Bad Bank - extended version

  • Hallo zusammen!
    Nachdem ich bislang lediglich eine "Leserin" war, habe ich mich im stillen Kämmerlein auch mal als "Schreiberin" versucht. Dank des guten Zuredens von Susanne (die einen Mini-Ausschnitt der Geschichte gelesen hat) poste ich meine Geschichte nun auch hier. Es ist eher eine Erweiterung als eine eigenständige Geschichte - und fällt dementsprechend eher kurz aus, aber für den Einstieg ins Schreiben war das ganz gut.
    Wie der Titel schon verrät ist es eine Erweiterung der Folge "Bad Bank". In der Folge selbst kamen mir die Gefühle und Gedanken von Ben bezüglich seiner Augenverletzung etwas zu kurz. Aber dazu gibt es ja Fanfictions ;)
    Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und freu mich über Feedback - sowohl positiv als auch negativ!
    Liebe Grüße,
    Elina


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    Er lief so schnell er konnte, Panik stieg in ihm auf und er hörte Semir seinen Namen schreien. Plötzlich war er gefangen in einer Wolke aus grünlichem Nebel. Ben wurde klar, dass er es nicht geschafft hatte der Explosion zu entkommen. Als sich der Nebel lichtete sank Ben auf die Knie. Er versuchte sich zu orientieren. Der Lärm zahlreicher Explosionen hallte in seinem Kopf wieder. Seine Augen versagten ihren Dienst. Auch nach wiederholtem Blinzeln erlangte das Bild was er sah keine Schärfe. „Ätzend“ hatte auf den Fässern gestanden die um ihn herum in die Luft geflogen waren, daran konnte er sich erinnern. Ben presste sich die Handflächen vor die Augen, in der Hoffnung auf diese Weise den unerträglichen Schmerz und das Brennen lindern zu können. Doch die erhoffte Besserung blieb aus. Als er die Augen zum wiederholten Male öffnete, konnte er seine Umgebung noch immer nicht erkennen. Vielmehr war er gefangen in einer Welt aus grauen und schwarzen Schatten. Mit Panik in der Stimme schrie er nach seinem Partner. „Ich kann nichts mehr sehn! Semir! Ich kann nichts mehr sehn!“


    Mit vor Schreck geweiteten Augen hatte Semir auf seinen Partner gestarrt, wie er versucht hatte der Explosion zu entkommen. Doch dann war Ben in einer Wolke aus grünlichem Nebel verschwunden. Als sich der Nebel gelegt hatte war Semir zunächst erleichtert gewesen, seinen Partner scheinbar unbeschadet zu sehen, doch dann war Ben plötzlich vor seinen Augen in die Knie gegangen, hatte sie die Hände vor sein Gesicht gepresst und mit panischer Stimme nach ihm geschrien. Innerhalb weniger Sekunden war Semir bei Ben, der am Boden kniete und augenscheinlich verzweifelt versuchte seine Umgebung wahrzunehmen. Semir kniete sich vor seinen Kollegen und ergriff seine Schultern. Die unerwartete Berührung ließ Ben zusammenzucken. Er hatte seinen Partner nicht bemerkt. „Semir… ich seh nichts mehr!“ brachte Ben mit verzweifelter Stimme hervor. „Ganz ruhig Ben! Komm, wir müssen erst einmal weg von den Fässern.“ Semir half Ben aufzustehen und führte ihn auf den Grünstreifen neben der Fahrbahn auf dem Ben sich niederließ. „Ben, tut dir sonst noch was weh? Hast du irgendwelche Schmerzen?“ „Meine Augen Semir, das brennt wie Feuer. Und alles was ich noch sehe sind schwarze und graue Schatten.“ antwortete Ben mit tränenerstickter Stimme. Semir musste schlucken. Die Haut um Bens Augen war stark gerötet, seine ansonsten so klaren, funkelnden braunen Augen waren stark getrübt und er hatte scheinbar große Mühe, sie offen zu halten. Semir hatte Mühe sich aus seiner Starre zu lösen, doch er wusste, dass nun schnelles Handeln gefragt war. „Ben, pass auf, du legst dich jetzt hier ins Gras. Ich bin sofort wieder da. Wir müssen deine Augen ausspülen!“ Ben legte sich auf den Rücken und hatte die Augen nun geschlossen. Mit einem letzten Blick auf seinen Partner, der das Gesicht vor Schmerzen verzog, rannte Semir zu Bens Wagen. Über Handy verständigte er auf dem Weg Susanne mit der Bitte um einen Helikopter, der Ben schnellstmöglich in die Uniklinik Köln bringen solle. Wenige Minuten später war er mit einer Flasche Wasser zurück bei seinem Partner. „Ben, ich habe hier eine Flasche Wasser. Wir müssen deine Augen ausspülen. Kannst du sie öffnen?“ „Ich weiß nicht, es tut so weh Semir.“ brachte Ben schwer atmend hervor. „Semir… ich habe Angst.“ Semir fiel es schwer die Fassung zu wahren. Seinen Partner so hilflos zu sehen brachte ihn emotional an seine Grenzen. Er hatte Mühe, Bens Augenlider zu öffnen. So gut es ging spülte er seine Augen mit klarem Wasser aus. „Semir, scheiße, das tut so weh.“ Reflexartig wand Ben seinen Kopf nach rechts und links um dem Wasser auszuweichen. „Ich weiß Ben, ich würde es dir auch gerne ersparen, aber es muss sein!“ entgegnete Semir und blickte besorgt auf seinen vor Schmerzen wimmernden Freund.

