Wellness ganz anders

  • Semir kam zum ausgemachten Zeitpunkt im Hotel an. Hintersteiner wartete schon in der Eingangshalle auf ihn und die Dame an der Rezeption war heilfroh, dass sie nun endlich erlöst war. Hintersteiner hatte ihr nämlich viel erzählt, aber aufgrund seines doch sehr extremen Dialekts hatte sie nur die Hälfte davon verstanden! Hintersteiner hatte eine helle Stoffhose, ein unifarbenes Hemd und eine leichte Jacke an und sah nun aus, wie jeder andere Tourist. „Warum sind sie eigentlich in Uniform hergefahren?“ wollte Semir wissen. „Weil wir in Bayern dann für die Bahnfahrt nichts bezahlen müssen!“ erklärte Hintersteiner. „Die Bahn sieht nämlich da einen Sicherheitsvorteil, wenn ein uniformierter Polizist im Abteil ist und ich denke, da haben sie durchaus Recht!“ erklärte er. „Aber jetzt mag ich nicht mehr von der Arbeit reden-morgen ist Freitag, da werde ich meine Vernehmungen machen, auch bei ihnen und ihrer Frau, wenn es möglich ist, Gerkan-aber heute ist Feierabend und wann ich zurückfahre steht auch noch in den Sternen, denn ich habe ab Montag Urlaub und trage mich mit dem Gedanken, den einmal im Norden zu verbringen!“ sagte er und Semir fragte: „Ach, wollen sie an die See fahren?“ aber Hintersteiner schüttelte milde lächelnd den Kopf. „Nein, hier in Köln-damit sie´s gleich wissen, wir befinden uns hier nördlich des Weißwurstäquators, der im Kopf vieler Bayern durch die Donau, gut bei manchen auch durch den Main, gebildet wird. Streng genommen ist bei uns jeder ab dem Donaunordufer ein Preiss-das hat nichts mit dem Königreich Preußen zu tun, sondern ist einfach eine Bezeichnung für Nichtbayern!“ erklärte er und Semir machte sich bereit, während sie schon Richtung Dom schlenderten, noch viel Wissenswertes über Bayern und den Rest der Welt zu erfahren!


    Der Chemiker war zufrieden. Er würde jetzt ein paar Tage still halten, denn er musste wenn, dann die beiden Polizisten mit Familien an einem Abend erledigen. Wenn er sich nur einen vornahm, würde der andere vielleicht misstrauisch werden und mit seiner Familie untertauchen. Er malte sich schon aus, wie er die beiden quälen würde und ein Hochgefühl ergriff von ihm Besitz. Es gab nichts Schöneres, als ein perfektes Verbrechen zu planen!


    Wie Semir schon vermutet hatte, war Hintersteiner nicht nur an der Besichtigung der Sehenswürdigkeiten interessiert, sondern vor allem an der Kölner Gastronomie. Nachdem sie am Rhein entlang gelaufen, durch verwinkelte Gässchen geschlendert waren und den Dom von außen angeschaut hatten-inzwischen war es nämlich so spät, dass er nicht mehr für Besichtigungen geöffnet war-landeten sie irgendwann im urigen Gaffel-Brauhaus, das Hintersteiner direkt nach seiner Ankunft aufgefallen war. „Mei, hob i´jetzt an Durscht!“ hob er an und Semir betrat hinter ihm das Lokal, in dem die Hölle los war. Sie quetschten sich an einen Tisch und der Bayer trank nun das erste Kölsch seines Lebens. Mit einem Zug leerte er das 0,2er Glas und nahm beim nächsten Durchgang des Kellners dem gleich zwei Gläser vom Tablett, oder vielmehr dem speziellen Kölschgläserhalter. „Nicht schlecht das Bier, aber ihr braucht hier ordentliche Gläser, da verdurstet man ja beim Trinken!“ moserte er. „Gerkan, halten sie sich ran-ihre Zeche geht auf mich!“ forderte er dann Semir auf und so begann der feuchtfröhliche Abend, wie Semir schon kommen gesehen hatte. Auch echte Kölner Spezialitäten gab es zu essen und nach zwei Stunden waren Semir und Josef per du. Hintersteiner unterhielt den ganzen Tisch, aber irgendwie mochte Semir den urigen Bayern.
    Irgendwann gingen sie dann leicht schwankend Arm in Arm zu Hintersteiner´s Hotel zurück und Semir leistete sich ein Taxi nach Hause. Während sie noch gemeinsam darauf warteten, dass das kam, sagte Josef: „Also hier gefällt´s mir, ich werde meinen Urlaub nächste Woche definitiv in Köln verbringen!“ und Semir nickte. Sie verabschiedeten sich und als Semir wenig später nach einer notdürftigen Katzenwäsche ins Bett fiel, begann er nach kurzer Zeit so zu schnarchen, dass Andrea sich das Kissen über die Ohren zog und eine ganze Weile brauchte, um wieder einschlafen zu können.

  • Am nächsten Morgen stand Sarah zeitig auf und machte sich fertig. Heute war der große Tag des Extubationsversuchs und da wusste sie, dass sie ganz für Ben da sein würde. Als sie kurz nach sieben im Krankenhaus ankam, hatte man gerade weisungsgemäß die Sedierungsperfusoren ausgeschaltet. Sarah zog sich einen Stuhl heran und begrüßte Ben erst einmal liebevoll. Man hatte ihn über Nacht noch einmal gut schlafen lassen, allerdings doch das Narkosemittel schon so reduziert gehabt, dass die Eigenatmung an der Maschine möglich war und das hatte gut geklappt. Auch wenn die Lungenentzündung natürlich noch nicht weg war, konnte man es trotzdem wegen der guten Gase vertreten, es ohne Beatmung zumindest zu versuchen.Wenig später kam ihre Kollegin zum Waschen herein und gemeinsam mit Sarah wurde Ben frisch gemacht. „Das Zähneputzen vertagen wir auf später, wenn der Tubus draußen ist!“ beschloss die Frühdienstschwester und zog, nachdem das Bett noch frisch bezogen war, wieder ab, um zu ihrem nächsten Patienten zu gehen.
    Ben wurde von Minute zu Minute wacher und klarer. Als gegen acht die große Visite kam, konnte er die Fragen des Chefarztes schon durch Nicken und Kopfschütteln beantworten und der nickte dem diensthabenden Stationsarzt zu. „Sie können es nach der Visite wagen!“ sagt er und der versprach, den Auftrag in Kürze zu erledigen. Nun wurde Ben der Schlauch in seinem Hals mehr und mehr bewusst. Der störte ihn, hinderte ihn am Sprechen und er hatte nun das Gefühl, ständig husten zu müssen. Sarah dankte Gott, dass die Handfixies so gut saßen, denn sonst hätte Ben sich das störende Ding schon längst selber herausgezogen, was aber schlecht gewesen wäre, denn der Blockungsballon saß ja hinter den Stimmbändern und könnte so den Kehlkopf verletzen.
    Sie versuchte ihn noch die letzten Minuten ruhig zu halten, aber es kam ihr selber wie eine Erlösung vor, als wenig später der Stationsarzt mit ihrer Kollegin, die den Notfallwagen vor die Tür schob, endlich erschien. Die beiden zogen sich Handschuhe an, Sarah´s Stuhl wurde zur Seite geräumt und nun saugte der Arzt Ben erst unter beruhigendem Zureden endotracheal ab, was dem die Tränen in die Augen trieb, weil das bei vollem Bewusstsein fast nicht zu ertragen war. Dann wurde er gebeten den Mund zu öffnen und man erklärte ihm, dass das nun nicht mehr schlimm wäre, nur noch so wie das Absaugen beim Zahnarzt und so ließ er auch das noch über sich ergehen. Während die Schwester nun eine Sauerstoffmaske und einen Abwurf bereithielt, löste der Arzt die Pflaster, mit denen der Tubus in Ben´s Gesicht verklebt gewesen war, was ziemlich ziepte. Dann griff er zur Entblockungsspritze und während Sarah ganz fest Ben´s Hand drückte, zog er erst die Luft aus dem Blockungsballon und mit einer fließenden Bewegung dann den Tubus aus Ben´s Hals und warf ihn weg. Ben konnte momentan gar nicht mehr aufhören zu husten, aber noch während man das Bett in sitzende Position hochfuhr und ihm die Sauerstoffmaske vors Gesicht hielt, machte Sarah seine Hände los und wenig später beruhigte sich auch der Hustenreiz und Ben machte die ersten tiefen Atemzüge ohne Maschine. Man befestigte mit einem elastischen Bändchen die Maske an seinem Kopf und als er etwas sagen wollte, legte Sarah beruhigend die Hand auf seine Brust. „Schsch, Ben, später-konzentrier dich erst mal bloß darauf, ruhig zu atmen!“ befahl sie und Ben zog es nun doch vor, ihren Anweisungen Folge zu leisten-immerhin war sie Krankenschwester und würde schon wissen, was gut für ihn war.


    Der Arzt blieb noch kurz neben dem Bett stehen und beobachtete den Monitor, aber die Sauerstoffsättigung, die erst ein wenig abgefallen war, war nun wieder bei 97% und damit war der Arzt sehr zufrieden. Sarah´s Kollegin hatte die Beatmungsmaschine, die mit lauten Alarmtönen protestiert hatte, zum Schweigen gebracht und die stand nun in Stand- By-Funktion für 24 Stunden neben dem Bett, falls Ben es doch dauerhaft nicht schaffen würde, ohne Beatmung zurecht zu kommen. Dann aber verließen der Arzt und Sarah´s Kollegin das Zimmer und ließen sie mit ihrem Freund alleine-die würde nun auf ihn aufpassen, was ihre Kollegen sehr entlastete, denn die ersten Stunden nach einer Extubation brauchten Patienten intensive Betreuung.
    Einige Minuten später nahm die Schwester noch ein Blutgas aus der Arterie ab, das aber zur allgemeinen Zufriedenheit ausfiel und so wurde auch der Notfallwagen wieder an seinen Platz gefahren-man würde ihn vermutlich nicht mehr brauchen.


    Semir war morgens mit einem Brummschädel und sagenhaftem Durst aufgewacht. Erst trank er eine ganze Flasche Mineralwasser leer, dann duschte er ausgiebig und nach zwei Tassen Kaffee und einer Aspirin war er nun vielleicht doch fähig, ins Büro zu gehen. Andrea, der es heute ein wenig besser ging, beobachtete ihn schweigend. „Und war´s schön gestern?“ fragte sie ihn bissig und auch seine Schwiegermutter bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick, während Hans-Hubert schmunzelnd hinter der Morgenzeitung versank. Semir überlegte kurz und sagte dann: „Doch, es war ganz nett-ich musste doch den polizeiliche Zusammenhalt zwischen Köln und Bayern stärken, das war ja sozusagen halb dienstlich!“ versuchte er sich zu rechtfertigen und als er eine schnelle Bewegung machte, fasste er sich stöhnend an den schmerzenden Kopf. „Recht geschieht´s dir!“ sagte Andrea nur vorwurfsvoll und machte dann gemeinsam mit ihrer Mutter die Kinder für Schule und Kindergarten fertig. Margot lief dann mit den beiden los und als Andrea in die Küche humpelte, um sich dort abzureagieren, sagte Semir´s Schwiegervater im Verschwörerton: „Lass dich nur von den Weibern nicht unterbuttern-die beruhigen sich schon wieder!“ und nun musste auch Semir schmunzeln.
    Nach einem Blick in den Lokalteil stellte Hans-Hubert dann noch fest: „Von dem Gasleck in eurer Straße steht nichts in der Zeitung, aber wahrscheinlich würde man das nur lesen können, wenn es eine Explosion gegeben hätte und nun erfuhr Semir erst vom Besuch des Mannes vom Gaswerk. „Ich werde mich bei Susanne erkundigen-die kann sicher rausfinden, ob und wo die was gefunden haben!“ bemerkte er, "aber Hauptsache unser Haus steht noch!“ sagte er scherzhaft und griff dann nach seiner Jeansjacke, um in die PASt zu fahren.

  • Ben ging es zunehmend besser. Mit jedem Atemzug fiel es ihm leichter, aber als er sich nach einiger Zeit ein wenig bewegte, musste er aufstöhnen. „Ben, was ist los?“ fragte Sarah alarmiert und der flüsterte noch ein wenig heiser: „Mir tut alles weh-ich fühl´ mich, wie vom LKW überrollt!“ und das war Sarah nun klar. Erstens war Ben ja wirklich in der Höhle von einigen Steinen getroffen worden, was man an den blauen Flecken an seiner Vorderseite erkennen konnte und dann kamen da noch die Schmerzen vom Status Epilepticus dazu. Während der angedauert hatte, waren alle Muskeln in Ben´s Körper unnatürlich verkrampft gewesen und die Patienten erzählten danach meistens von einer Art Ganzkörpermuskelkater. Man konnte das sogar im Labor erkennen, denn das CK, das Untergang von Muskelgewebe anzeigte, war massiv erhöht. „Schatz, ich hol dir was gegen die Schmerzen!“ sagte Sarah beruhigend und erhob sich, um nach draußen zu gehen.Ihre Kollegin fragte kurz den Arzt und nun bekam Ben eine Kurzinfusion mit Novalgin, einem guten, alten Schmerzmittel, das zugleich noch fiebersenkend wirkte.


    Bald wurde es leichter und nun fasste Ben nach oben und schob die Maske zur Seite. „Welchen Tag haben wir und wo bin ich eigentlich?“ fragte er, denn irgendwie kam ihm die Station bekannt vor und auch Sarah war hier so vertraut, wobei das war sie wohl auf jeder Intensivstation, irgendwie ähnelten die sich doch alle. „Ben, wir haben heute Freitag den 28.März und du bist in der Kölner Uniklinik auf meiner Intensivstation!“ erklärte Sarah. „Und wie bin ich hierhergekommen?“ wollte Ben nun wissen, dem es ganz unheimlich war, dass ihm ein paar Tage seines Lebens so einfach fehlten. Seine letzte Erinnerung war, wie es durch einen Schuss zum Höhleneinsturz gekommen war und ihm der Chemiker etwas gespritzt hatte-danach wusste er eigentlich fast nichts mehr.
    „Semir und ich haben dich aus der Höhle geschleppt. Der Haupteingang war verschüttet und so mussten wir durch einige Nebenstollen fliehen. Das Licht war auch weg-wir waren froh, dass wir dich lebend da rausgebracht haben!“ sagte Sarah und Ben sah sie eine Weile ganz erschüttert an. „Danke!“ sagte er dann. Nun erzählte Sarah weiter: „Wir wurden dann beschossen und Semir hat dich in unser Auto geschleppt und ist dann mit uns aus Tschechien geflohen. Dabei raste das Verfolgerfahrzeug gegen einen Baum und ist in Flammen aufgegangen. Einer der Verbrecher ist verbrannt, aber der Mann, der dich gefoltert hat, ist entkommen und konnte bis heute nicht geschnappt werden. Du hast eine Schussverletzung am Oberschenkel davon getragen“ sagte sie und wies auf den Verband an Ben´s Bein „ und die Erstversorgung wurde im Krankenhaus in Freyung-Grafenau vorgenommen. Allerdings hatte dir der kleine Mann ein Mittel gespritzt, das mit normalen Methoden nicht nachweisbar war und du wärst beinahe daran gestorben. Wir haben dich mit dem Hubschrauber hier nach Köln verlegen lassen, aber auch hier hätte man dir nicht helfen können, wenn Hartmut nicht ein Gegenmittel hergestellt hätte!“ fasste sie kurz die Ereignisse der letzten Tage zusammen und Ben schwieg ganz erschüttert.


    Nachdem die Sauerstoffsättigung nach wie vor zufriedenstellend war, tauschte Sarah die Maske gegen eine Brille aus, so konnte Ben viel besser sprechen. Er schluckte trocken und Sarah beeilte sich nun, ihm mit einem Mundpflegestäbchen den Mund feucht zu machen. Ben störte die Ernährungssonde in seinem Rachen unheimlich. „Wozu braucht man dieses Ding noch?“ fragte er anklagend und wieder machte sich Sarah auf den Weg, den Stationsarzt zu suchen. Der sah selber kurz nach seinem Patienten, der zwar inzwischen von dem Novalgin ziemlich zu schwitzen begonnen hatte, aber sonst wohlauf war. Er ließ sich einen Becher Wasser geben und reichte ihn Ben. „Probieren sie einen kleinen Schluck zu trinken!“ befahl er und Ben nahm mit zitternden Fingern den Becher entgegen. Es war zwar noch etwas ungewohnt, aber er schaffte es trotzdem, eine kleine Menge zu trinken, ohne sich zu verschlucken und nun nickte der Arzt. „Die Sonde kann raus und er darf schluckweise trinken!“ sagte er und er hatte das Zimmer noch nicht verlassen, da war Sarah schon in Handschuhe geschlüpft und begann, die Kleber an Ben´s Nase zu lösen. Grinsend drehte der Doktor sich in der Zimmertür um: „So eine Privatschwester hat was, nicht Herr Jäger?“ sagt er und nun musste Ben auch grinsen, was ihm allerdings schnell verging, als Sarah die Sonde nun herauszog, was ihn zum Würgen brachte. Sie wischte sein Gesicht dann auch noch mit einem feuchten Waschlappen ab, aber wenig später holte sie eine Kollegin. „Er ist ganz verschwitzt, wir müssen ihn frisch machen!“ bat sie und die Kollegin half ihr nun Ben kühl abzuwaschen, das Bett frisch zu überziehen, das unangenehm feucht war und ihn dann ein wenig anders hinzulegen. „Verdammt, ich komme mir vor, wie ein Baby!“ sagte er, aber irgendwie fehlte es ihm einfach noch an Kraft.


