher auch. Ich möchte dann nur eine Alarmanlage haben, wenn alles saniert ist, dann fühle ich mich sicherer!“ erklärte sie und Semir nickte. Er konnte mit dieser Entscheidung gut leben und alles andere wäre finanziell sicher auch sehr schwierig geworden. Er ging mit Andrea zurück zum Zimmer und sagte: „Ich sehe noch kurz nach Sarah und Ben, bevor ich wiederkomme!“ und Andrea nickte.


    Semir ging nun erst zur chirurgischen Intensiv und erfuhr dort, dass Sarah´s Zustand unverändert war. Einen kurzen Blick durfte er ins Zimmer werfen und an Sarah´s Bett saß ganz ruhig ein älteres Ehepaar und hielt ihre Hände-ah, Sarah´s Eltern waren eingetroffen! Danach ging er auf die andere Intensivstation. Als er draußen läutete und Ben besuchen wollte, bekam er aber die Auskunft durch die Sprechanlage: „Das ist leider nicht möglich, Herr Jäger ist gerade im OP!“

  • Ben war voller Verzweiflung zurückgeblieben, nachdem ihn der Neurologe untersucht hatte. Wenn die Ärzte von ihm so eine Meinung hatten, würden sie sich keine Mühe geben, die Ursache dafür zu finden, warum er sich nicht rühren konnte. Er dachte darüber nach, was er wohl verbrochen hatte, dass ihm das widerfuhr. Er würde hier unter Schmerzen krepieren, ohne zu wissen, wie es Sarah und seinem Kind ging. Eines war klar-denen ging´s nicht gut, wenn sie überhaupt noch am Leben waren, denn es war sicher: Seine Sarah hätte das nie einfach so hingenommen, dass man so einfach nichts machte. Wie beim letzten Mal, an das er sich eigentlich nicht erinnern konnte, was sie ihm aber erzählt hatte, hätte sie alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihm zu helfen und auch da war es Hartmut ja gelungen, ein Gegenmittel herzustellen. Die Tatsache, dass sie nicht zu ihm kommen konnte, bewies ihm, dass sie sehr schwer verletzt war. Wie er, wurde sie auch beatmet, hatte ihm Semir erzählt. Jetzt konnte er nur hoffen, dass wenigstens sie dabei nicht leiden musste, sondern ausreichend Narkosemittel bekam.
    Immer wieder dämmerte er weg, aber am endgültigen Einschlafen hinderten ihn die Schmerzen. Am Anfang war er sich sicher gewesen, dass die Schmerzwellen, die ihn regelmäßig durchfuhren, das Schlimmste waren, aber mehr und mehr kristallisierte sich nun der fürchterliche Bauchschmerz heraus. In ihm tobte es, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als es hinzunehmen. Semir konnte er keinen Vorwurf machen. Der war kein Mediziner-wenn die es nicht einmal bemerkten, dass er wach war, wie sollte dann Semir als medizinischer Laie seinen Zustand beurteilen?


    Alle zwei Stunden kamen Schwestern oder Pfleger, die ihn anders hinlegten, absaugten und kühl abwuschen. Er merkte selber, wie sein Fieber stieg. Dann war der nachmittägliche Schichtwechsel. Die Schwester, die ihn übernahm, kannte Ben. Sie war schon manchmal bei ihnen zu Hause gewesen und war eine enge Freundin Sarah´s. Sie ließ sich von der Frühschichtschwester Übergabe am Bett machen und nun erfuhr Ben wenigstens Neuigkeiten: „Ich bin vor dem Dienst noch auf der chirurgischen Intensiv gewesen!“ erzählte sie ihrer Kollegin. „Sarah ist tief sediert, aber kreislaufstabil. Wenn sie die ersten 48 Stunden überstanden hat, besteht die Möglichkeit, sie aufwachen zu lassen. Es ist zwar eine gefährliche Situation, aber sie hat alle Chancen, wieder gesund zu werden, denn die Zeit arbeitet für sie. Beim Kind hoffen sie eben auch, dass es nie mangelversorgt war, aber das wird sich erst nach der Geburt herausstellen, ob da irgendwelche Schädigungen entstanden sind, da kann man so früh keine Prognose abgeben!“ erklärte sie und Ben lauschte angestrengt ihren Worten. Gott sei Dank-die Neuigkeiten waren ja doch erfreulich! Zumindest was Sarah betraf. Er würde nie dieses letzte entsetzliche Bild vergessen, solange er die Augen noch offenhalten konnte. Sarah auf dem Bett gefesselt, mit einem Messer, das aus ihrem schwangeren Bauch ragte. Und mit dem Baby-nun, er hatte immer wieder beteuert, dass er diesen kleinen Wurm lieben würde, ob er perfekt war, oder nicht. Wenn irgendwelche Schädigungen auftraten, dann würde man das Kind eben fördern, soweit es möglich war, aber der Liebe seiner Eltern war es gewiss, ob behindert oder gesund und Sarah dachte da genauso darüber!


    Die Schwestern gingen weiter und wenig später hatten auch die Ärzte Schichtwechsel. Für Ben war ab sofort als Stationsärztin eine junge, engagierte Medizinerin zuständig. Der Doktor, der am Morgen für ihn mehr schlecht als recht dagewesen war, machte Übergabe am Bett. „Hier haben wir Herrn Jäger, der übrigens der Lebensgefährte von unserer Sarah ist. Du warst ja letzte Woche in Urlaub, daher hast du das nicht mitgekriegt. Er lag in der Vorwoche schon bei uns mit einer Vergiftung durch eine unbekannte Substanz. Er hatte da schwere Krämpfe, wir mussten ihn dialysieren und eine Pneumonie hatte er auch noch mitgebracht, aber dann hat er sich relativ schnell von selber erholt. Was das für eine Substanz war, konnten wir nicht herausfinden. Angeblich hatte er die von einem Dritten gespritzt gekriegt, aber du weißt ja, was man von solchen Behauptungen halten kann. Kaum ist er zu Hause, hat er die nächste Intoxikation, diesmal mit einer anderen Substanz, über die wir noch nichts Näheres wissen. Seine Freundin, die mit ihm in der Wohnung ist, wird schwer verletzt-also in meinen Augen klingt die Behauptung, das wäre ein Dritter gewesen, sehr dürftig. Ich denke eher, dass er mit unbekannten Drogen herumexperimentiert hat und dabei ordentlich auf die Schnauze gefallen ist. Vermutlich hat Sarah irgendein Dealer verletzt, vielleicht weil Herr Jäger nicht bezahlen konnte oder wollte und sie deckt ihn natürlich, weil sie ihn liebt, du weißt doch, was Sarah für eine Nette ist!“ erklärte er seine Vermutung zur Situation. Die junge Ärztin äußerte sich nicht zu den Verdächtigungen, sondern fragte detailliert ab, was denn schon vom Labor bekannt war. „Das übliche Tox-Screen auf Opiate, Metamphetamine usw. war negativ, wie beim letzten Mal auch. Die machen schon weitergehende Untersuchungen und Blut und Urin wurden auch weggeschickt, aber du weißt ja, das kann dauern, bis wir da einen Befund haben!“ erklärte er ihr. „Ach ja und die Entzündungswerte sind regelrecht explodiert, der Chef vermutet, dass seine Pneumonie, die ja noch nicht ausgeheilt war, aufgeflackert ist. Er kriegt das Antibiotikum iv, sonst soll er schon oral ernährt werden und weil er tief bewusstlos ist, haben wir ihn auch nicht sediert!“ erklärte er und dann gingen sie weiter zum nächsten Patienten.


    Als die Ärztin die gesamte Übergabe von ihrem Kollegen erhalten hatte, ging sie zu Ben zurück ins Zimmer. Der sah eigentlich nicht aus wie ein Junkie. Gut, da konnte man sich täuschen, aber sie konnte sich erinnern, dass Sarah, bevor sie sich vom Intensivdienst wegen ihrer Schwangerschaft hatte freistellen lassen, ihr mal erzählt hatte, dass ihr Freund bei der Polizei war. Sie beschloss, ihn nochmals gründlich durch zu untersuchen und das machte sie auch. Sie prüfte die Reflexe, hörte ihn ab und betastete seinen ganzen Körper von oben bis unten. Sein Fieber war inzwischen bei fast 40°C, aber sie konnte beim Abhören der Lunge keine absonderlichen Geräusche hören. Da würde sie noch eine Röntgenaufnahme veranlassen! Tatsächlich war ihr Patient völlig schlaff, trotzdem sprach sie mit ihm, als wenn er es verstehen würde. Sie vergab sich dadurch nichts und oft wurden Patienten mit einem Rest Bewusstsein durch eine beruhigende Stimme positiv beeinflusst. Gerade wollte sie das Pflaster von seinem Unterbauch lösen, um zu sehen, was für eine Wunde darunter war-dazu hatte ihr nämlich ihr Kollege gar nichts gesagt-ging in einem anderen Zimmer der Herzalarm los. Sie warf nur kurz das dünne Laken über ihren Patienten und rannte los, um im Nebenzimmer zu reanimieren. Dann vergingen die nächsten beiden Stunden damit, den anderen Patienten zu stabilisieren und zu verkabeln und erst am frühen Abend kam sie dazu, bei Ben ihre Untersuchung fortzuführen.


    Dem war inzwischen noch schlecht-furchtbar schlecht! Durch die Ernährungssonde tropfte die Sondennahrung kontinuierlich in seinen Magen und verursachte ihm schreckliche Übelkeit. Er hatte das Gefühl, jeden Augenblick brechen zu müssen, aber nicht einmal das geschah, weil die Muskeln, die dafür notwendig waren, ja ebenfalls gelähmt waren. Annika, Sarah´s Freundin pflegte ihn vorbildlich. Auch sie sprach immer mit ihm, wenn sie irgendetwas an ihm machte, aber Ben hatte durchaus den Verdacht, dass sie das eben einfach immer tat. Sie wischte seinen Mund mit feuchten Mundpflegestäbchen aus, wusch ihn kühl herunter und lagerte ihn sorgfältig, da drückte keine Falte! Aber die Schmerzen und die Übelkeit schlugen immer wieder wie eine Woge über ihm zusammen, da half keine noch so gute Pflege! Auch die Röntgenaufnahme der Lunge war inzwischen im Bett angefertigt worden, aber erst einige Zeit später hatte die engagierte Ärztin Zeit, sich die anzusehen. „Das ist merkwürdig-ich kann mir nicht vorstellen, dass das Fieber und die hohen Entzündungswerte von der Pneumonie kommen. Ich habe die Bilder verglichen, ich würde sagen, die ist schon fast weg!“ vertraute sie Annika an. Die stimmte ihr zu und sagte: „Ich kann auch kaum Sekret aus der Lunge absaugen, auch das spricht ja eigentlich gegen eine Pneumonie. Gut, das Fieber könnte ja auch von dem Gift kommen, aber woher sind dann die Entzündungszeichen, wie das hohe CRP?“ überlegten sie gemeinsam und nun setzte die Ärztin ihre Untersuchung fort. Sie hörte den Bauch ab und sagte: „Ich kann überhaupt keine Darmgeräusche wahrnehmen, stoppe doch bitte mal die Ernährung und häng´die Magensonde auf Ablauf!“ bat sie, was Annika auch gleich erledigte. Im Schuss kam die ganze Ernährung, die Ben bisher erhalten hatte, zurück und gleich wurde seine Übelkeit besser.
    Nun löste die Ärztin das Pflaster an seinem Bauch und sah entsetzt auf die Wunde, die von den Steristrips zusammengezurrt wurde. Man konnte sehen, dass da eine massive Entzündung ablief. Die Wundränder waren stark gerötet und kurz entschlossen entfernte die Ärztin die Strips. Im selben Augenblick klaffte die Wunde auseinander und eine Menge übles Sekret, das eindeutig nach Stuhlgang roch, entleerte sich daraus. Annika versuchte noch etwas unterzulegen, aber trotzdem war das Bett beschmutzt. „Lass das so!“ befahl die Ärztin. „Ich verständige einen Chirurgen!“ sagte sie, zog ihre Einmalhandschuhe aus, desinfizierte ihre Hände und griff zu ihrem Telefon.

  • Wenig später stand der diensthabende Chirurg im Zimmer und untersuchte die Bauchwunde. Er tastete sogar mit sterilen Handschuhen in die Tiefe. „Wie kommt er denn zu sowas?“ fragte er verwundert und nun beeilte sich die Stationsärztin den Grund und die Umstände von Ben´s Einlieferung zu erklären. Nun nickte der junge Arzt: „Na, da hat aber bei der Aufnahmeuntersuchung jemand geschlampt. Gut, dass er bewusstlos ist, das tut nämlich ganz schön weh-sieht aus wie `ne Messerstichverletzung!“ erklärte er. „Ich werde gleich meinen Hintergrund verständigen. Er muss sobald wie möglich laparotomiert werden!“ sagte er und die Ärztin nickte. Wenig später war das diensthabende OP-Team verständigt und der Operationsbeginn in einer Stunde angesetzt. Annika zog Ben noch Antithrombosestrümpfe an und setzte ihm ein grünes Häubchen auf. Das transportable Beatmungsgerät wurde am Bett befestigt, das man noch frisch bezog, wie der Transportmonitor und eine frei tropfende Infusionslösung. „Ein Wunder, dass er noch so kreislaufstabil ist, auch die Herzfrequenz verändert sich überhaupt nicht!“ bemerkte die Ärztin, die noch ihre Papiere ordnete. Dann ließ man Ben kurz alleine und machte eine andere Arbeit und als der Zeitpunkt gekommen war, fuhren Annika und die Ärztin los in den OP, um ihren Patienten dort abzugeben.