  • Die wenigen Minuten die es dauerte, bis der Rettungshubschrauber auf einem Feld neben der Autobahn landete, kamen Semir vor wie Stunden, in denen er kontinuierlich versucht hatte Bens Augen auszuspülen. Er konzentrierte sich ganz auf seinen Partner, der vor ihm im Gras lag und offensichtlich große Schmerzen hatte. Immer wieder versuchte er beruhigende Worte zu finden und so langsam begann er selbst daran zu glauben, dass schon alles gut werden würde, so oft hatte er diesen Satz schon wiederholt. Aber wenn er ehrlich war, dann bezweifelte er seine eigenen Worte. Das Bild von Bens trüben Pupillen würde er so schnell nicht aus dem Kopf bekommen. Verätzungen der Augen konnten schwere irreversible Schäden verursachen, da war ihm bewusst. Doch darüber durfte er sich in diesem Augenblick keine Gedanken machen. Alles was er derzeit tun konnte war, seinem Partner beizustehen. Doch er drang kaum zu Ben durch, der nur abwechselnd „Es tut so weh!“ und „Semir, ich sehe nichts mehr!“ von sich gab. Eine große Erleichterung machte sich in Semir breit, als der Notarzt und einige Sanitäter endlich zu ihnen traten und ihn ablösten. Semir erklärte schnell was passiert war und dass er versucht hatte Bens Augen auszuspülen, was aber nur schwer möglich gewesen war, da dieser es nicht schaffte seine Augen offen zu halten. Ben wurde währenddessen ein intravenöser Zugang gelegt und eine Infusion angehängt. Die Sanitäter führten kontinuierlich eine Spülung der Augen fort, die wesentlich professioneller und effektiver war als das, was Semir versucht hatte. Der Notarzt verschaffte sich ein umfassendes Bild vom Zustand seines Patienten und anschließend wurde Ben auf die mitgebrachte Trage gelegt und festgeschnallt. Semir, der alles genauestens beobachtet hatte, jedoch bemüht war nicht im Weg zu stehen, trat noch einmal kurz zu seinem Freund und ergriff dessen Hand. „Ben? Die fliegen dich jetzt in die Uniklinik. Ich komme im Auto nach, ok?“ Ben presste die Lippen aufeinander und musste schwer schlucken, erwiderte Semirs Händedruck jedoch und nickte zaghaft. Mehr Zeit blieb den beiden Freunden nicht, denn der Tross machte sich mit Ben auf den Weg zum bereitstehenden Helikopter. Sobald der Rettungshubschrauber abgehoben hatte machte Semir auf dem Absatz kehrt und eilte zu Bens Dienstwagen, der unbeschadet wenige Meter von der Unfallstelle auf der Autobahn stand. Die Polizeiarbeit vor Ort würde von den bereits eingetroffenen Kollegen übernommen werden. Er wollte so schnell wie möglich zu seinem Partner ins Krankenhaus.


    Dort angekommen fragte er sich zur Station für „Augenheilkunde“ durch, wo er erfuhr, dass Ben noch behandelt wurde, jedoch bald auf sein Zimmer gebracht würde. Ungeduldig und von der Sorge um Ben geplagt nutzte Semir die Wartezeit, um zunächst Bens Schwester Julia zu informieren. Sie war geschockt von den schlechten Nachrichten und versprach so bald wie möglich in die Uniklinik zu kommen, nachdem sie ein paar Sachen für ihren Bruder aus dessen Wohnung geholt hatte. Semir holte sich einen Kaffee aus dem Automaten im Wartebereich und informierte im Anschluss noch Andrea und die Chefin, dass er zunächst bei Ben im Krankenhaus bleiben würde. Seine Gedanken kreisten ständig um die gleichen Fragen. Würde Ben wieder gesund werden? Würde er je wieder sehen können? Hatte er am heutigen Tag wieder einen Partner verloren? Der Anblick von Bens geröteten Augen und trüben Pupillen bekam er nicht aus dem Kopf. Nervös tigerte er auf dem Flur auf und ab. Er hatte das Gefühl nun unbedingt etwas tun zu müssen, sonst würde er noch wahnsinnig werden. So machte er sich auf den Weg, Bens behandelnden Arzt ausfindig zu machen. Scheinbar hatte Ben bei der Einlieferung angegeben, dass Semir über seinen Gesundheitszustand informiert werden durfte und so erzählte der Arzt ihm irgendwas von „ätzender Chemikalie“, „ausstehenden Tests“ und „vielleicht können wir operieren“. Irgendwann wurde es Semir zu bunt. Das war doch alles ein Gerede um den heißen Brei herum und deshalb stellte er die für ihn alles entscheidende Frage „Wie stehen seine Chancen?“ Semir stand dem Arzt gegenüber und erwartete dessen Antwort wie ein Angeklagter das Urteil des Richters. „Dass er sein Augenlicht behalten kann? – Meiner Meinung nach höchstens 50:50.“