    Als die Schwester das Zimmer verlassen hatte, sagte er; „Aprops Baby-Sarah, wie geht´s unserem kleinen Spatz und habe ich mir das nur eingebildet, oder strampelt der tatsächlich?“ wollte er wissen und Sarah setzte sich nun so, dass Ben auf ihren Bauch fassen konnte, in dem es gerade wieder rund ging. Ben lag mit einem verzückten Lächeln im Gesicht da und fühlte sein Kind, das erst wieder wie wild strampelte, aber dann ruhig wurde und sich in Papa´s Hand schmiegte. „Das funktioniert jedes Mal!“ sagte Sarah verwundert. „Wenn der Zwerg auf der Welt ist, wird sich der wohl auch nur von dir beruhigen lassen-aber mir soll´s Recht sein-vor allem nachts!“ flachste sie dann und Ben erwiderte: „Das werden wir dann noch ausdiskutieren, wenn´s so weit ist!“ und sagte dann im Verschwörerton: „Gell Baby, das kriegen wir schon!“ und nun saß die kleine Familie eng zusammen und genoss, dass sie am Leben waren.


    Semir war inzwischen in die PASt gefahren und war bass erstaunt, dass Hintersteiner schon da war. Erstens war der voll fit, obwohl er sicher nicht weniger getrunken hatte als Semir und zweitens war es doch eine ganze Ecke von dessen Hotel zur PASt. „Bist du mit dem Bus gekommen, oder wie hast du das angestellt. Ich hätte dich doch abgeholt!“ sagte Semir, aber Hintersteiner grinste verschmitzt. „Ach das war viel einfacher! Ich bin gerade auf den Weg zur U-Bahnhaltestelle gewesen, da ist eine Streife an mir vorbeigefahren. Die habe ich aufgehalten, denen den Sachverhalt erklärt und meine Dienstmarke gezeigt und schon haben sie mich hergefahren-doch ich muss sagen, ihr Kölner Kollegen seid wirklich alle sehr nett!“ verkündete er laut und Susanne und die Chefin, die gerade aus ihrem Büro kam, konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

  • Hintersteiner wurde nun aber sehr schnell geschäftsmäßig und begann mit Semir´s Vernehmung. Er befragte ihn genauestens erst zu den Personalien und dann zu den Vorkommnissen in Tschechien und dem Bayerischen Wald. Semir bemühte sich, so exakt wie möglich und auch mit korrekten Zeitangaben zu antworten und es wurde ein genaues Protokoll erstellt. Semir wunderte sich fast, aber der ältere Kollege schrieb rasend schnell und völlig fehlerfrei am PC und wenig später war die erste Aussage in einer Form, dass sie vor jedem Gericht der Welt standhalten konnte. Semir unterschrieb und nun fiel Hintersteiner noch etwas ein: „Wo ist die Waffe, die du dem Verbrecher in der Höhle abgenommen hast?“ wollte er wissen, aber Semir lächelte. „Die habe ich ordnungsgemäß in unserer KTU abgegeben, ich denke, auch über deren ballistische und sonstige Untersuchung wird es vermutlich schon ein korrektes Protokoll geben, so wie ich meinen Kollegen Hartmut kenne!“ und ein kurzer Anruf bestätigte Semir´s Vermutung. Die Waffe tschechischer Herkunft war in der Asservatenkammer und auch darüber war genau Buch geführt worden. „Hervorragend!“ sagte Hintersteiner zufrieden und dann kamen sie überein, als Nächstes zu Andrea zu fahren und deren Aussage aufzunehmen und danach im Krankenhaus vorbeizuschauen.


    Diesmal in Semir´s Dienstwagen fuhren sie zu ihm nach Hause und dort wurde die nächste Aussage aufgenommen. Andrea war momentan ziemlich bedrückt, als sie sich wieder genau an die Abläufe des verhängnisvollen Abends erinnern musste, aber auch sie gab eine detaillierte Zeugenaussage ab und unterschrieb danach noch die Einverständniserklärung, dass das Gericht und die Polizei ihre Krankenakte zur Schnittverletzung, die ihr Jantzer zugefügt hatte, im Prozess verwenden durfte. „Und Frau Gerkan, seien sie nicht so dumm, sondern verklagen ihn noch zivilrechtlich auf Schmerzensgeld!“ empfahl ihr Hintersteiner und Semir sah ihn bewundernd an. Natürlich, da hatte der völlig Recht damit, nur hätte er selber daran gar nicht gedacht.
    Andrea war inzwischen wieder besänftigt wegen der Sauftour ihres Mannes am Vorabend-immerhin war dieser dicke Bayer mit dafür verantwortlich, dass sie noch lebte und so lud sie ihn dann noch gleich zum Mittagessen ein, das Margot in der Küche gerade fabrizierte. Es gab Gulasch und da war es schließlich egal, ob man ein paar Nudeln mehr abkochte-wie oft war Ben in seiner Vor-Sarah-Zeit schon bei ihnen zum Essen gewesen!


    Auch die beiden Mädchen, die vom Opa inzwischen wieder von Schule und Kindergarten abgeholt waren, begrüßten ein wenig schüchtern den fremden Mann mit dem komischen Dialekt, aber bald tauten sie auf und nach dem Essen hätten sie ihn liebend gerne noch ein wenig in Beschlag genommen, so gut konnte der mit Kindern. Trotzdem verabschiedeten sie sich, denn Hintersteiner wollte alle Protokolle am heutigen Tag, soweit möglich, fertig bringen, damit er im Anschluß seinen Köln-Urlaub genießen konnte.
    Auf dem Weg zur Uniklinik fragte Semir: „Josef, hast du auch Familie?“ aber nun zog ein Schatten über dessen Gesicht. „Nicht mehr-ich hatte eine Frau und eine Tochter, aber die sind bei einem schrecklichen Autounfall vor 25 Jahren ums Leben gekommen!“ erklärte er kurz und nun überkam Semir ein großes Mitleid-wie furchtbar! „Und das Schlimme war noch-ich kam in meiner Eigenschaft als Streifenbeamter als einer der ersten zur Unfallstelle, ich glaube nicht, dass ich da jemals drüber wegkomme!“ sagte Hintersteiner dann noch leise und schweigend fuhren sie nun zur Klinik und jeder hing seinen Gedanken nach.


    Im Krankenhaus angekommen, eilten sie zur Intensivstation und Semir ging erst mal alleine hinein, während Hintersteiner draußen wartete. Er war ganz überrascht, dass Ben erstens seinen Beatmungsschlauch schon los hatte und außerdem wach und völlig orientiert in seinen Kissen lag und sich mit Sarah unterhielt. Er hielt ihm die Hand hin und Ben schlug ein. „Mann du hast es mal wieder geschafft und bist dem Tod von der Schippe gesprungen!“ sagte er glücklich und Ben nickte. „Und daran bist du nicht ganz unschuldig, ohne deine Hilfe würde ich jetzt nicht mehr leben-und natürlich auch nicht ohne Sarah und Hartmut!“ sagte er leise und bedachte Sarah mit einem liebevollen Lächeln. Semir erklärte nun noch den zweiten Grund seines Besuchs und so saß wenig später Sarah mit Hintersteiner im Arztzimmer hinter verschlossenen Türen und gab ihre Version des verhängnisvollen Tages zu Protokoll, während Semir ein wenig mit Ben plauderte. Nur wenn sich der drehte, oder versehentlich an die Schussverletzung an seinem Bein kam, verzog er manchmal das Gesicht. „Tut´s noch sehr weh?“ fragte Semir besorgt, dem sein Rücken ebenfalls noch manchmal zu schaffen machte-so ein Bluterguss verging auch nicht in so kurzer Zeit. Ben schüttelte allerdings den Kopf. „Das geht schon, da habe ich schon mehr ausgehalten, ich bin nur dankbar, dass ich mein Kind aufwachsen sehen darf!“ sagte er ernst und hustete dann doch noch ein wenig.
    Semir erzählte ihm nun noch von den Vorkommnissen auf der deutschen Seite des Bergwerks und dass Andrea auch eine Oberschenkelverletzung erlitten hatte. „Richte ihr eine gute Besserung von mir aus!“ trug Ben ihm auf und dann stand auch schon Hintersteiner vor seinem Bett und befragte nun auch noch Ben zur Sache.
    Semir und Sarah waren inzwischen in die Krankenhauscafeteria gegangen, wo sich Sarah ein Mittagessen kaufte und Semir einen Espresso trank. „Ich bin so glücklich Semir-Ben erholt sich rasend schnell und der Chefarzt war vorhin da und hat gemeint, er dürfe morgen vielleicht schon auf die Normalstation und nächste Woche nach Hause-ist das nicht schön?“ sagte Sarah glücklich und da konnte ihr Semir nur beipflichten.

  • Tatsächlich-am nächsten Morgen war Ben so stabil, dass man die Arterie und den Dialysekatheter herauszog und ihn auf Normalstation in ein Einzelzimmer verlegte. Sarah brachte ein paar Sachen und am Samstag machte er mit dem Gehwagen seine ersten Schritte außerhalb des Bettes. Man hatte mit Kostaufbau begonnen und nachdem er das Essen gut vertrug, stellte man die Antibiotika auf Tabletten um und entfernte am Sonntag auch noch den ZVK und den Blasenkatheter. Ben machte fleißig Atemgymnastik und als am Sonntagnachmittag ein Rotschopf beim Zimmer herein lugte, schloss er den kumpelhaft in die Arme. „Mensch, Hartmut, dank dir, dass du das Gegenmittel hergestellt hast. Du hast mir das Leben gerettet, ohne dich würde ich jetzt nicht hiersitzen!“ bedankte er sich und Hartmut errötete vor Stolz. Ben hatte Sarah schon beauftragt einen riesigen Fresskorb zu organisieren und der würde in der kommenden Woche zu Hartmut nach Hause geliefert werden.


    Auch bei Andrea schritt die Genesung zügig voran und am Sonntag nach dem Frühstück sagte sie: „Mama, Papa, ich danke euch sehr herzlich, dass ihr uns so unterstützt habt, aber ich glaube, wenn ihr zuhause was Besseres zu tun habt-wir würden hier wieder alleine zurechtkommen!“ und so reisten Margot und Hans-Hubert nach dem Mittagessen ab.


    Hintersteiner hatte seine dienstliche Mission erfüllt und genoss nun seinen Urlaub in vollen Zügen. Keine Minute war ihm langweilig-er gönnte sich einen Ausflug mit dem Schiff auf dem Rhein und besichtigte jeden Tag etwas anderes-und am Abend natürlich immer eine andere Kölner Brauerei oder Kneipe, wovon es wahrlich genug gab. Er hatte pflichtbewusst auch einmal in seiner Dienststelle zuhause angerufen, in deren Telefonvermittlung jetzt eine neue Mitarbeiterin angelernt wurde, denn eine Vorgängerin saß mit einigen anderen Kollegen in Untersuchungshaft. Dank Jantzer´s Deal hatte man alle bestechlichen Beamten ermitteln können und so würde auch in Hintersteiner´s Heimat die Korruption wieder ein bisschen weniger werden. Allerdings fehlte vom Chemiker nach wie vor jede Spur, wie man ihm mitteilte. Auch der tschechischen Polizei waren noch ein paar Zugriffe gelungen und man hatte sogar mehrere Wohnungen ausgehoben, in denen gefälschte Reisepässe, Fluchtfahrzeuge und Geldbündel bereit waren, aber wo der Drahtzieher hinter diesen ganzen Dingen steckte, wusste niemand.
    Hintersteiner hatte in der Parkgarage seines Hotels einen goldfarbenen Mercedes mit Passauer Kennzeichen entdeckt-das war ein Nummernschild aus seiner Heimat-und er horchte beim Frühstücksbuffett immer, ob ihm ein niederbayerischer Dialekt bei irgendjemandem auffiel, aber er konnte nie den zugehörigen Fahrer identifizieren, aber das war so auch nicht möglich, denn der Chemiker nahm sein Frühstück im Zimmer ein. Er war ein Einzelgänger, der es hasste unter Menschen zu gehen, wenn es nicht unbedingt sein musste und jeden Abend fuhr er bei den Gerkans vorbei, um zu sehen, ob das Fahrzeug der Eltern noch da stand.Am Sonntag Abend war endlich eingetroffen, worauf er gewartet hatte-das Auto mit dem auswärtigen Kennzeichen in der Einfahrt war weg!
    Er war auch jeden Tag im Krankenhaus gewesen und hatte in immer wechselnden Verkleidungen die Verlegung Ben´s auf die Normalstation verfolgt. Einmal war er sogar in dessen Zimmer gewesen, als der gerade ein Mittagsschläfchen hielt und hatte die Lage gecheckt. Als Ben erwacht war, hatte gerade ein kleiner Mann das Zimmer verlassen, aber er hatte nur noch die Rückenansicht zu sehen bekommen und das auch schnell wieder vergessen. Der Chemiker allerdings hatte erfahren, was er wollte, denn auf dem Tisch waren schon die Medikamentenschachteln für die nächsten beiden Tage vorbereitet gewesen und daneben lag ein Zettel, wie lange nach der Entlassung Ben die Antibiotika gegen seine Pneumonie noch einnehmen sollte-also würde auch dieses Opfer jetzt bald zuhause sein und er konnte seine Rache vollenden.


    Der Montag kam heran und während Semir nun einige Zeit alleine Streife fahren würde, eventuell mal unterstützt von Jenni oder auch der Chefin, holte Sarah ihren Ben endlich nach Hause. Er war zwar noch schwach und humpelte, aber er konnte schon wieder ein paar Treppen steigen und die Pneumonie konnte man in diesem Stadium daheim genauso behandeln, wie im Krankenhaus.
    Andrea brachte die Kinder zwar mit dem Auto in Schule und Kindergarten, weil sie noch keine weiten Strecken laufen konnte und auch noch krank geschrieben war, aber zuhause kam sie prima schon wieder alleine zurecht. So war der Alltag wieder weitgehend eingekehrt und der Chemiker konnte es vor Vorfreude fast nicht mehr aushalten-heute Abend würde er seine Rache bekommen und dann endgültig untertauchen!

  • Semir hatte einen Routinearbeitstag hinter sich. Als er Mittagspause machte, rief er bei Sarah auf dem Handy an: „Und hat alles geklappt?“ fragte er und Sarah erzählte freudestrahlend, dass Ben zuhause sei und sie gerade dabei war, etwas Gutes zu Mittag zu kochen. Semir fiel ein Stein vom Herzen. „Wenn ihr irgendwas braucht, meldet euch, sonst komme ich abends kurz vorbei!“ kündigte er an und nahm dann aufseufzend wieder hinter dem Steuer Platz. Als er kurz vor fünf zurück in der PASt war, fiel ihm etwas ein, was er völlig vergessen hatte. „Susanne-könntest du mal nachschauen? Am Donnerstag hat es anscheinend in unserem Viertel ein Gasleck gegeben, wir haben Gott sei Dank davon nichts mitgekriegt, aber ein Mitarbeiter der Gaswerke hat im Haus danach gesucht. Uns würde interessieren, ob und wo die was gefunden haben!“ beauftragte er Susanne kurz vor deren Feierabend. Die durchsuchte das Internet, kam aber dann mit gerunzelter Stirn zu ihm. „Also ich kann da echt nichts finden. Jetzt wollte ich mich bei den Gaswerken selber erkundigen, aber da ist natürlich um diese Zeit keiner mehr erreichbar, außer der Störungsstelle halt-ist es denn wichtig?“ fragte sie, aber Semir winkte ab. „Nö, das war nur eine Interessefrage-immerhin steht unser Haus noch!“ sagte er, machte wie Susanne Feierabend und fuhr auf dem Nachhauseweg noch bei Ben und Sarah vorbei. Denen ging es gut, die Glotze lief und Ben lag gemütlich vor dem Fernseher auf dem Sofa, hatte eine Flasche Bier vor sich und eine Tüte Chips und Sarah war gerade dabei die letzten Wäschestücke aus dem Trockner zu nehmen und zu verräumen. „Na da kann man´s aushalten!“ lachte Semir, griff einmal in die Chipstüte, lehnte aber das angebotene Bier ab und machte sich dann auf den Weg nach Hause.


    Vielleicht konnte er Andrea da noch ein wenig zur Hand gehen, denn er war ehrlich froh, dass seine Schwiegereltern abgereist waren und wieder Normalbetrieb herrschte. Irgendwie war man doch nicht ganz so ungezwungen im eigenen Heim, wenn immer die Großeltern umeinander wuselten-so nett das gemeint war. Sie aßen zusammen Abendbrot und danach brachte Semir die Kinder alleine ins Bett und verbannte Andrea zum Erholen auf die Wohnzimmercouch. „Wir machen uns nachher einen schönen Fernsehabend-da kommt ein klasse Film, aber erst müssen die Mäuse schlafen!“ sagte er und nach der dritten Gutenachtgeschichte waren die beiden, die momentan auf eigenen Wunsch zusammen in einem Kinderzimmer schliefen, endlich in Morpheus Armen und Semir schlich sich lächelnd aus dem Raum.