    Ben war erleichtert gewesen, als schlagartig seine Übelkeit nachließ. Als dann die Ärztin das Pflaster an seinem Bauch löste und die Steristrips entfernte, war auch das eine momentane Erleichterung gewesen, als sich das gestaute Sekret entleerte. Als die nun allerdings seinen Bauch noch systematisch abtastete, hätte er wieder schreien mögen vor Schmerz. Normalerweise hätte er jetzt seine Bauchmuskeln bretthart angespannt, aber nachdem das völlig unmöglich war, musste er eben die Schmerzen aushalten. Wenig später kam ein Mann-vermutlich der Chirurg, den sie gerufen hatte, ins Zimmer. Auch der drückte wieder auf seinem Bauch herum, was ihn zum Aufstöhnen gebracht hätte, wenn er nur gekonnt hätte. Nun ließ sich der von Annika sterile Handschuhe geben und Ben meinte vor Pein an die Decke gehen zu müssen, als er seinen Finger im Stichkanal versenkte. Danach konnte er kaum der Unterhaltung folgen, so sehr war er damit beschäftigt, irgendwie den furchtbaren Schmerz zu verarbeiten. Er bekam nur so viel mit, dass wohl einer geschlampt hatte und ihn nun jemand laparotomieren wollte. Was war das noch gleich? Er war ja kein Fachmann, aber dann fiel es ihm wieder ein. Die wollten ihm den Bauch aufschneiden. Um Himmels Willen und wenn er nun dazu keine Narkose bekam, weil alle dachten, er wäre so weit weg? Der Schweiß brach ihm aus und zusätzlich zu den Schmerzen überfiel ihn eine schreckliche Angst vor dem, was ihm nun bevorstand!


    Hartmut hatte endlich Semir erreicht, der gerade auf dem Rückweg von der Intensivstation zu Andrea war. Warum war Ben im OP? Bei welchen Komplikationen hatte er denn schon wieder hier geschrien, überlegte Semir fieberhaft, denn natürlich hatte er diesbezüglich über die Rufanlage keine Auskunft bekommen. Als sein Handy klingelte, ging er ran: „Hartmut, hast du was rausgefunden?“ fragte er, als er auf dem Display den Anrufer erkennen konnte. „Ja schon Semir-es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht!“ sagte der dann und begann nun mit lauter Fachtermini um sich zu werfen. Er referierte über die Analyseverfahren und viele andere Dinge, bis Semir ihn unterbrach: „Die Kurzform bitte, Hartmut, ich versteh sowieso nur Bahnhof von dem, was du mir gerade zu erklären versuchst!“ bremste er seinen Kollegen ein und nun rückte der allgemeinverständlich raus: „Also wenn wir davon ausgehen, dass in der Ampulle, die Ben gespritzt bekommen hat, das Gleiche war, wie in der anderen daneben, was laut Wahrscheinlichkeitsrechnung zu 75% naheliegend ist, dann war das das Gift einer seltenen australischen Seeschlange. Dieses Gift wirkt neurotoxisch, es hemmt praktisch die Weiterleitung der Nervenimpulse innerhalb des Muskels, was zu einer fortschreitenden Lähmung führt, die zuletzt auch auf die Atemmuskulatur übergreift und normalerweise bei den Opfern bei vollem Bewusstsein zum Tod durch Ersticken führt. Wenn man jetzt eine künstliche Beatmung vornimmt, wie bei Ben geschehen, kann man den Tod verhindern. Allerdings wird das Gift-das übrigens auch noch besondere Nebenwirkungen im Herz-Kreislaufsystem macht, aber die sind gerade nebensächlich-nur sehr langsam abgebaut, es dauert Tage bis Wochen, bis die Wirkung nachlässt. Ach ja und was ich noch sagen wollte: Die Betroffenen, die so einen Biss überlebt haben, haben übereinstimmend erklärt, dass sie die ganze Zeit bei vollem Bewusstsein waren und anscheinend auch schreckliche Schmerzen hatten!“ erklärte er und nun wurde es Semir ganz anders. War es möglich, dass Ben die ganze Zeit hellwach gewesen war und nicht von gnädiger Bewusstlosigkeit umfangen?
    „Und, Hartmut, kannst du nicht ein Gegenmittel, wie beim letzten Mal herstellen?“ fragte Semir nun bang und war schon dabei, wieder zur Intensivstation umzudrehen, um die Ärzte zu informieren. „Leider geht das nicht, denn Schlangenserum wird aus dem Blut von Pferden gewonnen, die über mehrere Wochen mit ansteigenden Dosen an das Gift gewöhnt werden und aus deren Blut dann das Gegenmittel gewonnen wird. Ich konnte nirgendwo in Europa auch nur eine Dosis des Serums auftreiben, allerdings gibt es in Australien, wo die Gefahr eines solchen Bisses ja eher besteht, durchaus mehrere Schlangenfarmen und Krankenhäuser, die es vorrätig haben. Allerdings sind wir uns ja nun beileibe nicht sicher, dass Ben wirklich dieses Gift gespritzt bekommen hat, vielleicht war auch etwas völlig anderes in der Ampulle!“ gab Hartmut zu bedenken. „Das ist völlig egal, Hartmut, wir müssen so ein Serum besorgen-Geld spielt keine Rolle-ich informiere jetzt die Ärzte!“ sagte Semir, der inzwischen an der Intensivstation wieder angekommen war. „Ich lege dich jetzt kurz weg, aber ich denke, ich werde dich in Kürze wieder anrufen, damit du dich von Fachmann zu Fachmann unterhalten kannst!“ sagte er aufgeregt und drückte vehement auf den Knopf der Rufanlage.

  • Ben war inzwischen im OP angekommen. Man legte ihn auf das Förderband der Schleuse und deckte ihn mit grünen Tüchern zu. Auf dem OP-Tisch hängte man die Beatmung und den Monitor um, schnallte ihn fest, damit er nicht herunterfallen konnte und fuhr ihn noch kurz in die Einleitung, bis die vorhergehende OP zu Ende war. Die übernehmende Anästhesistin hatte sich kurz Übergabe machen lassen und die Anästhesieschwester hatte die Papiere übernommen. Ben´s Kreislauf war völlig stabil, auch das Herz schlug eher langsam, dabei war er hochgradig aufgeregt. Verzweifelt versuchte er irgendetwas anzuspannen, damit man bemerkte, wie wach er war, aber es war vergeblich. Er hörte durch die nur halb geschlossene Schiebetür, wie im Saal die vorherige Narkose beendet und der Patient geweckt wurde. Man sprach freundlich mit ihm und der Mann hustete ein paarmal, um dann über die Ausleitung in die Schleuse gefahren zu werden. Von drinnen hörte man Instrumente klappern, die in metallene Entsorgungscontainer geworfen wurde. Die Saugergläser wurden erneuert und während sich die instrumentierende Schwester für die nächste Operation wusch, wischte die Putzfrau den Boden mit desinfizierender Lösung. Ans Narkosegerät kam ein frischer Filter und nun war der Saal bereit.


    Da der Patient schlief, unterhielten sich die Pflegekräfte über private Dinge und der Springer, also die nicht gewaschene OP-Schwester, reichte nun der instrumentierenden Schwester die einmal verpackten Materialien an, beginnend mit sterilen Kitteln, einem Abdeckset für die Tische und den Patienten und sterilen Handschuhen. Die neuen Instrumentencontainer wurden geöffnet und unter lautem Klappern entnahm die Schwester die momentan nach Standard benötigten Instrumente für eine Laparotomie und richtete die auf ihrem zweiten Tisch her. Eine Skalpellklinge wurde angereicht, ein Saugerschlauch mit Aufsatz und mehrere Tupfer, die die Schwester an langen Klemmen befestigte. Wenn im Bauch operiert wurde, kam kein Tupfer und keine Kompresse ohne Stiel zum Patienten, damit auch nichts in ihm vergessen wurde. Währenddessen wuschen sich die drei Operateure im Waschraum, das bedeutete, dass sie nach Schema mehrmals ihre Hände bis zu den Ellenbogen mit Desinfektionslösung, die sie sorgfältig einrieben, behandelten und so die Hautoberfläche keimarm machten. Dann traten sie in den Saal, wohin Ben inzwischen von der Anästhesieschwester mitsamt dem Tisch gefahren worden war, den man auf einem elektrisch verstellbaren Standfuß arretierte. Er wurde mit dem Narkosegerät verbunden und momentan bekam er nur eine schwache Lachgas-Sauerstoffmischung. Ben wurde ein wenig komisch, aber er war durchaus noch immer wach, wenn auch ein bisschen benebelt, wie nach ein paar Bier. Dann fühlte er, wie man die Tücher wegnahm, eine neutrale Klebeelektrode an seinem Oberschenkel befestigte und dann den provisorischen Verband abnahm, den Annika vorhin angelegt hatte. Die Operateure bekamen ihre sterilen Kittel und Handschuhe angezogen und in der Zwischenzeit begann der Springer Ben´s Bauch von den Brustwarzen bis über die Oberschenkel mit grelloranger Desinfektionslösung und Stieltupfern dreimal abzustreichen. Ben hätte schreien mögen, als ein wenig Desinfektionslösung in die Wunde lief, das brannte wie das Höllenfeuer! Zum Abschluss leerte man noch ein Schleimhautantiseptikum, das allerdings nicht brannte, in den Stichkanal und nun begannen die Ärzte Ben´s Bauch mit sterilen Klebetüchern abzudecken. Der wurde immer panischer, aber immer noch konnte er keinen Muskel rühren und fühlte überdeutlich jede Berührung.


    „Da haben die Kollegen in der Notaufnahme aber geschlampt!“ unterhielten sie sich dabei. „Wenn ein bewusstloser Patient eingeliefert wird, muss ich mir den doch genau anschauen. Das ist doch sonnenklar, dass man so eine Wunde zumindest Mal in die Tiefe beurteilen muss, oder einen Ultraschall machen. Die können froh sein, dass er nicht bei Bewusstsein war, sonst könnte er sie verklagen!“ sagte der Operateur und justierte noch mit zwei sterilen Handgriffen die OP-Leuchte, die nun unbarmherzig auf Ben´s Bauch strahlte. „Wie sieht´s aus, können wir?“ fragte er die Anästhesistin, aber bevor die ihm eine Antwort geben konnte, läutete schrill das Telefon in der Einleitung.


    Semir fühlte sich, wie auf glühenden Kohlen, bis endlich jemand über die Rufanlage antwortete. „Ich muss unbedingt den behandelnden Arzt von Ben Jäger sprechen!“ sagte er aufgeregt und da wurde er auch schon hereingebeten. Eine junge Ärztin trat lächelnd auf ihn zu, gab ihm die Hand und stellte sich vor. „Was gibt’s denn so Wichtiges?“ fragte sie freundlich und sah ihn aufmerksam an. „Meinem Freund und Kollegen Herrn Jäger wurde vermutlich das Gift einer australischen Seeschlange injiziert!“ sagte er schnell. „Wir haben im Wagen des Täters mehrere Ampullen gefunden, die unser Kriminaltechniker analysiert hat. Wenn mit einer hohen Wahrscheinlichkeit in der fehlenden Ampulle dieses Gift war, dann bedeutet das, dass Herr Jäger zwar am ganzen Körper gelähmt, aber sonst bei Bewusstsein sein könnte. Außerdem haben die Vergiftungsopfer anscheinend schreckliche Schmerzen, so hat das zumindest mein Kollege bei seinen Recherchen herausgefunden." fügte er hinzu.
    Nun wurde die junge Ärztin blass und griff sofort nach ihrem Telefon. „Hoffentlich haben die noch nicht angefangen!“ murmelte sie und wählte die Nummer des Operationssaals.

  • Ben hätte den Atem angehalten, wenn er gekonnt hätte, aber so blies das Narkosegerät rhythmisch das Luft-Lachgas-Gemisch in ihn, als die Narkoseärztin hintereinander zwei vorbereitete Spritzen in Ben´s ZVK entleerte. „Jetzt könnt ihr!“ sagte sie zum Operateur und der senkte im gleichen Moment das Messer auf den Bauch seines Patienten und erweiterte unter Sicht vorsichtig den Stichkanal so, dass man bequem mit beiden Händen in den Bauch fassen konnte. Die Anästhesieschwester, die ans Telefon gegangen war, kam wieder zurück in den Saal. „Die innere Intensiv hat angerufen, wir sollten damit rechnen, dass unser Patient wach und nur gelähmt sei. Sie wollte wissen, ob wir schon angefangen haben!“ erzählte sie vom Inhalt des Telefonats und die Narkoseärztin schüttelte den Kopf. „Was denken die denn von uns? Meinen die, dass wir einen komatösen Patienten ohne Analgesie operieren? Jeder bekommt bei uns eine anständige Narkose, ob wach, oder nicht. Immerhin kann man ja nie vorhersagen, wann ein Mensch aus der Bewusstlosigkeit aufwacht und wenn ich mir vorstelle, das geschähe mitten in einer OP-wie schrecklich! Ich könnte nachts nicht mehr ruhig schlafen, wenn sowas passieren würde. Man weiss ja auch bei bewusstlosen Patienten nie genau, was sie mitbekommen und gerade bei so unklaren Fällen wie diesem hier, muss man immer damit rechnen, dass da ein Rest Empfinden noch vorhanden ist!“ erklärte sie kopfschüttelnd und setzte sich dann auf den Stuhl, um im Narkoseprotokoll ihre Eintragungen zu machen.