  • Die Worte des Arztes hatten gesessen wie eine Ohrfeige und hallten in Semirs Kopf wieder. Der Arzt hatte ihn einfach auf dem Gang stehen gelassen und war zu seinem nächsten Patienten geeilt. Alles was Semir wusste war, dass Bens Augen bislang nur ausgespült werden konnten. Eine Operation am nächsten Tag sollte zeigen, welche Heilungschancen bestünden. Durch die geöffnete Zimmertür betrachtete er seinen Partner, der auf seinem Bett lag und Musik hörte. Wie sollte er Ben nun gegenübertreten? Wusste Ben schon von der eher bescheidenen Prognose? Er spürte plötzlich eine ungewohnte Distanz zu seinem Partner, dessen Augen von einem blauen Verband bedeckt waren. Die Tatsache, dass Ben ihn gleich nicht mit seinen funkelnden braunen Augen ansehen und ihm wohl kein verschmitztes Grinsen oder einen frechen Spruch entgegenbringen würde, empfand er als beängstigend. Eigentlich waren sie sich sehr vertraut und verbrachten mehr Zeit miteinander als mit der eigenen Familie, aber eine solche Situation hatten sie bisher noch nicht durchstehen müssen. Würde er Ben auch jetzt ein guter Freund sein können? Im selben Moment ohrfeigte sich Semir in Gedanken für seine Zweifel und gab sich einen Ruck. Er betrat das Krankenzimmer und trat vorsichtig an das Bett seines Partners. Auch wenn Ben ihn nicht sehen konnte, so schien er die Anwesenheit einer weiteren Person zu spüren und entfernte die Kopfhörer aus seinen Ohren. „Hallo? Ist da jemand?“ fragte er unsicher. „Ich bin es nur Ben. Ich wollte mal schauen wie es dir geht.“ Ben drehte seinen Kopf in die Richtung aus der er Semirs Stimme vernahm. Die Unsicherheit war ihm deutlich anzumerken. „Ging schon mal besser.“ entgegnete er leise. Semir nahm sich einen Stuhl und setzte sich ans Bett seines Freundes. Eine beklemmende Stille legte sich über die beiden Freunde. Semir fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Was sollte er sagen? Was sagte man in einer solchen Situation? Ein einfaches „Alles wird wieder gut!“ war wohl mehr als unangebracht. Ein verzweifeltes Seufzen von Ben durchbrach die Stille. Die von ihm mühsam aufrecht erhaltene Fassade brach plötzlich zusammen und ein herzzerreißendes Schluchzen ließ seinen Körper erzittern. Semir war überfordert mit der Situation. Was hätte Andrea nun getan? Sie wusste, wie man sich in einer solchen Situation verhielt. Doch auch Semir spürte, dass Ben nun eine sichere Schulter zum Anlehnen brauchte. So ergriff er Bens Hand und streichelte ihm beruhigend über den Oberarm. Bens kräftiger Händedruck bestätigte Semir, dass er sich richtig verhielt. Ben klammerte sich geradezu wie ein Ertrinkender an Semirs Hand. Deshalb verließ dieser seinen Stuhl und setzte sich auf die Bettkante. Als Ben dies bemerkte richtete er sich auf und ließ sich in Semirs Arme fallen. Umgehend war die gewohnte Nähe und Vertrautheit zwischen den beiden Freunden wieder hergestellt und Semirs Sorge, sich falsch verhalten zu können war verflogen. Ben hatte einfach schreckliche Angst vor dem was kommen würde, dass er vielleicht nie wieder sehen würde. Er brauchte Halt und war froh, dass Semir an seiner Seite war. Die Schwärze, die ihn umfing, nahm ihm alle Sicherheit und er fühlte sich wie ein kleines hilfloses Kind. Die Tränen die er nun vergoss, wurden von dem Verband, der seine Augen bedeckte, aufgesogen. Beruhigend strich Semir ihm über den Rücken. Er hielt seinen Freund einfach nur fest und versuchte so zumindest den seelischen Schmerz ein wenig zu lindern. Es dauerte eine ganze Weile bis Ben sich wieder beruhigt hatte, doch irgendwann ließ das ständige Beben von Bens Körper nach und er ließ sich langsam zurück in die Kissen gleiten. Semir reichte ihm ein Taschentuch und Ben schnäuzte sich. „Danke Partner!“ „Ach, ich hab doch gar nichts gemacht.“ winkte Semir ab. „Doch Semir, das hast du.“ entgegnete Ben sofort mit belegter Stimme. Semir hatte ihm mit seiner Umarmung ein Stück Sicherheit zurückgegeben. Auch wenn er nach wie vor in der Dunkelheit gefangen war so gaben ihm Semirs Anwesenheit und die tröstende Umarmung die Gewissheit, in dieser schwierigen Situation nicht allein zu sein. Wieder entstand eine Stille, die dieses Mal jedoch beruhigend auf die beiden Freunde wirkte.

  • „Hast du noch Schmerzen?“ fragte Semir nach einiger Zeit. „Nein, die Schmerzmittel, die die mir hier geben scheinen ganz gut zu wirken. Ich würde mir nur gerne die Klamotten ausziehen. Kannst du mir vielleicht was aus meiner Wohnung holen?“ bat der junge Polizist. „Ich habe Julia schon angerufen. Sie kommt später vorbei und bringt dir was. Willst du vielleicht schon mal die Schuhe ausziehen?“ Ben nickte und so half Semir seinem Partner, sich die Schuhe auszuziehen. Anschließend ließ er sich mit einem Seufzen wieder in die Kissen fallen. „Hast du schon mit dem Arzt gesprochen?“ „Er hat mir nur kurz gesagt, dass sie versuchen dich zu operieren.“ Semir vermied es von der 50:50 Chance zu sprechen, die der Arzt ihm gegenüber erwähnt hatte, da er Ben nicht mit dieser Information konfrontieren wollte. „Ja...“ stieß Ben jedoch plötzlich verächtlich aus. „Eine Operation, die mit 50%iger Wahrscheinlichkeit zu keinem Erfolg führen wird. Semir, ich werde wahrscheinlich für immer blind bleiben.“ sagte Ben mit tränenerstickter Stimme. „Nein Ben,...nein!“ antwortete Semir energisch. „So darfst du nicht denken! Du wirst wieder sehen können... Ich... ich hab‘ nämlich absolut keine Lust mir einen neuen Partner zu suchen. Nicht schon wieder.“ Bei seinem letzten Satz war Semirs Stimme nur noch ein Flüstern und er war froh, dass Ben nicht sehen konnte, wie sich eine Träne aus dem linken Augenwinkel löste und über seine Wange kullerte. Ben atmete tief durch und presste die Lippen aufeinander. Er wusste, was Semir schon alles hatte durchmachen müssen. Viele Partner hatte er verloren und nun war er selbst schuld daran, dass Semir schon wieder um seinen Partner bangen musste. Was würde aus ihm selbst werden, wenn er nicht mehr als Polizist arbeiten könnte? War alles, was er dafür auf sich genommen hatte umsonst gewesen. „Ich habe Angst Semir.“ gestand er nach einem kurzen Schweigen. „Ich weiß, aber du bist nicht alleine. Ich bleibe bei dir Ben. Wir schaffen das!“ entgegnete Semir und ergriff wieder Bens Hand um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Danke Partner!“ sagte Ben mit einem zaghaften Lächeln. Er war gerührt von Semir‘s Fürsorge und wusste in diesem Moment, dass er sich auf seinen Partner und Freund verlassen konnte.


    „Wisst ihr schon, wen wir da verfolgt haben?“ wollte Ben nach einiger Zeit wissen. „Leider nein, die Kollegen sind dran, aber ich wollte erstmal zu dir. Um diese Verbrecher kann ich mich auch später noch kümmern.“ Semir versuchte möglichst überzeugend zu klingen, doch es gelang ihm nicht wirklich. Auch Ben bemerkte, dass Semir hin- und hergerissen war zwischen dem Bedürfnis, ihm beizustehen und dem Verlangen, die Menschen, die für seinen Zustand verantwortlich waren, zur Rechenschaft zu ziehen. „Semir, ich würde mir wünschen, dass du dich jetzt an den Ermittlungen beteiligst und die Kollegen unterstützt. Ich komme schon klar. Julia kommt ja gleich und leistet mir Gesellschaft.“ sagte er deshalb so überzeugend wie es ihm gerade möglich war. „Bist du dir sicher? Ich kann auch warten, bis Julia da ist.“ „Nein Semir, nun hau schon ab. Mir geht’s schon wieder etwas besser. Danke, dass du da warst.“ Bens Worte ließen keinen Widerspruch zu und so erhob sich Semir von seinem Stuhl und zog seinen Freund noch einmal sanft in eine Umarmung. „Ich komme morgen vor der OP nochmal bei dir vorbei. Grüß Julia schön und lass den Kopf nicht hängen... Und wenn dir heute Nacht die Decke auf den Kopf fällt, dann ruf mich an ja!? Egal wie spät es ist!“ „Versprochen Partner. Bis morgen!“ entgegnete Ben mit einem Lächeln auf den Lippen. Nachdenklich, aber dennoch entschlossen die Ermittlungen aufzunehmen und voranzutreiben verließ Semir das Krankenhaus.