    Hintersteiner hatte ein vorzügliches Abendbrot in einem gepflegten Restaurant eingenommen und bummelte dann gemütlich so gegen 22.30 Uhr zum Hotel zurück. Dessen Lage war ideal-man konnte die ganze Innenstadt zu Fuß erreichen, aber es war trotzdem ruhig und nicht so riesig. Gerade als er um die letzte Ecke bog, öffnete sich das automatische Tor der Parkgarage und der goldene Mercedes mit Passauer Kennzeichen fuhr heraus. Neugierig warf Hintersteiner einen Blick ins Wageninnere und als im Licht der nächsten Straßenbeleuchtung der Fahrer einen Moment sichtbar wurde, blieb ihm fast das Herz stehen. Er hatte den Mann, nach dem in ganz Europa gefahndet wurde, zwar noch nie persönlich gesehen, aber das war unverkennbar der Chemiker, der da am Steuer saß. Bis er reagieren konnte, war der aufs Gas gegangen und um die nächste Ecke verschwunden. Hintersteiner zögerte einen kurzen Moment, aber dann zog er sein Handy heraus und wählte als Erstes Semir´s Nummer. Der lag gemeinsam mit Andrea in seligem Schlummer auf dem Sofa vor dem laufenden Fernseher, aber als sein Handy in der Hosentasche zu vibrieren begann, war er sofort hellwach. Leise stand er auf, um Andrea nicht zu wecken, ging um die Ecke in den Hausflur und fragte: „Josef, was gibt´s?“ und der sagte aufgeregt: „Semir stell dir vor-der Verbrecher nach dem man überall fahndet, der Mann der Jäger verschleppt hat und diese Verbrecherorganisation aufgezogen hat, ist hier in Köln und wohnt anscheinend sogar im selben Hotel wie ich. Gerade ist er mit seinem Fahrzeug an mir vorbeigefahren, ich habe ihn fast zweifelsfrei erkannt!“ erklärte er Semir und der fragte aufgeregt: „Josef, was heißt fast-hast du ihn erkannt, oder nicht?“ wollte er nun wissen. „Nicht dass wir hier eine Maschinerie anlaufen lassen und derweil wird ein unschuldiger Tourist zum Opfer einer sinnlosen Fahndung!“ sagte er und nun wurde Hintersteiner doch ein wenig unsicher. „Na ja, ich habe ihn schließlich nur kurz gesehen und es war auch dunkel, außerdem hatte der eine Mütze auf, aber die dicke Brille und das Gesicht…, mit jedem Wort wurde er selber unsicherer. Vielleicht hatte er sich doch getäuscht und die erste Überzeugtheit verlor sich mit jedem Wort, das er zu Semir sagte. Der überlegte kurz entschlossen: „Weißt du was, Josef-ich komme zu dir ins Hotel, vielleicht können wir anhand des Meldebogens irgendwas rausfinden und wenn sich dein Verdacht bestätigt, können wir immer noch eine Fahndung rausgeben. Übrigens-kennt dich der Chemiker?“ wollte er dann noch wissen, aber Hintersteiner verneinte. Sie waren sich persönlich noch nie begegnet und erst seit den Fahndungsfotos wusste er, wer sein krimineller Gegenspieler wirklich war-er war wegen der vermuteten Korruption innerhalb der Polizei auf den Fall angesetzt worden-wie das alles zusammenhing, war ihm erst im Verlauf klar geworden.


    Semir überlegte kurz, ob er Andrea wecken sollte und ihr Bescheid sagen, aber dann entschied er sich, sie schlafen zu lassen. Er würde sie höchstens beunruhigen und ehrlich gesagt, glaubte er eher, dass Hintersteiner sich geirrt hatte. Wenn das tatsächlich der Chemiker sein sollte, dann wäre aber auch nichts verloren, denn dann wusste man, in welchem Hotel er sich versteckt hatte und konnte ihn bei seiner Rückkehr, mit dem Überraschungseffekt im Rücken, in aller Ruhe festnehmen, ohne großes Aufsehen zu erregen.
    So setzte er sich ins Auto und war 15 Minuten später beim Hotel angekommen, wo ihn Hintersteiner schon an der Rezeption erwartete. Semir zeigte seinen Polizeiausweis und bat um Einblick in das Melderegister des Hotels. Der Mann um den es ging, war ein Karl Tobler aus Passau und er war schon seit einigen Tagen hier Hotelgast. Semir rief in der Zentrale an und bat um eine Überprüfung der Personalausweisnummer und der Adresse. Als er die Antwort bekam, wurde sein Gesicht lang und länger. In Passau war kein Karl Tobler gemeldet, nicht unter der angegeben Adresse, noch woanders und ein Ausweis mit dieser Nummer existierte nicht! „Verflixt Josef, du könntest Recht haben!“ sagte er aufgeregt und teilte ihm in kurzen Worten mit, was er von der Zentrale erfahren hatte. Er bat um Verstärkung in Zivil, um den Verdächtigen nicht aufmerksam zu machen und dann öffnete ihnen der Portier das Zimmer des Mannes. Semir durchsuchte es schnell und professionell, aber es waren eigentlich kaum Besonderheiten zu finden-nur im Bad ein Kleber, den man für künstliche Bärte benutzte und eine Packung Kontaktlinsen. Als die Verstärkung eintraf, erklärte Semir den Kriminalbeamten mit kurzen Worten den Sachverhalt. Alle sahen sich nochmals das Fahndungsfoto an und auch der Portier bestätigte, dass es sich augenscheinlich um denselben Mann handelte, auch wenn der jetzt Bart und manchmal Kontaktlinsen trug. So postierte sich nun ein Kripobeamter unauffällig in der Eingangshalle und Semir, Josef und der dritte Mann warteten im Zimmer auf den Übeltäter. Dazu gab man noch eine Fahndung nach dem Mercedes raus, dessen Autonummer Hintersteiner beitragen konnte und dann begann das große Warten.


    Der Chemiker war inzwischen zu seinen ersten beiden Opfern gefahren. Er versicherte sich, dass seine Waffe geladen und das Messer in seiner Tasche frisch geschärft war. Auch die aufgezogene Spritze und das Klebeband kontrollierte er. Dann sperrte er erst unten die Eingangstüre auf, ging dann nach oben, öffnete leise die obere Tür und stand wenig später mit einem diabolischen Grinsen in der Wohnung.

  • Der Fernseher lief und mit einem Blick stellte er fest, dass der dunkelhaarige Polizist leise schnarchend auf der Couch davor schlief. Wie ein Schatten bewegte der Chemiker sich durch die Wohnung und schaute, wo die Frau sich aufhielt. Die war anscheinend schon ins Bett gegangen, weil alles ruhig war und so schlüpfte er durch die angelehnte Tür ins Schlafzimmer und tatsächlich, da lag die hübsche junge Frau zusammengerollt im Bett und schlief ebenfalls. Leise schloss der Chemiker die Tür hinter sich und bevor Sarah richtig wach wurde und sich wehren konnte, hatte er sich auf sie gestürzt, drückte sie mit seinem ganzen Körper aufs Bett und klebte ihr ein Stück Klebeband über den Mund. Nur ein erstickter Laut kam aus ihrem Mund, aber als sie dann entsetzt aufblickte, erkannte sie ihren Feind, der sich nun langsam aufrichtete und sie mit der Waffe in Schach hielt. Er ging zielsicher zu dem Schrank, in dem sie ihre ganzen Schals und Tücher-und das waren eine ganze Menge-aufbewahrte und holte Material, um sie zu fesseln heraus. „Einen Ton und ich erschieße erst dich und dann ihn!“ warnte er sie flüsternd und deutete mit einer Kopfbewegung Richtung Wohnzimmer. Sarah nickte, zum Zeichen dass sie verstanden hatte und verhielt sich ruhig. Fieberhaft kreisten ihre Gedanken, aber ihr fiel nichts ein, wie sie sich und Ben im Augenblick helfen konnte. Wenn sie sich auf einen Kampf mit dem skrupellosen Mann einließ, würde der einfach abdrücken und das wars und ehrlich gesagt, wusste sie auch nicht, was er mit ihr und Ben vorhatte, denn wenn er sie töten wollte, dann hätten wirklich zwei Schüsse genügt-einen für sie und einen für Ben und das wäre es gewesen! Also legte sie sich so aufs Bett, wie er ihr befahl und wenig später war sie an alle vier Ecken der Liegestatt mit ausgestreckten Armen und Beinen straff mit ihren eigenen Tüchern gefesselt. Der Chemiker stellte nun den Stuhl, über den Ben und sie abends immer achtlos ihre Kleidung warfen, in Position und wollte sich gerade mit einem diabolischen Grinsen umdrehen, um sein nächstes Opfer zu holen, als Sarah plötzlich sah, wie sich vorsichtig die Klinke der Schlafzimmertür nach unten bewegte.


    Ben war aus seinem Fernsehschlaf erwacht. Er wusste nicht warum, aber ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Verdammt, er hatte bei Urlaubsbeginn seine Waffe in der PASt im Waffenschrank einschließen lassen, weil er in den Ferien mit der Arbeit nichts am Hut haben wollte. Jetzt wäre er froh gewesen, er hätte sie bei sich gehabt, denn sein Gefühl sagte ihm, dass hier irgendetwas nicht in Ordnung war. Er musterte den großen Wohnraum mit der Tür, die direkt ins Treppenhaus führte, aber er konnte eigentlich nichts Außergewöhnliches entdecken. War er vielleicht paranoid? Vorsichtig erhob er sich, was ihm wegen seinem schmerzenden Oberschenkel und der immer noch ausgeprägten Schwäche und dem Ganzkörpermuskelkater durchaus schwer fiel. Langsam und leise umrundete er den Küchentresen, aber auch dahinter war nichts Besonderes zu entdecken. Ein kurzer Blick ins Bad und ins Arbeitszimmer-dem baldigen Kinderzimmer-ergab auch nichts Auffälliges. Blieb nur noch das Schlafzimmer mit der schlafenden Sarah darin. Um Himmels Willen, was war, wenn mit ihr und dem Kind irgendwas war? Warum war er überhaupt aufgewacht? Er meinte, ein ersticktes Geräusch gehört zu haben, aber das konnte durchaus aus dem immer noch laufenden Fernseher gekommen sein. Allerdings vertraute er eigentlich seinem Bauchgefühl und das sagte ihm: Hier stimmt etwas nicht! In Ermangelung einer anderen Waffe holte er aus dem Messerblock in der Küche ein großes Messer, atmete einmal tief durch und drückte dann langsam die Klinke zum Schlafzimmer nach unten.


    Semir und die anderen hatten sich angespannt im Hotelzimmer des Chemikers auf die Lauer gelegt, als plötzlich Semir´s Handy vibrierte. Er ging ran, denn der Kripobeamte aus der Eingangshalle würde sie ja, wie verabredet, warnen, wenn der Verdächtige eintraf und nun bekam er eine Meldung der Zentrale: „Gerkan, das gesuchte Fahrzeug, der goldfarbene Mercedes mit der Passauer Nummer wurde von einer Streife gefunden!“ sagte der Mann in der Zentrale. „Er steht in der Hindenburgstraße und es ist niemand darin, wie unsere Streifenbeamten festgestellt haben!“ Mit einem Fluch war Semir schon auf dem Weg zur Tür-das war Ben´s Adresse! „Josef schnell, der Chemiker ist bei meinem Kollegen-zumindest wurde da sein Wagen entdeckt!“ rief er Hintersteiner zu. „Ihr bleibt vorsichtshalber hier!“ befahl er dem Kripobeamten, während er schon, Hintersteiner dicht hinter sich, die Treppe hinunterhetzte. „Die Streifenbeamten sollen auf uns warten, wir sind in spätestens 10 Minuten da!“ instruierte er die Zentrale, denn im Gegensatz zu denen war er ortskundig und vor allem-er hatte einen Schlüssel zu Ben´s Wohnung an seinem Schlüsselbund! Er und Hintersteiner, der trotz seiner Leibesfülle flink wie ein Wiesel gerannt war, sprangen in den BMW, den sie um die Ecke am Lieferanteneingang geparkt hatten und mit Blaulicht und quietschenden Reifen rasten sie durchs nächtliche Köln, während Hintersteiner sich bemühte, wieder zu Atem zu kommen.

  • Ben öffnete langsam die Tür und spähte in den Raum. Allerdings hatte sich der Chemiker sowieso gerade dorthin umgedreht und bevor Ben in irgendeiner Weise reagieren konnte, hatte der Verbrecher zugegriffen, ihn ins Schlafzimmer gezogen und ihn entwaffnet. Er konnte sich gar nicht so schnell orientieren und der Chemiker war lange Jahre beim tschechischen Militär gewesen, bei dem eine Nahkampfausbildung und ständiges Training zum Alltag gehörte. Nun weiteten sich Ben´s Pupillen, als er durch den Ruck nach vorne stürzte und Sarah gefesselt auf dem Bett vor sich sah. Er war zwar entwaffnet, aber deswegen würde er nicht kampflos aufgeben! Mit dem Mute der Verzweiflung versuchte er seinen Sturz nach vorne, wie er es im Judotraining auf der Polizeischule gelernt hatte, auszunutzen und den anderen Mann mit zu Boden zu reißen, was ihm momentan auch gelang und den Chemiker völlig überraschte. Der Polizist war doch eigentlich noch überhaupt nicht fit und er hatte ehrlich gesagt mit gar keiner Gegenwehr gerechnet. Binnen Kurzem wälzten sich zwei verbissen kämpfende Männer über den Boden und Sarah konnte dem Schauspiel nur mit schreckgeweiteten Augen folgen. Die Waffe, die der Chemiker im Hosenbund stecken hatte, schlitterte über den Boden und verschwand momentan unter dem Bett. Ben hatte einen Augenblick sogar die Oberhand und drückte den kleinen Mann zu Boden, als der plötzlich in seine Hosentasche griff und ein kleines, scharfes Messer herauszog und es in Ben´s Bauch rammte. Das Messer war zwar nur kurz und drang auch gar nicht weit ein, aber Ben durchfuhr ein dermaßen scharfer Schmerz, dass er aufschrie und einen Augenblick seinen Griff lockerte, was der Chemiker natürlich sofort ausnutzte und bis Ben sich versah, hatte er beide Hände auf den Rücken gedreht, der Chemiker, dessen Zornesader an seiner Schläfe furchterregend angeschwollen war, angelte mit dem Fuß seine Waffe wieder hervor und setzte sie dann an Ben´s Schläfe an und Sarah gab nur noch einen gedämpften Entsetzenslaut von sich, denn sie war sich fast sicher, dass der Bösewicht nun abdrücken würde.


    Stattdessen drängte er Ben, dessen erste Schmerzwelle abgeebbt war und der sich nun verfluchte, dass er sich hatte überwältigen lassen, zum vorbereiteten Stuhl und bis sich der versah war er ebenfalls mit Sarah´s Schals und Gürteln fest fixiert und konnte keine Gegenwehr mehr leisten. Auch auf seinen Mund wurde ein Streifen dickes Panzerband geklebt und nun war auch Ben handlungsunfähig und konnte nicht mehr um Hilfe rufen. Nun nahm der Chemiker erst einmal seine dicke Brille ab, putzte sie und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Auch Ben´s Nasenflügel weiteten sich hektisch, denn die Luft, die dadurch in seine immer noch angegriffene Lunge strömte war fast nicht ausreichend. Sarah, die genau in seiner Blickrichtung lag, beobachtete ihn ängstlich und betete, dass er nicht sofort ersticken würde. Sein weißes T-Shirt, das er über der schwarzen Jogginghose trug, begann sich rot zu färben, aber Sarah wagte zu hoffen, dass das Messer nicht allzu tief eingedrungen war, denn wenn der Darm verletzt war, schwebte Ben in höchster Lebensgefahr! Ein großes Blutgefäß schien nicht betroffen zu sein und im Geiste begann sich Sarah schon auf die entsprechenden Erste-Hilfe-Maßnahmen vorzubereiten, als der Chemiker plötzlich zu sprechen begann.


    Mit seiner unangenehmen, relativ hohen Stimme, die beide noch aus der Höhle in fürchterlicher Erinnerung hatten, sagte er: „Strafe muss sein! Ihr beide wart maßgeblich daran beteiligt, dass mein Lebenswerk, meine gutgehende Firma, alles was mir was bedeutet hat, nun vernichtet ist. Ich habe zwar genügend Geld zur Seite geschafft, dass ich bis zum Ende meiner Tage sorgenfrei leben kann, aber ich werde es nicht hinnehmen, dass ihr und der andere Polizist-Gerkan-mit seiner Frau, meine Kreise gestört habt. Wenn ich mit euch fertig bin, werdet ihr euch wünschen, nie geboren zu sein. Ich werde euch jetzt erst erzählen, was ich nachher mit Gerkans Kindern anstellen werde! Sie werden bei lebendigem Leibe verbrennen und ihre Eltern werden hilflos dabei zusehen!“ erklärte er und ein heilloses Entzücken schwang in seiner Stimme mit. Sarah wechselte einen entsetzten Blick mit Ben. Der Typ war total wahnsinnig. Fieberhaft zermartete sie sich den Kopf und man sah, dass es auch hinter Ben´s Stirn ratterte. Was konnten sie nur tun, um Semir zu warnen und Ayda und Lilly vor diesem Verbrecher zu schützen?
    „Aber erst seid ihr dran!“ sagte dann der Chemiker. „Und damit ihr euch gleich darauf einstellen könnt, was euch erwartet, werde ich euch jetzt, während ich meine Vorbereitungen treffe, erzählen, wie eure letzte Lebensstunde verlaufen wird!“


    Semir drückte aufs Gas, er schlitterte um die Kurven und je näher er und Hintersteiner Ben´s Wohnung kamen, desto mehr Angst hatte er davor, was sie da wohl erwarten würde.

  • Der Chemiker holte nun aus seiner Tasche eine gefüllte Spritze und legte sie neben sich auf die Kommode. Dann legte er eine fachgerechte Stauung an Ben´s Arm an. Sarah atmete innerlich fast ein wenig auf. Er würde Ben wohl wieder das komische Mittel spritzen, aber zum Glück hatte sie die zweite Hälfte von Hartmut´s Gegenmittel noch im Kühlschrank liegen, wo sie es nach der Injektion der ersten Dosis deponiert hatte. Das hatte gut gewirkt und wenn man nicht so lange wartete wie beim letzten Mal mit der Gabe des Gegenmittels, dann würden die Symptome hoffentlich nicht so schwer werden. Ben zuckte ein wenig zurück, als sich die Nadel in seinen Arm bohrte, aber ihm war klar, dass er keine Chance hatte, komplett wegzukommen. Außerdem war es schon einmal gut gegangen und er meinte aus Sarah´s Reaktion zu sehen, dass sie nicht sonderlich beunruhigt war! Eigentlich erwartete er beinahe, jetzt wieder bewusstlos zu werden, wie in der Höhle, aber nichts dergleichen geschah. Mit einem zufriedenen Grinsen löste der Chemiker die Stauung, zog die Nadel wieder aus Ben´s Arm und begann zu erklären: „Herr Jäger, was ich ihnen da gerade gespritzt habe, ist ein seltenes Schlangengift aus Südamerika. Die Wirkungsweise ist folgendermaßen: Sie werden jetzt ganz langsam von außen nach innen gelähmt werden. Beginnend mit den Beinen wird ihr ganzer Körper langsam keine Muskelkontrolle mehr haben. Sie werden bei vollem Bewusstsein miterleben, wie der Weg des Giftes langsam fortschreitet. Zuletzt wird ihre Atemmuskulatur gelähmt und dann werden sie ersticken. Ach ja als kleine Nebenwirkung, sozusagen als kleines Extra obendrauf verursacht dieses Nervengift noch schreckliche Schmerzen!“ sagte er und Sarah sah ihn völlig entsetzt an, während Ben meinte, in den Beinen schon ein Kribbeln zu spüren.