    „Die haben noch gesagt, er hätte australisches Seeschlangengift gespritzt gekriegt, das neben einer kompletten Muskellähmung auch schreckliche Schmerzen hervorruft!“ erzählte die Narkoseschwester weiter und nun sagte die Anästhesistin ernst: „Ach du liebe Güte, dann hat der Patient vermutlich die ganze Zeit schon furchtbar gelitten, denn ich kann in den Akten nichts davon finden, dass er irgendein Opiat seit seiner Ankunft bekommen hat!“ sagte sie empört. Mitleidig strich sie Ben kurz mit den Fingerknöcheln über die Wange und flüsterte „Ab sofort dürfen sie ohne Schmerzen schlafen, bis man ein Serum gefunden hat, Herr Jäger!“ und nun erhob sie sich ein wenig, um über das hochgehängte grüne Tuch zu blicken, das das Operationsgebiet vom unsterilen Anästhesiebereich trennte. „Wie schaut´s denn im Bauch aus?“ fragte sie, denn der Sauger war nun schlürfend eingeschaltet worden und der eine Assistent saugte damit das Operationsgebiet frei. „Hier schwimmt die reinste Kloake!“ gab der Operateur Auskunft und nachdem man sah, dass das etwas Größeres werden würde, setzte man einen sogenannten Rahmen ein, an dem vier stumpfe Haken eingehängt wurden, die die Bauchdecke weit auseinanderzogen, um den zweiten Assistenten zu entlasten, der bisher mit einigem Kraftaufwand die Wundränder auseinandergezogen hatte. Der Operateur inspizierte den Bauchraum und bald hatte er das Leck am Dickdarm gefunden, wo das Messer eingedrungen war. Er übernähte es mit hauchfeinen Fäden und inspizierte dann noch den übrigen Darm, soweit er einsehbar war. Den Dünndarm, der in seinen Schlingen frei und lose im Bauch lag, holte er sogar vor die Wunde und inspizierte ihn Zentimeter für Zentimeter, bevor er ihn wieder in Ben zurücklegte. „Anscheinend ist es die einzige Verletzung!“ sagte er, „allerdings haben wir schon eine Vierquadrantenperitonitis, das bedeutete, dass das Bauchfell im gesamten Bauch hochgradig entzündet war, was man an den Fibrinauflagerungen und der Rötung mit Eiterstraßen erkennen konnte. Man spülte sorgfältig mit literweise steriler Ringerlösung den gesamten Bauchraum und entschied sich dann, einen sogenannten VAC-Verband anzulegen. Das bedeutete, dass man den Bauch nicht verschließen, sondern offen lassen würde, da man bis zum Abklingen der ersten Entzündungswelle und bis die Antibiotika wirkten, etwa alle zwei Tage wieder spülen würde. In die klaffende Bauchwunde wurde nach Entfernung der Haken und des Rahmens ein Silberschwamm eingelegt und dann eine dichte Folie darüber geklebt. Man schnitt in die Folie ein kleines Loch und klebte über dieses ein patentiertes Einmalschlauchsystem, das zu einer speziellen Vakuumpumpe führte, die intermittierend mit leisem Summen das austretende Sekret absaugte. Das war inzwischen die Standardmethode für offene Bauchbehandlungen und wenig später war die Operation beendet.
    „Ich würde ihn gerne auf die operative Intensiv übernehmen!“ sagte die Anästhesistin und der Chirurg nickte dazu. Dadurch hatte man seine chirurgischen Patienten beieinander und musste zu den Visiten nicht durchs halbe Haus wandern. So kam es, dass Ben nach Beendigung der Operation, gut sediert, im Nebenzimmer des Raumes landete, wo Sarah friedlich vor sich hin schlief.


    Semir war derweil wie ein Löwe auf und abgetigert. Er bekam mit, wie die Ärztin am Telefon jemandem die aktuellen Erkenntnisse durchgab und war nur froh, als die ihm dann mit einem erleichterten Lächeln mitteilte: „Herr Jäger hat natürlich eine Narkose und wird wie jeder andere versorgt! Die waren im OP fast ein wenig angesäuert, dass ich das unterstellen würde, sie würden Patienten ohne Narkose operieren!“ erklärte sie ihm und nun atmete er auf. Hoffentlich ging das alles gut und nun wählte er auf Geheiß der Ärztin vom Festnetztelefon aus Hartmut´s Nummer und reichte dann den Hörer an die Doktorin weiter, die nun aufmerksam den Worten des Kriminaltechnikers lauschte.

  • Hartmut erklärte wesentlich detaillierter als Semir die speziellen Wirkweisen des Giftes und die Ärztin sagte nach einer Weile nachdenklich: „Es ist nahe liegend, dass es sich tatsächlich um dieses Gift handelt. Zur Diagnosesicherung sollten aber die Mitarbeiter des Speziallabors, wohin die Proben gegangen sind, das noch einmal überprüfen. Allerdings wird da um diese Zeit wohl keiner mehr da sein!“ sagte sie nach einem Blick auf die Uhr-inzwischen war es 19.00 Uhr abends geworden. „Ich denke, wir sollten das Serum trotzdem bestellen, wir verlieren sonst nur Zeit!“ sagte Semir. Die Ärztin nickte nachdenklich. „Allerdings reißt mir mein Chef wegen der Kosten den Kopf ab, wenn ich das ohne Diagnosesicherung in die Wege leite. Normalerweise muss das von oben abgesegnet werden.“ erklärte sie. „Verstehen sie mich nicht falsch-natürlich bekommt jeder die beste Behandlung, aber die Kostenstelle würde jetzt abwägen, was uns günstiger kommt, der Serumkauf mit den Transportkosten, oder eine längere Beatmung, was ja vielleicht wegen dem aktuellen Krankheitsbild bei Herrn Jäger vermutlich sowieso gemacht werden muss!“ sagte sie nachdenklich. „Allerdings werden durch eine andauernde Muskelrelaxation-so etwas Ähnliches macht das Gift ja anscheinend-natürlich die Muskeln allgemein im Körper von Herrn Jäger unheimlich abbauen und er wird sicher viel länger brauchen, um wieder gesund zu werden und sich bewegen zu können!“ dachte sie nun laut nach, sehr unsicher, was sie nun tun sollte. Semir, der ihre Überlegungen schon nachvollziehen konnte, aber andererseits beinahe wütend wurde, dass es immer nur ums Geld ging, sagte nun kurz entschlossen: „Ich kann ihnen versichern, dass es absolut im Sinne von Herrn Jäger ist, wenn sie das Serum einfliegen lassen. Falls die Kosten nicht von einer anderen Stelle übernommen werden sollten-er ist sehr vermögend und wird das mit Sicherheit selber bezahlen, auch wenn sich jetzt herausstellen würde, dass das Serum nicht das Richtige ist und man es gar nicht verwenden kann!“ redete er ihr zu und machte sich innerlich schon darauf gefasst, zusammen mit Hartmut das Serum selber zu organisieren und wieder in einer Nacht- und Nebelaktion Ben ein Medikament zu spritzen, ohne Wissen der Ärzte, nur war diesmal keine Sarah da und er wusste doch nicht einmal, wie man so eine Spritze richtig aufzog und wohinein man da was injizieren durfte.
    Aber da sagte die junge Ärztin schon: „Ich denke, Herr Jäger hat durch unsere Unachtsamkeit hier in der Klinik schon so viel Leid ertragen müssen, ich werde das Serum jetzt bestellen!“ und dann nahm sie kurz entschlossen den Hörer wieder zur Hand.Hartmut hatte am anderen Ende mitgehört und gab ihr nun exakte Daten durch.


    Ein Krankenhaus in Melbourne hatte das Serum vorrätig und obwohl es nach deren Ortszeit ja jetzt fünf Uhr morgens war, hatte die Ärztin wenig später jemanden am Telefon, mit dem sie in fließendem Englisch längere Zeit konferierte. Semir wischte sich innerlich den Schweiß von der Stirn-er hatte schließlich nur rudimentäre Englischkenntnisse und dieses Gespräch hätte ihn jetzt maßlos überfordert. Mit einem Lächeln sagte die Ärztin kurze Zeit später: „Die verpacken jetzt in der Klinik das Serum in eine Kühlbox und schicken es dann mit einem Kurierdienst auf die weite Reise. Spätestens übermorgen früh, eventuell auch schon eher, haben wir es hier. Die haben mir auch noch andere wissenswerte Behandlungsdetails mitgeteilt, immerhin gehören bei denen Schlangenbisse zum täglichen Brot, während sowas hier in Deutschland ja eher selten vorkommt!“ erklärte sie und Semir machte sich danach aufatmend wieder auf den Weg zurück zu Andrea und den Kindern. Zuvor hatte er die Ärztin noch gefragt: „Was denken sie-wie lange wird die Operation bei Ben wohl dauern?“ und sie hatte gemeint: „Mindestens eine Stunde, vielleicht auch länger!“ und Semir beschloss, in einer Stunde wieder zurückzukommen, um nach Ben zu sehen.


    Im Zimmer zurück erwartete ihn eine Überraschung. Seine Chefin war zu Besuch. Sie hatte für die Kinder zwei Kuscheltiere mitgebracht und für Semir und Andrea ebenfalls eine Kleinigkeit. „Wie geht es Herrn Jäger?“ fragte sie, denn sie hatte von Andrea ja erfahren, wohin Semir verschwunden war. „Er wird gerade operiert-mehr weiss ich auch nicht!“ sagte Semir bedrückt und erzählte dann von dem Schlangengiftserum und dem aktuellen Stand der Dinge. Wenig später begannen die Kinder zu quengeln-sie waren hundemüde-und die Chefin verabschiedete sich mit vielen guten Wünschen. Semir und Andrea machten gemeinsam die Kinder für die Nacht fertig und nun kam Andrea erst dazu, Semir die neuesten Neuigkeiten mitzuteilen: „Vorhin war noch der Lungenfacharzt da. Er hat gemeint, wir könnten morgen entlassen werden und meine Eltern holen uns dann am Vormittag ab. Vorrübergehend werden wir uns bei Oma und Opa erholen, allerdings wäre es mir Recht, wenn du dich um die Wohnung kümmern würdest, die uns unser Nachbar angeboten hat. Dann sind wir im selben Viertel, es gibt keine Probleme mit Schule und Kindergarten und wir können die Sanierung unseres Hauses überwachen und auch sehen, was man noch verwenden kann und was nicht!“ teilte sie ihm ihre Überlegungen mit und Semir stimmte ihr zu. So war es auch ihm Recht. Das war dann eine klare Sache. Sie würden Miete für eine Wohnung zahlen und niemandem etwas schuldig bleiben.


    Er sah unauffällig auf die Uhr-eine Stunde war vorbei und ihn zog es jetzt wieder dringend zu Ben auf die Intensivstation. „Geh schon!“ sagte Andrea mit einem Lächeln und legte sich nun mit dem Buch, das ihr die Chefin mitgebracht hatte, in ihr Bett, um noch etwas zu lesen.Wenig später war Semir vor der Intensiv. Beide Türen standen weit auf und er trat, ohne zu überlegen, ein. Immerhin hatte er vorhin mit der Ärztin ausgemacht, dass er wiederkommen dürfe. Als er allerdings in Ben´s Zimmer trat, meinte er, dass es ihm den Boden unter den Füßen wegziehen würde. Die Beatmungsmaschine war abgerüstet, alle Einmalartikel waren verschwunden, ein Desinfektionseimer stand im Raum und das Zimmer war bereit, für den nächsten Patienten hergerichtet zu werden. Semir hielt sich noch kurz mit der Hand irgendwo ein und dann sank er langsam zu Boden und verlor das Bewusstsein.

  • „Herr Gerkan, Herr Gerkan! Aufwachen!“ war das nächste, was in sein Bewusstsein drang. Jemand tätschelte seine Wange und als er die Augen öffnete, sah er geradewegs in das Gesicht der jungen Ärztin, die ihn besorgt anblickte. Einen kurzen Augenblick wusste er nicht, wo er war, aber dann fiel es ihm siedend heiß wieder ein, was er als Letztes wahrgenommen hatte. „Was ist mit Ben? Ist er tot?“ fragte er bang, aber eigentlich ließen die getroffenen Maßnahmen keinen anderen Schluss zu.
    „Nein, wo denken sie hin, Herr Gerkan! Er wurde nur auf eine andere Station verlegt!“ erklärte die Ärztin. Semir plumpste gerade ein wahrer Felsbrocken vom Herzen. Langsam richtete er sich auf, wurde aber von der Ärztin genötigt, erst noch ein wenig am Boden sitzen zu bleiben. Eigenhändig maß sie seinen Blutdruck, der aber gerade dabei war, sich wieder zu stabilisieren. Auf die Anordnung der Doktorin brachte die Schwester ein paar Kreislauftropfen und eine Flasche Wasser, die Semir nun komplett austrinken musste, bevor er sich wieder erheben durfte. „Geht´s wieder?“ wurde er gefragt und er nickte. Er hatte sich auch nirgendwo angestoßen, nur die Aufregung über Ben´s vermeintlichen Tod, hatte ihm die Füße weggezogen und getrunken hatte er heute auch viel zu wenig.
    Kurz entschlossen sagte die Ärztin: „Ich bringe sie noch auf ihr Zimmer zurück!“ aber da schüttelte Semir vehement den Kopf. „Erst muss ich Ben sehen, ich kann sonst nicht glauben, dass er noch lebt!“ sagte er und die Ärztin seufzte auf. „Gut, dann gehen wir erst noch auf der chirurgischen Intensiv vorbei!“ und schon machten sie sich, nachdem die Ärztin der Schwester Bescheid gesagt hatte, auf den Weg. Sie hatte ja ein Telefon dabei und wenn in der Zwischenzeit ein Notfall auf der Station auftreten würde, würde man sie sofort verständigen und sie würde so schnell sie konnte an ihren Arbeitsplatz zurückrennen, während das Pflegepersonal schon zu reanimieren begann.


