Burgen, Schlösser und Ganoven

  • Konrad hatte sich aufgerichtet, aber anstatt seine Fußfesseln zu lösen, griff er sich mit beiden Händen an die Brust. Ihm war, als würde sich eine Eisenklammer um seinen Brustkorb schließen und ihm die Luft zum Atmen nehmen! Es waren so unsägliche Vernichtungsschmerzen, die er gerade auszuhalten hatte, dass ein Keuchen seinen Mund verließ, bevor er ohnmächtig wurde. Der Polizist, der Hartmut Erste Hilfe geleistet hatte, blickte auf. Er hatte nebenbei eine gute Ausbildung zum Sanitäter und als er sah, dass Konrad, grau im Gesicht, zusammenbrach, bedeutete er einem Kollegen, weiter das Verbandpäckchen auf Hartmut´s Wunde zu drücken. Er erhob sich, beugte sich über den älteren Mann und prüfte dessen Puls. Kein geregeltes Schlagen war tastbar, sondern er spürte ein unbestimmtes Wabern unter seinen tastenden Fingern an Konrad´s Hals. „Mist, ich glaube, er hat einen Herzinfarkt mit Kammerflimmern!“ rief er und begann sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen.
    Alle Anwesenden starrten entsetzt auf die Szenerie. Der eine zog Hartmut ein wenig vom Bett weg, zwei weitere packten die beiden Forenbetreiber und zerrten sie auf die Füsse und nach draußen, damit man mehr Platz in der Hütte hatte und ein zweiter Polizist trat wie selbstverständlich ans Kopfende des Bettes und begann mit der Atemspende. „Ich brauche was zum Unterlegen!“ rief der Polizist, der die Herzdruckmassage durchführte und ein anderer brachte von draußen ein breites Holzbrett, das man unter Konrad´s Oberkörper legte, um einen Widerstand bei der Herzdruckmassage zu haben.


    Als Semir und die Chefin mit ihrem Gefangenen die Hütte erreichten, bekamen sie gleich die Auskunft: „Die reanimieren gerade die Geisel!“ sagte der Polizist, der draußen die gefesselten Forenbetreiber bewachte und nun stürzte Semir entsetzt in den Raum. Es kam ihm vor, wie in einem Horrorszenario, wie seine beiden Kollegen Ben´s Vater bearbeiteten. „Wie lange schon?“ fragte er ängstlich und übernahm nun die Herzdruckmassage, denn das war auf Dauer sehr anstrengend für den Reanimierenden. „Kurz nachdem du raus bist, hatte er vermutlich einen Infarkt!“ erklärte der Polizist, der immer noch vor Anstrengung keuchte. Semir, der kräftig drückte-und zwar dreissig Mal in relativ flottem Tempo und dann eine kurze Pause machte, währenddessen der andere Polizist zweimal eine Atemspende gab, meinte plötzlich eine Bewegung unter sich zu spüren und tatsächlich! Konrad schlug die Augen auf! Er war zwar noch verwirrt und kannte sich überhaupt nicht aus und die starken Schmerzen in seiner Brust waren nach wie vor vorhanden, aber er hatte wieder einen Puls, wie der erfahrene Polizist feststellte.


    „Habt ihr die Rettung schon verständigt?“ fragte Semir und bekam die Auskunft, dass Susanne von der Zentrale aus schon alles organisiert hatte. Einer der Polizisten war im Laufschritt zum Waldrand unterwegs, um die Autos beiseite zu fahren und die Rettungskräfte einzuweisen. Es dauerte nun auch gar nicht lange und dann standen zwei Krankenwagen mit einem Notarzt vor der Hütte. „Er hatte schonmal was mit dem Herzen!“ sagte Semir, der sich noch gut an den Fall erinnern konnte, bei dem er Ben´s Vater näher kennengelernt hatte. Der Notarzt nickte und während man bei Konrad ein EKG schrieb, ihm Sauerstoff mit einer Maske verabreichte und ihm einen Zugang legte, um die grausamen Schmerzen mit Morphium zu lindern, wurde auch Hartmut nun professionell versorgt. Auch er bekam einen Zugang, eine Infusion und ein Schmerzmittel und wenig später waren die beiden Patienten auf die Krankenwagen verteilt. Auch Hartmuts Wunde hatte vermehrt zu bluten begonnen und so rasten die beiden Rettungswagen nun mit Höchstgeschwindigkeit nach Köln.
    „Wir brauchen sofort einen Platz im Katheterlabor, wir haben einen akuten Vorderwandinfarkt und für unseren zweiten Patienten, der aber noch stabil ist, einen OP!“ meldete der Notarzt, der Konrad begleitete, an und in der Kölner Uniklinik stand beides zur Verfügung, deshalb dirigierte die Leitstelle sie dorthin.


    Ben hatte genau zu dem Zeitpunkt in der PASt angerufen, als der Zugriff im Wald ablief. Gerade setzte er an, um Susanne die Sachlage zu erklären, da unterbrach sie ihn: „Ben, ich habe jetzt keine Zeit, ich muss einen Einsatz koordinieren. Semir und die anderen befreien gerade eine Geisel in einer Waldhütte!“ erklärte sie und legte das Gespräch kurz beiseite. Ben blieb in der Leitung und hörte nun, wie Susanne zwei Rettungswagen anforderte und einen Notarzt, dann, wie sie Semir durch den Wald leitete und nun hoffte und bangte er gleichzeitig, dass die befreite Geisel, von der Susanne gesprochen hatte, sein Vater wäre. Atemlos lauschte er den Worten Susanne´s, er konnte nämlich nur immer deren Teil des Gesprächs verstehen, da sie mit Headset telefonierte. Nach einer Weile wurde es ruhiger und Susanne wandte sich nun wieder ihrem zweiten Gesprächspartner in der Leitung zu. Oh mein Gott, wie sollte sie Ben nur beibringen, was sie gerade erfahren hatte? Aber dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und sagte: „Ben, die Geisel, die Semir und die anderen befreit haben, ist dein Vater. Wie sie mir gerade gesagt haben, hat er wohl während dem Einsatz einen Herzinfarkt erlitten und wird gerade reanimiert!“ und nun ließ Ben fassungslos den Telefonhörer sinken und die Tränen schossen in seine Augen. Oh mein Gott! Wenn sein Vater starb, war es alleine seine Schuld, weil er eigenmächtig gehandelt hatte! Mit einem Aufschluchzen rief er nur noch ins Telefon: „Susanne, halt mich auf dem Laufenden!“ und die notierte seine Telefonnummer und versprach ihm das. Als er das Gespräch beendet hatte, starrte Ben verzweifelt an die Decke und so fand ihn wenig später auch die Nachtschwester vor, die gerade ihren Dienst angetreten hatte und nach ihrem neuen Patienten sehen wollte.