    „Und nun zu ihnen, junge Frau. Was ist wohl das Schrecklichste, was sie sich vorstellen können?“ sinnierte er, während er langsam begann, Sarah´s Schlafshirt aufzuschneiden, so dass ihr gewölbter Bauch nun unbarmherzig dem hellen Licht, das er inzwischen eingeschaltet hatte, ausgesetzt war. Ben starrte fassungslos auf ihn. Was hatte dieses perverse Schwein mit seiner Sarah vor? „Ich werde das Kind bei lebendigem Leib aus ihrem Bauch schneiden-ganz langsam, damit auch alle was davon haben!“ sagte er und sein Blick hinter der dicken Brille wanderte von einem zum anderen. „Jäger, das Letzte, was sie sehen werden, bevor sie ersticken, ist ihr Kind, das vor ihren Augen sterben wird und ihr kleine Frau, die ganz nebenbei verblutet.“
    Mit einem irren Kichern schaute er dann Ben prüfend an. „Spüren sie schon was?“ fragte er und in diesem Augenblick durchfuhr Ben ein schrecklicher Ganzkörperschmerz, der durch seinen Körper jagte. Er verzog das Gesicht und ächzte unter dem Klebeband, so furchtbar war das. Sarah hatte die pure Panik im Blick und während Ben merkte, wie langsam seine Arme und Beine begannen schlaff zu werden, ebbte die erste Schmerzwelle ab und voller Entsetzen sah er, wie sich das kleine scharfe Messer, das vorhin in seinem Unterleib gesteckt hatte, jetzt über Sarah´s Bauch fuhr und eine klitzekleine rote Spur, wie eine Markierung hinterließ. Sarah kniff die Augen zusammen, klar tat das weh, aber im Moment, war das nur ein Kratzer, aber sie war überzeugt, dass der Chemiker sein Versprechen wahrmachen würde. Hier und jetzt würden sie alle drei sterben und die Tränen begannen nun aus ihren Augen zu fließen.


    Semir und Hintersteiner waren endlich vor Ben´s Wohnung angelangt. Die beiden Streifenpolizisten standen vor dem Mercedes und Semir und Hintersteiner sprangen schon heraus, während der BMW nun erst mit quietschenden Reifen komplett zum Stehen kam. „Fordert Verstärkung und einen Krankenwagen an-wir wissen nicht, was uns jetzt erwartet!“ bat Semir die beiden Uniformierten. „Und dann sichert Vordereingang und die Feuertreppe hinterm Haus!“ befahl er. Er und Hintersteiner würden schon zu zweit mit dem Chemiker fertigwerden, immerhin hatten sie den Überraschungseffekt auf ihrer Seite.

  • Leise rannten die beiden so unterschiedlichen Polizisten die Treppe hinauf und Semir holte derweil schon den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche. Obwohl es nie mehr nötig gewesen war, einen ausgesperrten Ben hineinzulassen, seitdem er mit Sarah zusammen war, hatte Semir irgendwie nie daran gedacht, den Schlüssel von seinem Bund zu entfernen und jetzt dankte er Gott dafür. Wenig später waren sie vor der Wohnungstür angekommen und lauschten beide, aber es war nur ein laufender Fernseher zu vernehmen. Die Tür war auch nicht aufgebrochen-sollte der Chemiker da drin sein, müsste ihm ja fast die Tür geöffnet worden sein-oder er war über die Feuerleiter durch ein geöffnetes Fenster eingestiegen, das war ja auch möglich!
    Semir informierte im Flüsterton Hintersteiner. „Wenn ich jetzt die Tür aufsperre, stehen wir sozusagen gleich im großen Wohn-Essraum. Das bedeutet, dass wir vermutlich sofort reagieren müssen!“ sagte er und Hintersteiner nickte. Semir zog seine Waffe, aber Hintersteiner zuckte nur mit den Schultern. Natürlich hatte er aus Bayern keine Waffe mitgebracht-wie hätte er sie auch ordnungsgemäß im Hotel wegschließen können? Semir überlegte kurz, nochmals hinunter zu laufen und sich eine Waffe von den Uniformierten zu leihen, aber das würde wieder Zeit kosten. Also gab er Hintersteiner seine Pistole, denn er selber war sicher wesentlich fitter und beweglicher, falls es zum Nahkampf kam. Immer noch war kein besonderer Laut aus der Wohnung zu vernehmen, als Semir nun den Schlüssel ins Schloss steckte und langsam umdrehte.


    Ben starrte voller Entsetzen auf seine kleine Familie. Das konnte der Chemiker doch nicht machen! Er wollte ihn anschreien, ihm erklären, dass Sarah mit dem Ganzen überhaupt nichts zu tun hatte-er hatte schließlich seine kriminalistische Ader nicht unterdrücken können und so den Stein ins Rollen gebracht, der zur Zerschlagung des Verbrechersyndikats geführt hatte, da konnten weder Sarah noch sein Kind und schon gar nicht Semir und seine Familie etwas dazu. Er war jetzt sowieso dem Tod geweiht, aber damit hatte er sich letzte Woche schon abgefunden gehabt. Er würde sterben, aber das durfte einfach nicht sein, dass die anderen für seine Schuld büßen mussten! Ein ersticktes Gurgeln drang unter dem Klebeband hervor, aber erstens überrollte Ben nun die nächste Schmerzwelle und nun merkte er, wie ihm das Atmen immer schwerer fiel, während Arme und Beine schon schlaff an ihm herunterhingen. Sarah sah ihn die ganze Zeit mit panisch aufgerissenen Augen, aus denen die Tränen flossen, an. Auch sie versuchte unter dem Klebeband irgendwelche Laute von sich zu geben, aber der Chemiker, der Ben zufrieden gemustert hatte, drehte sich nun zu ihr um, um sein Werk zu vollenden. Er hob wieder das kleine Messer und versenkte es ein ganzes Stück oberhalb des Nabels in Sarah, die unter ihrem Knebel nun aufstöhnte.


    Semir und Hintersteiner hatten leise die Tür geöffnet, voller Anspannung, was sie wohl erwarten würde, aber der große Wohnraum war leer, nur der Fernseher lief. Allerdings schien aus dem Schlafzimmer, dessen Tür nur angelehnt war, ein heller Lichtschein und als sie vorsichtig näherschlichen, hörten sie daraus ein ersticktes Gurgeln. Die beiden sahen sich an, Hintersteiner hob die Waffe und hielt sie mit beiden Händen, während Semir nun mit einem Ruck die Tür aufstieß. Was sie nun sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Ben saß gefesselt und mit Klebeband über dem Mund auf einem Stuhl mit vollem Blick auf das Bett. Sein weißes T-Shirt hatte einen kleinen Blutfleck im unteren Bereich, aber sonst schien er bisher unversehrt.Sarah lag ausgestreckt mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Bett, ein langer blutiger Streifen verlief der Länge nach über ihren Babybauch und gerade als sie das Zimmer betraten senkte sich das Messer, das der Chemiker in seiner rechten Hand hielt in ihren Bauch. Hintersteiner zögerte nicht lang. Der Chemiker stand so gebeugt, dass er, wenn er versucht hätte einen tödlichen Schuss anzubringen, Sarah gefährdet hätte und so zielte er auf dessen Schulter und drückte einen Sekundenbruchteil später ab. Er verletzte den Chemiker zwar, der mit einem Aufschrei das Messer losließ und durch die Wucht des Aufpralls zurückgeworfen wurde, aber er traf eigentlich nicht genau so, wie er sich das vorgestellt hatte. Jede Waffe reagierte ein wenig anders und um präzise damit zu schießen, musste man auf dem Schießstand damit geübt haben. Der Chemiker hatte zwar eine Verletzung an der Schulter, aber das war mehr ein harmloser Streifschuss, als eine ernsthafte Sache, doch immerhin, er hatte von Sarah abgelassen. Semir stürzte sich auch sofort auf ihn und schon kugelte ein ineinander verknotetes Bündel Kämpfender über den Boden und nun war es für Hintersteiner unmöglich, erneut zu schießen, denn er hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit Semir getroffen, außerdem musste er sich dringend um Sarah kümmern, die voller Schock auf ihren Bauch starrte, in dem immer noch die Klinge des Messers steckte. Mit zwei Schritten war er bei ihr, riss ihr das Klebeband vom Mund und sagte: „Hilfe ist schon unterwegs!“, während er sich hektisch nach etwas umsah, mit dem man die Blutung stillen konnte.


    Leider hatte er einen Augenblick Semir und den Chemiker aus dem Blickfeld verloren und dem kleinen Mann mit der dicken Brille war es gelungen, das Messer zu greifen, mit dem Ben ihn bedroht hatte und das halb unters Bett gerutscht war. Mit dem stieß er zu und auch Semir hatte nun plötzlich eine schmerzhafte Schnittverletzung am Oberarm, denn das scharfe Fleischmesser war wie Butter durch seine Jacke und sein Shirt gedrungen. Er ließ vor Schreck nur einen Augenblick locker, aber schon war der Chemiker aufgesprungen und wie ein Wiesel aus dem Schlafzimmer gewitscht. Er raste zur Wohnungstür hinaus, drehte den Schlüsselbund, der noch außen an der Tür steckte, um, rannte die Treppe hinunter und zog auf seiner Flucht schon die Waffe aus dem Hosenbund.
    Unten stand er wenig später einem völlig überraschten Streifenbeamten gegenüber und bevor der auch nur irgendwie reagieren konnte, hatte er ihn schon niedergeschossen, holte den Wagenschlüssel aus seiner Hosentasche, sprang in seinen Mercedes und jagte mit quietschenden Reifen davon.


    Hintersteiner hatte sich zwar umgedreht und war mit einem Fluch hinter dem Chemiker her, aber als ihm nun die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde und sich der Schlüssel im Schloss drehte, wandte er sich wieder um, um nach den Verletzten zu sehen. Semir hatte sich schon aufgerappelt und warf Hintersteiner nun seinen BMW-Schlüssel zu. „Bei mir ist´s nur ein Kratzer-ich kümmere mich hier um die beiden-schnapp dir das Schwein!“ rief er dem dicken Bayern zu, der kurz nickte und nun das Fenster öffnete und über die Feuerleiter verschwand, wie ihn Semir anwies. Er rief laut, damit sein Kollege unten auch wusste, dass es nicht der Übeltäter war, der so entkam, aber der Uniformierte war in diesem Augenblick schon unterwegs nach vorne zur Straße, denn da hatte gerade ein Schuss gehallt. Josef sah, wie der Polizist sich über seinen Kollegen beugte-auch der war anscheinend erst mal versorgt- und sperrte dann den BMW auf. Er rutschte den Sitz ein ganzes Stück nach hinten, startete den Motor und folgte dann den Rücklichtern des Mercedes, die gerade um eine Kurve verschwanden.

  • Semir hatte sich gerade Sarah zugewandt, die immer noch voller Entsetzen auf ihren Bauch starrte, aus dem das kurze Messer ragte, da wandte die ihren Blick zu Ben und schrie dann: „Semir, er erstickt, du musst ihn beatmen!“ und Semir sah sich nun verwundert nach Ben um, der gerade begann blau anzulaufen. Mit einem Ruck riss er das Klebeband von dessen Mund, ohne dass sich dessen Gesichtsfarbe merklich besserte. Sarah sagte mit zitternder Stimme: „Der Chemiker hat ihm ein Schlangengift gespritzt, das die Atmung lähmt, er kann nicht mehr selber Luft holen!“ und nun starrte Semir sie völlig fassungslos an. „Lass mich liegen, wir können sowieso nichts machen, das Messer müssen die Ärzte herausholen und schauen, ob dem Baby etwas passiert ist. Mir geht’s noch gut, also kümmere dich um Ben!“ befahl Sarah regelrecht und Semir begann den nun mit zitternden Fingern von seinen Fesseln zu befreien, um ihn auf den Boden zu legen. Sein Brustkorb hob und senkte sich kaum noch, mit dem letzten bisschen Muskelkraft versuchte er krampfhaft Luft in seine Lungen zu ziehen, aber es war vergeblich. Die schrecklichen Ganzkörperschmerzen hielten ihn gefangen und trotzdem hielt er seinen Blick fest auf Sarah gerichtet. Er wusste nicht, war es deren Ende und das seines Kindes? Die Geräusche begannen in seinen Ohren zu hallen und wie weniger als eine Woche vorher, war er überzeugt, nun in diesem Augenblick sterben zu müssen, nur war es diesmal viel schlimmer, denn er hatte seine Familie nicht schützen können! Es war alles umsonst gewesen und als er nun fühlte, wie Semir ihn teilweise losschnitt und dann wieder losband, wunderte er sich fast, dass er jede einzelne Berührung wahrnehmen konnte, aber nicht fähig war zu atmen. Kurz bevor die Bewusstlosigkeit nun doch von ihm Besitz ergriff, merkte er, wie er auf den Boden gelegt wurde, jemand seinen Kopf in den Nacken überstreckte und ihm Luft einblies. Seine Augen hatten sich geschlossen, auch die Augenmuskeln waren nun von der lähmenden Wirkung des Giftes betroffen, aber in seinem Gehirn hatte sich dieser schreckliche letzte Anblick eingeprägt-Sarah, die blutüberströmt auf ihrem Bett lag und das Messer aus ihrem Bauch ragte, das sich im Takt ihrer Atemzüge hin-und her bewegte.


    Semir hatte hektisch begonnen, Ben zu beatmen, der völlig schlaff auf dem Boden lag und mit keinem Muskel zuckte. Mit jedem Atemstoß, den er ihm zukommen ließ, kehrte dessen Bewusstsein und auch seine Schmerzen zurück, aber er konnte keinen Kontakt mit seiner Umwelt aufnehmen, denn er war vollständig gelähmt. Ben spürte Semir´s Bartstoppeln in seinem Gesicht und musste innerlich fast lachen, welche makaberen Gedanken ihm da durch den Kopf schossen. Sollte er, falls er das Ganze doch überlebte, sagen: „Hey Semir, du musst dich häufiger rasieren, falls du mich wieder beatmen musst!“Verzweifelt versuchte Ben einen Blick auf Sarah zu erhaschen, aber es war ihm unmöglich, die Augen zu öffnen. Was war mit ihr und was war mit dem Kind? Ben hörte Sarah´s zittrige Stimme: „Semir, du machst das gut, aber mir wird gerade furchtbar schwindlig. Kannst du bitte meine Beine losbinden und da ein Kissen unterlegen, damit das Blut nach oben und zu unserem Baby fließt. Das bewegt sich gerade wie wild, ich habe Angst, es wird sonst unterversorgt!“


    Bei allem Schock und Schmerz hörte Ben nur, dass Sarah anscheinend bei Bewusstsein war und ihr Kind auch lebte-noch! Er wollte schreien: „Semir lass mich, kümmere dich um die beiden!“ aber kein Ton verließ seine Lippen. Aus der Ferne hörte man ein Martinshorn und Semir, der fast am Verzweifeln war, weil er sich ja nicht in der Mitte zerreißen konnte, begann wieder Hoffnung zu schöpfen-professionelle Hilfe nahte. Er stieß Ben einen letzten Atemzug ein, band dann in Windeseile Sarah´s Beine los und legte die Zudecke zusammengerollt darunter, wie sie ihm geheißen hatte. Dann beatmete er Ben wieder ein paarmal, um dann wieder zu Sarah zu eilen, die inzwischen käsebleich geworden war und kalte Schweißtropfen auf der Stirn hatte. Ihr Puls raste und war fadenförmig und Semir sehnte sich nur danach, endlich Unterstützung zu bekommen, denn die Sache hier wuchs ihm langsam über den Kopf!


    Hintersteiner war den Rücklichtern des Mercedes gefolgt. Der fuhr in einiger Entfernung und dem dicken Bayern gelang es zwar, ihm durch die Dunkelheit zu folgen, aber er konnte auch nicht aufholen. Verdammt noch mal-wo flüchtete der Verbrecher nur hin? Hintersteiner war ja nicht ortskundig, aber der Chemiker genauso wenig, allerdings war der die Strecke, der er nun folgte, schon mehrmals in beide Richtungen gefahren. Hintersteiner war sich nicht sicher, ob der kleine Mann bemerkt hatte, dass er verfolgt wurde, immerhin war die Entfernung doch recht groß. Der dicke Polizist griff nach dem Funkgerät. Wie hieß dieses Fahrzeug, bzw. das Team Semir´s noch, irgendwas mit einer Schlange-ah ja: „Cobra11 an Zentrale!“ sagte er dann „Ich brauche ihre Hilfe!“

  • Der RTW war eingetroffen. Drei Sanitäter sprangen heraus und eilten zu dem auf dem Boden liegenden Polizisten, der von seinem Kollegen reanimiert wurde. Alles war voller Blut und sein Partner tat sein Möglichstes, um ihm zu helfen. Die Sani´s schlossen den Monitor an, forderten einen Notarzt zu und begannen professionell mit der Rea weiterzumachen. Der Uniformierte stand schwer atmend daneben und rang die Hände. „Günther hat zwei kleine Kinder zuhause!“ sagte er geschockt und beobachtete die Hilfsmaßnahmen. Irgendwann-der Notarzt näherte sich schon mit Blaulicht fiel ihm dann ein, dass der zweite Polizist vorher gar nicht mit aus dem Haus gekommen war. Nur der Dicke war in den Wagen gesprungen und hatte den Mann verfolgt, der seinen Freund und Kollegen niedergeschossen hatte. Nachdem er hier nun nichts mehr tun konnte, denn die professionelle Hilfe war in vollem Gang, beschloss er, nun doch mal nach oben zu gehen und nachzusehen, was mit dem anderen Polizisten los war. Er wusste, dass die beiden Zivilbeamten in die Wohnung eines weiteren Kollegen, eines Ben Jäger, der ihm persönlich aber unbekannt war, gegangen waren, aber mehr auch nicht. Günther und er hatten die Fahndung nach dem goldfarbenen Mercedes gehört, er war ihnen auf Streifenfahrt aufgefallen und sie hatten das an die Zentrale gemeldet. Dann hatten sie die Order gekriegt, dort zu warten, bis Verstärkung eintraf und mehr war ihnen zu dem Fall nicht bekannt gewesen. Sie hatten auch keine Schutzwesten getragen, denn niemand hatte ahnen können, dass dieser Einsatz so gefährlich war!