    Wenig später waren sie im anderen Stockwerk an der chirurgischen Intensiv angekommen. Die Ärztin öffnete die Tür und bat Semir kurz zu warten, holte ihn aber wenig später herein. Semir erkannte die Intensiv als die, auf der Sarah auch lag und tatsächlich war Ben nun friedlich schlummernd im Nebenzimmer untergebracht. Durch den geöffneten Türspalt konnte Semir im Vorbeigehen erkennen, dass Sarah´s Eltern anscheinend wieder gegangen waren, aber auch sie lag in tiefer Narkose schlafend da. Schnell trat Semir an Ben´s Bett und griff nach dessen Hand, die schlaff auf dem Laken lag, das seinen Körper bedeckte. Am Fußende des Bettes hing mit gelegentlichem Surren eine Pumpe mit einem großen Sekretbehälter, der bereits zur Hälfte gefüllt war. Sonst konnte Semir durch das Laken nichts erkennen. „Ben, ich bin so froh, dass du noch lebst! Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet!“ sagte er leise und streichelte dessen Hand. Von Ben kam keine Regung und der Stationsarzt der chirurgischen Intensiv trat nun hinter ihn und sagte: „Machen sie sich keine allzu großen Sorgen. Er ist bei uns in guten Händen. Er ist tief sediert und darf jetzt schlafen und seine Infektion auskurieren. Wenn das Schlangenserum da ist und bewiesenermaßen das Richtige ist, werden wir es ihm verabreichen und dann sehen wir weiter. Wichtig ist nur, dass er gerade keine Schmerzen hat. Bisher ist sein Kreislauf auch recht stabil, er bekommt viel Flüssigkeit und wird vermutlich noch eine ganze Zeit beatmet bleiben und intermittierend im OP gespült werden. Das Messer hatte den Dickdarm verletzt, der aber übernäht werden konnte. Jetzt steht im Augenblick die Peritonitis, also die Bauchfellentzündung im Vordergrund. Wir hoffen, dass die Antibiotika wirken, die wir begonnen haben zu verabreichen, aber was Herr Jäger gerade bekommt, ist eine Standardbehandlung und wir haben viel Erfahrung damit!“ erklärte er und Semir nickte.
    Gut war, dass Ben keine Schmerzen mehr hatte, denn wenn er nur daran dachte, dass er die letzte Zeit vielleicht alles mitbekommen hatte, ohne sich bemerkbar machen zu können, dann lief es ihm kalt über den Rücken. „Ben, schlaf gut, ich schaue morgen wieder nach dir!“ sagte er weich und löste sich dann zögernd vom Anblick seines Freundes.


    Die nette Ärztin hakte ihn unter und brachte ihn auf die Normalstation zu seiner Familie zurück. „Jetzt ruhen sie sich aus, das war heute alles ein wenig viel für sie!“ sagte sie mitfühlend, bevor sie sich in Richtung innere Intensiv verabschiedete und Semir nickte erschöpft. Kurz erzählte er Andrea noch, was passiert war, schlüpfte dann in T-Shirt und Jogginghose, putzte seine Zähne und kaum lag er im Bett, war er auch schon eingeschlafen. Andrea betrachtete lächelnd ihre schlafende Familie und wenig später löschte auch sie das kleine Leselicht, um zur Ruhe zu kommen.


    Spät am Abend traf noch Hintersteiner´s Schwester im Hotel ein und bezog das Zimmer ihres Bruders. Zuvor hatte Susanne das noch telefonisch geregelt, dass das in Ordnung ging. Sie hatte weiter Nachtschicht und hatte sofort auf den fragenden Anruf des Hotelmanagers reagiert. So wurden Josef´s Sachen zusammengepackt in die Ecke gestellt, das Bett frisch bezogen und eine erschöpfte ältere Dame fiel gegen Mitternacht nach einer langen Autofahrt in das Hotelbett. Gleich morgen früh würde sie ins Krankenhaus zu Josef fahren, aber jetzt war sie erst mal froh, dass sie gut angekommen war!

  • Als der nächste Morgen anbrach, lag Semir mit hochrotem Kopf im Bett. Er hatte zwar vor Erschöpfung die ganze Nacht geschlafen, aber als er aufwachte, merkte er, dass er Fieber bekommen hatte. Andrea, die kurz nach ihm wach wurde, fragte besorgt: „Schatz, was ist mit dir?“ aber er konnte ihr nur sagen, dass er sich mies fühlte und sein Oberarm weh tat. Als wenig später die Schwester hereinkam, alarmierte Andrea sie und die maß erst mal Fieber bei Semir. Er hatte über 39°C und die Schwester musste ihm helfen, zur Toilette aufzustehen, denn sonst wäre er umgefallen. „Ich verständige den Stationsarzt!“ sagte die Pflegekraft und so kam es, dass wenig später der diensthabende Arzt vor Semir´s Bett stand.


    Die Kinder waren inzwischen auch aufgewacht und von Andrea gewaschen und angezogen worden. Die waren munter, husteten wenig und die Verbrennungen schmerzten kaum noch. Sie bekamen noch ein wenig Nurofensaft und ihr Frühstück und bei ihnen und auch bei Andrea war alles in Ordnung.
    Der Arzt hörte Semir ab, und untersuchte ihn kurz durch aber insoweit war Nichts auffällig, als er allerdings vorsichtig mit behandschuhten Händen den Verband von Semir´s pochendem Oberarm entfernte, konnte man sehen, wo die Ursache für das Fieber herkam. Die Schnittwunde hatte sich heftig entzündet und im Hinblick auf die Kinder sagte der Doktor: „Das müssen wir uns in einem Behandlungsraum gründlich anschauen!“ und so wurde Semir wenig später im Bett aus dem Zimmer gefahren. Im Funktionsraum entfernte der Arzt die oberste Schicht Hautfäden und schon klaffte die Wunde auseinander. „Haben sie den Arm ruhig gehalten?“ fragte der Arzt den kleinen Polizisten, der die Lippen zusammenpresste, so weh tat das. Er schüttelte den Kopf und so bekam Semir erst unter Schmerzen die Wunde gespült, dann einen Zugang und eine Infusion mit Novalgin darin gelegt, Blut abgenommen und nachdem man einen Abstrich entnommen hatte, begann man mit i.v.-Antibiose. „Herr Gerkan, auch wenn ihre Familie heute entlassen wird, werden sie leider noch eine Weile unser Gast bleiben. Wenn eine Entzündung schon systemisch wird, also auf den Organismus übergreift und Fieber und Kreislaufprobleme verursacht, dann müssen wir uns da Sorgen machen. Wir werden sie weiter überwachen und ich verspreche ihnen, dass sie nach Hause dürfen, sobald es medizinisch vertretbar ist, aber nicht heute!“ sagte er streng und zu seiner eigenen Verwunderung nickte Semir, aber er konnte sich wirklich kaum aufrecht halten.


    So kam es, dass wenig später Semir ins Zimmer zurückgefahren wurde und selber seiner Familie mitteilte: „Ich muss noch ein bisschen dableiben, bis die Medikamente wirken!“ und nun wusste Andrea, wie mies sich Semir fühlte, sonst hätte er sicher mit ihnen das Krankenhaus verlassen. Man wandelte seinen vortägigen Ausflug in eine stundenweise Beurlaubung um und so kam es, dass ein fiebriger Semir wenig später Andrea und die Kinder verabschiedete, die vom Opa abgeholt wurden. Andrea hatte noch zwei Termine bei einem Kinderpsychologen des Klinikums ambulant am nächsten Tag bekommen, aber es bestand kein Anlass, die Kinder und sie weiter stationär zu behandeln, sie würden sich in häuslicher Umgebung besser erholen! „Mach´s gut Schatz und werd´ schnell wieder gesund!“ sagte Andrea und küsste ihn und auch die Mädchen drückten fest ihre neuen Kuscheltiere an sich und gaben dem Papa noch ein Bussi auf die stopplige Wange. „Papa, du stichst!“ sagte Lilly empört und nun musste Semir bei allem Kummer und Schmerzen doch ein wenig lächeln. „Ich ruf dich an!“ versprach Semir, aber als alle weg waren, drehte er den Kopf zur Seite und musste fast ein paar Tränen verdrücken. So hatte er sich den Beginn des neuen Tages nicht vorgestellt. Dabei hatte er doch so viel zu erledigen!


    Elfriede Maier, geborene Hintersteiner, war nach dem Frühstück in die Verbrennungsklinik aufgebrochen. Sie benutzte öffentliche Verkehrsmittel, denn der Kölner Stadtverkehr war ihr mehr als suspekt! Sie war schon stolz auf sich gewesen, dass sie mit ihren 67 Jahren die lange Fahrt mit dem Auto dermaßen gut bewältigt und dank Navi in der Nacht auch das Hotel problemlos gefunden hatte. Aber nun würde das Auto stehenbleiben und ein paar nette Kölner erklärten ihr das Prinzip des öffentlichen Nahverkehrs und halfen ihr auch, am Automaten die richtige Fahrkarte zu ziehen. So war sie wenig später mit U-Bahn und Straßenbahn unterwegs auf den weiten Weg in die Verbrennungsklinik. Als sie dort ankam, wurde sie freundlich von den behandelnden Ärzten und Pflegekräften begrüßt, die ihr auch sofort glaubten, dass sie Josef´s Schwester war-zu ähnlich waren sich die beiden stämmigen Bayern.
    „Sie dürfen sich gerne zu ihm setzen, allerdings müssen sie zwecks Infektionsvermeidung einen Isolierkittel, Haube, Mundschutz und Handschuhe tragen, um die Umgebung ihres Bruders möglich keimarm zu halten!“ erklärte ihr der behandelnde Stationsarzt. „Er bleibt zwar sicher heute noch beatmet, weil die Bronchien durch die eingeatmeten giftigen Dämpfe beim Brand ein wenig gereizt sind, aber die Sedierung ist recht flach, vielleicht kann er sie sogar erkennen!“ erklärte er ihr und als Elfriede wenig später grün vermummt auf dem Stuhl neben Josef Platz nahm, von dem man unter lauter Verbänden kaum etwas erkennen konnte, hatte sie den Eindruck, dass er sie kurz ansah und zufrieden lächelte, bevor er die Augen wieder schloss, um friedlich weiter zu schlafen. „Josef, dein Freund Herr Gerkan hat mir gesagt, du bist ein Held und ich bin stolz auf dich!“ sagte sie gerührt und tatsächlich nickte Josef nun ein wenig. Elfriede lehnte sich bequem in ihrem Stuhl zurück-sie würde ihren Bruder jetzt begleiten, solange es notwendig war, denn eine Familie musste zusammenhalten, wie man bei ihnen in Bayern sehr wohl wusste!

  • Der Tag ging ins Land. Semir lag fiebernd in seinem Bett und fühlte sich mies. Immer wieder versuchte er aufzustehen, aber sein Kreislauf machte nicht mit. Nachdem ihm ständig wieder schwindlig wurde, wenn er sich nur aufsetzte, akzeptierte er es endlich, dass er krank war und nichts, aber auch gar nichts tun konnte. Man gab ihm schluckweise zu trinken, aber essen wollte er gar nichts. Das Novalgin brachte ihn zum Schwitzen, er fieberte manchmal ein wenig ab, dann stieg das Fieber wieder, aber irgendwann verwischten Traum und Realität und er fiel in einen merkwürdigen Zustand, in dem ihm Alles egal war, er zwar schon noch wahrnahm, was um ihn herum geschah, aber es ihn nichts mehr anging. Die besorgten Ärzte und Schwestern um ihn herum wurden mehr und besahen seinen Arm, der immer stärker pochte und anschwoll. Wie durch einen Nebel erschien dann über ihm das Gesicht eines Arztes, der eindringlich zu ihm sagte: „Herr Gerkan, wir müssen sie nochmals operieren, damit sie ihren Arm behalten können!“ aber so richtig verstand er gar nicht, wen der überhaupt meinte, sondern schloss einfach wieder die Augen, denn um ihn herum begann sich alles zu drehen. Jemand zog ihm Antithrombosestrümpfe an und setzte ihm eine Haube auf. Sein Bett setzte sich in Bewegung und wie in einem Traum nahm er wahr, dass er auf eine Art Förderband gelegt wurde und dann waren um ihn herum nur noch grün gekleidete Menschen und dann schlief er ein.


    Hartmut war nach dem Telefonat mit der Ärztin nach Hause gegangen. Er hatte Alles in seiner Macht stehende getan, um das Schlangengift zu identifizieren und Hilfe für Ben zu organisieren. Er war sehr erleichtert gewesen, als man ihm mitgeteilt hatte, dass das Serum unterwegs war und konnte endlich seinen wohlverdienten Feierabend genießen. Am nächsten Tag ging er wieder seiner normalen Arbeit nach, bis ihn die Chefin am Nachmittag anrief. „Hartmut, ich wollte ihnen nur auch Bescheid geben-ich habe eben mit Frau Gerkan telefoniert-Semir geht es sehr schlecht, der wird gerade am Arm operiert und laut Aussage der Ärzte sieht es gar nicht gut aus-nur damit sie Bescheid wissen!“ sagte sie. Hartmut ließ wie vom Donner gerührt sein Telefon sinken. Semir? Was war jetzt auch noch mit Semir? Der war ihm gestern voller Elan erschienen, hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Ben zu helfen und jetzt plötzlich war er anscheinend selber sehr schwer krank. Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier und er konnte jetzt durchaus Feierabend machen, denn seine Überstunden gingen sowieso ins Unermessliche, weil er manchmal aus purem Interesse an einer Analyse länger machte. Er hatte jetzt das Bedürfnis, selber vor Ort nach seinen Freunden zu sehen, denn ihr Verhältnis ging über das von Kollegen weit hinaus. Kurz entschlossen verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern, stieg ins Auto und fuhr zum Krankenhaus.
    Dort fragte er sich durch und fand sich wenig später vor der OP-Abteilung im Wartebereich wieder, wo Andrea, Susanne, die ihre letzte Nachtschicht hinter sich gebracht hatte und die Chefin wie die Tiger auf-und abliefen. Auch Jenni und Bonrath standen hilflos dabei. „Was ist denn genau los?“ wollte er wissen und Bonrath sagte leise: „Vielleicht wird Semir seinen Arm verlieren!“ und nun wurde es sogar Hartmut beinahe schlecht. Das war ja schrecklich!