  • Julia Jäger war geschockt von Semirs kurzem Bericht über das, was ihrem Bruder wiederfahren war. Sie hatte Semir auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus getroffen und der Freund ihres Bruders hatte davon berichtet, wie Ben seinen Armen zusammengebrochen war. Er kam offensichtlich nur schwer mit der Situation zurecht. Mit langsamen Schritten begab sie sich zu Bens Zimmer. Zögerlich klopfte sie an die Zimmertür und vernahm ein leises „Herein!“ Als sie das Zimmer betrat sah sie ihren Bruder zusammengerollt auf dem Bett liegen. „Hallo Ben!“ begrüßte sie ihn. „Hi. Komm rein.“ antwortete Ben und versuchte dabei den Kopf in Julias Richtung zu drehen, verfehlte die richtige Blickrichtung jedoch um einige Zentimeter. Julia trieb es die Tränen in die Augen ihren sonst so starken Bruder so zu sehen. Langsam ging sie zu seinem Bett und setzte sich auf den daneben stehenden Stuhl. „Was machst du denn für Sachen, Ben?“ wandte sie sich an ihn und nahm seine Hände in ihre um ihm so zu zeigen wo genau sie war. Ben reagierte auf ihre Frage nur mit einem kurzen Schulterzucken und presste die Lippen aufeinander um die erneut aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. „Danke, dass du gekommen bist!“ brachte er mühsam hervor. „Aber natürlich bin ich sofort gekommen. Ich war nur noch kurz in deiner Wohnung um dir ein paar Sachen zu holen.“ „Das ist lieb. Kannst du mir beim Umziehen helfen? Ich möchte endlich aus diesen Klamotten raus. Alles riecht nach dieser ätzenden Chemikalie, die mir das eingebrockt hat.“ bat Ben. „Aber natürlich, komm, setzt dich mal auf.“ Julia half ihrem Bruder, dem die ganze Situation sichtlich unangenehm war, sich bequemere und saubere Kleidung anzuziehen. Ein schüchternes „Danke!“ verließ seinen Mund, als er sich mit Julias Hilfe wieder in sein Bett gelegt hatte. „Ben, was genau ist eigentlich passiert? Semir hat mir nur kurz berichtet, dass deine Augen mit einem ätzenden Dampf in Kontakt gekommen sind.“ Ben atmete tief durch und Julia bemerkte, wie schwer es ihrem Bruder fiel darüber zu sprechen. „Semir und ich haben einen flüchtigen Wagen auf der Autobahn verfolgt und in die darauf folgende Massenkarambolage war ein Transporter, der Fässer mit einer ätzenden Flüssigkeit geladen hatte, verwickelt. Er hat mehrere Autos ineinandergeschoben und... ich bin hingelaufen um zu schauen, ob da noch jemand in einem der Wagen eingeklemmt ist. Plötzlich... sind die ganzen Fässer um mich herum explodiert...“ Ben machte eine kurze Pause und schluckte schwer, doch Julia merkte, dass sie ihrem Bruder die Zeit geben sollte. „Ich bin gerannt so schnell ich konnte, aber plötzlich war da überall dieser grüne Nebel. Meine Augen haben sofort angefangen zu brennen wie Feuer und... und ich habe immer schlechter gesehen.... Erst war alles verschwommen und dann... dann bestand alles nur noch aus schwarzen und grauen Schatten.“ Ben war während seiner Erzählung immer leiser geworden. Julia streichelte ihm beruhigend über den Arm, nahm seine Hände in ihre und ermutigte ihn so, weiterzusprechen. „Semir hat sofort versucht mir die Augen auszuspülen... und er hat den Rettungshubschrauber angefordert. Ohne diese schnelle Reaktion von ihm... stünden meine Heilungschancen...“ Ben räusperte sich „...stünden meine Heilungschancen wohl noch schlechter,... meinte der Arzt.“
    Kaum hatte Ben den Satz beendet öffnete sich die Tür und Finn, Bens Bettnachbar, und eine Schwester betraten das Zimmer. „So Herr Jäger, ich bringe ihnen ihren Zimmergenossen zurück. Oh, sie haben Besuch. Wie schön.“ lächelte Schwester Karin. „Hallo!“ erwiderte Julia. „Ja, meine Schwester war so lieb mir ein paar Sachen zu bringen. Sagen sie, darf ich aufstehen? Ich würde gerne mit meiner Schwester in die Cafeteria.“ „Ja natürlich, aber immer schön langsam.“ mahnte die Krankenschwester. „Au ja, kam es plötzlich von Finn. „Ich komme auch mit. Da gibt es super leckere Schoko-Muffins.“ „Ne ne junger Mann!“ kam es prompt von Schwester Karin. Du machst erstmal deine Hausaufgaben. Du kannst Herrn Jäger danach aus der Cafeteria abholen. Einverstanden?“ Der Krankenschwester war nicht entgangen, dass Ben mit seiner Schwester alleine sein wollte und schenkte Julia ein Lächeln. Finn musste sich geschlagen geben und machte sich an die Hausaufgaben. „Bis später Ben, ich hole dich gleich ab!“ ließ der kleine Junge seinen Bettnachbarn wissen. „Alles klar, Finn. Bis später!“ erwiderte Ben mit einem Lächeln aber doch trauriger Stimme.