  • Draußen hatte die Schwester von ihren Kolleginnen eine detaillierte Übergabe erhalten, welche Verletzungen Ben davongetragen hatte, auf was man achten musste etc. Womit sie aber überhaupt nicht gerechnet hätte war, dass ihr neuer Patient völlig fertig im Bett lag und mit Tränen in den Augen an die Decke starrte. „Guten Abend Herr Jäger, ich bin Schwester Silke und heute Nacht für sie zuständig, wie geht´s ihnen denn?“ fragte sie. Ben wirkte auf sie, wie jemand, der soeben ein schweres Trauma erlitten hatte. Ben schüttelte abwesend, die ihm hingehaltene Hand. Wie es ihm ging war völlig bedeutungslos-was war mit seinem Vater? Wenn der gerade reanimiert wurde, dann hieß das ja eigentlich, dass er schon tot war und wie gering die Chancen wohl waren, ihn zurückzuholen, wusste er selber. Schwester Silke maß seinen Blutdruck und zog sich dann Einmalhandschuhe an, um die Vorlagen zu wechseln, die man nach der Drainagenentfernung regelmäßig frisch machen musste. Ben ließ auch das teilnahmslos über sich ergehen. „Brauchen sie ein Schmerzmittel?“ fragte die Schwester noch, der das Verhalten des jungen Mannes beinahe unheimlich war, aber Ben schüttelte den Kopf. Klar zwickte es überall, aber das geschah ihm nur Recht. Er musste schließlich für den Tod seines Vaters büßen. Gerade als die Schwester wieder gehen wollte, fragte Ben: „Wie groß sind wohl die Chancen, einen zweiten Herzinfarkt zu überleben, wenn man sogar wiederbelebt werden muss?“ Überrascht drehte sich die Schwester um. Wie kam ihr Patient gerade auf einen Herzinfarkt? Kardial war er völlig gesund. Er hatte zwar ordentlich was abgekriegt, aber seine Verletzungen waren alle am Abheilen und er würde vermutlich wieder völlig gesund werden-na ja, so ganz konnte man das natürlich nicht versprechen, gerade bei den urologischen Problemen, aber die Chancen standen nicht schlecht. Wenn es aber nicht um ihn selbst ging, dann musste er sich um jemanden Sorgen machen, der ihm nahestand. Sie ging nochmals zu ihm zurück und fragte mitfühlend: „Um wen machen sie sich denn solche Gedanken? Man kann durchaus mehrere Infarkte überleben und gerade wenn man schnell medizinisch versorgt wird und eine Reanimation nach einem Infarkt sofort einsetzt, ist das nicht unmöglich, sowas zu überstehen!“ erklärte sie und nun sagte Ben: „Es ist mein Vater-ich habe gerade einen Anruf erhalten, dass er einen zweiten Infarkt erlitten hat und reanimiert wird!“ teilte er ihr mit, „aber weiter weiß ich leider gar nichts!“ „Wie heißt denn ihr Vater?“ fragte nun die Schwester, „dann versuche ich da mal über die Leitstelle was rauszufinden!“ und Ben antwortete leise: „Er heißt Konrad Jäger und ist 62 Jahre alt-das ist doch noch kein Alter zum Sterben!“


    Während die Rettungswagen mit den beiden Patienten durch die Nacht brausten, begannen die Polizisten in der Hütte mit dem Sicherstellen der Beweise. Die Spurensicherung war ebenfalls schon verständigt und ein Einsatzwagen mit Uniformierten bestellt, der die drei Forenbetreiber ins Untersuchungsgefängnis und zur erkennungsdienstlichen Behandlung bringen sollte. „Die Vernehmungen machen wir morgen!“ beschloss die Chefin, die genau wusste, wo es Semir jetzt hintrieb. Außerdem war es für sie alle ein langer Tag gewesen, für so ein Verhör brauchte man Energie und die hatten sie alle miteinander heute nicht mehr. Auch ihr selber steckte die Fahrt durch den Wald noch in den Gliedern, so hatte es sie herumgeschleudert. Sie hatte nicht einmal schimpfen können, dass der schöne BMW schon wieder so aussah-sie hätte nicht gewusst, wie Semir das hätte vermeiden können, wenn man den Täter nicht entkommen lassen wollte. Immerhin war der Wagen noch fahrtüchtig und man würde den schon wieder reparieren können! „Kommen sie Gerkan-stellen wir fest, in welches Krankenhaus Herr Freund und Herr Jäger gebracht werden und fahren wir dorthin!“ sagte sie und bat Susanne über Funk, das doch für sie herauszufinden. Susanne teilte wenig später mit, dass das Ziel die Uniklinik war und dann sagte sie noch unglücklich: „Ben war gerade bei mir in der Leitung, als ich den Einsatz koordiniert habe-er weiß, dass es seinem Vater sehr schlecht geht, ich musste es ihm sagen!“ und nun hielt Semir nichts mehr. „Ich muss zu ihm!“ rief er nur. Wortlos stieg die Chefin ein und nun raste Semir ebenfalls durch die Nacht Richtung Köln.


    Im Krankenhaus angekommen, wurde Konrad, der zwar bei Bewusstsein war, aber durch das Morphium jeden Bezug zu Zeit und Raum verloren hatte, sofort ins Herzkatheterlabor gebracht. Ohne Umschweife beförderte man ihn sofort von der Trage des Krankenwagens auf den Eingriffstisch, denn jetzt zählte jede Minute. Kurz rasierte man seine Leiste, verkabelte ihn neu und wenig später hatte er schon in örtlicher Betäubung eine sogenannte Schleuse in der Leistenarterie liegen, durch die man einen Katheter ins Herz schob. Nach der Einspritzung eines Kontrastmittels konnte man über den Bildwandler, ein mobiles Röntgengerät feststellen, an welcher Stelle die Unterbrechung der Blutversorgung des Herzens war. Der erfahrene Kardiologe brachte über die Schleuse zwei sogenannte Stents ein, mit denen die beiden verschlossenen Gefäße wieder offengehalten wurden und wenig später wurde Konrad mit liegender Schleuse auf die kardiologische Intensivstation gebracht.