    Gerade fuhr ein weiteres Streifenfahrzeug um die Ecke und nachdem auch die geschockt gesehen hatten, was mit ihrem Kollegen passiert war, gingen sie, allerdings mit Schutzwesten und gezogener Waffe, nach oben in die Wohnung Ben Jäger´s. Sie hatten über Funk nun schon mehr Informationen und wussten, dass ein tschechischstämmiger kleiner Mann gesucht wurde, der Drahtzieher eines Verbrechersyndikats war-allerdings erklärte ihnen ihr Kollege, der ebenfalls geschockt und überall voller Blut war, dass der wohl seinen Partner niedergeschossen hatte und dann mit dem gesuchten Fahrzeug geflüchtet war, verfolgt von einem der beiden Zivilbeamten.
    Ein Schlüssel steckte von außen an der Wohnungstür-ah das erklärte, warum der dicke Polizist wohl über die Feuertreppe gekommen war! Vorsichtig drehten die drei Uniformierten den Schlüssel um und betraten mit gezogenen Waffen die Wohnung, man konnte ja nicht wissen, was einen da erwartete! Der Fernseher lief und der große, modern eingerichtete Wohnraum war leer. Allerdings schien ein heller Lichtschein aus einem danebenliegenden Raum und man hörte einen Mann keuchen, der anscheinend am Ende seiner Kräfte war.


    Semir hörte, wie endlich die Wohnungstür geöffnet wurde. Er war fix und fertig, aber dann schaffte er es zwischen zwei Beatmungszügen zu rufen: „Schnell hier brauchen wir Hilfe!“ und nun spähte ein uniformierter Kollege mit gezogener Waffe vorsichtig um die Ecke. Als er sah, dass hier ebenfalls Erste Hilfe-Maßnahmen in Gang waren, aber kein Verbrecher weit und breit war, steckte er die Waffe weg und eilte zu Semir. „Habt ihr keinen Arzt dabei? Ich habe hier zwei Schwerverletzte!“ rief Semir und blies dann Ben wieder seinen Atem ein. „Schnell-fordert noch zwei RTW´s an und hol einer nen Sani von unten!“ rief der Polizist, der nun in dem Schlafzimmer stand und fassungslos und geschockt die Szenerie musterte. Am meisten setzte ihm der Anblick der jungen Frau zu, die in einer Blutlache mit hochgelegten Beinen und an den Händen gefesselt auf dem Bett lag. Aus ihrem schwangeren Bauch ragte ein Messer und sie war käsebleich und atmete stoßweise. Um Himmels Willen, was war hier geschehen?
    Am Boden lag ein völlig schlaffer, anscheinend bewusstloser dunkelhaariger Mann, der von dem kleinen Kripobeamten in Zivil, der ebenfalls am Arm blutete, beatmet wurde. Der Polizist, der ja ständig in Erster Hilfe geschult wurde, ließ sich auf die Knie fallen und sagte zu Semir: „Ich übernehme hier!“ und begann nun seinerseits, Ben seinen Atem einzublasen. Natürlich musste er den Ekelfaktor überwinden, aber der bewusstlose Mann war anscheinend ein Kollege und sah gepflegt aus-er würde sich da hoffentlich nichts holen- und so trat Semir nun zu Sarah und schnitt gerade ihre Handfesseln auf, als nun der Notarzt und ein Sani mit Rettungskoffer und Monitor ins Zimmer kamen.
    Der Notarzt trat zu Sarah und fragte: „Welche Schwangerschaftswoche?“ und sie sagte, kurz davor ohnmächtig zu werden: „Einundzwanzigste und das Kind bewegt sich noch!“ bevor sie wieder die Augen schloss. Dann nahm sie ihre letzten Kräfte zusammen und flüsterte: „Semir, der Chemiker will deiner Familie was antun!“ bevor sie nun in die Bewusstlosigkeit versank.


    Semir starrte sie geschockt an. Nun fiel ihm noch ein, was er dem Arzt dringend mitteilen musste: „Mein Kollege hier hat anscheinend Schlangengift gespritzt gekriegt, das die Atmung lähmt-sein Puls war die ganze Zeit kräftig, drum habe ich nicht gedrückt!“ aber dann befiel ihn eine dermaßen große Angst um Andrea und die Kinder, dass er nun einen der Polizisten mit sich zog und kurzerhand als Ranghöherer anordnete: „Die machen das hier schon, schnell, kommen sie mit, wir müssen zu mir nach Hause!“ und dann schon wie vom Teufel persönlich gejagt, begann, die Treppe hinunterzurennen.


    Auf Hintersteiner´s Funkspruch meldete sich Susanne, die diese Woche Nachtdienst hatte. „Zentrale an Cobra11-wie kann ich ihnen helfen und wo ist Gerkan?“ fragte sie, während sie schon mit fliegenden Fingern begann, den BMW zu orten. Josef war einen Moment lang unaufmerksam gewesen und nun hatte er die Rücklichter aus den Augen verloren. Verdammt noch mal, wo war der Chemiker hin? Während er Susanne am anderen Ende den Sachverhalt erklärte, begann er in der Gegend herum zu fahren, um den goldfarbenen Mercedes wieder zu entdecken, aber momentan war sein Tun leider nicht von Erfolg gekrönt!

  • Der Chemiker sah zufrieden in den Rückspiegel. Na endlich hatte er es geschafft, seinen Verfolger abzuhängen! Er ging nun aufs Gas und fuhr voller Zorn zum Haus dieses kleinen Polizisten. Der sollte sehen, was es bedeutete, sich mit ihm anzulegen. Schade, dass er nicht live dabei sein konnte, wie seine Familie starb, aber er würde ein Leben lang daran zu kauen haben, diese Schuld auf sich geladen zu haben!
    Der kleine Mann mit der dicken Brille stellte sein Auto vor dem Grundstück ab. Sobald das Haus lichterloh brannte, würde er seelenruhig in den Wagen steigen und langsam davonfahren. Am nächsten Bahnhof würde er auf der Toilette sein Aussehen verändern, eine neue Identität annehmen- er hatte noch zwei alternative Pässe im Wagen und das Geld und die Zugangsdaten zu seinen Konten auf den Caymans-und dann einfach verschwinden.
    Er holte den Kanister und die anderen benötigten Sachen aus dem Kofferraum und ging durch den Garten zur Terrassentür. Drinnen sah er die Frau schlafend auf dem Sofa liegen. Mit einem diabolischen Grinsen holte er einen Glasschneider heraus, schnitt lautlos ein Loch in die Glastür und fasste dann hinein, um sie von innen zu öffnen. Die Frau drehte sich um und murmelte im Schlaf, aber das Ganze geschah so lautlos, dass Andrea davon nicht erwachte. Mit zwei Schritten war der Chemiker bei ihr und drückte die Hand auf ihren Mund und die Waffe an ihre Schläfe. Andrea riss die Augen auf und sah voller Entsetzen in das Gesicht des Mannes von den Gaswerken. „Keinen Ton!“ zischte er „sonst sind deine Kinder Waisen!“ und Andrea nickte eingeschüchtert. Ihre Gedanken rasten. Wollte der Mann sie ausrauben und hatte vorher das Haus inspiziert, um zu sehen, was da zu holen war? Aber so große Reichtümer waren bei ihnen doch gar nicht zu holen, das müsste er bei seinem Rundgang letzte Woche doch gesehen haben? Und wo war Semir? Ihre Hoffnung war, dass der bereits ins Bett gegangen war und sie auf dem Sofa hatte schlafen lassen. Wenn es ihr gelang, ein wenig Lärm zu veranstalten, würde er sicher aufwachen und dann hatte er eine Chance den Einbrecher zu überwältigen.
    Der Chemiker klebte ihr nun ein Klebeband über den Mund und fesselte ihre Hände mit Kabelbindern. Dann forderte er sie mit einem Wink der Waffe auf, aufzustehen und nach oben zu gehen, was sie auch brav tat. Allerdings streifte sie im Vorbeilaufen eine Blumenvase, die mit lautem Geschepper zu Boden fiel und dort auf den Fliesen zerbarst. Semir müsste das gehört haben und Andrea vertraute auf dessen Bauchgefühl. Der konnte Gefahr spüren, gar keine Frage!


    Alles blieb ruhig und als sie oben vor der Kinderzimmertür angelangt waren, die Semir geschlossen hatte, als er die Mäuse ins Bett gebracht hatte, bedeutete ihr der kleine unheimliche Mann, sich auf den Boden zu setzen. Erst fesselte er mit weiteren Kabelbindern ihre Beine aneinander und dann machte er die Handfesseln noch an den Beinfesseln fest, so dass sie jetzt zusammengekauert auf dem Boden hockte. Andrea hatte nun einen Kloß in der Magengrube. Warum saß sie vor der Kinderzimmertür? Sie musste davon ausgehen, dass der Mann ortskundig war, immerhin hatte letzte Woche ihr Vater ihm eine Gratisführung durch alle Räume geboten. Verdammt noch mal, warum hatten sie sich keinen Ausweis zeigen lassen? Sie war immerhin die Frau eines Polizisten und hatte lange genug in der PASt gearbeitet, um zu wissen, dass man ohne diese Vorsichtsmaßnahme keinen Fremden in die Wohnung ließ!
    Nun ließ der Chemiker die Frau kurz sitzen und ging nach unten, um die restlichen Dinge, die er für seine perfide Rache brauchte, zu holen. Wenig später stand er mit einem Kanister und einem Feuerzeug vor ihr und öffnete nun leise die Kinderzimmertür.


    Hintersteiner hatte nun eingesehen, dass er den Chemiker wohl verloren hatte. Gut-die Fahndung nach dem Mercedes lief ja weiter und wenn die diensthabenden Polizisten hörten, dass einer ihrer Kollegen niedergeschossen worden war, würden sie die Augen nach dem Fluchtfahrzeug noch viel stärker aufhalten, als so schon, über kurz oder lang würde man ihn schon schnappen. Hintersteiner überlegte. Würde der Chemiker jetzt wohl zum Hotel zurückfahren? Gut, wenn er das tat, wurde er ja schon erwartet. Allerdings war sich der dicke Polizist im Klaren, dass der kleine Mann ihn in der Wohnung sicherlich als denselben identifiziert hatte, der kurz zuvor am Hotel in sein Fahrzeug geblickt hatte. Der war nicht dumm-vermutlich würde er woanders hinfahren. Aber wohin würde er flüchten? Vielleicht zum Flughafen? Obwohl, der wusste doch sicher, dass alle abgehenden Flüge intensiv überwacht wurden, seitdem bekannt war, dass er in Köln war. Vielleicht würde er das Fahrzeug wechseln-man musste dringend allen Diebstahlsanzeigen nachgehen! Nun kam ihm allerdings ein Gedanke, der ihn nicht mehr in Ruhe ließ. Dieser Mann war voller Zorn und ein Sadist. Wer einer schwangeren Frau so etwas antun konnte, der schreckte vor nichts zurück! Warum war er wohl nach Köln gekommen? Das war kein Zufall! Wenn er sich schnell ins Ausland absetzen wollte, dann hätte er sich z. B. über Österreich viel einfacher entfernen können, von ihrer Heimat aus war das nur ein Katzensprung. Also war er gekommen, um sich zu rächen und wie man an Jäger und seiner Frau gesehen hatte, war er einfach nur skrupellos. Und was war, wenn er sich nun an Semir ebenfalls rächen wollte, indem er dessen Familie etwas antat? Kurzerhand sagte er zu Susanne über den Funk: „Wie weit bin ich von Gerkans Haus entfernt?“ und Susanne antwortete: „So etwa 10 Minuten!“ „Gut, dann navigieren sie mich bitte dahin, ich muss da nach dem Rechten sehen!“ sagte er und Susanne begann ihm den Weg zu weisen.

  • Der Notarzt beschloss, sich erst einmal um die junge Frau zu kümmern. Der beatmete Mann schien leidlich stabil zu sein und der Polizist machte das sehr gut mit der Mund zu Nase-Beatmung, denn der Brustkorb des Patienten hob und senkte sich gleichmäßig. Bei dem schwer verletzten Patienten unten war es sehr fraglich, ob er noch eine Chance hatte. Man hatte den LUKAS, das automatische Gerät zur Herzdruckmassage auf ihn geschnallt, das ihn kontinuierlich bearbeitete, er war beatmet, die Schussverletzungen hatte man mit Druckverbänden abgedeckt und man würde ihn in Kürze in ein Krankenhaus bringen.
    Als allerdings der Polizist die Treppe herunter gestürmt war und um Hilfe in der Wohnung gebeten hatte, wo ebenfalls zwei Schwerverletzte zu versorgen seien, hatte der Notarzt kurzerhand den beiden erfahrenen Rettungssanitätern unten das Feld überlassen, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Im Notarzt-PKW waren ebenfalls ein Rettungskoffer, ein Beatmungsgerät und ein Monitor und so waren die beiden Medizinprofis nun mit ihrem Equipement nach oben gestürmt. Der Polizist hatte über die Leitstelle schon zwei weitere RTW´s und Notärzte angefordert-bald würde es hier von Mitarbeitern des Rettungsdienstes nur so wimmeln!


    Der Sanitäter hatte die Monitorelektroden auf Sarah´s Brust aufgeklebt und man sah, dass ihr Herz raste. Sie war zwar bewusstlos, aber ihre Schutzreflexe funktionierten noch, nur der Blutdruck war sehr niedrig, aber noch messbar. Man zog ihr eine Sauerstoffmaske übers Gesicht und der Notarzt versuchte herauszufinden, was das Messer wohl für Schäden angerichtet hatte. Es war oberhalb des Nabels eingedrungen, wenn sie Glück hatten, war das Kind nicht verletzt. Allerdings war da eine Menge Blut, wenn die Mutter an einem hämorrhagischen Schock starb, war das Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls verloren, denn auch durch einen Notkaiserschnitt war das in der einundzwanzigsten Schwangerschaftswoche ein extremes Frühchen, das sehr geringe Überlebenschancen hatte und wenn, dann vielleicht mit schwersten Behinderungen. Sie mussten versuchen, die Frau soweit zu stabilisieren, dass sie in einer Klinik mit neonatologischem Zentrum, wo in Köln nur die Uniklinik in Frage kam, operiert werden konnte. Der Notarzt legte eine Stauung an und Gott sei Dank schaffte er es gleich beim ersten Mal, einen großlumigen Zugang an Sarah´s Unterarm zu legen. Der wurde noch verklebt und der Sanitäter hatte inzwischen eine Infusion vorbereitet, die man nun voll aufdrehte, um den Volumenmangelschock zu bekämpfen. Ein Polizist bekam die zum Hochhalten und als der Notarzt nun Sarah´s Bauch betastete, konnte er die Kindsbewegungen spüren. „Hör mal Kleines, du wirst jetzt durchhalten!“ sagte er, der selber vier Kinder hatte. „Wir bringen deine Mami jetzt ins Krankenhaus und da kümmern die sich um euch beide!“ sprach er mit dem Ungeborenen und dem Polizisten, der die Infusion hielt und der ebenfalls Vater war, kamen beinahe die Tränen. Welches perverse Schwein war denn fähig, einer Schwangeren sowas anzutun? Man legte um das Messer herum steriles Polstermaterial, deckte Sarah warm zu und alle Anwesenden waren erleichtert, als sie nun ganz in der Nähe ein Martinshorn hörten-weitere Hilfe nahte.


    Der Notarzt wechselte nur kurz die blutigen Handschuhe und wandte sich dann seinem nächsten Patienten zu. Der Monitor war bei Sarah, er zog den Pulsoximeter von ihrem Finger und stülpte ihn über Ben´s Zeigefinger. Dessen Sauerstoffsättigung war bei 91%, was unter der Beatmung mit Ausatemluft ein akzeptables Ergebnis war. Der dunkelhaarige Mann war völlig schlaff, aber die Pupillen reagierten, als er dessen Augen öffnete und hineinleuchtete. Der Puls war niedrig, aber kräftig und als sie den Blutdruck maßen, war auch der völlig stabil bei 120/80. Der Notarzt rekapitulierte, was er über Vergiftungen durch Schlangengift wusste, aber das war ehrlich gesagt relativ wenig. Er würde den Mann jetzt intubieren, um die Atemwege zu sichern und auch, um den fleißigen Ersthelfer zu entlasten und alles Weitere würde in der Klinik gemacht werden. Nachdem der Mann ja Schlangengift injiziert bekommen hatte, war es müßig nach der Schlange zu suchen, um die mitzunehmen, was draußen jetzt ihre nächste Aktion gewesen wäre. Kurz besah er sich noch die Stichverletzung im Unterbauch. Die musste auch im Krankenhaus näher begutachtet werden, im Augenblick sah sie nicht so dramatisch aus und auch die Blutung war nicht nennenswert, allerdings war es der Lage nach durchaus möglich, dass der Darm verletzt war-aber das hatte für die Erstversorgung keine Konsequenzen. Der Notarzt deckte die Wunde mit sterilen Kompressen ab, verklebte die und der Sanitäter hatte inzwischen alles zum Intubieren hergerichtet. Der Notarzt legte auch Ben einen Zugang und schloss eine Infusion an. Dann überlegte er kurz, ob er ihn in irgendeiner Weise sedieren sollte, aber dann war er sich wegen eventueller Wechselwirkungen des Schlangengiftes mit den Medikamenten unschlüssig und so überstreckte er nun dessen Kopf und schob den Tubus unter Sicht ohne jegliche Narkose durch die Stimmritze in dessen Luftröhre. Man setzte einen Ambubeutel auf und als Sekunden später ein weiterer Notarzt und mehrere Rettungsdienstler sich ins Schlafzimmer drängten, war die Erstversorgung der beiden Verletzten bereits abgeschlossen.