  • Julia ergriff den rechten Arm ihres Bruders und führte ihn aus dem Zimmer. Beim Schließen der Tür hörte sie, wie Finn Schwester Karin fragte, warum Ben so traurig sei und ihr stiegen erneut Tränen in die Augen. Selbst der kleine Junge hatte bemerkt, wie sehr Ben unter der Situation litt. Sie verharrte einen Moment in ihrer Bewegung und wurde erst von einem Räuspern Bens, der ein wenig hilflos auf dem Gang stand, aus den Gedanken gerissen. „Julia?“ fragte er unsicher. „Ja... Entschuldigung. Komm, wir gehen in die Cafeteria.“ Ben ließ sich von seiner Schwester führen und sie brauchten eine ganze Weile, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Ben bewegte sich nur langsam und zögerlich und Julia wollte ihm die Zeit geben, sich daran zu gewöhnen, vollkommen auf ihre Hilfe angewiesen zu sein. In der Cafeteria half sie ihm, sich an einen der Tische zu setzen und Ben atmete erst mal tief durch als es geschafft war. „Puh,... ganz schön komisch. Ich fühle mich verdammt hilflos.“ fasste Ben seine derzeitige Lage in Worte und schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Die Traurigkeit, die in seiner Stimme lag, jagte Julia einen Schauer über den Rücken. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte und fragte deshalb nur: „Willst du einen Kaffee oder was zu essen?“ „Ja gerne, einen Kaffee und einen von den Schoko-Muffins bitte.“ gab Ben seine Bestellung auf. „Ok, ich bin gleich wieder da.“ So blieb Ben alleine am Tisch sitzen und knetete nervös seine Hände.


    Wenige Minuten später balancierte Julia zwei Tassen Kaffee und den von Ben gewünschten Schoko-Muffin zurück zum Tisch, an dem Ben saß. Er zuckte leicht zusammen, als sie alles auf dem Tisch vor ihm abstellte. „Sorry!“ entschuldigte sie sich gleich, als sie seine Reaktion bemerkte. „Schon gut. Es ist nur alles so ungewohnt.“ kam traurig von ihm. Julia nahm seine Hand in ihre und strich ihm beruhigend darüber. „Wir schaffen das Ben, ok?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, doch sie rang Ben damit ein zaghaftes Nicken ab. „Hier ist dein Kaffee. Ich habe schon 2 Zucker reingetan und umgerührt.“ So schob sie den Kaffee in Bens Richtung und führte seine Hand an den Henkel der Tasse. „Danke...“ kam von Ben und er trank einen Schluck des Heißgetränks. „Hast du Papa schon Bescheid gegeben?“ wollte Ben nach einer kurzen Zeit des Schweigens wissen. „Nein, noch nicht. Ich bin gleich hergekommen und wollte erstmal sehen, was passiert ist und wie es dir wirklich geht. Er ist ohnehin grade auf einem Geschäftstermin in Hamburg und würde sich dort nur den Kopf zerbrechen, ohne etwas ausrichten zu können. Er kommt morgen Mittag zurück. Soll ich ihn gleich anrufen?“ Ben schüttelte energisch den Kopf. „Nein, auf keinen Fall. Er wird es noch früh genug erfahren, wenn er zurück ist. Und...“ Ben brach ab. „Was ‚und‘?“ Ben zögerte, doch Julia wartete geduldig auf eine Antwort ihres Bruders. „Ich will nicht, dass er mich so sieht.“ Ben schluckte hart und trank nervös einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. Julia schaute ihn etwas ungläubig an. „Ben, du brauchst dich nicht zu schämen. Warum willst du denn ausgerechnet Papa nicht sehen? Ich dachte ihr würdet euch wieder besser verstehen...“ „Papa hat immer gesagt, dass mein Beruf zu gefährlich ist.“ unterbrach er seine Schwester. „Ich bin ja wohl grade die beste Bestätigung dafür, dass er Recht hatte. Und was will er jetzt noch mit einem... mit einem blinden Sohn?“ brachte Ben schwerfällig über die Lippen. Julia wusste nicht, was sie erwidern sollte. Die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit, die in Bens Stimme mitschwangen, überforderten sie. Das Schweigen der beiden Geschwister wurde plötzlich von einem aufgeregt herbeieilenden Finn unterbrochen. „Ben, ich bin schon fertig mit den Hausaufgaben.“ rief er aus und setzte sich auf den freien Stuhl neben Ben. „Super!“ lobte Ben ihn und versuchte dabei all seine Traurigkeit aus der Stimme zu verdrängen. „Du hast ja deinen Muffin noch gar nicht gegessen.“ tadelte Finn seinen älteren Bettnachbarn. „Stimmt.“ erinnerte sich Ben daran, dass er ja bei Julia einen Muffin bestellt hatte, der nun wohl irgendwo auf dem Tisch stand. „Wir könnten ihn teilen.“ schlug Ben vor. Finn griff sogleich beherzt nach dem Muffin und versuchte in möglichst gerecht in zwei gleich große Hälften zu brechen. Bevor er von seiner Hälfte abbiss, reichte er Ben seinen Anteil. In seiner kindlichen Unbefangenheit griff er dabei Bens Hand und deutete ihm so an, sie ihm mit ausgestreckter Handfläche hinzuhalten. Er legte den Muffin in Bens Handfläche und widmete sich dann seinem eigenen Teil. Julia beobachtete die Situation mit einem Lächeln und beschloss, dass Ben wohl zunächst in guten Händen war und ihm Ablenkung wohl gerade besser tat, als Grübeleien über die Zukunft. Ben schien den gleichen Gedanken zu haben und kam seiner Schwester zuvor. „Julia, du kannst ruhig nach Hause fahren. Finn passt schon auf mich auf.“ „Gut, dann mach ich mich jetzt auf den Weg nach Hause. Und mach dir keine Gedanken um Papa. Ich sag ihm erstmal nichts. Morgen früh sehen wir weiter, ja?“ Ben nickte und lächelte seine Schwester an. „Danke!“ Julia verabschiedete sich mit einem Kuss auf seine Wange und machte sich auf den Weg zum Ausgang.