    Hartmut wurde in der Notaufnahme erstversorgt. Er hatte gut Schmerzmittel bekommen und hatte während der Fahrt so vor sich hingeschlafen. Man zog ihn aus, fertigte eine Röntgenaufnahme an und versuchte ihn, über den Eingriff und die Narkose aufzuklären-ließ es aber dann bleiben, weil er die Ärzte bloß verständnislos anblickte. „Wir deklarieren das als Notfalleingriff, immerhin liegt die Oberschenkelarterie da ganz nah!“ beschlossen die Ärzte und wenig später lag Hartmut in Narkose im OP und man entfernte die Kugel. Der Chirurg erweiterte den Schusskanal, stillte kleine Blutungen und entfernte die kleinen Knochensplitter des Oberschenkelknochens, den das Projektil verletzt hatte. Tatsächlich hatte Hartmut großes Glück gehabt, dass die grosse Arterie nicht verletzt war, aber er würde einige Zeit mit Krücken laufen müssen, bis der Knochen wieder stabil war. Er bekam noch einen dick gepolsterten Verband und wenig später lag er im Aufwachraum, um seine Narkose auszuschlafen.

  • Schwester Silke hatte zwar eigentlich einen Haufen Arbeit, aber trotzdem rief sie erst einmal die Leitstelle an: „Ich wollte mal nachfragen, in welche Klinik ein gewisser Konrad Jäger gebracht wird. Sein Sohn ist mein Patient und macht sich große Sorgen um seinen Vater!“ erklärte sie dem Koordinator am anderen Ende der Leitung. Der sah schnell im PC nach: „Zielkrankenhaus ist die Uniklinik Köln, die sind in Kürze da!“ erklärte er. Die Schwester gab in der Aufnahmestation Bescheid, dass man sie doch verständigen solle, wenn ein Herzinfarktpatient namens Jäger eingeliefert würde und die Bürokraft in der Aufnahme versprach, sie sofort zu informieren. Während sie noch ein paar Alarme abarbeitete, klingelte schon ihr Telefon. „Ein Konrad Jäger wurde gerade eingeliefert und sofort ins Katheterlabor gebracht!“ informierte sie die Arzthelferin am anderen Ende der Leitung und die Nachtschwester bedankte sich. Wenig später trat sie zu Ben ins Zimmer und sagte zu ihm, der sie aufgeregt ansah: „Ihr Vater ist hier bei uns in der Uniklinik und bekommt gerade einen Herzkatheter. Jetzt müssen wir abwarten, was die Kardiologen für ihn tun können, aber immerhin, er lebt, also seien sie mal nicht so hoffnungslos!“ sagte sie und Ben kamen nun wieder die Tränen, aber diesmal die der Erleichterung. Taktvoll verließ die Schwester das Zimmer und sah auf die Uhr-Mann jetzt musste sie sich aber sputen, dass sie mit ihrer Routinearbeit hinterherkam, aber manchmal gab es einfach Sachen, die auch wichtig waren!



    Semir und die Chefin waren mit dem BMW, der inzwischen komische Geräusche von sich gab, an der Uniklinik eingetroffen. In der Notaufnahme erfuhren sie, dass Konrad Jäger im Katheterlabor war und Hartmut im OP. Nun machte sich Semir ungeduldig auf den Weg zu Ben. Die Krüger verabschiedete sich von Semir: „Herr Gerkan, ich werde jetzt mit dem Taxi nach Hause fahren, ich denke, sie und Jäger wollen jetzt alleine sein. Richten sie ihm schöne Grüße und eine gute Besserung von mir aus!“ und damit drehte sie sich brüsk um und verließ die Notaufnahme. Dankbar sah ihr Semir nach-ja, er und Ben hatten jetzt so einiges zu bereden und da hätte die Chefin nur gestört!


    Als es leise an der Tür klopfte-Semir hatte alle Überredungskunst aufwenden müssen, um überhaupt Ben´s Zimmernummer zu erfahren, denn um diese nachtschlafene Zeit waren Besuche im Krankenhaus ja eigentlich nicht erwünscht-drehte Ben den Kopf. Wer klopfte da und würde ihm jetzt eine Hiobsbotschaft überbracht werden? Das Herz pochte ihm bis zum Hals, aber als er sah, wer nun langsam ins Zimmer kam, ergriff momentan eine große Erleichterung von ihm Besitz. Es war Semir! In der nächsten Sekunde allerdings begann er zu zweifeln, ob ihm der seine Unaufrichtigkeit jemals verzeihen konnte. Er hatte ihm kein Vertrauen entgegengebracht und die Entführung seines Vaters verschwiegen. Was dabei herausgekommen war, konnte man ja sehen, auf jeden Fall nichts Gutes!