    Unten hatte ein weiterer Notarzt die Versorgung des Polizisten übernommen und die Information war durch die Rettungsassistenten erfolgt. Er wurde mit wehenden Fahnen in einen RTW eingeladen und Minuten später war das erste Fahrzeug bereits unterwegs zum nächsten Krankenhaus. Der Polizist würde in einem anderen Zentrum als Ben und Sarah versorgt werden, die beiden würden in die Uniklinik kommen, weil nur dort eine eventuelle extreme Frühgeburt eine Überlebenschance hatte und wo Forschung und Lehre betrieben wurde, hatte vielleicht auch Ben die Möglichkeit, ein Gegengift auch ohne Schlangenbestimmung zu erhaschen.


    Der Chemiker hatte inzwischen die Tür des Kinderzimmers geöffnet. Ayda und Lilly hatten sich irgendwann in der Nacht in einem Bett zusammengekuschelt. Das war vermutlich der Grund, warum sie im Augenblick auch immer zusammen schliefen. Abends brachte man jeden in sein Bett und am Morgen lagen sie meist zusammen in einem. Anscheinend wachte Lilly dann auf, packte ihre Decke und schlüpfte zu ihrer Schwester, die da aber anscheinend überhaupt nichts dagegen hatte. Andrea und Semir war das sehr recht, denn so hatten sie ihre Ruhe und die beiden Mädchen gaben sich gegenseitig Halt und Sicherheit. Ohne jegliches Bedauern musterte der Chemiker die friedlich schlafenden Kinder und begann dann außen herum das Bettzeug mit Brandbeschleuniger zu tränken.

  • Andrea traten fast die Augen aus den Höhlen, als sie sah, was der Chemiker gerade machte. Verzweifelt zerrte sie an ihren Fesseln, aber es war vergeblich. Der Chemiker hatte extra die Kinderzimmertüre weit aufgelassen, damit sie sozusagen einen Logenplatz hatte. Warum hatte Semir nichts gehört? Der hatte doch einen eher leichten Schlaf, er hätte wach werden müssen, als die Vase zerschellt war. Nun fiel Andrea etwas Entsetzliches ein. Dieser Mann war vermutlich ein Sadist, der Spaß daran hatte, andere Menschen leiden zu sehen, vermutlich hatte er Semir schon getötet und in ihrem Schlafzimmer lag bereits eine Leiche und nun würden drei weitere nachfolgen. Wenn er ihr nur das Klebeband abnehmen würde, sie würde mit ihm verhandeln, ihm das Blaue vom Himmel versprechen-er sollte ruhig sie töten, aber ihre Kinder verschonen. Was konnten die dafür, dass ihre Mutter und die Großeltern unvorsichtig gewesen waren?


    Tatsächlich schloss der Mann, der fast noch kleiner als Semir war, nochmals kurz die Kinderzimmertür, damit die Kleinen nicht wach wurden und wandte sich mit einem breiten Grinsen Andrea zu. „Sie werden sich schon gewundert haben, wer ich bin und was ich vorhabe, denn wir beide haben uns noch nicht kennen gelernt. Wenn sie woanders hin in Urlaub gefahren wären, hätten wir uns das hier sparen können, aber so haben ihr Mann und sein Kollege meine Firma ruiniert und ich muss gestehen, ich bin ein wenig rachsüchtig und kann das nicht auf sich beruhen lassen. Strafe muss sein-und deshalb war ich zuerst bei Familie Jäger in der Wohnung und habe die ausgelöscht und jetzt müssen eben sie und ihre Kinder für die Verfehlungen ihres Mannes büßen. Ihr Mann versucht gerade seinen Freund zu retten, aber der ist wie alle dem Tod geweiht. Ich könnte natürlich nur ihren Mann töten, aber das genügt mir nicht. Es gibt nämlich etwas viel Schlimmeres, als selber zu sterben und das ist zu erfahren, dass die eigene Familie durch die private Schuld grausam ums Leben gekommen ist. Gerkan wird irgendwann kommen und ihre Leichen finden und damit ist meine Rache perfekt!“ erklärte er und Andrea begann nun innerlich zu zittern. Dieser Mann war völlig skrupellos und ein Menschenleben zählte nicht. Wenn sie das richtig verstanden hatte, dann kam der Mann direkt von Ben´s Wohnung und hatte dem, Sarah und dem Baby etwas angetan-oh mein Gott, das konnte und durfte einfach nicht wahr sein. Sicher hatte sie gerade einen sehr realistischen Alptraum und würde in Kürze aufwachen! Aber insgeheim wusste sie, dass das ein frommer Wunsch war. Sie hatte auch gesehen, dass der Mann eine blutige Verletzung an der Schulter hatte, die er deswegen auch ein wenig langsamer und vorsichtiger bewegte, als die andere Seite. Hoffentlich hatte die ihm Semir zugefügt und er würde später an einer Blutvergiftung jämmerlich verrecken. Aber so konnte sie gerade überhaupt nichts machen, die Kabelbinder saßen fest und so sehr sie auch versuchte, die abzustreifen, mehr als blutige Striemen an den Handgelenken schaute dabei nicht raus.
    Inzwischen war ihr auch klar geworden, wer da vor ihr stand. Das war dieser Verbrecher, den Semir den Chemiker genannt hatte. Dieser Mann war der Boss der Schmugglerbande, die Ben und Semir hatten auffliegen lassen und deshalb war er so wütend. Mit einem breiten Grinsen drehte sich der Mann nun wieder um, öffnete weit die Kinderzimmertür und hob das Feuerzeug.


    Hintersteiner war derweil so rasch es ihm möglich war zum Haus der Gerkan´s gefahren. Susanne, die mit Semir, der in Überschallgeschwindigkeit gerade im Streifenwagen ebenfalls nach Hause unterwegs war, gesprochen hatte, hatte inzwischen alle in der Nähe befindlichen Streifenwagen verständigt und Hintersteiner informiert, dass das Ziel des Chemikers wohl tatsächlich dort war. Der dicke Bayer kam als Erster an und sah auch sofort den goldenen Mercedes vor dem Haus stehen. „Der Verbrecher ist bei den Gerkan´s-ich gehe jetzt rein und sehe nach dem Rechten!“ informierte er Susanne und war schon, flink wie ein Wiesel, trotz seiner Leibesfülle, aus dem Fahrzeug gesprungen. Susanne hatte ihm gerade noch sagen wollen, dass er auf Verstärkung warten solle, aber da kam schon keine Antwort mehr. Der war genauso eigensinnig wie Semir und Ben, wenn irgendwelche Anordnungen aus der Zentrale kamen, stellte Susanne aufseufzend fest, aber andererseits war sie froh, dass wenigstens ein Polizist schon mal bei ihrer Freundin und deren Kindern war, denn auch sie hatte eine fürchterliche Angst beschlichen. Was würde dieses skrupellose Schwein nur mit denen anstellen?


    Hintersteiner ging eiligen Schrittes zur Haustür, aber die war zu. Wenn der Mann nicht irgendwie an einen Schlüssel gekommen war, musste er woanders eingedrungen sein, denn eine Polizistenfrau würde wohl nicht mitten in der Nacht die Haustüre öffnen und bereitwillig einen Fremden hereinlassen. Er umrundete deswegen eilig das Haus und da sah er es schon. Die Terrassentüre stand weit auf, ein Konus war aus der mehrfach verglasten Scheibe geschnitten und so hatte der Mann wohl geräuschlos eindringen können. Hintersteiner betrat auf demselben Weg das Wohnzimmer. Das war leer, wie er schon auf den ersten Blick erkennen konnte, allerdings hörte er eine Männerstimme oben sprechen. Er schlich zur Treppe. Unten lag auf den Fliesen eine kaputte Blumenvase, vielleicht hatte ein Kampf stattgefunden? Leise erklomm er Stufe um Stufe, die Waffe entsichert und hörte gerade den Chemiker noch sagen: „-und damit ist meine Rache perfekt!“ und dann wurde eine Tür geöffnet. Ein erstickter Laut, wie wenn jemand geknebelt wäre und sich nun verzweifelt versuchte bemerkbar zu machen, ertönte und nun zögerte Hintersteiner nicht mehr länger. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er jetzt keine Sekunde mehr warten durfte und so trat er, die Waffe im Anschlag, um die Ecke und sah als Erstes Gerkan´s Frau gefesselt und geknebelt, wie ein Päckchen verschnürt am Boden sitzen. Die Augen traten ihr fast aus den Höhlen und Kummer und Sorge zeichneten ihr Gesicht. Sie sah starr in ein Zimmer, vermutlich das Kinderzimmer und bemerkte Hintersteiner erst gar nicht. Der war mit zwei raschen Schritten vor der Tür und als er um die Ecke lugte, meinte er, das Herz würde ihm stehenbleiben. Es roch durchdringend nach einer entflammbaren Flüssigkeit, vermutlich einer Nitroverdünnung und der Chemiker stand mit erhobenem Feuerzeug mit einem irren Grinsen vor dem Bett der Kinder, die immer noch selig aneinander gekuschelt schliefen.


    Hintersteiner erfasste eine unbändige Wut. Dieser Bastard wollte dem ehrlichen kleinen Kölner Autobahnpolizisten das Liebste nehmen, was er besaß, nämlich Frau und Kinder. Er wusste wie schwer das war, über so einen Schicksalsschlag hinwegzukommen, denn er selber hatte daran sein Leben lang zu knabbern, obwohl der Tod seiner eigenen Familie nun schon so lange zurücklag. Er würde nicht zulassen, dass Semir dasselbe geschah! Er zielte genau auf den Chemiker. Diesmal wusste er, wie die Waffe reagierte und er würde treffen und zwar genau in den Kopf-und mit diesem Gedanken drückte er ab.

  • Susanne meldete sich bei Semir am Funk: „Semir, dein bayerischer Freund ist bereits bei dir zu Hause angekommen. Der Chemiker ist tatsächlich dort, ich habe schon alle Streifen, die in der Nähe sind, alarmiert!“ teilte sie ihm mit und Semir, der mit starrem Blick hinter dem Lenkrad saß, schlug mit der Hand darauf. „Mist!“ schrie er und drückte das Gaspedal noch ein bisschen stärker durch. Der Streifenpolizist saß käsebleich auf dem Beifahrersitz und klammerte sich verzweifelt am Handgriff neben der Tür fest. Im Leben hätte er nicht gedacht, dass man mit dem Streifenwagen in der Stadt dermaßen schnell unterwegs sein konnte. Semir schoss wie ein Formel1-Fahrer um die Kurven und sein Beifahrer hatte zu beten begonnen, dass er diese Fahrt lebend überstehen würde! Normalerweise brauchte man für die Strecke von Jäger´s Wohnung bis zum Gerkan´schen Haus so etwa 25 Minuten, aber sie würden das vermutlich in 15 Minuten schaffen!


    Bei Andrea hatten die Tränen haltlos zu fließen begonnen, als der Chemiker die Tür des Kinderzimmers öffnete. Ihr hatte er einen Logenplatz zugedacht, damit sie auch genau mit ansehen musste, wie ihre Kinder jämmerlich verbrannten. Semir war nicht im Haus-einmal wenn man ihn gebraucht hätte, war er nicht da. Allerdings war Andrea klar, dass er mit so etwas nicht gerechnet hatte, denn sonst hätte er seine Familie nicht schutzlos zurückgelassen. Sie versuchte noch ein bisschen laut zu werden unter dem Knebel, um ihre Kinder zu warnen-vielleicht konnten sie noch schnell weglaufen, bevor der kleine Mann mit der dicken Brille das entflammbare Gemisch entzündete, aber so schwierig es manchmal war, sie zum Einschlafen zu bringen, wenn sie dann einmal schliefen, dann waren sie ganz weit weg und brauchten dann auch eine ganze Weile, bis sie richtig wach waren. Plötzlich bemerkte Andrea eine Bewegung im Augenwinkel. Sie wandte den Kopf und sah Hintersteiner mit der Waffe im Anschlag um die Ecke biegen. Dem Himmel sei Dank, Hilfe war da. Wo ein Kollege war, waren die anderen nicht weit und vermutlich würde Semir ebenfalls in Kürze eintreffen! Aber jetzt hatte der Chemiker das Feuerzeug entzündet, wie Andrea mit Entsetzen wahrnahm.


    Nun geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Der dicke Polizist drückte ab und als der laute Knall die Luft zerriss, holte die Wucht des Aufpralls den Chemiker von den Füßen und Andrea wusste mit Sicherheit dass der keine Chance hatte, das zu überleben. Bevor sein Körper auf dem Boden aufschlug, war er schon tot. Allerdings war leider das Feuerzeug nicht durch den Sturz erloschen, wie Hintersteiner gehofft hatte, sondern der Brandbeschleuniger wurde im selben Augenblick in Brand gesetzt. In Sekundenbruchteilen konnte Andrea an der Stelle, wo das Bett ihrer Kinder war, nur noch eine Flammenhölle erkennen. Sie versuchte wie eine Wahnsinnige irgendwie die Kabelbinder zu lösen, um ihre Kinder zu retten, aber das war unmöglich. Sie konnte nur, wie in Zeitlupe, verfolgen, wie Hintersteiner die Waffe fallen ließ und sich einfach ins Flammenmeer stürzte. Es dauerte nur wenige Sekunden, in denen Andrea meinte, den Verstand verlieren zu müssen, da erschien der dicke Mann wieder, unter jedem Arm ein völlig geschocktes Kind und während Ayda und Lilly nun laut zu weinen begannen, brachte er die Kinder so schnell er konnte die Treppe hinunter. In diesem Augenblick flog unten die Haustür auf und Semir sah nur seine heulenden Kinder, die wie zwei Päckchen unter den Armen seines bayerischen Freundes klemmten, der nun keuchte: „Schnell, deine Frau ist noch oben!“ und Semir raste nun, wie ein Wahnsinniger die Treppen hoch. Der Flur war inzwischen schon so verqualmt, dass er beinahe über Andrea gefallen wäre, in dem Tempo, wie er um die Ecke bog. Mit beinahe übermenschlichen Kräften packte er sie, die schon dabei war von dem Qualm bewusstlos zu werden und schleppte sie zur Treppe. Dorthin war ihm inzwischen der Streifenbeamte gefolgt, der zuvor noch die Feuerwehr über Funk verständigt hatte und gemeinsam trugen sie nun auch Andrea ins Freie. Man löste ihre Kabelbinder und unter lautem Husten, aber überglücklich, dass sie alle miteinander lebten, schloss sie ihre Kinder in die Arme, die zwar immer noch weinten, aber überhaupt keine Vorstellung davon hatten, was eigentlich los war.


    Inzwischen waren mehrere Streifenwagen eingetroffen, aber als sie erfuhren, dass keine lebenden Menschen mehr im Haus waren, beschlossen sie, alles Weitere der Feuerwehr zu überlassen. Ein Notarzt wurde angefordert und die Polizisten brachten fürsorglich feuchte Tücher und Rettungsdecken zu der Familie. Die Kinder weinten zwar, hatten aber an Händen und Füßen, die aus den Schlafanzügen geragt hatten nur ganz leichte Verbrennungen, die aber keine Narben hinterlassen würden. Andrea hustete immer noch, war aber ansprechbar und so konnte Semir sich zu seinem Freund Josef umdrehen, um ihm zu danken, dass der seine Familie gerettet hatte. Der stand ein wenig abseits und als Semir ihn ansprach, erschrak er bis ins Mark. Das Gesicht und seine Arme waren voller Blasen, die Kleidung war teilweise in seine Haut eingeschmolzen und Semir konnte ihn gerade noch auffangen, bevor er zu Boden fiel. Semir legte ihn sanft auf dem Rasen ab, schrie nach Hilfe und erklärte seinen Kollegen wo man den Gartenschlauch aufdrehen konnte, um wenigstens die stärksten Schmerzen zu lindern.


    Wenig später trafen RTW´s und Löschfahrzeuge beinahe gleichzeitig ein und begannen zu löschen und die Verletzten zu versorgen. Die Kinder, Andrea und Semir wurden im selben Rettungswagen mitgenommen, jedes Elternteil hatte ein Kind auf dem Schoß. Sie hatten sofort etwas gegen die Schmerzen und den Schock bekommen und hatten alle eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht. Im zweiten RTW hatte man Hintersteiner intubiert, denn man musste die Brandverletzungen sofort in einem Zentrum versorgen. Der letzte Blick, den Semir aus dem Fenster des RTW warf, der sich gerade in Bewegung setzte, zeigte ihr Haus, bei dem inzwischen die Flammen aus dem Dach schlugen und wo die Feuerwehr gerade versuchte zu retten, was zu retten war. Aber was waren schon materielle Dinge-Hauptsache sie lebten!

  • In der Uniklinik angekommen, in die man die Gerkans auf eigenen Wunsch brachte, wurden die Kinder kurz untersucht, man legte an Händen und Füßen Verbände an, die die Schmerzen linderten und mit einer Sauerstoffsonde in der Nase wurden sie mit Andrea und Semir in ein Familienzimmer mit zwei Kinderbetten und zwei Erwachsenenbetten gelegt-das hatte sich besser bewährt, als die Kinder in solchen Fällen auf die Kinderstation zu bringen-die brauchten ihre Eltern! Auch bei Andrea kontrollierte man die Blutgase, aber mit ein wenig Überwachung und Sauerstofftherapie würde an der Lunge wohl kein Schaden bleiben. Nur bei Semir musste die Schnittverletzung am Oberarm, die ihm der Chemiker zugefügt hatte, in mehreren Schichten genäht werden und bevor auch er seiner Familie ins Zimmer folgte, fragte er, wie es Sarah und Ben ginge. Nach einer Weile, in denen die Schwester der Notaufnahme herumtelefonierte wurde ihm mitgeteilt, dass Sarah gerade operiert wurde und Ben auf der inneren Intensivstation gelandet war. Semir erhob sich von der Liege, auf der man ihn versorgt hatte und versprach in Kürze zur stationären Aufnahme zu gehen, aber zuerst wollte er nach seinem Freund sehen.