  • Als der Abend anbrach und Finn bereits friedlich in seinem Bett schlief, lag Ben noch immer aufgewühlt von den Ereignissen des Tages auf seinem Bett. An Schlaf war nicht zu denken. Ein Gespräch mit seinem behandelnden Arzt am späten Nachmittag hatte ihn über den Ablauf der Operation, die für den nächsten Tag geplant war, aufgeklärt. Für die medizinischen Details hatte er sich wenig interessiert. Alles, was er wissen wollte war, ob er je wieder würde sehen können. Doch der Arzt hatte sich nicht festlegen wollen. Man müsse abwarten, wie sich die Augen entwickelten. Im Laufe des Tages hatte er noch ganze vier Mal die Tortur des Augen Ausspülens über sich ergehen lassen müssen. Tapfer hatte er ertragen, dass ihn trotz des Entfernens der Augenbinde immer noch Dunkelheit umgab. Noch nicht einmal mehr Schatten nahm er wahr. Die Angst, für immer in dieser Dunkelheit gefangen zu sein hatte sich nicht im Geringsten gelegt. Vielmehr hatte ihm der restliche Tag gezeigt, wie sehr er auf fremde Hilfe angewiesen war und das ließ ihn schier verzweifeln. Finn hatte ihn nach dem gemeinsamen Besuch in der Cafeteria zurück in ihr gemeinsames Zimmer geführt. Es war merkwürdig, dass ein kleiner Junge, für den er in seinem bisherigen Leben wohl eher die Beschützerrolle eingenommen hätte, nun auf ihn aufpasste. Wahrscheinlich hätte er noch nicht einmal sein Bett alleine gefunden, ohne dabei vor irgendwelche Ecken zu laufen und sich blaue Flecke zu holen. So hatte er seinen Bettnachbarn lieber gebeten, ihn noch bis dorthin zu begleiten – auch wenn ihm das vor der Mutter des kleinen Jungen, die im Zimmer auf ihren Sohn gewartet hatte, sehr unangenehm war. Zwischen den Behandlungen, zu denen Ben immer wieder abgeholt wurde, hatte Finn ihn von seinen Sorgen ablenken können. Er wollte alles über die Polizei wissen: Wie Verbrecher verhaftet wurden, wie eine Verfolgungsjagd auf der Autobahn aussah und wie vielen Menschen Ben schon das Leben gerettet hatte. Für den kleinen Jungen war Ben ein Held, der mutig versucht hatte anderen Menschen zu helfen und dabei verletzt wurde. Die Tragweite der Verletzungen war ihm nicht bewusst. In seiner kindlichen Welt war das Krankenhaus dazu da, Menschen wieder gesund zu machen und er hatte keinen Zweifel daran, dass Ben bald wieder würde sehen können. Diese Illusion wollte der junge Polizist dem Kind nicht nehmen und so war er bemüht, alle Fragen des Jungen zu beantworten und ihn nicht spüren zu lassen, wie belastend es für ihn war, über sein bislang unbeschwertes Leben zu berichten. Insgeheim fragte er sich jedoch, ob es jemals wieder so sein würde wie vor dem schrecklichen Unfall am Morgen und die Ungewissheit darüber, schnürte ihm die Kehle zu.


    Nach dem Abendessen war langsam Ruhe im Zimmer eingekehrt. Ben saß alleine auf seinem Bett und die quälenden Gedanken, was ihn bei und vor allem nach der OP erwarten würde, nagten an ihm. Er hielt es nicht aus, einfach nur ruhig zu liegen und so saß er an der Bettkante, klammerte sich wie ein Ertrinkender an einen Zipfel seiner Bettdecke und weinte still und leise. Den ganzen Tag über hatte er sich zusammengerissen um seinen kleinen Zimmergenossen nicht zu erschrecken. Jetzt aber ließ ihn die Verzweiflung immer wieder aufschluchzen. Semir hatte gesagt er könne ihn anrufen, wenn ihm die Decke auf den Kopf fiele. Egal wie spät es sei. Ein weiterer Gedanke kam Ben. Er wusste nicht einmal wie spät es war. Finn konnte er nicht fragen. Der schlief tief und fest, dass konnte er dem regelmäßigen Atem des kleinen Jungen entnehmen. Und Semir anzurufen entpuppte sich als schier unlösbare Aufgabe. Er würde wahrscheinlich schon daran scheitern die Tastensperre seines Smartphones zu deaktivieren. Und die Schwester um Hilfe zu bitten war im zu peinlich. Er war schließlich kein kleines Kind mehr, dem man Händchen halten musste weil es Angst im Dunkeln hatte. Doch wenn er ehrlich war, dann fühlte er sich gerade genau so. Und so verharrte er auf seinem Bett und versuchte weiterhin die Schluchzer zu unterdrücken um Finn nicht zu wecken.

  • Im Hause der Familie Gerkhan kehrte langsam Ruhe ein. Andrea hatte die Kinder zu Bett gebracht und setzte sich nun neben ihren Mann aufs Sofa, der den Kopf auf die Sofalehne in seinem Rücken gelegt und die Augen geschlossen hatte. Liebevoll streichelte Andrea ihm über den Kopf. „Du denkst an Ben, oder?“ Ein zaghaftes Nicken bestätigte Andrea’s Vermutung, doch Semir schwieg weiterhin und ließ seine Frau nicht an seinen Gedanken teilhaben. Sie wartete geduldig. Wenn Semir reden wollte, dann würde er es schon noch tun. Und sie sollte wie immer Recht behalten. Mit einem tiefen Seufzer öffnete Semir seine Augen und drehte den Kopf zu seiner Frau. Seine Augen schimmerten feucht und Andrea bemerkte, dass er Mühe hatte seine Tränen zu unterdrücken. „Ich habe Angst um ihn, Andrea. Wenn die OP morgen nicht erfolgreich verläuft, dann... dann...“ Semir brach ab und musste schwer schlucken. Er hatte Andrea bereits über die eher bescheidenen Heilungschancen informiert. „Wir sollten erstmal abwarten. Und wenn... wenn Ben nicht wieder vollständig geheilt werden kann, dann können wir ihn nur unterstützen und ihm helfen, mit der Situation klarzukommen.“ „Ich mag gar nicht daran denken. Er wirkte so hilflos heute... und auch er hat schreckliche Angst. Ich weiß einfach nicht, wie er damit zurechtkommen würde. Du hättest ihn heute sehen sollen. Diese Verzweiflung habe ich noch nie bei ihm erlebt. Er... er ist doch sonst immer derjenige, der... der nicht aufgibt. Aber heute war das irgendwie anders.“ Semirs Stimme war zum Schluss nur noch ein Flüstern. Andrea nickte verständnisvoll und streichelte ihrem Mann über den Oberarm. „Natürlich Schatz. Aber alles, was wir derzeit tun können ist, für ihn da zu sein. Wir können ihm zeigen, dass er mit der Situation nicht alleine zurechtkommen muss, dass er Freunde hat, die ihm helfen. Wenn er wirklich für immer blind bleiben sollte, dann muss er neu lernen, sich zurechtzufinden. Viele würden dieser Herausforderung nicht gewachsen sein, aber Ben hat einen starken Willen. Wenn es einer schafft, dieses Schicksal zu meistern, dann er!“ Eine kurze Pause entstand. Semir hatte die Augen geschlossen und vereinzelte Tränen kullerten über seine Wangen. Sanft streichelte Andrea ihrem Mann übers Gesicht und trocknete so seine Tränen. „Aber zum Glück ist es ja noch immer möglich, dass Ben wieder ganz gesund wird. Und vielleicht fahrt ihr Beide schon in ein paar Wochen wieder gemeinsam über die Autobahn und treibt die Krüger in den Wahnsinn.“ Der letzte Satz zauberte ein kurzes Lächeln auf Semirs Gesicht. Er atmete tief durch und gab seiner Frau einen Kuss. „Wenn ich dich nicht hätte mein Schatz.“ Und so saßen sie eng aneinander gekuschelt auf dem Sofa und genossen die Nähe des anderen.