    Semir trat an das Bett seines Freundes, der einfach furchtbar aussah. Tiefe Kummerfalten hatten sich in sein Gesicht gegraben, er wirkte blass und erschöpft. Dass er auf Normalstation war, bedeutete ja eigentlich, dass es ihm gesundheitlich besser gehen musste, aber so sah er nicht aus. „Ben, das mit deinem Vater tut mir leid!“ sagte er mitfühlend und griff nach seiner Hand. „Ach Semir, wenn ich dir nur eher gesagt hätte, dass mein Vater von den Tewetts entführt wurde! Die haben mich damit erpresst, dass sie ihn umbringen, wenn ich meinen Kollegen Bescheid sage, aber ich als Polizist hätte das besser wissen müssen!“ klagte Ben. „Ich kann verstehen, wenn du jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben willst!“ fügte er noch hinzu und erwartete, dass Semir ihm jetzt seine Hand entziehen würde. Der hielt die aber eher noch fester. „Ben-du warst in einer absoluten Ausnahmesituation und ich kann das verstehen. Freilich tut das weh, dass du mir nicht vertraut hast, aber ich werde da drüber hinwegkommen. Wichtig ist jetzt-dein Vater wurde gefunden, wir haben ihn nach seinem Infarkt wiederbelebt und er wird jetzt medizinisch versorgt. Ich hoffe, dass sie ihm hier helfen können!“ erklärte er. „Danke für dein Verständnis!“ sagte Ben einfach und nun schwiegen die beiden Freunde eine Weile. „Du hast gesagt-wir haben ihn wiederbelebt-warst du da auch beteiligt?“ wollte er nach einer Weile wissen und Semir nickte. „Ich musste doch meinen neuesten Auffrischungskurs in Erster Hilfe mal anwenden, aber dein Vater hatte verdammtes Glück, dass ein Kollege, der ausgebildeter Sanitäter ist, die Situation sofort erkannt und begonnen hat, ihn ohne Zeitverzögerung zu reanimieren. Ich habe inzwischen mit der Chefin den letzten Forenbetreiber verfolgt und festgesetzt. Ich glaube, wir haben den Fall gelöst und alle verhaftet, die an dieser Foltervereinigung beteiligt waren. Jetzt müssen wir nur noch die Haftbefehle für die Tewetts, diesen Kaul und die Eder wieder aufleben lassen und dann kannst du dich aufs Gesundwerden konzentrieren, so wie auch dein Vater und Hartmut!“ sagte Semir. Ben antwortete leise: „Ja, falls mein Vater diesen Infarkt überlebt! Aber warum Hartmut? Was fehlt dem?“ wollte er nun wissen. „Dein Vater hat ihn wohl erkannt und mit Namen angesprochen und daraufhin hat einer der Verbrecher eine Waffe gezogen, der gefolgert hat, dass wir ihnen eine Falle gestellt haben. Wie genau das passiert ist, wissen wir nicht-auf jeden Fall hat sich Hartmut vor deinen Vater geworfen, wurde am Oberschenkel getroffen und sie holen gerade die Kugel im OP heraus!“ erklärte Semir und nun war Ben ein zweites Mal erschüttert. „Einmal wenn ich nicht dabei bin, landet die halbe Besatzung im Krankenhaus!“ sagte er.


    Einige Zeit später kam die Nachtschwester herein. „Herr Jäger-gerade habe ich von der kardiologischen Intensiv erfahren, dass ihr Vater den Herzkatheter gut überstanden hat und jetzt dort zur Überwachung liegt!“ richtete sie aus. „Kann ich zu ihm?“ fragte Ben aufgeregt, der hochgefahren war. „ Ich denke schon, aber meinen sie, sie schaffen das mit dem Rollstuhl?“ fragte die Schwester zweifelnd, aber Ben saß schon am Bettrand. „Ich schaffe das!“ sagte er mit fester Stimme und die Schwester verschwand, um einen Rollstuhl zu holen.

  • Die Infusion die noch an Ben´s ZVK hing, wurde abgestöpselt, die beiden verbliebenen Katheterbeutel an den Rollstuhl gehängt und Schwester Silke brachte einen weißen Frotteebademantel des Krankenhauses, in den Ben nun schlüpfte. Semir packte den Rollstuhl und schon ging die Fahrt los. Die Nachtschwester hatte ihnen noch erklären wollen, wo die kardiologische Intensiv war, aber Semir und Ben hatten abgewinkt. Das war die Station auf der Sarah arbeitete, da hätten die beiden blind hingefunden.Bald waren sie angelangt und Semir läutete draußen: „Ich habe hier den Sohn von Herrn Jäger, darf der kurz zu seinem Vater?“ fragte Semir und wenig später wurden sie hereingebeten. Eine Kollegin Sarah´s, die Ben vom Sehen her kannte, hatte Dienst und sah Ben prüfend an: „Mann auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen, dass mein Patient sozusagen Sarah´s Schwiegervater ist. Schaffen sie das denn schon, sie sind ja selber noch nicht so fit?“ fragte sie, denn Ben sah immer noch sehr angegriffen aus. „Doch es geht schon, ich muss jetzt einfach meinen Vater sehen und mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass er lebt!“ erklärte ihr Ben und die Schwester nickte verständnisvoll und ging voran zu dem Bettplatz, auf dem Konrad nun zur Überwachung verkabelt, lag.


    Er hatte ein Zwölfkanal-EKG dran, Sauerstoff über eine Sonde in der Nase und eine Infusion. Er hatte ein wenig vor sich hingedämmert, aber nicht richtig geschlafen. Langsam hatte die Wirkung des Morphiums nachgelassen und er hatte festgestellt, dass er überhaupt keine Schmerzen mehr im Brustkorb hatte, nur seine Leiste zwickte, in der immer noch die dicke Schleuse lag. Er hatte vor sich hin sinniert und versucht, die Erlebnisse der letzten Tage und Stunden zu verarbeiten, als plötzlich ein Rollstuhl hereingefahren wurde. Überrascht wandte er den Kopf und als er sah, wer da in dem Rollstuhl saß, überzog ein Lächeln seine Züge. Er hätte es nicht zu hoffen gewagt, aber gerade war sein aktuell größter Wunsch in Erfüllung gegangen.Er streckte die Hand aus und sagte ergriffen: „Ben!“ Semir stellte den Rollstuhl ab, die Schwester fuhr das Bett nach unten, so dass Ben und sein Vater in Augenhöhe waren und dann verließ Semir taktvoll den Raum, gefolgt von der Schwester, die zuvor noch einen prüfenden Blick auf ihre Geräte und ihren Patienten geworfen hatte.