    Semir läutete draußen und nach kurzer Überlegung bat ihn die Nachtschwester herein. „Aber nur einen Moment, jetzt ist schließlich nicht der richtige Zeitpunkt für einen Besuch!“ befand sie und Semir versprach, bald wieder zu verschwinden. Ben lag in einem Einzelzimmer. Er war inzwischen verkabelt worden und die Beatmungsmaschine blies rhythmisch Luft in seine Lungen. Ansonsten hatte er nach wie vor die Augen geschlossen und lag scheinbar völlig friedlich, ohne sich zu wehren, da. Semir trat an sein Bett und legte seine Hand auf die seine: „Ben, wie ich gehört habe, wird Sarah gerade operiert. Der Chemiker wollte meine Kinder und Andrea umbringen, aber Hintersteiner hat ihn erschossen. Die drei haben eine leichte Rauchgasvergiftung und Verbrennungen ersten Grades, aber das wird wieder. Josef hat sich bei der Rettung schwere Brandverletzungen zugezogen und ist jetzt in eine Spezialklinik gebracht worden. Mein Haus steht in Flammen und ich werde mich jetzt dann zu meiner Familie auf die Station gesellen und versuchen ein Ründchen zu schlafen-morgen sehen wir weiter!“ erzählte er seinem Freund, ohne zu wissen, ob der überhaupt etwas mitbekam. Nach einigen Minuten verabschiedete er sich und ging auf die Station zu seiner Familie. Nach Erledigung der Aufnahmeformalitäten bekam er ein Krankenhaushemd und Waschzeug überreicht und schlüpfte wenig später in sein Bett. Ayda und Lilly schliefen schon wieder, jede hatte ein Stofftier geschenkt bekommen. Das war zwar nur ein schwacher Ersatz für den Verlust der Schlaftiere, aber die Erschöpfung tat ihr übriges und wenig später waren auch Andrea und Semir in Morpheus Armen, obwohl sie sich zuvor ziemlich sicher gewesen waren, dass sie nicht würden schlafen können.


    Auf der Intensivstation blieb ein verzweifelter Ben zurück. Nachdem Semir aus seinem Schlafzimmer verschwunden war, hatte er live und in Farbe mitbekommen, wie er intubiert worden war. Sein Kopf wurde überstreckt und ein harter Schlauch in seine Luftwege eingeführt. Er wollte husten und die Hände des Notarztes wegschlagen, so unangenehm war das, aber er war nicht fähig auch nur zu blinzeln. Immer wieder leuchtete ihm jemand in die Augen und er versuchte vergeblich auf sich aufmerksam zu machen und denen mitzuteilen, dass er schreckliche Ganzkörperschmerzen hatte und alles mitbekam. Aber das Schlimmste war, dass er nur aus den Gesprächen der Rettungsdienstler heraushören konnte, wie es um Sarah und sein Kind stand. Weil er ja sozusagen im Weg lag, packte man ihn als Ersten auf eine Trage und während inzwischen ein tragbares Beatmungsgerät für seine Sauerstoffversorgung sorgte und auch ein Monitor seine Vitalfunktionen überwachte, fühlte er, wie er im Liegen angeschnallt, schwankend die Treppe hinuntergetragen und dann in einen Rettungswagen geschoben wurde, der sich auch kurz darauf in Bewegung setzte. Er wollte schreien: „Bitte lasst mich bei Sarah bleiben!“ aber er konnte immer noch keinen Muskel rühren.


    Im Krankenhaus angekommen übergab der Notarzt ihn an den Aufnahmearzt. „Hier haben wir euch Herrn Jäger-er hat ein unbekanntes Medikament gespritzt gekriegt und ist seitdem tief bewusstlos. Irgendjemand hat etwas von Schlangengift gefaselt, aber das halte ich persönlich für ein Gerücht. Er hat keinerlei Eigenatmung, der Kreislauf ist stabil und er ist eher bradykard, also das Herz schlägt langsam, keine Ahnung was das für ein Teufelszeug ist, aber das werdet ihr schon herausfinden-hoffe ich!“ sagte er und machte sich zu seinem nächsten Einsatz auf. Als man die Personendaten Ben´s, die die Rettungsdienstler mitgebracht hatten, in den PC eingab, konnte man erkennen, dass er erst kurz zuvor wegen einer ähnlichen Sache hier in der Klinik gewesen war, deshalb beschloss man, ihn wieder auf die gleiche Intensivstation zu legen, die ihn ja schon in der Vorwoche erfolgreich behandelt hatte.
    Man zog ihn aus und der Aufnahmearzt untersuchte ihn kurz durch. Von der Stichverletzung, die inzwischen zu bluten aufgehört hatte war nur ein kleiner Ritz zu sehen, der schon begonnen hatte zu verkleben und den versorgte man mit einem Pflaster, ohne sich näher damit zu befassen. Niemand hatte ein Messer erwähnt und so nahm man wieder, wie beim letzten Mal ein großes Blutbild ab und alle möglichen Blutproben gingen ins Labor im Haus. Man legte ihm einen Dauerkatheter, auch um den Urin auf Gifte untersuchen zu können und Ben hätte vor Scham im Boden versinken können, als man an ihm herumfummelte, ohne mit ihm zu sprechen, oder ihm zu erklären, was man gerade machte. Immer wieder überrollte ihn eine Schmerzwelle, aber niemand dachte daran ihm etwas dagegen zu geben, denn man hielt ihn ja für tief bewusstlos.


    Sein Bett, in das man ihn inzwischen umgelagert hatte, setzte sich in Bewegung und auch auf der Intensivstation, auf der er die Stimmen des Arztes und von Sarah´s Kolleginnen erkannte, sprach niemand mit ihm. Jeder ging davon aus, dass er nichts mitbekam und so wurden ihm ohne jegliche örtliche Betäubung nun noch ein ZVK und eine Arterie gelegt. Man schob ihm noch eine Ernährungssonde in den Magen und Ben wollte eigentlich würgen, so reizte das, aber sein Körper gehorchte ihm einfach nicht. Immer wieder überrollte ihn eine Schmerzwelle, aber das Teufelszeug in ihm verhinderte sogar, dass der Puls dabei hochschnellte. So schlimm es für ihn war, wie ein Werkstück behandelt zu werden, aber das Allerschlimmste war, dass er den Gesprächen des Stationsarztes und der assistierenden Schwester lauschte, während die ihn verkabelten und die sagten: „Hast du schon gehört- Sarah soll schwer verletzt sein? Die wird gerade operiert, aber sie wissen nicht, ob sie das überstehen wird und mit dem Fetus-na ja, vielleicht wäre es sogar besser für sie, wenn der Wurm nicht überlebt, denn wenn das Kind dann schwer behindert ist, dann hat niemand etwas Schönes!“ erzählten sich die beiden und stellten Mutmaßungen an, die Ben beinahe in den Wahnsinn trieben. Endlich ließ man ihn in Ruhe, deckte ihn zu und er blieb mit seinen Schmerzen und Ängsten alleine.


    Dann kam Semir, der wenigstens mit ihm sprach, wie mit einem lebendigen Menschen und ihn auch mit seiner warmen Hand tröstend berührte. Allerdings waren die Neuigkeiten, die der zu erzählen hatte, auch nicht berauschend und auch der wusste nicht, wie es Sarah ging. Kurze Zeit später verabschiedete sich sein Freund und zurück blieb ein völlig verzweifelter, von Schmerzen geplagter Ben, der nicht wusste, wie es weitergehen sollte.

  • Sarah hatte mit letzter Kraft noch Semir mitgeteilt, dass seine Familie in Gefahr war, aber dann schwanden ihr die Sinne. Als sie wieder zu sich kam, war sie bereits im RTW, der mit Blaulicht unterwegs zur Klinik war. Ihr war schwindlig, aber was sie am meisten entsetzte war, dass sie keine Kindsbewegungen spüren konnte. „Was ist mit meinem Baby?“ fragte sie bang, aber als der Notarzt, der sie die ganze Zeit besorgt beobachtete, nun die Decke ein wenig zur Seite schob und mit dem Stethoskop auf ihren Bauch hörte, konnte er sie beruhigen. „Die Herztöne sind noch da!“ sagte er, verschwieg ihr allerdings, dass die fast ein wenig langsam waren, während Sarah´s Herz durch den Volumenmangel jagte. Das war ein schlechtes Zeichen, das zeigte, dass das Kind bereits begann unterversorgt zu werden. „Wissen sie, was sie für eine Blutgruppe haben?“ fragte er Sarah, auch um sie ein wenig abzulenken. Die nickte. „Ja AB rhesus negativ, ich werde nämlich in der Uniklinik manchmal als Notfallspender herangezogen, wenn da eine Versorgungslücke auftritt!“ erklärte sie und der Notarzt seufzte innerlich auf. Verdammt-gerade die seltenste Blutgruppe hatte Sarah und man konnte ihr auch kein Blut eines rhesuspositiven Spenders geben, was man sonst manchmal tat, wenn Not am Mann war, aber das hätte das Kind in akute Lebensgefahr gebracht, denn ihr Körper würde dann Abwehrstoffe gegen ihr eigenes Kind bilden, falls das eventuell den Rhesusfaktor des Vaters geerbt hatte. Er hatte vorsichtshalber schon mehrere Röhrchen mit Kreuzblut entnommen, denn so wie sie immer noch blutete, würde man vermutlich um eine Transfusion nicht herumkommen. Der Arzt und der Sanitäter waren gleichermaßen froh, als sie endlich die Uniklinik erreichten und Sarah immer noch einen Kreislauf hatte. Sie hatte inzwischen schon zwei Liter kristalline Lösung bekommen und der Notarzt hatte mehrmals überlegt, ob er ihr nicht vielleicht Hyper Haes-einen konzentrierten Plasmaexpander zukommen lassen sollte, aber diese Infusionslösung war gerade sehr umstritten und so war er jetzt erleichtert, dass er um diese Entscheidung herum kam.


    Als sie die Türen des RTW weit öffneten, standen bereits ein chirurgischer Assistenzarzt und ein Gynäkologe bereit, die sich um die beiden Leben kümmern würden. Ohne irgendeinen Zwischenhalt fuhr man in den OP durch, um keine Sekunde zu verlieren. Der Gynäkologe presste nebenherlaufend ein tragbares Sonographiegerät auf ihren Bauch und man konnte erkennen, dass das Kind noch lebte, obwohl dessen Herzfrequenz bereits unter 100 gesunken war, was in dieser Schwangerschaftswoche hoch kritisch war, normal wäre die Frequenz um die 160. Das Blut, das der Notarzt abgenommen hatte, wurde sofort ins Labor gebracht, um passende Konserven zu kreuzen. Nachdem Sarah ja im PC bereits registriert war, konnte man sich die Blutgruppenbestimmung sparen. Nach einem Blick auf seine schockige Patientin ordnete der Anästhesist, der sie in der Schleuse übernahm, an, gleich zwei Konserven ihrer Blutgruppe ungekreuzt zu bringen, denn man konnte vermutlich nicht mehr warten, bis die Konserven eingekreuzt waren. Man beförderte Sarah, so wie sie war, gleich von der RTW-Trage auf das Schleusenband und von da auf den OP-Tisch. Schnell wechselte man die Monitore aus und den Sauerstoff und dem begleitenden Notarzt blieb jetzt nur noch, ihr viel Glück zu wünschen. Solche Einsätze waren neben Kinderunfällen eine der Belastendsten in seinem Metier.


    Der Anästhesist, der Sarah ja kannte, nickte ihr unter seiner Maske beruhigend zu. „Sarah, wir können uns jetzt nicht mit Smalltalk aufhalten, ich werde dir jetzt dann gleich eine Vollnarkose machen, für etwas anderes haben wir keine Zeit. Wir wissen nicht, ob wir dein Kind retten können, aber wir werden unser Bestes tun. Es käme auch in Frage, dass wir es holen müssen, aber du weißt selber, dass zu diesem frühen Zeitpunkt ein Überleben dann nur mit viel Glück möglich ist, aber glaub uns, wir geben uns alle Mühe!“ sagte er, während der OP-Tisch nun schon im Saal arretiert wurde. Anders als sonst, wo man in der Einleitung in aller Ruhe die Narkose vorbereitete, standen jetzt die gewaschenen Ärzte und Assistenten schon grün vermummt bereit, der Instrumententisch war vorbereitet und man wartete nur darauf, bis Sarah weg war, um mit der Operation beginnen zu können. Schnell wurden noch Beinhalter angebracht und die langen Beinteile weggeklappt und Sarah bekam sogar noch mit, wie ihr jemand einen Katheter legte, straffe Antithrombosestrümpfe anlegte, um das Blut in ihren Beinen noch nach oben zu pressen und man dann das Polstermaterial um das Messer wegnahm und begann den Bauch notdürftig zu desinfizieren. Dann wusste sie nichts mehr und kaum war sie intubiert und am Tisch fixiert, begannen der Chirurg und der Frauenarzt schon damit, den Bereich um das Messer herum aufzuschneiden.
    Man musste dringend einen Überblick gewinnen, welche Schäden das Messer angerichtet hatte und welche Organe betroffen waren. Inzwischen waren die beiden ersten Konserven eingetroffen und nach einem kurzen Bedsidetest hängte der Anästhesist sie sofort an. Als das geschehen war und die Narkose auch selbstständig über das Narkosegerät lief, begann er nebenbei am Unterarm eine Arterie zu legen, um den Blutdruck ständig im Auge zu haben. Auch einen zweiten Zugang legte man, damit man genügend Volumen in Sarah pressen konnte. Die beiden Operateure hatten jetzt die ganze Messerlänge freigelegt. Nun konnte man sehen, was die Ursache für die starke Blutung war, die Bauchaorta war angekratzt. „Ruft schnell einen Gefäßchirurgen dazu!“ bat der Chirurg. Der Gynäkologe hatte sich derweil nach unten umgesehen, aber so wie es aussah, waren der Uterus und damit auch das Kind unverletzt.
    Man entfernte das Messer und drückte mit grünen sterilen Tüchern fest auf den kleinen Riss in dem großen Blutgefäß und im Augenblick gelang es damit auch, die Blutung zum Stehen zu bringen.Die Ärzte sahen sich betreten an. „Wenn wir, wie man es sonst tun würde, die Bauchaorta abklemmen, um dann die Gefäßwand zu flicken, hat das Kind in dieser Zeit keine Versorgung mehr, die ist jetzt schon mehr als grenzwertig. Wenn wir es aber holen, hat es eigentlich keine Chance, denn nicht nur, dass es ein extremes Frühchen wäre, sondern es ist ja genauso ausgeblutet wie seine Mutter, also würden wir damit vermutlich sein Todesurteil unterschreiben!“ überlegten sie, ließen aber trotzdem noch einen Neonatologen zusätzlich in den OP rufen. Der Gefäßchirurg war Gott sei Dank nur über Papierkram gesessen, damit sofort verfügbar und traf kurze Zeit später in der Operationsabteilung ein. Während ihm die Operateure die Lage schilderten und dabei darauf achteten, mit sanftem Druck einen weiteren Blutverlust zu vermeiden, wusch er sich und stand wenig später, ebenfalls grün vermummt, am Tisch. Auch der Neonatologe kam beratend hinzu und als man ihm das Dilemma schilderte, ließ er sich den Schallkopf des großen Sonographiegeräts aus der OP-Abteilung steril verpacken, schlüpfte kurz in einen Kittel und sterile Handschuhe und untersuchte durch die Bauchdecke hindurch den Fötus. „Hier steht es Spitz auf Knopf-ich kann euch gleich sagen, dass das Kind nicht überleben wird, wenn wir es holen. Seine einzige Chance besteht darin, die Mutter möglichst schnell stabil zu kriegen. Die Herztöne sind unter hundert, das Kind bewegt sich nur noch schwach, ich weiß sowieso nicht, ob es nicht schon Schäden davongetragen hat!“ erklärte er seinen Kollegen. Der Gynäkologe sah auf die Uhr. „Laut Notarzt waren vor einer halben Stunde die Kindsbewegungen noch sehr heftig, also ist die Zeit der Mangelversorgung vielleicht gar nicht so lang!“ sagte er und der Neonatologe zuckte mit den Schultern. „Gut, diese Zwerge halten schon was aus, aber ihr müsst jetzt zusehen, dass ihr das Blut gut substituiert und damit auch dem Kind genügend Sauerstoffträger anbietet!“ bestimmte er und ging dann wieder aus dem OP um sich um seine kleinen Patienten auf der Frühgeborenenintensiv zu kümmern. Natürlich würde man alles versuchen, falls das Kind doch zur Welt kam, aber mit seiner Erfahrung konnte er den Ausgang dieses Dramas jetzt schon voraussehen. Dieser kleine Mensch wog jetzt etwa 360 Gramm und war nur 26 Zentimeter groß, er war einfach noch nicht reif genug, um eine Chance zu haben, wenn er jetzt zur Welt kam, zudem ausgeblutet wie er war.