    In dem Labor, in dem Ben´s Blutproben zur Analyse waren, konnte man Hartmut´s Vermutung zu der Art des Schlangengiftes bestätigen. Wenn man wusste, nach was man suchte, vereinfachte es die Sache. Also war nun klar, dass Ben das Serum erhalten würde, sobald es da war. Es war planmäßig vom Labor zum Flugzeug gebracht worden und befand sich wenig später in Richtung Frankfurt , gut gekühlt, im Laderaum eines großen Interkontinentalflugzeugs, das noch am Abend MEZ, nach einer Zwischenlandung in Bangkok, in Deutschland ankommen würde.

  • Nach einer gefühlten Ewigkeit öffneten sich die Türen der Operationsabteilung und ein schlafender, aber nicht intubierter Semir wurde herausgefahren. Mit einem Seufzer der Erleichterung konstatierte Andrea, dass der Arm zwar dick verbunden, aber noch dran war. Sie sprang zum Bett, das aber seine Fahrt nicht verlangsamte und folgte ihm. „Ich bin seine Frau, wie geht es ihm?“ fragte sie bang. „Wir bringen ihn auf die Intensivstation. Momentan konnten wir den Arm erhalten, aber es ist noch nicht ausgestanden!“ erklärte der Arzt, der am Kopfende des Bettes lief. Semir öffnete kurz die Augen, nahm Andrea zwar wahr, aber dann schlief er sofort weiter. Der ganze Trupp folgte dem Bett, aber vor der Intensivstation war dann erst einmal Schluss. „Frau Gerkan, wir holen sie herein, sobald er erstversorgt ist, dann gibt ihnen der Chirurg auch Auskunft, aber bitte jetzt einen Moment Geduld!“ beschied ihnen der begleitende Anästhesist und wenig später schlossen sich die Schiebetüren hinter Semir und seinen Betreuern.


    Etwa 5 Minuten später kam ein grün gekleideter Doktor, der sich als der Arzt vorstellte, der Semir operiert hatte, zu ihr. Der Anästhesist hatte ihn kurz angerufen, damit er mit den Angehörigen sprach und so kam es, dass Semir´s Familie und seine Kollegen nun darüber informiert wurden, was überhaupt geschehen war. „Frau Gerkan-ihr Mann hat sich in die Schnittverletzung an seinem Oberarm anscheinend üble Keime eingefangen. Es ist eine Mischinfektion: Anaerobier, also Keime, die unter Luftabschluss wachsen und Aerobier sind im Abstrich nachweisbar. Normalerweise verläuft eine solche Infektion nicht so dramatisch, weil das Immunsystem da ein Wörtchen mitzureden hat, aber anscheinend ist das bei ihrem Mann gerade nicht voll auf der Höhe!“ erklärte der Chirurg. „Das ist auch kein Wunder!“ erklärte Andrea. „Seit einigen Tagen funktioniert mein Mann nur noch unter höchstem Stress. Er hat Dinge erlebt, die ein anderer in einem ganzen Leben nicht mitmacht-es würde mich nicht wundern, wenn auch sein Körper einfach mal streikt!“ beschied sie ihm. Der Chirurg nickte. „Das muss fast so sein, denn sonst bekommt normalerweise ein ansonsten gesunder Mann in den besten Jahren, ohne irgendwelche Vorerkrankungen keine nekrotisierende Fasciitis!“ erklärte er ihr und nun sah ihn Andrea fragend an. „Was ist das?“ wollte sie wissen. „Ich habe diesen Ausdruck noch nie gehört!“ fragte sie.„Das ist eine sehr ernstzunehmende Entzündung der Haut, der Unterhaut und der Faszie, die rasant fortschreitet und unbehandelt zu Sepsis und Tod führt. Die Keime breiten sich rasend schnell aus und die einzige Chance, die ein Erkrankter hat, ist , dass man das befallene Gewebe sofort großflächig abträgt und die Wunde weit eröffnet, damit der Druck weg ist und auch Luft drankommt-so können schon die sehr gefährlichen Anerobier nicht weiterwachsen. Bei ihrem Mann besteht eine Mischinfektion, wir wissen aus dem Abstrich zwar, mit welchen Erregern wir es zu tun haben, aber das Antibiogramm läuft noch, also ob die verabreichten Antibiotika die Richtigen sind, können wir noch nicht sagen!“ erklärte er ihr. „Wir können jetzt nur hoffen, dass wir das befallene Gewebe ausreichend weit ausgeschnitten haben und es ist durchaus möglich, dass ihr Mann noch mehrfach operiert werden muss, denn wir reagieren sofort, wenn die Infektion fortschreitet. Ich muss ihnen leider auch sagen, dass wir nicht zögern werden, notfalls den Arm zu amputieren, falls wir die Infektion nicht in Griff kriegen. Das könnte eventuell die einzige Chance sein, sein Leben zu retten!“ klärte er Andrea knallhart auf und Susanne musste sie unterfassen, so schwankte sie plötzlich. Das war ja entsetzlich! Alle Anwesenden starrten den Chirurgen fassungslos an. Da bedrohte ihren gemeinsamen Freund und Kollegen mit einem Mal eine Erkrankung, von der sie noch nie etwas gehört hatten und nun bestand die Möglichkeit, dass er seinen Arm verlor, oder gar daran starb!


    Als sich Andrea ein wenig gefasst hatte, fragte sie leise: „Kann ich zu ihm?“ und der Chirurg versprach auf der Intensiv nachzusehen, ob Semir schon soweit versorgt war. Tatsächlich kam wenig später eine Schwester heraus, lächelte Andrea an und sagte. „Leider können nur nächste Angehörige herein, Frau Gerkan-sie können meinetwegen zu ihrer eigenen Unterstützung eine Begleitperson ihrer Wahl mitnehmen, aber ich darf sie sowieso bitten, nicht allzu lange zu bleiben, denn ihr Mann muss sich ausruhen und seine Narkose ausschlafen!“ Andrea nickte und bat Susanne, sie zu begleiten. So standen sie wenig später nebeneinander im Patientenzimmer und als Andrea ihren Blick über den intubierten Patienten im Nebenbett schweifen ließ, hätte sie beinahe überrascht aufgeschrien. Da lag tief schlafend und friedlich Ben und trotzdem war sie irgendwie erleichtert, dass Semir nicht alleine war. Auch wenn Ben im Moment gar nichts machen konnte, aber alleine dessen Anwesenheit würde Semir gut tun!


    Sie trat an das Bett ihres Mannes, der sehr blass in den weißen Kissen lag. Sein Arm war auf ein großes Kissen hochgelagert, er hatte im OP anscheinend einen zentralen Venenkatheter, eine Arterie und einen Blasenkatheter bekommen, damit man ihn genau überwachen konnte. Er hatte eine Sauerstoffbrille auf und als sie ihm zart über die Wange strich, öffnete er mühsam die Augen, lächelte aber, als er sie erkannte. Er hatte immer noch hohes Fieber und wusste gar nicht genau, was mit ihm los war, aber er war mit Schmerzmitteln ausreichend gedopt und irgendwie fehlte ihm auch jegliche Kraft, sich auch nur dafür zu interessieren, was ihm eigentlich fehlte. „Schatz, wie geht´s dir?“ flüsterte Andrea und er sagte, von der Intubationsnarkose noch ein wenig heiser: „Geht schon, ich bin nur müde!“ „Dann schlaf!“ sagte Andrea mit Tränen in den Augen und als Semir folgsam die Augen wieder schloss, ging sie, gestützt von Susanne, wieder hinaus. Die Schwester gab ihr noch einen Zettel, auf dem Wissenswertes zu den Besuchszeiten und allgemeinen Gegebenheiten der Intensivstation stand und versprach, dass man Andrea sofort verständigen würde, wenn sich Semir´s Zustand verschlechterte. Sie bestätigte noch Andrea´s Handynummer und die dankte Gott, dass Semir gestern daran gedacht hatte, ihr Handy und Ladegerät von zuhause mitzubringen. Sie selber war noch nicht soweit, dass sie sich ihr Haus auch nur ansehen könnte, zu tief saß noch der Schock. Als sie nun zu den anderen trat, nahmen die sie fürsorglich in die Mitte und gingen mit zu Susannes Wagen-die hatte ihre Freundin nach dem Anruf des Krankenhauses bei ihren Eltern nämlich abgeholt. Unterwegs erzählte sie den anderen noch, wie Semir ausgesehen hatte, aber als sie dann im Wagen saß, weinte sie. Was wäre, wenn sie ihn verlieren würde?

  • Es wurde Abend und Semir wurde immer wieder kühl abgewaschen und gefragt, ob er Schmerzen habe, was er nur verneinen konnte, so gut war er mit Medikamenten versorgt. Er hatte bald bemerkt, dass er ja neben Ben lag und sah immer wieder zu ihm hinüber. Der schien friedlich zu schlafen, aber ob das auch stimmte? Irgendwie traute er der Sache nicht, denn was das Schlangengift so anrichten konnte, hatte ihm Hartmut ja in glühenden Farben geschildert. Er sah den Schwestern zu, wie sie seinen Freund immer wieder anders hinlegten, absaugten und neue Medikamente anhängten. Ohne Zudecke konnte er auch dessen Bauch mustern, der sehr merkwürdig aussah, weil man durch die durchsichtige Plastikfolie den zusammengezogenen Silberschwamm erkennen konnte und auch sah, dass die oberen Hautschichten auseinanderklafften. Als er allerdings eindringlich fragte, ob Ben auch wirklich nichts mit bekam, schüttelte die Schwester lächelnd den Kopf. „Herr Gerkan, ihr Zimmerkollege ist gut sediert. Er hat ausreichend Narkosemittel und Opiate, die ihm kontinuierlich über Perfusoren zugeführt werden. Sie müssen sich keine Sorgen machen, er spürt wirklich nichts!“ erklärte sie ihm und Semir hoffte, dass das auch wirklich wahr war. „Und wie geht es Sarah, seiner Lebensgefährtin und dem Kind?“ fragte er nach einer Weile, denn die lag dann ja wohl irgendwo ganz in der Nähe. „Auch die schläft und ist stabil, Herr Gerkan, jetzt kümmern sie sich doch bitte mal um sich, wir passen auf ihre Freunde schon auf!“ ermahnte ihn die Schwester und Semir schloss folgsam wieder die Augen.


    Irgendwann wurde das Schlangenserum mit dem Kurierdienst geliefert, aber weil es nun schon mitten in der Nacht war, entschied die diensthabende Ärztin, die Verabreichung auf den nächsten Morgen zu verschieben-jetzt kam es wohl auf ein paar Stunden auch nicht mehr an und sie hatte ja so gar keine Erfahrungen mit diesen Seren, wie bei ihnen wohl niemand, der nicht länger in einem Land gelebt hatte, in dem es viele Giftschlangen gab.


    Gegen Morgen begann Semir´s Arm trotz der Medikamente wieder zu pochen und als bei der nächsten Kontrolle die Schwester den Verband abnahm, war die Infektion weiter fortgeschritten. Die Wundränder waren schwarz und die danebenliegende Haut warf Blasen. Der diensthabende Chirurg wurde verständigt und es wurde festgelegt, dass Semir gleich in der Früh wieder operiert werden würde. Nach einer unruhigen Nacht voller Sorgen läutete bei Andrea das Telefon und der diensthabende Arzt teilte ihr mit, dass man ihren Mann leider erneut operieren musste, weil die Infektion weitergewandert war. So saß Andrea wenig später im Wagen ihrer Eltern und fuhr voller Bangen zur Uniklinik. Hörte das denn nie auf? Sie hatte inzwischen natürlich im Internet recherchiert und die Bilder darin hatten sie das Gruseln gelehrt. Auch stand dort, dass die Mortalität an dieser Erkrankung ziemlich hoch war und so hatte sie furchtbare Angst, was sie nun erwarten würde.


    Bei Sarah allerdings gab es Erfreuliches zu berichten. Ihre Werte waren alle stabil, aus den Drainagen kam nur wässriges Sekret ohne frisches Blut und als man noch eine Ultraschalluntersuchung machte, sah man, dass auch im Bauch keine freie Flüssigkeit mehr war. Das Baby schwamm zwar ebenfalls tief schlafend im Fruchtwasser, aber sein kleines Herz schlug regelmäßig und in der richtigen Geschwindigkeit, was besagte, dass es wieder gut versorgt war. „Wir werden dann ganz allmählich die Sedierungsmittel reduzieren und eine Extubation anstreben!“ beschlossen die behandelnden Ärzte und schon begann man die Perfusoren zurück zu schrauben.