    Ben nahm die Hand, die ihm sein Vater entgegenstreckte und fragte mit einem Kloß in der Stimme: „Papa, wie geht´s dir denn?“ und Konrad Jäger sagte, nachdem er kurz überlegt hatte: „Wieder gut, Ben! Ich hatte heute gedacht, ich würde sterben und musste immer nur daran denken, dass ich dir nicht gesagt habe, wie wichtig du mir bist. Als ich dich im Krankenhaus besucht habe, haben wir uns nur oberflächlich unterhalten und ich war mit meinen Gedanken schon bei meinem Tennismatch, anstatt mich auf das Wichtigste in meinem Leben zu konzentrieren-meine Kinder!“ sagte er und drückte Ben´s Hand ein wenig fester. Ben drückte zurück, eine große Erleichterung hatte von ihm Besitz ergriffen. Sein Vater lebte und sie waren sich im Moment ganz nahe, was eine Situation war, die er in seinem Leben äußerst selten erlebt hatte. Sein Vater war ein viel beschäftigter Mann, der voll in seiner Firma aufging. Nach dem frühen Tod seiner Mutter waren Julia und er in Internaten erzogen worden, die zwar sehr teuer und luxuriös gewesen waren, aber sie hätten beide viel lieber mehr Zeit mit ihrem Vater verbracht. Der hatte aber immer irgendeinen Termin, musste bald weg und so waren sie erwachsen geworden, ohne so viele Dinge zu tun, die andere Kinder mit ihren Vätern machten. Es hatte keine Zelturlaube mit Lagerfeuer gegeben, kaum gemeinsame Unternehmungen und wenn Ben da so an die Gerkans dachte und wie liebevoll die mit ihren Kindern umgingen, dann versetzte es ihm immer wieder einen Stich.
    Das war etwas, was er sehnsüchtig vermisst hatte. Allerdings hatte er sich für sich vorgenommen, dass er für seine Kinder immer Zeit haben würde, er würde mit ihnen Sandburgen bauen, im Sommer ins Schwimmbad gehen und im Winter zum Schlittenfahren. Er würde bei Schulaufführungen im Zuschauerraum sitzen und Beifall klatschen und nicht im letzten Moment verhindert sein, weil ein Geschäftstermin dazwischengekommen war. Wobei-nun wusste er ja gar nicht, ob er jemals eigene Kinder würde haben können und das machte ihm, ehrlich gesagt, schwer zu schaffen.
    Trotzdem genoss er die intime Nähe, die er gerade mit seinem Vater erlebte. Beide schwiegen und hingen ihren Gedanken nach, beide waren krank und traumatisiert, aber trotzdem hatten beide den Willen und den Mut zu kämpfen, um wieder gesund zu werden, sie waren halt Jägers!


    Nach einer Weile sagte Konrad: „Wie geht´s denn dir, Ben, denn inzwischen kann ich mir vorstellen, was du mitgemacht hast, in der Zeit deiner Gefangenschaft. Weißt du, ich war in einer Waldhütte gefangen und wenn deine Kollegen mich nicht befreit hätten, wäre ich zu Tode gefoltert worden. Du warst da ja schon einen Schritt weiter und hast sicher furchtbare Dinge aushalten müssen. Es tut mir leid, dass ich nach deiner Befreiung nicht für dich da war!“ sagte er einfach und Ben erwiderte nach kurzer Überlegung: „Weißt du Papa, ja ich hätte mir gewünscht, dass du gekommen wärst und ein wenig Zeit für mich mitgebracht hättest. Immer gab es etwas, was wichtiger war, als Julia und ich. Allerdings war ich nicht alleine, denn ich habe Semir und ich habe Sarah und die waren immer für mich da!“ sagte er und Konrad nickte. „Ja Ben, ich habe Fehler gemacht, aber du musst wissen-auch wenn ich es euch nicht gesagt habe, ich liebe euch beide und ihr seid das Wichtigste in meinem Leben, auch wenn es manchmal nicht so aussieht. Gerade im Angesicht des Todes sind mir meine Versäumnisse schmerzhaft bewusst geworden und ich möchte mich bei dir hiermit entschuldigen-auch bei Julia werde ich das noch tun. Ich habe mir vorgenommen, wenn ich das Alles hier überstanden habe, dass ich beruflich ein wenig kürzer trete und mich mehr um meine Familie kümmere. Und wenn ihr mir Enkelkinder schenkt, werde ich der beste Opa sein, den ihr euch vorstellen könnt!“ sagte er und war dann entsetzt, weil nun Tränen in Ben´s Augen schossen. „Papa, das weiß ich nicht, ob das bei mir mit Enkelkindern noch funktioniert. Ich wurde da unten schwer verletzt und es könnte sein, dass das nie mehr klappt!“ sagte er und nun merkte Ben erst, wie mies es ihm auf der ganzen Linie noch ging.
    Er hatte sich physisch, wie psychisch sozusagen mit äußerster Willenskraft bisher aufrecht gehalten, aber jetzt sank er in sich zusammen, ihm wurde schlecht und schwindlig und Konrad, der entsetzt den Worten seines Sohnes gelauscht hatte, merkte wie der blass und blasser wurde und sich der Griff, mit dem sie ihre Hände hielten, gelockert hatte. Er drückte auf die Glocke und rief gleichzeitig mit angstvoller Stimme: „Wir brauchen hier Hilfe!“ und dann ging der Tumult los.

  • Ben rutschte langsam im Rollstuhl nach vorne, aber weil er schon ohnmächtig war und keinerlei Körperspannung mehr aufwies, glitt er einfach so auf den Boden und obwohl ihn sein Vater vom Bett aus versuchte festzuhalten, was einfach nicht funktionierte, lag er plötzlich eingekeilt zwischen Bett und Rollstuhl am Boden. Das Alles wäre nicht so schlimm gewesen, wenn nicht die beiden Katheterbeutel hinten am Rollstuhl eingehängt gewesen wären. Die hingen fest und so riss es, als die Spannung hoch genug wurde, sowohl den Pufi, als auch den Katheter heraus. Als auf das Läuten und zusätzlich auf den Monitoralarm Konrad´s hin, die Schwester, gefolgt von Semir, der im Schwesternzimmer derweil einen Kaffee gekriegt hatte, in den Raum stürzten, sahen sie momentan nur den bewusstlosen Ben und die beiden Blasendrainagen, die einfach so auf dem Boden lagen. Konrad hing verzweifelt über der Bettkante und versuchte irgendwie, seinen Sohn hochzuziehen und auch seine Alarme piepten wie verrückt. Auf einen Hilferuf der Schwester hin, kam sofort noch ein Kollege dazu gesprungen und gemeinsam versuchten sie, den gordischen Knoten zu lösen.


    Der Pfleger sagte streng zu Konrad: „Sie legen sich jetzt bitte wieder normal ins Bett, nicht dass die Schleuse noch herausrutscht! Wir kümmern uns schon um ihren Sohn, dem ist jetzt am wenigsten geholfen, wenn sie Komplikationen kriegen!“ und Konrad legte sich nun eingeschüchtert zurück auf den Rücken. Als der Monitor wieder normal schrieb, konnte man sehen, dass der Herzschlag zwar vor Aufregung beschleunigt, aber regelmäßig war und auch der Blutdruckanstieg hielt sich in Grenzen. Die Stentanlage war wohl erfolgreich gewesen, aber ein derartiger Test wäre jetzt nicht notwendig gewesen, fand der Pfleger.