    Der Gynäkologe und der Chirurg sahen nun erwartungsvoll den Gefäßchirurgen an, der die ganze Zeit fieberhaft überlegt hatte. Inzwischen waren vier gekreuzte Konserven eingetroffen, die der Anästhesist jetzt begann zu transfundieren. Man hatte dazwischen das Hb bestimmt und das war aktuell, wenn man den Verdünnungseffekt mit einrechnete, bei etwa sieben-zwar immer noch zu niedrig, aber mit dem Leben vereinbar. Sarah war jetzt auch recht stabil, man fuhr nur eine flache Narkose, um ihren Kreislauf nicht so zu belasten und solange man einen weiteren starken Blutverlust vermeiden konnte, waren sie auf einem guten Weg. „Das übliche Vorgehen können wir uns schenken, denn damit ist das Kind dem Tod geweiht. Also bleibt uns nur die Möglichkeit zu versuchen, das Loch in der Aorta mit einem Patch zu stopfen. Ich kann auch nicht von innen über die Femoralis ran, denn dann bräuchten wir den Bildwandler und jeder weiß, wie empfindlich ein Ungeborenes in diesem Stadium auf Röntgenstrahlen reagiert. Ich werde also versuchen mit Fibrinkleber und einem nur aufgelegten Patch das Loch zu verschließen!“ überlegte er und ließ sich das dazu benötigte Material von der OP-Schwester anreichen. Wenig später stand die Blutung, das Loch war verschlossen und man legte Drainagen ein, um sofort reagieren zu können, wenn der Flicken sich löste und Sarah erneut zu bluten begann, denn normalerweise wurde der eingenäht. Dann verschloss man schichtweise die Wunde. Der rote Streifen, den der Chemiker über ihren Bauch gezogen hatte, versorgte man mit ein paar Steristrips, aber das war nur ein oberflächlicher Kratzer.„Lassen wir sie bitte momentan nachbeatmet. Der Blutdruck darf auf gar keinen Fall über 120 systolisch gehen, sonst sprengt es uns den Patch weg. Die Patientin ist zu behandeln wie ein rohes Ei!“ erklärte der Gefäßchirurg und alle Anwesenden nickten. Sarah und das Kind hatten eine Chance, aber ob sie sie auch nutzen konnten?

  • Für Ben hatte eine lange Nacht begonnen. Vor Sorge und Schmerzen konnte er nicht schlafen. Er wurde zwar alle zwei Stunden gedreht, anders gelagert und wenn nötig abgesaugt, aber immer noch war es niemandem aufgefallen, dass er wach und sozusagen ein Gefangener in seinem eigenen Körper war. Wie es wohl Sarah ging? Und ob sie und das Baby überhaupt noch lebten? Angestrengt lauschte er, ob irgendeine der Schwestern etwas erzählte, aber er bekam leider nun gar keine Informationen mehr. Er hatte auch viel Zeit zum Nachdenken. Was wäre, wenn sich sein Zustand nicht mehr ändern würde? Eines wusste er sicher, wenn er diese schrecklichen Ganzkörperschmerzen noch viel länger aushalten musste, würde er wahnsinnig werden! Aber nur mal hypothetisch: Er wäre dann ja ein Vollpflegefall und würde vermutlich in irgendeinem Heim vor sich hinvegetieren. Er hatte solche Fälle schon im Fernsehen gesehen. Die Gliedmaßen der Pflegefälle verkrüppelten, die wurden zwar sorgfältig gepflegt, aber man konnte nur hoffen, dass deren Gehirne dann auch schon so tot waren, wie die Körper. Wenn man sich vorstellte, dass die so wach und lebendig im Kopf waren, wie er gerade, war das eine der schlimmsten Foltern, die man sich vorstellen konnte. Er hatte mit Sarah schon öfter mal die Fernsehserie: „Der letzte Bulle“ angeschaut und über Henning Baum und die Situationen, in die er in seiner Rolle immer kam, auch sehr gelacht, aber Sarah hatte ihm dann erklärt, dass das faktisch unmöglich war, dass jemand nach einem dermaßen langen Koma einfach aufstand und sein Leben da wieder aufnahm, wo er es unterbrochen hatte. Da würde eine monatelange Reha vorausgehen und der körperliche Zustand wäre nie mehr so, wie zuvor. Sollte das vielleicht auch sein Schicksal werden? Wenn Sarah und das Baby überlebten-würden sie ihn dann besuchen? Würde er sein Kind aufwachsen sehen? Vermutlich würden sie am Anfang regelmäßig kommen, dann würden die Besuche immer seltener werden und irgendwann würde man noch zu Weihnachten und zum Geburtstag an ihn denken und das wars dann! Ben wollte rufen, wollte schreien, wenigstes die Augen aufmachen, aber auch mit äußerster Willensanstrengung gelang das nicht. Er war verdammt, so liegenzubleiben, wie ihn die Schwestern hinlegten und konnte nicht einmal einer drückende Falte des Lakens ausweichen-da musste er warten, bis beim nächsten Lagerungsintervall die Pflegekräfte ihre Arbeit sorgfältiger machten. Er wollte weinen, seinen Kummer in die Welt hinausschreien, aber er lag stumm und reglos in seinem Bett.


    Sarah war inzwischen auf die chirurgische Intensivstation gebracht worden. Man hatte sie tief sediert, damit sie auch keinen Blutdruckanstieg bekam. Die Drainagen wurden mit Ablaufbeuteln versehen, damit man sofort reagieren konnte, falls sich Blut darin sammelte. Man legte ihr eine Magensonde, um sie so zu ernähren, aber sonst ging man sehr ruhig mit ihr um, bewegte sie nur, wenn es absolut notwendig war und ließ sie mit einer wärmenden Decke auf einer Wechseldruckmatratze vor sich hin schlafen. Das Baby in ihrem Bauch lag ja in der gleichen Narkose wie seine Mutter, aber das war jetzt eben nicht zu vermeiden. Falls Sarah wach werden würde und vor Aufregung Wehen bekam, oder auch nur stark hustete, oder presste, würde sie vielleicht auf der Stelle verbluten. Daher war die tiefe Sedierung mit Zielblutdruck um die hundert jetzt das Beste, was man für sie und das Kind tun konnte. „Wenn wir die ersten 48 Stunden überstanden haben, ist das Schlimmste vorbei. Bis dahin müsste sich die Gefäßwand wieder so weit zusammengezogen haben, dass die Gefahr der Blutung minimiert ist. Dann können wir sie aufwachen lassen!“ erklärte der Gefäßchirurg den betreuenden Intensivärzten und –schwestern. Man hatte die Sedierungsmedikamente so gewählt, dass sie auch für das Kind relativ ungefährlich waren. Natürlich war eigentlich jedes Medikament in der Schwangerschaft kritisch zu betrachten, aber es kam ja immer wieder vor, dass Schwangere eine Narkose brauchten, oder beatmet werden mussten und von den verwendeten Medikamenten war bekannt, dass sie keine fruchtschädigende Wirkung hatten. So ließ man Sarah dann ruhig in ihrem Einzelzimmer liegen, stellte sogar die Alarmtöne leise, um sie im Unterbewusstsein nicht zu beunruhigen und hoffte, dass die Zeit für sie arbeiten würde.


    Semir und seine Familie hatten wider Erwarten erholsam geschlafen. Ab und zu war die Nachtschwester hereingekommen und hatte das Befinden ihrer vier Patienten mit der Taschenlampe kontrolliert, aber die atmeten alle frei, zwar von gelegentliche Hustenstößen unterbrochen und mit Sauerstoffsonden in der Nase, aber das Befinden war den Umständen entsprechend in Ordnung. Andrea war die Erste, die am Morgen die Augen aufschlug. Erst als sie ihre Blicke schweifen ließ und das Krankenhauszimmer erkannte, waren die Erlebnisse der Nacht wieder präsent. Als sie allerdings ihre Kinder und Semir ruhig atmend neben sich liegen sah, wurde sie bei allem Schock von einer großen Dankbarkeit ergriffen. Sie lebten-und das war das Wichtigste!


    Hintersteiner war in der Spezialklinik noch in der Nacht sofort operiert worden. Man hatte die verbrannte Haut mit der eingeschmolzenen Kleidung abgetragen und zum Schutz vor Infektionen mit einer Kunsthaut abgedeckt. Er lag ebenfalls beatmet in einer keimarmen Umgebung, bekam Antibiotika und viel Flüssigkeit gegen den Verbrennungsschock und war voll verkabelt worden. Sein Zustand war zwar kritisch, weil er doch einen relativ hohen Prozentsatz der Hautoberfläche verbrannt hatte, aber wenn keine Komplikationen wie Nierenversagen dazu kamen, hatte er doch recht große Chancen, das zu überstehen. Wie das kosmetisch später aussehen würde, konnte man noch nicht absehen, aber er war in dem Verbrennungszentrum in guten Händen.


    Der Brand in Semir´s Haus konnte relativ rasch gelöscht werden. Das Kinderzimmer war zwar komplett ausgebrannt und auch der Dachstuhl hatte Schäden, aber man würde das Haus wieder reparieren können. Allerdings war alles total verraucht und die untenliegenden Stockwerke, sowie die meisten Möbel durch das Löschwasser beschädigt. Als der leitende Feuerwehrkommandant das Haus zur Spurensicherung frei gab, wurde aus dem Kinderzimmer die verbrannte Leiche des Chemikers geborgen und zur Obduktion in die Gerichtsmedizin gebracht. Nach und nach fuhren die Einsatzfahrzeuge weg, nur drei Feuerwehrleute blieben noch zur Brandwache da, falls irgendwelche Glutnester wieder aufflammten. Sonst blieb die Nacht ruhig und man wartete nun darauf, dass es Morgen wurde und der Eigentümer und der Sachverständige der Brandversicherung erschienen, um den Schaden zu schätzen. So ging eine schicksalsträchtige Nacht zu Ende, die zwar ein Todesopfer gefordert hatte, aber das hatte es verdient!

  • Als Semir nach einer ganzen Weile ebenfalls erwachte, drehte er sich um und musste ein Stöhnen verkneifen. Verdammt, sein Arm tat ganz schön weh! Als er sich umwandte, sah er Andrea relativ fit in ihrem Bett liegen und ihn besorgt mustern, anscheinend war sie schon wach gewesen. Leise flüsterte sie: „Semir was ist los? Hast du Schmerzen?“ aber er winkte ab. „Es zieht ein wenig im Arm, aber sonst geht’s schon, wie fühlst du dich?“ wollte er dann wissen. Andrea zuckte mit den Schultern. „Passt schon, ich bin nur froh, dass wir alle leben-das hätte auch anders rausgehen können!“ sagte sie, hustete ein wenig und dachte mit Schaudern an ihre mitternächtlichen Erlebnisse zurück. Semir nickte ernst und schwang dann die Beine aus dem Bett. Langsam begannen sich auch die Kinder zu regen und als Semir auf die Uhr sah, stellte er fest, dass es gerade sieben Uhr war-um diese Zeit standen sie zuhause auch immer auf. Zuerst schlug Ayda die Augen auf und kurz danach Lilly. Beide waren erst ganz verwirrt, aber als Mama und Papa dann zu ihnen eilten und sie fest in ihre Arme nahmen und leise mit ihnen begannen zu reden, konnten sie sich bald orientieren und ließen sich auch beruhigen. Da kamen auch schon die Schwestern herein, maßen mit dem Ohrthermometer das Fieber und die beiden Mädchen bekamen wohlschmeckenden Schmerzsaft-Nurofen-den sie auch willig nahmen. Andrea und Semir gingen mit ihnen zur Toilette und Semir schlüpfte danach wieder in seine nach Rauch stinkenden Kleider. Andrea wusch sich und die Kinder, während Semir auf den Flur hinausging und fragte, ob ihm jemand sagen konnte, wie es Sarah ging, nach Ben würde er nachher selber sehen. Er wurde gebeten, doch noch bis nach dem Frühstück im Zimmer zu bleiben, dann würde der Arzt kommen, sie alle untersuchen und entscheiden, wie man weiter verfahren würde. Das Frühstück wurde gebracht und alle ließen sich, trotz der schrecklichen Erlebnisse in der Nacht, die Mahlzeit schmecken. Die Erwachsenen mit Kaffee, die Kinder mit Kaba und kaum hatten die Kinder danach nach ihren Spielzeugtieren und dem Feuer gefragt und ein wenig zu weinen begonnen, getröstet und in den Armen gewiegt von ihren Eltern, die ihnen etwas vom Spielzeughimmel erzählten, traf auch schon der Arzt ein und untersuchte sie der Reihe nach durch.


    Zuerst kamen die Kinder dran. Er hörte sie gründlich ab und wickelte auch die Verbände, unterstützt von der Schwester, ab. „Ich würde die beiden gerne noch dabehalten. Ihre Lungen sind noch nicht ganz frei, wir lassen sie heute ein paarmal inhalieren und verbinden die Extremitäten neu mit schmerzstillender Flammazinesalbe. Die wirkt auch noch antibakteriell, aber es wäre trotzdem möglich, dass die beiden vielleicht ein Antibiotikum brauchen!“ sagte er. Auch Andrea´s Lunge gab noch Anlass zur Besorgnis, auch sie würde noch im Krankenhaus bleiben.
    Nur Semir sagte gleich von Anfang an: „Tut mir leid, aber ich habe so viel zu erledigen, ich kann auf gar keinen Fall untertags dableiben. Meinetwegen komme ich abends wieder her zum Schlafen, ich bezweifle nämlich auch, dass unser Haus noch bewohnbar ist, aber ich muss jetzt dann gleich mal dorthin fahren!“ erklärte er. Trotzdem hörte der Arzt auch Semir ab, aber dessen Lunge war wirklich nicht so betroffen. Er verzog zwar kurz das Gesicht, als der Arzt seinen Arm betastete, aber dann zuckte der Doktor mit den Schultern. „Wenn sie unbedingt möchten, kann ich sie regulär entlassen. Ihr Bett können wir da lassen, dann kommen sie eben heute Abend als Begleitperson wieder her. Ich verstehe das, dass sie so einiges zu erledigen haben, aber machen sie bitte ein wenig langsam, damit die Wunde nicht wieder aufreißt!“ bat er Semir und der nickte dankbar. Er bekam noch ein paar Schmerztabletten mit und machte sich dann auf den Weg-zunächst zur chirurgischen Intensivstation, auf der Sarah lag, wie ihm die Schwestern mitgeteilt hatten.


    Als er draußen läutete, wurde er gefragt, ob er Angehöriger sei. „Nicht direkt, aber ich denke, es wäre in ihrem Sinne, dass ich nach ihr sehe, vor allem weil ihr Lebensgefährte selber sehr krank ist. Ich kann ihnen aber vielleicht die Telefonnummer ihrer Eltern besorgen!“ erklärte er. Natürlich war ihm klar, dass er eigentlich kein Recht auf Auskunft hatte, dann fiel ihm allerdings noch etwas ein. „Sarah wurde ja auch Opfer eines Verbrechens und ich bin Polizist und ermittle in dem Fall!“ und nun wurde er doch hereingebeten. Der behandelnde Arzt ließ sich Semir´s Ausweis zeigen und dann bat er ihn, leise mitzukommen. Sarah lag in einem leicht verdunkelten Einzelzimmer. Es herrschte dort eine sehr ruhige Atmosphäre und sie schlief unter einer dünnen Decke friedlich vor sich hin. Mit Erleichterung sah Semir, dass sich der Bauch unter der Decke noch wölbte. „Wie geht es ihr und dem Baby?“ fragte er flüsternd, aber der Arzt bat ihn nun kurz ins Büro. „Das Messer konnte heute Nacht in einer Notoperation entfernt werden. Sie hat allerdings eine schwere Gefäßverletzung, die nur notdürftig geflickt werden konnte, um das Kind nicht zu gefährden!“ sagte er. „Die nächsten zwei Tage werden zeigen, ob sie das überlebt und das Kind behalten kann, es stand Spitz auf Knopf heute Nacht. Ich habe hier auch das Messer-es wurde im OP nur mit Handschuhen angefasst und danach sofort eingetütet!“ sagte er und erhob sich, um das Semir zu geben. Insgeheim wunderte er sich, dass der Polizist nach Rauch stank und auch mit einer am Ärmel zerfetzten Jacke bei ihm vorsprach, aber ihm sollte es Recht sein-sie hatten schon im Kollegenkreis wegen dem Messer diskutiert, denn das musste ja die Polizei zur Spurensicherung bekommen, so war das üblich. Nun hatte er seine Pflicht hiermit erledigt und Semir nahm die Tüte dankend entgegen. „Ich gebe ihnen später die Telefonnummer der Eltern durch!“ sagte Semir noch und verabschiedete sich dann von dem Arzt, um als Nächstes zu Ben zu gehen.


    Der war inzwischen gewaschen worden und dort durfte Semir auch sofort hinein-die Verbindung zwischen den beiden Freunden und Kollegen war hinreichend bekannt. „Ben!“ sagte Semir weich, als er seinen Freund leicht auf der Seite liegend vorfand. Allerdings erschrak er, denn der sah verfallen aus und als er dessen Hand nahm, fühlte die sich glühend heiß an. Inzwischen hingen einige Perfusoren am Infusionsbaum, aber Semir hatte ja keine Ahnung, was das für Medikamente waren. Die würden hier schon alles richtig machen-hoffte er zumindest. „Ben ich war gerade bei Sarah!“ erzählte er seinem Freund. „Sie wurde heute Nacht operiert und liegt jetzt selber beatmet auf einer anderen Intensivstation. Die beiden nächsten Tage werden zeigen, ob sie das Baby behalten wird, aber sie hat ganz friedlich ausgesehen!“ erklärte er ihm, obwohl er ja nicht wusste, ob der überhaupt etwas mitbekam. „Ich fahre jetzt zu meinem Haus und schaue mal, was davon noch steht!“ sagte er dann traurig. „Abends komme ich wieder und schaue nach dir und nach Sarah!“ erklärte er ihm dann und verabschiedete sich. Draußen sagte er noch zu einer Schwester: „Wissen sie jetzt schon, was das für ein Schlangengift ist, das mein Kollege gespritzt gekriegt hat?“ aber die Schwester schüttelte den Kopf. Das mit dem Schlangengift war ihr neu. Ben lief zwar unter „Intoxikation mit einer unbekannten Substanz“, und sie persönlich hatte von irgendwelchen Schlangen sowieso keine Ahnung, aber sie würde nachher den Arzt fragen, was das damit für eine Bewandtnis hatte.
    Semir wandte sich dem Ausgang zu, aber als sein Blick dann auf das eingetütete Messer in seiner Hand fiel, griff er zum Handy und rief in der PASt an.

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!