    Auch Hintersteiner hatte eine ruhige Nacht verbracht und nachdem man die Brandwunden erneut versorgt hatte, es aber zu hoffen war, dass es momentan für ihn die letzte Operation gewesen sein würde-die kosmetischen Hautverpflanzungen würden erst später folgen-ließ man auch ihn aufwachen und weil er nach kurzer Zeit schon sehr gut spontan an der Maschine atmete und gezielt reagierte, zog man kurzerhand den Tubus heraus und als Elfriede am Vormittag zu Besuch kam, konnte sie sich bereits mit ihrem Bruder, der guter Dinge war, unterhalten. „Hast du was von meinem Freund Semir und seiner Familie gehört?“ löcherte Josef seine Schwester Frieda, aber die musste den Kopf schütteln. „Dann besorg mir mal mein Telefon, dann rufen wir ihn eben mal an!“ beschloss Sepp und als Elfriede die Plastiktüte mit den persönlichen Dingen ihres Bruders durchsuchte, kam tatsächlich das Handy heraus. Nachdem auf der Intensiv kein Netz zu bekommen war, ließen sich die beiden kurzerhand ein Festnetztelefon bringen und wählten gespannt Semir´s Nummer, aber außer der Mailbox ging keiner ran.

  • Als wenig später die große Visite kam, beschlossen die Weißkittel Ben gleich danach das Serum zu spritzen. Semir war schon in den OP abgerufen und eine Schwester ordnete gerade noch die Papiere und steckte die Monitore und Infusionen Semir´s auf Transportbetrieb, da nahm der Stationsarzt die gekühlte Spritze aus der Verpackung und injizierte sie komplett in Ben´s ZVK. Ein anderer Arzt schob gerade mit der Schwester Semir´s Bett aus dem Zimmer, da gingen plötzlich bei Ben eine Menge roter Alarme los. Semir rief trotz Fieber: „Halt, was ist mit meinem Freund?“ aber sein Bett wurde weiter auf den Intensivflur geschoben, während zwei Schwestern mit dem Notfallwagen in das Zimmer stürzten. Den Tränen nahe versuchte Semir aus dem Bett zu klettern, um zu seinem Kollegen zu eilen, aber der Arzt drückte ihn zurück. „Wir müssen jetzt in den OP, da wartet das ganze Team auf sie Herr Gerkan, es geht schließlich auch um ihr Leben!“ herrschte er ihn an. Semir rief völlig außer sich: „Aber was ist, wenn mit Ben jetzt etwas ist-ich würde mir nie verzeihen, wenn ich ihn alleine gelassen hätte, wenn er mich am Nötigsten braucht!“ begann er mit dem Arzt zu diskutieren, während sich sein Bett immer weiter vom Intensivzimmer entfernte. „Dann können gerade sie jetzt auch nichts machen. Meine Kollegen kümmern sich um ihn und glauben sie mir, wenn jemand mit Notfällen, egal welcher Art, umgehen kann, dann wir hier auf der Intensivstation. Legen sie sich jetzt zurück und vertrauen sie auf uns.“ sagte der nun etwas freundlicher und Semir legte sich tatsächlich mit Tränen in den Augen zurück.


    Klar hatte der Doktor Recht, aber er meinte doch, dass Ben seine Anwesenheit fühlen konnte, auch wenn er sediert war und er hätte ihm jetzt gerne beigestanden. Was war überhaupt geschehen? Der Arzt hatte das Mittel gespritzt und dann war es laut geworden, mehr hatte er nicht erkennen können.
    Bevor er sich versah, waren sie in der Operationsabteilung verschwunden und er lag auf dem Förderband, das ihn auf den Tisch transferierte. Das Letzte was er dachte, als er die Narkosespritze bekam war: „Ben, mach jetzt bloß keinen Scheiß!“ und dann schlief er ein. Er wurde problemlos intubiert und die nächste halbe Stunde revidierten die Chirurgen wieder die neu befallenen Stellen, spülten die Wunde mit antiseptischen Lösungen und legten jodoformgetränkte Tamponaden ein, was ein sehr altes Verfahren war, das schon seit vielen Jahren erfolgreich zur Behandlung infizierter Wunden eingesetzt wurde. „Das Gewebe, das wir bisher entfernt haben, kann der Körper vielleicht noch alleine ersetzen, wenn wir nochmals ran müssen, kann es sein, dass wir zur Deckung später eine Hautverpflanzung machen müssen!“ überlegte der Operateur und der Assistent meinte leise: „Na wenn wir den Arm überhaupt erhalten können!“ und das OP-Team schwieg betreten. Gerade eine Amputation bei jungen Menschen war eine schreckliche Operation, die niemand gerne machte, weil der Betroffene für sein Leben entstellt war. Aber manchmal war das doch notwendig, meist bei Knochenkrebsen oder bei Gangränen in den Beinen bei Diabetikern mit schweren arteriellen Verschlusskrankheiten, aber wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, schöpfte man erst alle anderen Möglichkeiten aus. „Hoffen wir, dass ihm das erspart bleibt!“ sagte der Operateur ernst und während der Anästhesist die Narkose ausleitete, wurde der Arm noch dick verbunden.


    Semir hatte kaum den Tubus los und begann gerade seine Gedanken zu ordnen, die immer noch träge von der Narkose reagierten, da fiel ihm siedendheiß Ben wieder ein. „Was ist mit meinem Freund?“ verlangte er heiser zu erfahren, aber die Umstehenden zuckten nur mit den Schultern-woher sollten sie das wissen? Voller Bangen fuhr Semir wenig später in seinem Bett wieder auf die Intensiv zurück. Was würde ihn da wohl erwarten?


    Sarah wurde langsam wach. Das letzte an was sie sich erinnerte, war die Schwäche und Angst um ihr Kind gewesen, als man sie in den OP gebracht hatte. Ohne sagen zu können warum, wusste sie aber, dass seitdem geraume Zeit vergangen war. Es war ruhig im Zimmer, aber sie bemerkte, spätestens als sie mühsam die Augen öffnete, dass sie auf einer Intensivstation war. Sie erkannte die Geräte, aber nun musste sie sich noch ein wenig ausruhen. Deshalb schloss sie die Augen wieder und schlief noch eine Weile weiter, bevor sie erneut wach wurde. Nun stellte sie fest, dass sie intubiert war, aber das war gar nicht so unangenehm, wie sie sich das vorgestellt hatte. Als sie allerdings vorsichtig versuchte, ihre Hände zu bewegen, um nach ihrem Bauch zu fassen, stellte sie fest, dass die festgebunden waren. Da beugte sich schon eine Kollegin, die sie vom Sehen her kannte, über sie und sagte: „Sarah, kannst du mich verstehen?“ und sie nickte mit dem Kopf. „Sobald du wach genug bist, werden wir den Tubus herausziehen, bleib ganz ruhig!“ sagte sie eindringlich und warf einen besorgten Blick auf den Monitor. Wenn Sarah´s Blutdruck in die Höhe schießen würde, würde man sie sofort wieder sedieren, aber der bewegte sich im Normbereich. Sarah versuchte mit den Lippen eine Frage zu formulieren und die Schwester, die sich schon vorstellen konnte, was sie beschäftigte, sagte lächelnd. „Sarah, deinem Kind geht es gut, es ist auch noch in dir!“ und dann machte sie vorsichtig Sarah´s eine Hand los und legte sie ihr auf den gewölbten Bauch. Nun lächelte Sarah glücklich und während die Schwester ihre Hand wieder festmachte und ein wenig an den Beatmungseinstellungen veränderte, schloss sie die Augen wieder, um Kräfte zu sammeln, für den nächsten Schritt, der ihr bevorstand.

  • Kaum war das Serum injiziert, schoss Ben´s Puls in beängstigende Höhen. Er jagte flach bei einer Frequenz um die 200 Schläge pro Minute, was fast das Dreifache des Normalwerts war. Außerdem sackte der Blutdruck, der die letzten Tage immer stabil um die 120 systolisch gewesen war, so ab, dass er kaum mehr messbar war. Zugleich begann Ben sich im Gesicht zu verändern. Es schwoll in einer dermaßenen Geschwindigkeit an, dass man zusehen konnte. Während die beiden Schwestern schon mit dem Notfallwagen kamen, hatte der Arzt mit ein paar Handgriffen das Bett in Kopftieflage gebracht. Sein Patient erlitt gerade einen heftigen anaphylaktischen Schock, vermutlich auf das artfremde Eiweiß im Schlangengiftserum. Als er sah, wie das Gesicht dick wurde, dankte er Gott, dass sein Patient bereits intubiert war, denn da einen Tubus durch geschwollene Stimmlippen zu schieben, war ein Kunststück, das manchmal schief ging und man dann nur noch zur Notfallkoniotomie schreiten konnte-einem speziellen Luftröhrenschnitt. Aber das war hier Gott sei Dank nicht nötig, denn die Beatmungsmaschine pumpte fleißig weiter Luft in Ben. Nur die Beatmungsdrücke musste man erhöhen und den Sauerstoff hochstellen, da natürlich das Lungengewebe genauso anschwoll, wie der Rest des Körpers.„Bitte 1000mg Prednisolon!“ ordnete der Arzt an, denn dieses hochdosierte Cortison war in diesem Fall das Notfallmedikament schlechthin und eine der Schwestern begann sofort, die Ampulle aus dem Notfallwagen vorzubereiten. Die bestand nämlich aus Trockensubstanz und Lösungsmittel und so dauerte es etwa eine Minute, bis das Mittel fertig zur Injektion war. Die andere Schwester hatte derweil eine der hängenden Infusionen sehr schnell gestellt, denn weil die Flüssigkeit in Ben´s Körper ja aus dem Gefäßsystem ins Gewebe austrat, hatte er gerade einen Volumenmangel, obwohl ja das Wasser eigentlich in ihm war, nur eben nicht an der richtigen Stelle, nämlich im Blutkreislauf.


    "Bitte auch noch einen Perfusor mit Noradrenalin vorbereiten!“ befahl der Arzt ruhig und die eine Schwester ging kurz aus dem Zimmer, um das Gewünschte zu holen, während die andere nun das inzwischen gelöste Cortison injizierte. Langsam begann sich daraufhin die Lage zu beruhigen. Die Schwellung des Gesichts nahm nicht mehr weiter zu, die Herzfrequenz ging ein wenig zurück, zwar bei weitem nicht in den Normbereich, aber doch in Bereiche, wo das Herz ordentlich pumpte und der Körper, vor allem das Gehirn, wieder ordentlich versorgt werden konnten. Inzwischen hatte die zweite Pflegekraft den Perfusor mit dem kreislaufstützenden Medikament vorbereitet und als man den startete, war nach kurzer Zeit der Blutdruck wieder messbar und mit ein wenig Herumspielen, brachte man ihn in einen akzeptablen Bereich. „Er bekommt noch einen weiteren Liter Vollelektrolytlösung mit vier Ampullen Calcium darin über eine Stunde“, beschloss der Arzt und die Schwester spritzte die Calciumampullen in die Infusion und hängte die ebenfalls an. Langsam normalisierten sich die Werte und als der Arzt nun in Ben´s Augen leuchtete, reagierten die Pupillen sofort, was gegen eine Unterversorgung des Gehirns sprach. Noch etwas war zu bemerken. Ben war zwar sediert, aber trotzdem versuchte er, ob bewusst, oder unbewusst seine Muskeln anzuspannen und presste gegen die Beatmungsmaschine. Mit einem Lächeln sagte der Arzt: „Na immerhin hat das Serum anscheinend gewirkt!“ und dann erhöhte er die Narkosemittel noch ein wenig und die Schwester machte vorsichtshalber Ben´s Hände fest. Man brachte das Bett wieder in Normallage, denn der halbe Kopfstand des Patienten war nun nicht mehr notwendig und dann wurde der Notfallwagen aus dem Zimmer gefahren. Die nachfolgende Blutgaskontrolle erbrachte auch akzeptable Werte und als wenig später Semir wieder aus dem OP geholt wurde, hatte sich die Situation wieder beruhigt.


    Als Semir´s Bett an Ben vorbeigefahren wurde, bat der darum, dass man schnell anhielt. Mit dem gesunden Arm, in dem zwar die Arterie steckte, der aber trotzdem normal zu gebrauchen war, fasste Semir zu Ben hinüber, der zwar etwas verschwollen aussah, aber sonst friedlich in seinem Bett lag. „Schön dass du noch da bist!“ sagte Semir voller Liebe und berührte ihn kurz und er meinte daraufhin, dass Ben ein wenig mit den Augen gezwinkert hätte. Semir´s Bett wurde wieder an seinen Platz gefahren und als wenig später eine völlig aufgelöste Andrea hereingeholt wurde und ihn innig küsste, lächelte der sie an und sagte: „Ist halb so schlimm bei mir, aber ich habe es im Gefühl, Ben wird wieder!“ und damit schloss er die Augen, um seine Narkose noch ein wenig auszuschlafen.