    Irgendwann packte Semir eine innere Unruhe und er hatte das starke Bedürfnis noch einmal nach seinem Partner zu sehen. „Ich glaube ich fahre noch einmal ins Krankenhaus zu Ben.“ „Aber Semir, es ist doch schon spät. Ben schläft sicherlich schon.“ Auf diesen Einwand war Semir vorbereitet. „Wenn dem so ist, dann werde ich mucksmäuschenstill wieder verschwinden. Aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass Ben mich jetzt braucht.“ Mit einem resignierenden Seufzer schaute Andrea ihrem Mann nach wie er sich eine Jacke anzog, den Autoschlüssel griff und nach draußen verschwand. Gegen das Bauchgefühl ihres Mannes kam sie einfach nicht an.

  • Ben saß derweil auf seinem Bett im Krankenhaus und hatte die Arme um seine angewinkelten Beine geschlungen. Seine Stirn ruhte auf seinen Knien und in dieser Position wippte er immer wieder vor und zurück. Die innere Unruhe, die ihn plagte konnte er so zwar nicht bekämpfen, aber das ruhige Liegen machte ihn wahnsinnig. Er war zum nichts tun verurteilt und Geduld war eine seiner schwächsten Disziplinen. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Er verharrte in seiner Bewegung und hob den Kopf. „Hallo?“ flüsterte er leise. „Ist da jemand?“ „Ja, ich bin’s!“ vernahm er die Stimme seines Partners. „Was machst du denn hier?“ „Na, nach dir sehen, was denn sonst?“ kam gleich die sarkastische Antwort Semir‘s. „Sollen wir vielleicht rausgehen? Sonst wecken wir deinen kleinen Bettnachbarn auf.“ schlug er im Flüsterton vor. Im Schein der Notbeleuchtung konnte er seinen Partner nicken sehen und so half er Ben, sich die Jacke seines Jogginganzuges anzuziehen. Der junge Kommissar setze sich wieder auf die Bettkante, damit sein Freund ihm die Schuhe anziehen und sie zubinden konnte. Ben war es sichtlich unangenehm, sich wie ein kleines Kind anziehen zu lassen, aber er hatte keine andere Wahl. Mit einem leisen „Fertig!“ bedeutete ihm sein Partner, dass es losgehen konnte und so erhob dieser sich vom Bett. Semir legte seine rechte Hand an Bens linken Ellbogen und ergriff anschließend sanft seine linke Hand. So verließen sie langsam und leise das Krankenzimmer. „Wohin gehen wir?“ wollte Ben auf dem Flur wissen. „Sollen wir vielleicht kurz an die frische Luft?“ schlug Semir vor. „Alles klar. Dann mal los.“ Und so bewegten sie sich langsam, in einem Tempo, das für Ben angenehm war, in Richtung Krankenhaus-Park. Draußen angekommen blieb Ben stehen und atmete tief die klare Nachtluft ein. „Können wir uns hier irgendwo hinsetzen. Ich fühl mich grade nicht so wohl beim Rumlaufen.“ bat Ben. „Klar, da vorne ist eine Bank. Nur noch ein paar Schritte geradeaus und dann rechts.“ Semir führte Ben zu der nahegelegenen Parkbank und half ihm, sich hinzusetzen.


    So saßen die Beiden eine ganze Weile Schulter an Schulter. Zu spüren, dass Semir dicht neben ihm saß, gab Ben ein wenig mehr Sicherheit. „Danke, dass du gekommen bist.“ brach der Jüngere nach einiger Zeit das Schweigen. „Ich wollte dich eigentlich anrufen... weil... na du weißt schon... du hattest gesagt du würdest kommen, wenn...“ beschämt brach Ben ab. „...wenn dir die Decke auf den Kopf fällt.“ beendete Semir den Satz für ihn. „Warum hast du nicht angerufen? Ich wäre auch schon früher gekommen.“ Ben ließ seinen Kopf hängen und plötzlich begannen seine Schultern zu beben. Semir brauchte einen Moment um zu realisieren, dass Ben weinte. Er legte einen Arm um seine Schultern und strich ihm immer wieder beruhigend über den Rücken. „Du hast dich nicht getraut?“ mutmaßte Semir. Doch sein Partner schüttelte den Kopf. „Ich konnte nicht, Semir! Ich kann noch nicht einmal telefonieren.“ Bens Stimme brach bei den letzten Worten. Plötzlich ging Semir ein Licht auf. Ben konnte ja die Anzeige seines Telefons nicht sehen. „Finn hat schon geschlafen und... und ich wollte... wollte ihn nicht wecken. Semir, ich fühle mich so hilflos. Ich kann noch nicht einmal mehr mein Telefon bedienen...“ brachte Ben schluchzend hervor und ließ sich in die Arme seines Freundes fallen. „Es tut mir Leid Ben, daran habe ich nicht gedacht.“ kam es entschuldigend von Semir und er hielt seinen Partner einfach nur fest. Langsam beruhigte Ben sich wieder und löste sich aus der Umarmung. „Danke, dass du da bist!“ Semir rührten diese Worte und er war froh, dass Ben nicht sehen konnte, wie seine Augen feucht wurden. „Natürlich bin ich für dich da. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass du mich jetzt brauchst.“ Diese Worte zauberten ein Lächeln auf Bens Gesicht. „Deine Intuition ist mir manchmal unheimlich.“ schmunzelte er.