    Semir und die Schwester, die sich noch schnell Einmalhandschuhe übergezogen hatte, hatten derweil Ben lang auf den Fußboden ausgestreckt und den Rollstuhl irgendwie dazwischen herausgewunden. Die Schwester prüfte auch gleich die Vitalparameter und Gott sei Dank war sowohl der Puls zwar schwach und schnell, aber tastbar und auch die Atmung flach und beschleunigt, aber vorhanden. Semir hatte begonnen, Ben´s Wangen zu tätscheln: „Ben wach auf!“ rief er angstvoll und nun kam auch der Stationsarzt, angelockt von den lauten Geräuschen auf der nächtlichen Intensiv, ins Zimmer. Er schaltete das große Licht an, denn bisher war die Intensivbox in ein schummriges Nachtlicht getaucht gewesen und ließ erst mal seinen Blick über die Szenerie schweifen. Anscheinend war der Mann auf dem Boden ebenfalls Patient im Krankenhaus, denn er trug ein Krankenhaushemd und einen Bademantel und hatte eine Schiene am Bein. Er war blass, aber die erfahrene Schwester, die ihn untersucht hatte, sagte nur in den Raum: „Ich denke das war alles ein bisschen zu viel für ihn, er ist nur ohnmächtig!“ und Semir bestätigte: „Er war ja selber bis vor ein paar Stunden noch Intensivpatient!“


    Der Pfleger hatte sich derweil das Schläuchlein der Blasendrainage besehen und den geblockten Katheter, der ebenfalls auf dem Fußboden lag, begutachtet. „Alles vollständig!“ sagte er und nun fiel Semir erst auf, dass sich Ben´s Bekleidung in der Mitte begann, rot zu färben. Der Arzt hatte sich inzwischen ebenfalls Handschuhe angezogen und schob nun ungerührt Ben´s Hemd nach oben und die Einmalhose mit den Einlagen nach unten, um sich die Beschädigungen anzusehen. Auf Ben´s Unterbauch klebte noch ein Pflaster, das aber völlig durchgeblutet war, wo der Pufi herausgerutscht war. Als er es entfernte, konnte man sehen, dass der Faden, mit dem das Blasendrainagenschläuchlein angenäht gewesen war, mit herausgerissen war und es deswegen so blutete. Man drückte einen dicken Stapel Kompressen darauf und besah sich nun auch noch den Rest. Äußerlich waren nur die Verbände ein wenig blutig, aber aus der Harnröhre tropfte das Blut ebenfalls. Was man auch gut sehen konnte, waren die multiplen Verletzungen Ben´s in diesem Bereich und Konrad, der wieder einen Blick nach unten riskiert hatte, legte sich keuchend zurück. Um Himmels willen, das war ja schrecklich, welche Verwundungen sein Sohn da unten hatte und trotzdem war er zu ihm gekommen! Und er hatte noch Bemerkungen zu Enkelkindern gemacht und seinem Sohn dadurch zwar unwissentlich, aber deswegen nicht weniger grausam, seelisch weh getan! Aber jetzt hatte Konrad erst mal furchtbare Angst um Ben, der allerdings inzwischen dabei war, wieder zu sich zu kommen. Der Pfleger hatte nämlich nun seine Beine genommen und nach oben gehalten, so dass das Blut wieder in seinen Kopf zurückfloss.„Ist er irgendwo mit dem Kopf aufgeschlagen?“ wollte der Intensivarzt, der inzwischen die Einmalhose wieder nach oben geschoben hatte, von Konrad wissen, aber der verneinte. „Er ist ganz langsam nach unten gerutscht, aber ich konnte ihn nicht halten!“ sagte er unglücklich. „Ich würde sagen, das war ein orthostatischer Kollaps, eigentlich nichts Tragisches, aber dummerweise sind nun die beiden Blasendrainagen herausgerutscht. Ich würde vorschlagen, wir legen ihn jetzt erst mal auf eine Liege, hängen an den ZVK, falls der noch durchgängig ist, eine Infusion, um den Kreislauf zu stabilisieren und dann bringen wir ihn auf seine Station zurück. Da soll sich dann der diensthabende Urologe anschauen, was man da weiter unternehmen muss, ich bin Internist und kenne erstens den Fall nicht und kann da auch weiter nichts entscheiden!“ erklärte der Arzt.


    Der Pfleger hatte inzwischen eine fahrbare Liege ins Zimmer gebracht. Mit vereinten Kräften hoben sie Ben, der ganz verwundert um sich sah und sich erst wieder orientieren musste, hinauf und man stellte auch gleich das Fußteil zur Kreislaufstabilisierung ein wenig hoch. Die Schwester breitete ein Laken über ihn und der Pfleger ging hinaus, um eine Infusion zu holen, die er nach Absprühen des Anschlusses an den ZVK anhängte und zügig tropfen ließ. Man maß noch Ben´s Blutdruck, der zwar nicht besonders hoch, aber auch nicht besorgniserregend niedrig war. Inzwischen war Ben wieder völlig bei sich und genierte sich fast, wie besorgt alle um ihn herum waren. „Tut mir leid, dass ich solche Umstände mache!“ sagte er leise. Dann allerdings fuhr seine Hand zu seinem Bauch, auf dem die Kompressen inzwischen festgeklebt waren. „Aua, das tut aber weh!“ bemerkte er und der Arzt, der ihm noch kurz in die Augen geleuchtet und seine Reflexe geprüft hatte, sagte: „Leider haben sie sich beide Blasendrainagen bei ihrem Sturz herausgerissen, da muss sich jetzt der Urologe drum kümmern. Wir bringen sie jetzt auf die Station zurück und da wird man sehen, ob und was man da machen muss!“ und Ben seufzte auf. Auch das noch, aber das erklärte wenigstens die aktuellen Schmerzen in seinem Tiefparterre. Als er hinausgerollt wurde-die Infusion hatte man vorrübergehend abgedreht und neben ihn gelegt-drehte er sich noch ein wenig zu seinem Vater: „Gute Besserung, Papa!“ sagte er und Konrad erwiderte leise: „Gleichfalls, Ben, gleichfalls!