  • Hintersteiner sah seine Schwester an. „Hmm, das ist merkwürdig, dass sich Semir nicht meldet, irgendwie habe ich ein schlechtes Gefühl dabei, nicht dass mit seiner Frau oder den Kindern doch etwas Schlimmeres ist!“ sagte er besorgt. „So wie ich ihn nämlich einschätze, hat der normalerweise sein Handy immer dabei-im Gegensatz zu mir!“ überlegte er. „Wie kann man da jetzt etwas herausfinden?“ fragte Frieda nachdenklich, aber da hatte Josef schon die Notrufnummer gewählt und war Sekunden später mit der PASt verbunden. Man stellte ihn nach kurzer Zeit zu Frau Krüger durch und als Josef nun deren Erklärungen lauschte, wurde sein Gesicht lang und länger. „Was ist?“ wollte Frieda angespannt wissen, aber als er aufgelegt hatte, sah Hintersteiner sie traurig an. „Stell dir vor-mein Freund Semir liegt selber auf der Intensivstation. Seine Frau und die Kinder sind wohlauf und inzwischen entlassen, aber Semir hat sich in die Schnittverletzung am Oberarm üble Keime eingefangen und kämpft jetzt in der Uniklinik um den Erhalt seines Armes, wenn nicht gar sein Leben. Und ich bin schuld, weil ich den Chemiker nicht richtig getroffen habe, so dass der nicht sofort kampfunfähig war!“ sagte er traurig und nun sah Frieda ihn unglücklich an. Ging das nun wieder los mit den Selbstvorwürfen? Nach dem Tod seiner Frau und seiner Tochter hatte er auch immer nach Gründen gesucht, warum die gerade zu dieser Uhrzeit auf dieser Strecke gefahren waren, auf der sie verunglückt waren. Natürlich war das Schicksal, aber Josef war lange nicht darüber hinweggekommen-war es bis heute nicht. Kein Mensch konnte so einen Schicksalsschlag einfach so wegstecken und obwohl er so rund und stabil wirkte, war ihr Sepp ein sensibler, zartfühlender Mensch, der für seine Familie und seine Freunde alles tat!
    „Josef!“ sagte sie deshalb eindringlich. Du bist nicht schuld daran, wenn es deinem Freund jetzt schlecht geht! Denk doch daran, wie viel schlechter es ihm gehen würde, wenn seine Kinder und seine Frau erstickt oder verbrannt wären. Komm wir beten jetzt für ihn und legen sein Schicksal in Gottes Hand!“ sagte sie und Josef nickte. Seine Schwester und er waren im erzkatholischen Nachkriegsbayern sehr konservativ aufgezogen worden und wenn man nicht mehr weiter wusste, dann waren der Glaube und das Gebet doch oft hilfreich. Nach dem Gebet legte Josef sich zurück und schloss die Augen. Im Moment konnte er nichts tun und durch die starken Schmerzmittel war er auch noch sehr müde. Während er sich ausruhte, betete seine Schwester noch ein Weilchen weiter und bis er sich versah, war er unter dem beruhigenden Klang ihrer Stimme eingeschlafen.


    Sarah wurde derweil von Minute zu Minute wacher. Die Beatmungsparameter waren bereit zur Extubation und inzwischen begann der Tubus sie gewaltig zu stören-schließlich bekam sie inzwischen auch überhaupt keine sedierenden Medikamente mehr. Die Kollegin, die sie betreute, holte den Arzt, der Sarah erst ein paar Fragen stellte, die sie mit Nicken oder Kopfschütteln beantwortete. Beim vorsichtigen Absaugen des Mundraums musste sie husten und bevor der Blutdruck vor Stress nun doch noch ansteigen würde, entblockte der Arzt kurzerhand den Beatmungsschlauch und zog ihn heraus. Man machte Sarah´s Hände los und fuhr das Bett in Sitzposition. Mit einer Sauerstoffmaske auf dem Gesicht rang sie erst ein wenig nach Atem, aber dann bekam sie gut Luft. Bevor sie noch nach Ben fragen konnte, begann das Kind in ihrem Bauch sich wieder zu regen-auch bei ihm war die Narkose ausgeschlafen und Sarah wurde von einer großen Dankbarkeit übermannt.

  • Nach einer Weile hatte sich Sarah´s Atem beruhigt. Man konnte die Sauerstoffmaske gegen eine Brille austauschen und der Arzt erklärte ihr: „Sarah! Bei dir war die Bauchaorta verletzt. Wir haben nur einen Patch drauf gepackt, also ist es in nächster Zeit wichtig, dass du dich überhaupt nicht anstrengst und alles vermeidest, was zu einem Blutdruckanstieg führen könnte!“ sagte er und Sarah fragte nun: „Welchen Tag haben wir heute?“ und der Doktor erklärte ihr, dass der Donnerstag Vormittag inzwischen hereingebrochen war. In der Nacht von Montag auf Dienstag war die Katastrophe passiert und nun stellte Sarah die Frage, die ihr die ganze Zeit schon bang unter den Nägeln brannte: „Was ist mit Ben Jäger, meinem Lebensgefährten?“ und nun gab der Arzt die Antwort, vor deren Konsequenz ihm schon die ganze Zeit graute, denn er befürchtete einen Blutdruckanstieg mit allen Folgen. Die Arterienkurve auf dem Bildschirm fest im Blick sagte er: „Er lebt, mach dir keine Sorgen!“


    Er überlegte derweil fieberhaft, was genau er Sarah mitteilen konnte. Alleine mit dieser Auskunft würde sie sich nicht zufrieden geben. Wenn sie das Gefühl hatte, man würde sie anlügen, würde sie sich nur umso mehr aufregen. Außerdem würde sie verlangen, dass man ihn an ihr Bett holte, wenn es ihm doch angeblich so gut ging und das war nun wirklich nicht möglich. Sarah´s Blutdruck blieb auch völlig im Normbereich, aber sie kannte den Arzt, mit dem sie öfter zusammenarbeitete gut genug, um zu merken, dass ihr der was verheimlichte. „Raus mit der Sprache!“ sagte sie deshalb einfach. „Ich werde versuchen, mich in Griff zu behalten, aber die Ungewissheit ist schlimmer als alles andere!“ und da musste er ihr innerlich zustimmen. Er nahm deshalb Sarah´s Hand und sagte: „Dein Freund liegt im Nebenzimmer. Er kann dich nicht besuchen kommen, denn er ist selber beatmet und hat einen VAC-Verband auf dem Bauch. Allerdings haben wir die Sache im Griff, du kannst mir glauben, wir passen gut auf ihn auf!“ erklärte er und Sarah nickte. „Dann war doch der Darm von der Messerattacke verletzt!“ überlegte sie und ihr Blutdruck war zwar leicht angestiegen, aber immer noch im Normbereich. Dem Arzt graute, als er daran dachte, dass Sarah über kurz oder lang erfahren würde, dass da jemand in der Notaufnahme was verbummelt hatte, aber im Augenblick brauchte sie das noch nicht zu wissen. „Er hat auch ein Schlangenserum bekommen, um die Wirkung des injizierten Giftes aufzuheben und anscheinend hat das gewirkt!“ erklärte er ihr noch, denn auch ihm waren die Umstände, wie man sie und ihren Partner aufgefunden hatte, bekannt-das hatte sich wie ein Lauffeuer im Krankenhaus verbreitet. Von der anaphylaktischen Reaktion musste sie auch noch nichts erfahren, das würde später genügen.
    „Tust du mir einen Gefallen?“ fragte Sarah den Arzt, der immer noch ihre Hand hielt und der nickte stumm. „Geh doch bitte rüber zu Ben, fass ihn an und sag´s ihm, dass ich in Gedanken bei ihm bin!“ und der Doktor nickte und verließ wenig später das Zimmer, um den Auftrag auszuführen. Sarah schloss die Augen, stellte ihr Bett ein wenig flacher und versuchte noch ein wenig auszuruhen. Immerhin, sie drei lebten und alles andere würde sich geben-und mit diesem Gedanken nickte sie noch ein wenig ein.
    Der Arzt war ins Nebenzimmer gegangen und hatte Sarah´s Auftrag ausgeführt. Auch er war nach seiner langen Intensiverfahrung der Überzeugung, dass sedierte Patienten oft mehr mitbekamen, als man dachte. „Herr Jäger!“ sagte er deshalb und legte seine Hand auf Ben´s Brust. „Ich soll ihnen von Sarah ausrichten, dass die in Gedanken bei ihnen ist. Sie kann im Augenblick noch nicht selber kommen, aber auch das wird sich bald ändern!“ fügte er hinzu und wieder konnte man erkennen, dass Ben versuchte, die Augen zu öffnen.
    Im Nebenbett hatte Semir, der gerade, bewacht von Andrea, seine Narkose ausschlief, ebenfalls seine Augen wieder geöffnet. „Geht´s Sarah gut?“ wollte er wissen und der Arzt nickte mit dem Kopf. „Sie ist extubiert-jetzt müssen nur sie und Herr Jäger noch gesund werden!“ bemerkte er und Semir sagte voller Überzeugung: „Eine unserer leichtesten Übungen!“


    Susanne hatte immer noch Nachtdienstfrei und als sie versuchte Andrea auf dem Handy zu erreichen und die nicht ranging, rief sie kurz entschlossen bei ihren Eltern an, die ihr auch gleich mitteilten, dass Andrea ins Krankenhaus gefahren war, weil von dort ein besorgniserregender Anruf gekommen sei. Margot, die am Telefon war, sprach leise, denn sie wollte die Mädchen, die langsam begannen, normal zu spielen, nicht beunruhigen. Susanne machte sich auch gleich auf den Weg und eine Stunde später kam eine Schwester zu Andrea: „Ihre Freundin wartet draußen auf sie!“ sagte sie freundlich und als Semir zu seiner Frau sagte: „Nun schau bloß zu, dass du zu deinen Eltern gehst und was in den Magen kriegst. Mir geht´s gut, du weisst doch, Unkraut vergeht nicht!“ erhob sie sich tatsächlich folgsam und ging nach einem zärtlichen Kuss auf Semir´s Wange hinaus, nicht ohne zuvor aus seinem Nachttisch den Haustürschlüssel geholt zu haben.Tatsächlich musste sie ja schon bald mit den Mädchen zum Kinderpsychologen und nachdem sie ja den Wagen ihrer Eltern dabei hatte, konnte sie das auch gar nicht delegieren.
    Susanne nahm sie auch gleich liebevoll in den Arm und nun bat Andrea, die inzwischen wieder die Hoffnung hatte, dass sich alles zum Guten wenden würde, ihre Freundin, doch mit ihr zu ihrem Haus zu kommen, damit sie ihren Wagen wieder hatte. Sie benutzen das Fahrzeug von Andrea´s Eltern, Susanne war mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Uniklinik gekommen und je näher sie der Wohnstraße kamen, in dem ihr schönes Haus mit dem Schwimmteich davor stand, desto langsamer fuhr Andrea. Was würde sie wohl erwarten? Allerdings sah das Haus von außen gar nicht so schlimm aus. Man konnte erkennen, dass das Dach provisorisch verschlossen war, aber sonst war eigentlich alles wie sonst. Mit einem Kloß in der Magengrube schloss Andrea die Tür auf. Der Gestank nach kaltem Rauch und verschmortem Plastik erfüllte den Raum, aber es liefen Entlüftungsgeräte. Eigentlich hatte Andrea vorgehabt, nur schnell ihren Autoschlüssel von der Garderobe zu nehmen, aber wie eine von außen gelenkte Marionette begann sie dann die Stufen in den ersten Stock zu erklimmen. Immer langsamer wurden ihre Schritte und sie atmete erst einmal tief durch, bevor sie um die letzte Ecke bog. Vor ihr waren die ausgebrannten Kinderzimmer. Es war dunkel, denn die geborstenen Fensterscheiben waren ja durch Bretter und Folie ersetzt und Licht ging auch nicht, wie sie unten gleich nach dem Betreten des Hauses festgestellt hatte. Eine kalte Faust griff nach ihrem Herzen, aber Susanne war dicht hinter ihr, legte den Arm um sie und sagte: „Denk dran-ihr lebt-und der Täter hat seine gerechte Strafe bekommen!“ und nun nickte Andrea langsam. Sie wandte den Blick von der dunklen Höhle, die beinahe zum Grab ihrer Kinder geworden wäre, ging dann zum Schlafzimmer und warf dort ein paar nach Rauch stinkende Klamotten in eine Reisetasche. Sie würde bei ihrer Mutter versuchen durch Waschen den Geruch herauszubekommen und wenn das nicht ging, musste man eben was Neues kaufen, aber einen Versuch war es wert. Als sie gemeinsam wieder hinuntergingen, beschloss Andrea, bevor sie die Garage betrat allerdings, dass sie es schaffen könnte zu vergessen und als ihr Blick auf Susanne fiel, die sie voller Liebe ansah, atmete sie tief durch. Mit solchen Freunden würde es möglich sein!

  • Einige Anlieger, die anscheinend netterweise ein wachsames Auge auf ihr Haus hatten, kamen nun ebenfalls zu ihnen und so konnte Andrea dem einen gleich mitteilen, dass sie vor hatten, vorrübergehend in die Mietwohnung zu ziehen, die er Semir angeboten hatte. „Wo ist überhaupt dein Mann?“ fragte der Nachbar Andrea, über deren Gesicht nun ein Schatten flog. „Semir hat im Arm eine üble Infektion und liegt nun selber im Krankenhaus!“ berichtete sie und wenig später machten Susanne und sie sich mit vielen Gute-Besserungs-Wünschen auf den Weg mit zwei Autos zu ihren Eltern. Dort wurde Susanne stürmisch von den Mädchen begrüßt und Margot legte noch ein weiteres Gedeck für die Freundin ihrer Tochter auf. Wenig später machten sie sich gemeinsam mit den Kindern auf zum Psychologentermin und die Therapiesitzung verlief besser, als Andrea das erwartet hatte. Sie hatte-während eine Helferin und Susanne mit den Kindern spielten- der erfahrenen Kinderpsychologin von den Geschehnissen erzählt, aber die konnte sie schon nach der ersten Sitzung beruhigen. „Frau Gerkan, ihre Kinder werden das Trauma überwinden, da bin ich mir ganz sicher. Wie ich feststellen konnte, haben die auch vom Tod des Chemikers überhaupt nichts mitbekommen und sind erst vom Feuer wach geworden.“ erklärte sie „Wenn sie mit ihren Kindern in einigen Wochen ein Lagerfeuer im Garten machen können, dann haben wir es geschafft!“ fügte sie hinzu. „Der Verlust ihrer Spielsachen, des Zimmers und die Branderfahrung sind zwar schlimm, aber seien sie beruhigt, da habe ich schon üblere Dinge wieder hingekriegt. Diese Kinder sind geborgen in ihrer Familie, haben ein Nest in dem sie sich sicher fühlen können und das ist für ein Kind wesentlich wichtiger als materielle Dinge. Wenn Fragen kommen, seien sie ehrlich, versuchen sie nichts zu bagatellisieren, aber machen sie auch kein Drama draus!“ schlug sie vor und mit den nächsten Terminen auf einem Zettel verließen die vier das Büro der Psychologin.