  • „Semir...“ Ben drehte seinen Kopf in Richtung seines Partners. „Semir, was ist, wenn ich nie wieder richtig sehen kann?“ „Ben, so darfst du gar nicht denken. Das...“ Ben unterbrach seinen Freund energisch. „Doch Semir, ich kann diesen Gedanken einfach nicht abstellen. Was ist, wenn ich nicht wieder gesund werde. Ich halte das nicht aus, diese Dunkelheit macht mich wahnsinnig. Ich... ich werde nicht mehr als Polizist arbeiten können... Dann war alles umsonst. Der Streit mit meinem Vater... Am Ende hatte er vielleicht doch recht...“ Ben versagte die Stimme. „Was meinst du mit ‚er hatte recht‘?“ Ben atmete tief durch und presste seine Lippen fest aufeinander. Semir gab ihm Zeit seine Antwort zu geben. „Mein Vater hat mir immer gesagt, ich sei nicht für den Job gemacht. Es sei zu gefährlich für mich und... ich sei zu weich...“ Wieder versuchte Ben die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. „Und irgendwie hat er ja auch recht, ich heule hier rum wie ein kleines Kind und brauche nachts jemanden, der mir Händchen hält...“ Bens Stimme brach ab und ging erneut in ein zaghaftes Schluchzen über. Semir starrte seinen Partner fassungslos an und brauchte einen Moment um darauf zu antworten. Dass sein Partner sich in diesem Moment als „Schwächling“ betrachtete raubte ihm die Sprache. Er wusste, dass es an dieser Stelle nicht damit getan war, die Hoffnung auf eine Genesung auszusprechen, das hatte Ben deutlich gemacht. Er ergriff beide Hände seines Freundes in die seinen und wartete, bis dieser sich etwas beruhigt hatte. „Ben, hör mir mal bitte zu.“ versuchte er die Aufmerksamkeit seines Partners, der immer noch leise schniefend neben ihm saß, zu erlangen. „Ben, was dir da heute passiert ist, das haut den stärksten Mann um. Überleg doch bitte mal: Von einer Sekunde zur anderen wird dein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Dir wird deine Selbstständigkeit genommen und du weißt nicht, wie es weitergehen wird. Wie solltest du denn deiner Meinung nach darauf reagieren?“ Ben verstummte und atmete einmal tief durch. „Ich weiß es nicht!“ flüsterte er. „Ben, du musst das Ganze erstmal verarbeiten und so etwas kann man nicht alleine. Dafür sind Freunde doch da, dass sie einen in den Arm nehmen und ihnen helfen… und vielleicht auch mitten in der Nacht merken, dass es dem anderen nicht gut geht und er eine Schulter zum Anlehnen braucht.“ Der letzte Satz zauberte ein leichtes Lächeln auf Bens Gesicht. Doch Semir war noch nicht fertig. „Und wenn du nicht wieder ganz gesund werden solltest, dann finden wir gemeinsam eine Lösung. Das Leben geht weiter Ben und du bist dabei nicht alleine. Du hast…“ „Ich hab die besten Freunde, die man sich wünschen kann.“ vollendete Ben Semir’s Satz und drehte seinen Kopf in Semir‘s Richtung. Dieses Mal schaffte es Ben so ein Lächeln auf das Gesicht seines Freundes zu zaubern, welches er selbst bedauerlicherweise nicht sehen konnte.


    Während Ben in dieser Nacht auf der Parkbank neben Semir saß und dessen Worten lauschte, ergriff eine wohltuende Ruhe Besitz von ihm. Sein Partner hatte ihm das Gefühl von Geborgenheit gegeben, das Gefühl nicht allein zu sein und Unterstützung zu bekommen, wann immer er sie brauchte und egal was die derzeit ungewisse Zukunft brachte. So hatte sein Freund es geschafft, ihm ein stückweit seine Angst zu nehmen und sie damit erträglicher für ihn gemacht. Ein herzhaftes Gähnen Bens signalisierte Semir, dass es Zeit war seinen Partner wieder auf sein Zimmer zu bringen. Mittlerweile war es halb zwei in der Nacht und Ben übermannte die Müdigkeit nach diesem kräftezehrenden Tag. „Sollen wir wieder hoch gehen? Du solltest vor der OP noch etwas schlafen Ben.“ Der junge Hauptkommissar nickte und suchte tastend nach Semirs Hand. Dieser ergriff die Hand und den Ellbogen seines Partners und half ihm langsam aufzustehen und das Gleichgewicht zu finden. Ben atmete einmal tief durch. „Ok, los geht’s!“ So machten sich die beiden Kommissare langsam auf den Rückweg zu Bens Zimmer und dieser bemerkte, dass es ihm immer besser gelang sich vollkommen auf Semirs Hilfe zu verlassen und trotzdem ein wenig selbst die Orientierung zu behalten. Im Zimmer angekommen, wo Finn nach wie vor friedlich schlief, führte Semir seinen Freund zunächst zum Bett. Als dieser auf der Bettkante saß kehrte er zurück zur Tür um diese leise zu schließen. Derweil hatte Ben selbstständig damit begonnen, sich die Trainingsjacke und die Schuhe auszuziehen. Semir nahm ihm lediglich das Oberteil ab, um es über einen Stuhl zu hängen – alles weitere ließ er Ben selbst machen. Schließlich lag dieser zufrieden in seinem Bett, drehte sich auf die Seite – seine bevorzugte Schlafposition – und zog die Decke bis zur Brust hoch. Semir setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und strich sanft über die rechte Hand seines Partners, die auf der Bettdecke ruhte. „Danke, dass du da warst Semir.“ flüsterte Ben leise. „Aber klar doch Partner. Wenn du willst, bleibe ich noch, bis du eingeschlafen bist. Und morgen vor der Operation schaue ich nochmal nach dir.“ antwortete Semir ebenso leise. Ben nickte und quittierte diesen Vorschlag mit einem Lächeln. „Danke!“ Kurze Zeit später war ein tiefes, gleichmäßiges und ruhiges Atemgeräusch zu vernehmen, was Semir signalisierte, dass sein jüngerer Partner eingeschlafen war. Leise erhob er sich, begab sich in Richtung Zimmertür und ein kurzer Blick zurück ließ ein kurzes Lächeln über sein Gesicht huschen. Bens Gesichtszüge waren jetzt deutlich entspannter als noch vor ein paar Stunden, als er gekommen war. So verließ Semir zufrieden das Krankenzimmer und machte sich auf den Weg nach Hause. Dort schlüpfte er schnell zu Andrea ins Bett und schmiegte sich an sie. Gemeinsam würden sie die Situation schon meistern und Ben so gut es ging unterstützen – was auch immer da kommen mochte.


    ***ENDE***

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