  • Semir hatte ebenfalls an der Trage angepackt und die Schwester, die Konrad betreute, fuhr nun mit Ben auf seine Station zurück. Ihre Kollegin, die sowieso gerade einen Zugang bekommen und viel Arbeit hatte-man merkte einfach, wenn einem ein wenig Zeit fehlte-nahm erschrocken ihren Patienten entgegen. „Herr Jäger, das tut mir aber leid, dass das mit ihrem Ausflug so schiefgegangen ist!“ sagte sie bedauernd, als sie die Kurzfassung von Ben´s Abenteuer bekam und half, die Trage in das Zimmer zu schieben, in dem inzwischen das zweite Bett belegt war. Gemeinsam rangierten sie die Trage neben Ben´s Bett und der rutschte auch gleich selbstständig hinüber. Auch wenn im Sitzen sein Kreislauf schlapp gemacht hatte, seitdem er lag, ging es ihm wieder bombig!


    Während die beiden Schwestern draußen noch detaillierte Übergabe machten, schweifte Semir´s Blick auf den Mann im Nebenbett. Überrascht und erfreut rief er „Hallo Hartmut!“ aus und war mit zwei Schritten bei ihm: „Wie geht´s dir denn, hast du Alles gut überstanden?“ fragte er und Hartmut lächelte ihn noch ein wenig müde an. „Sieht schon so aus!“ sagte er. „Aber das sage ich euch-öfter brauche ich so ne Schussverletzung nicht! Das könnt gerne ihr machen, ihr seid das ja gewöhnt und euch tut das vermutlich vor lauter Gewöhnung schon gar nicht mehr weh, aber ich könnte mir für den heutigen Abend was Schöneres vorstellen, als hier in der Uniklinik zu liegen!“ sagte er und sowohl Semir, als auch Ben mussten grinsen. „Hartmut, wir kommen gerade von Ben´s Vater, dem geht es auch den Umständen entsprechend gut, er hat den Infarkt ganz ordentlich überstanden, nur Ben musste mal wieder auf Show machen und hat sich gleich sämtliche Schläuche herausgerissen!“ flachste Semir, was ihm einen bitterbösen Blick seines Freundes einbrachte. Bevor er weiter den Alleinunterhalter spielen konnte, steckte Schwester Silke den Kopf zur Tür herein. „Herr Gerkan, dürfte ich sie bitten, noch schnell mit meiner Kollegin auf die Intensivstation zu gehen und meinen Rollstuhl zurückzubringen-den kriegen wir sonst nie wieder!“ bat sie und Semir machte sich ohne Widerrede gleich auf den Weg.


    Ben drehte sich zu seinem neuen Bettnachbarn. Er musste daran denken, was Semir ihm erzählt hatte. „Hartmut, vielen Dank, dass du meinem Vater das Leben gerettet hast!“ sagte er ernst und erntete dafür ein Lächeln seines rothaarigen Kollegen. „War doch Ehrensache!“ sagte er „aber in Zukunft vergrabe ich mich lieber wieder in meiner KTU bei meinen Computern und Experimenten. Für diese ganze Action da draußen bin ich nicht geschaffen, das ist mir zu stressig und auch zu schmerzhaft, wenn ich ehrlich bin!“ teilte er Ben mit und der beichtete jetzt dem Kriminaltechniker: „Hartmut, ob du´s glaubst oder nicht, aber für mich ist jede Stunde, die ich im Büro oder bei dir in der KTU verbringen muss, eine Qual. Bin ich auf der Autobahn, verhafte einen Verbrecher, oder verhöre irgendwelche Tatverdächtigen, dann bin ich glücklich. Ich kann mich bewegen, kabble mich mit Semir und kassiere Anschisse von der Chefin, aber das ist genau das Leben, das mir gefällt-na außer noch wenn ich Musik mache!“ vertraute er seinem Kollegen an, der nun, obwohl er eigentlich noch ziemlich müde von der Narkose war, seinerseits schmunzeln musste. „Schau Ben, so tut doch eigentlich jeder genau das, was er tun möchte!“ sagte Hartmut.
    In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Ein weißbekittelter Mann stand darin. „Guten Abend, ich bin der diensthabende Urologe!“ sagte er. „Wer von ihnen beiden ist denn der Herr Jäger?“ fragte er und nun verschlug es Ben die Sprache. Verdammter Mist-wie gerne hätte er sich jetzt weggebeamt, aber mit einem dünnen Stimmchen sagte er: „Das bin ich!“ und nun trat der Arzt, nachdem er Einmalhandschuhe angezogen hatte, an das Bett seines neuen Patienten.


    Semir war mit der Schwester zur kardiologischen Intensiv gegangen. „Und sie sind also der berühmte Semir Gerkan!“ sagte sie schmunzelnd und nun runzelte Semir die Stirn. „Warum berühmt und wie kommen sie darauf?“ fragte er und die Schwester berichtete ihm, dass Sarah hin und wieder erzählte, dass ihr Freund einen Kollegen hatte, mit dem er wie Pech und Schwefel war. „Sie ist immer froh, wenn sie mit Ben gemeinsam auf Achse sind!“ berichtete sie, „denn dann weiß sie sicher, dass jemand auf ihn aufpasst!“ und irgendwie war Semir nun ganz gerührt. Er betrat noch kurz Konrads Zimmer, um den Rollstuhl zu holen, der achtlos in der Ecke stand. „Herr Gerkan-passen sie bitte gut auf meinen Sohn auf-es tut mir so leid, dass der so viel mitmachen musste!“ bat ihn Konrad aufgeregt und Semir versprach das. Irgendwie kam er sich gerade wie Ben´s Leibwächter vor. „Herr Jäger, ich gehe jetzt zu ihm zurück und gehe meiner Pflicht nach!“ beruhigte er ihn und nun konnte sich Konrad entspannt zurücklegen und seine Augen schließen.