    Während Susanne mit den Mädchen einen nahe gelegenen Spielplatz aufsuchte, ging Andrea nochmals kurz zu Semir. Voller Bangen drückte sie auf die Türglocke und war kurze Zeit später positiv überrascht, denn Semir saß gerade im Bett und löffelte ungeschickt einen Joghurt. Auch eine Wasserflasche stand vor ihm und er sagte mit breitem Grinsen: „Stell dir vor-die wollten mich hier verhungern lassen, aber denen habe ich´s schon gezeigt!“ und nun kamen Andrea beinahe Tränen des Glücks. Wenn er schon wieder Appetit hatte und auch etwas zu Essen bekam, dann würde es wohl nicht so schlimm sein! Sie erzählte ihm von der Sitzung beim Psychologen und auch das brachte Semir zum Lächeln. „Na siehst du, es wird alles gut werden, nun müssen wir nur noch Ben dazu bringen, dass er sich mal ein wenig anstrengt. Mir ist langweilig, ich würde mich viel lieber mit ihm unterhalten, aber der Herr zieht es ja vor, einfach vor sich hin zu pennen!“ beschwerte er sich und als Andrea´s Blick nun zum Nebenbett wanderte, konnte sie erkennen, dass Ben empört die Stirn gerunzelt hatte. Anscheinend bekam der sehr wohl was mit!


    Ben war im OP voller Erleichterung in die ersehnte Narkose geglitten. Er hatte solche Angst gehabt, bei vollem Bewusstsein operiert zu werden, aber die war unnötig gewesen. Nun war er in einem merkwürdigen Zustand. Er schlief vor sich hin, hatte keine Schmerzen, aber er konnte durchaus manchmal hören, was um ihn herum vorging. Gerade wenn er angefasst wurde, oder jemand direkt zu ihm sprach, konnte er sich kurz konzentrieren und verstand auch einen Teil davon, allerdings war es dann immer zu mühsam für ihn, wach zu bleiben und deshalb zog er es vor, wieder in seine Traumwelt zu gleiten. Er hörte vertraute Stimmen, dann wieder fremde, er wurde gedreht und abgesaugt und irgendwann wurde ihm mal sterbenselend und um ihn herum wurde es laut und hektisch. Danach allerdings stellte er fest, nachdem sich alles wieder beruhigt hatte, dass er sich in einem geringen Maße rühren konnte. Er blinzelte mehrmals und irgendwann schaffte er es, die Augen einen kurzen Moment zu öffnen, bevor er vor Erschöpfung wieder einschlief. Nun ging es ihm aber zügig besser, er merkte, wie seine Kraft, soweit es die Medikamente zuließen, zurückkehrte. Er wusste auch: Semir war da-er hörte immer wieder dessen Stimme und war sehr beruhigt deswegen.Als er eine kurze Zeit ein wenig wacher war, begann er Sarah zu vermissen. Er brachte in seinem wirren Kopf die Zusammenhänge nicht so richtig zueinander, aber er wusste, dass es kein gutes Zeichen war, wenn er sie nicht hören und spüren konnte. Da trat plötzlich ein fremder Mann zu ihm, legte ihm beruhigend eine Hand flach auf die Brust und sprach mit ihm. Er erzählte ihm, dass Sarah in Gedanken bei ihm war und er spürte, dass dieser Mann völlig ehrlich war und so konnte er wieder, nach einem kurzen Zeichen, dass er verstanden hatte, in den wohltuenden Schlaf tauchen, in dem sein Körper, unterstützt von den Antibiotika, den Kampf gegen die Keime in seinem Organismus aufnehmen konnte.
    Einige Zeit später-er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war-hörte er Andrea´s Stimme, die von Semir hatte er im Unterbewusstsein schon mehrmals mitbekommen, aber jetzt beschwerte sich der doch glatt bei seiner Frau, dass er-Ben-zu faul sei, sich mit ihm zu unterhalten. Na warte! Dem würde er es zeigen!

  • Nach einer ruhigen Nacht für alle drei Patienten wurde als Erster Hintersteiner auf Normalstation verlegt. Man hatte seine Brandverletzungen mit speziellen Wundauflagen abgedeckt, er bekam weiter Infusionen und starke Schmerzmittel, aber er durfte beginnen ein wenig herumzulaufen und zu essen und zu trinken. Als am späteren Vormittag Elfriede zu ihm kam, war sie deswegen sehr erfreut und gleich erzählte sie ihm, dass sie im Kölner Dom gewesen war und eine ganze Batterie Kerzen angezündet hatte, um den himmlischen Beistand noch etwas anzutreiben. „Frieda, dann kann ja nichts mehr schief gehen!“ sagte Josef voller Urvertrauen und dann unterhielten sie sich über Erlebnisse aus ihrer gemeinsamen Kindheit in einer rauen, armen Gegend, die Menschen hervorgebracht hatte, die nicht jeder Windstoß umwarf.


    Auch Semir hatte ein wenig ängstlich die Visite erwartet. Als man den Armverband abwickelte, war er genauso gespannt, wie die Ärzte und Schwestern, aber im Gegensatz zum Vortag waren die Wundränder frisch und gut durchblutet. Die Entfernung der Jodoformtamponaden entlockte ihm auch trotz Schmerzmedikation einen scharfen Schmerzenslaut, aber es wurde beschlossen, ihn zwar vorsichtshalber noch vorerst auf Intensiv zu lassen, er durfte aber aufstehen und normal essen und trinken. Die Schwester erneuerte den Verband und dann bekam er ein gutes Frühstück hingestellt.„Herr Jäger geht gegen Mittag wieder zum VAC-Wechsel in den OP!“ sagte der Chefarzt, war aber sehr zufrieden, dass die Entzündungswerte auch bei ihm fallend waren, die Pumpe nur noch wenig Sekret förderte und man auch die kreislaufstützenden Medikamente schon hatte ausschleichen können. Das war ein Zeichen, dass Ben nun aus der Sepsis war und sein Körper die Entzündung in seinem Bauch begann, in den Griff zu kriegen.


    Dann zog die Visite ins Nebenzimmer weiter und da lag Sarah, zwar noch blass, aber überglücklich, dass das Kind und sie wohlauf waren und ließ sich nun vom operierenden Chirurgen atemlos berichten, wie sie den Defekt in dem großen Blutgefäß bei ihr abgedeckt hatten. „Die eine Drainage darf auch schon raus, wir lassen die andere nur noch zur Sicherheit drin, damit wir sofort bemerken, falls es doch noch zu bluten anfangen sollte.“ ordnete der Chefarzt an und der Gynäkologe, der in dem Pulk ganz hinten gestanden hatte, flüsterte ihr noch zu: „Ich komme nachher und mache einen gründlichen Ultraschall!“ und nun lächelte Sarah. Es war jedes Mal wunderschön, wenn sie ihr Kind sozusagen aus der Nähe sehen konnte. Auch Sarah durfte beginnen etwas zu essen und zu trinken und wurde ihre Magensonde los. Kaum hatte sie ein wenig Tee und Pudding gegessen, da wurde auch schon das große 3-D-Ultraschallgerät herein gefahren und voller Liebe sah Sarah auf das kleine Wesen auf dem Bildschirm, das munter im Fruchtwasser schwamm, empört gegen den Schallkopf trat und dann mit einer winzigen Hand, an der man aber alle Finger deutlich erkennen konnte, nach der Nabelschnur griff. Sehr gründlich kontrollierte und vermaß der Gynäkologe mit dem Gerät, das die Bilder dreidimensional umrechnete, das Kind und warnte dann Sarah: „Wenn du nicht wissen willst, was es wird, dann schau jetzt sofort weg!“ denn man konnte zu diesem Schwangerschaftszeitpunkt und mit diesem Gerät zweifelsfrei das Geschlecht erkennen. Nach kurzem Zögern wandte Sarah tatsächlich folgsam den Blick ab-sie und Ben hatten ausgemacht, sich überraschen zu lassen und sie würde sich auch daran halten. Zum Abschluss bekam Sarah noch mehrere Ausdrucke, auf denen man die Gesichtszüge des Babys deutlich erkennen konnte und noch lange nachdem der Gynäkologe das Zimmer verlassen hatte, sah sie die Porträtfotos des Kindes an. Er hatte ihr versichert, dass mit dem Kind, soweit man das beurteilen konnte, alles in Ordnung war und sie nun die restliche Schwangerschaftsdauer mit viel Schonung durchaus genießen dürfe. „Ich gehe davon aus, dass durch die kurze Zeit der Unterversorgung keine Schäden entstanden sind!“ hatte er ihr mitgeteilt und das war so ziemlich das Schönste, was sie sich vorstellen konnte. Allerdings musste Ben das nun auch dringend erfahren!


    Als ihre Kollegin zu ihr kam und die Drainage, wie angeordnet, entfernte, bat sie sie: „Ich weiß, das macht fürchterlich viel Aufwand, aber meinst du, du könntest mich mit dem Bett zu meinem Lebensgefährten fahren? Wir brauchen ja für mich keine Überwachung, aber ich möchte ihn doch so gerne sehen!“ fragte sie und nach kurzer Überlegung stimmte die Pflegekraft zu. Natürlich war das aufwendig, aber sie konnte Sarah so gut verstehen! Nach dem, was sie die letzten Tage alles mitgemacht hatte, war das nur recht und billig, wenn sie ihren Freund wenigstens kurz zu sehen bekam. „Aber du versprichst, dass du dich nicht allzu sehr aufregst?“ versicherte sie sich, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Ich weiß, er ist beatmet und hat `ne VAC-Pumpe hängen-glaub mir, ich werde mich nicht aufregen!“ bekräftigte sie und mit einem Lächeln begann nun die Schwester, Sarah von allen nicht unbedingt nötigen Kabeln und Infusionen kurzzeitig zu befreien. Den Monitor mit der Blutdrucküberwachung nahm sie allerdings mit und ein Kollege fasste mit an, um das Bett um die Ecke ins nächste Zimmer zu rangieren.


    Semir sah erstaunt auf. Er hatte gerade ein Spiel auf seinem Smartphone gespielt, um sich die Zeit zu vertreiben, als sich plötzlich die Schiebetür weit öffnete und ein weiteres Bett hereingefahren wurde. Gerade wollte er protestieren, dass es nun aber verdammt eng werden würde, aber da sah er, wer in diesem Bett lag und glücklich lächelnd ein paar Bilder umklammert hielt. „Sarah! Wie geht´s dir?“ fragte er überrascht, während man sein Bett ein Stück zur Seite schob, um Platz für Sarah mit ihrer Liegestatt zu machen. „Danke der Nachfrage Semir, uns beiden geht´s ganz gut!“ sagte Sarah, die von ihren Kollegen auch von Semir´s plötzlichem Zusammenbruch gehört hatte, aber wusste, dass es auch dem nun besser ging. Als sie nun ganz nahe zu Ben geschoben wurde, schaute sie ihn voller Liebe an. Der Anblick schreckte sie nicht, denn es war ihr tägliches Brot auf der Intensiv, solche Patienten zu betreuen. Sie nahm wahr, dass er noch ein wenig verschwollen wirkte, aber als er nun langsam den Kopf drehte und mühsam die Augen öffnete, hätte sie weinen können vor Glück. Sie bemühte sich allerdings ruhig zu bleiben und tatsächlich stieg ihr Blutdruck zu keiner Zeit in gefährliche Bereiche. „Schatz, ich liebe dich und bin so froh, dass du lebst!“ sagte sie gerührt und streichelte ihn. „Sieh mal, ich habe Fotos von unserem kleinen Racker!“ plapperte sie dann weiter und hielt sie Ben direkt vors Gesicht. Der kniff die Augen zusammen, um scharf zu sehen und er konnte durchaus ein kleines Baby auf einer Art Foto erkennen. Ihm war zwar schleierhaft, wie man die angefertigt hatte, aber durch die Sedierung flossen seine Gedanken eh träge durch seinen Kopf. Allerdings war er sehr erleichtert, dass Sarah bei ihm und wohlauf war und als auf Sarah´s Bitten die Schwester nun seine eine Hand von der Fixierung befreite, rückte sie, so nahe es ging, zu ihm und legte die immer noch fieberheiße Hand auf ihren Bauch, in dem gerade wieder Turnstunde war. Entzückt schloss Ben die Augen und war nur noch am Fühlen. Sein Kind war erst noch munter, aber dann wurde es wieder wie auf Kommando ruhig und schmiegte sich in seine schützende Hand. Sarah legte ihre beiden Hände auf Ben´s Hand und legte sich aufatmend zurück. Angesichts dieser rührenden Szene kamen Sarah´s Kollegen beinahe die Tränen und auch Semir musste schlucken. Die Schwester legte eine leichte Decke über die beiden und verließ dann den Raum. „Ich lasse euch ein wenig alleine-sie läuten Herr Gerkan, wenn etwas ist-und in einer viertel Stunde fahre ich dich wieder zurück, Sarah!“ bestimmte sie und Semir nickte. Allerdings war ihm klar, dass da nichts sein würde, denn eine wirkungsvollere Motivation als diese hier würde es für Ben nicht geben. Der würde nun alles tun, um bald wieder gesund zu werden!

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