  • Nachdem Ben vom Arzt untersucht worden war und einen neuen Katheter mit Spülung daran erhalten hatte, bekamen die beiden Patienten noch ein Schmerzmittel in die Infusion. Sowohl Ben, als auch Hartmut schliefen bald darauf ein, während Semir sich mit dem BMW, der ganz schön laut wurde, auf den Heimweg machte. Als er leise zu Andrea ins Bett kroch-voller Dankbarkeit, dass es ihm und seiner Familie gut ging und auch, dass sie ihren Streit ausgeräumt hatten-kuschelte sie sich an ihn, um sofort weiterzuschlafen. Semir war momentan so aufgedreht, dass er eine Weile nicht einschlafen konnte, aber dann beruhigte er sich langsam. Morgen würden sie beim Richter die Fakten vorlegen, der würde die Haftbefehle wieder aufleben lassen, einen Zusätzlichen für Tewett senior ausstellen und die nächste Nacht würden alle Folterer in ihren Zellen verbringen! Mit diesem beruhigenden Gedanken schlief endlich auch Semir ein und erwachte erst, als ihn die Sonne in der Nase kitzelte.


    Die Krüger war nicht untätig gewesen. Sie war pünktlich um acht im Büro und sobald der zuständige Richter an seinem Arbeitsplatz erschien, schilderte sie ihm die Sachlage. Ein kurzes Schweigen am anderen Ende und dann sagte der Mann: „Natürlich setze ich mit diesem Kenntnisstand die Haftbefehle sofort wieder in Kraft, aber wissen sie, Frau Krüger, was mich jetzt am meisten beruhigt, ist, dass Herr Jäger doch nicht so ist, wie ich ihn nach seiner Aussage einschätzen musste. Ich dachte schon, meine Menschenkenntnis hätte mich verlassen, aber das erklärt natürlich alles! Diesen Anwalt der Familie Tewett möchte ich auch drankriegen, ich werde die Staatsanwaltschaft bitten, eine Anklage zu erarbeiten und dann wird der ordentlich Ärger mit der Anwaltskammer kriegen und seine Zulassung verlieren!“ erklärte er zornig, denn auch ihm war dieser aalglatte Mann schon mehrfach vor Gericht sauer aufgestoßen, nur hatte der bisher immer die besseren Argumente gehabt.


    Als Semir um neun, zu seiner Regelschicht erschien, wurde er schon ungeduldig von der Chefin erwartet. Mit blitzenden Augen sagte sie: „Gerkan, auf, wir nehmen jetzt die Übeltäter wieder fest, damit wir den Fall abschließen können!“ sagte sie und wollte sich schon mit ihm zum BMW aufmachen, aber Semir hielt sie zurück. „Äh Chefin, ich glaube, das Fahrzeug muss erst mal in die Werkstatt! Ich habe bei der Herfahrt schon befürchtet, dass mir der um die Ohren fliegt!“ beichtete er ein wenig schuldbewusst, aber die Chefin sagte nur vergnügt: „Gut, dann soll sich Bonrath da drum kümmern, der ist schließlich für den Fuhrpark zuständig-wir nehmen Jäger´s Mercedes!“ und schon holte sie sich den Schlüssel dafür vom Brett und unterschrieb. Semir meinte seinen Ohren nicht zu trauen. Kein Anschiss? Vielleicht war das gar nicht so schlecht gewesen, die Chefin mal bei einem Einsatz an Bord zu haben-da hatte sie gesehen, wie schnell man so ein Auto geschrottet hatte!


    Sie machten sich gemeinsam zunächst zu Kaul auf, der sich auch brav in seinem Haus aufhielt. Er war nicht überrascht, als ihm die Krüger den neuen Haftbefehl präsentierte-er hatte sowas schon erwartet, denn sein Anwalt hatte ihn aufgeklärt, dass seine Freilassung vermutlich nur ein Versehen war und er sich jederzeit auf eine erneute Haft einrichten musste. Immerhin war er sich ja bewusst, dass seine Folterung des jungen Polizisten in keinster Weise einvernehmlich gewesen war, egal was dieser aussagte. So hatte er schon ein paar Sachen geregelt, eine Tasche mit den wichtigsten Dingen für die U-Haft gepackt und als danach der von Semir angeforderte Bus mit den beiden uniformierten Polizisten kam, um ihn ins Untersuchungsgefängnis zurückzubringen, stieg er ohne Murren ein, um seine Strafe auf sich zu nehmen.


    Der nächste Weg führte Semir und die Chefin zu den Eders. Am Haus öffnete niemand, aber dann kam plötzlich Maria, die gerade dabei war, ihre Sachen zu ordnen, aus dem Torhaus. Sie hatte eine nette kleine und günstige Zwei-Zimmerwohnung gefunden und zugleich noch einen neuen Job als Hausdame bei einer wohlhabenden älteren Frau im Viertel. Als diese gehört hatte, dass Maria, die sie vom Sehen her kannte, frei wäre, hatte sie ihr sofort ein Stellenangebot mit Wohnmöglichkeit unterbreitet, denn gutes Hauspersonal war schwer zu kriegen. Sie erzählte von Melissa´s Ausbruch am Vortag und dass die jetzt in der geschlossenen Psychiatrie war. „Kriege ich dann meine Kaution zurück?“ fragte sie hoffnungsvoll und die Chefin bejahte. Nun war auch Maria erleichtert-sie wollte von Melissa nie in ihrem ganzen Leben mehr etwas hören, so wie die sich aufgeführt hatte! Ein Anruf in der Psychiatrie bestätigte die Aussage der Angestellten und nun würden Psychiater prüfen, ob Melissa haftfähig war, oder in der Psychiatrie bleiben musste. Auf jeden Fall war sie hinter Gittern und würde in absehbarer Zeit niemanden mehr quälen!


    Dann ging es zu den Tewetts. Die Sicherheitsleute prüften ihre Ausweise und ließen sie dann passieren. Als sie an der Haustür läuteten, öffnete ihnen nach einer Weile eine sichtlich betrunkene Frau und lallte sie an: „Was wollen sie?“ und nun fragte die Krüger: „Sind sie Frau Tewett?“ und sie bejahte. „Wo finden wir bitte ihren Mann und ihren Sohn?“ erkundigte sich nun Semir. „Das würde ich auch gerne wissen!“ schrie die Frau wütend. „Die sind einfach abgehauen. Sie haben ihre wichtigsten Dinge gepackt, während ich auf einer Veranstaltung war und als ich abends nach Hause kam, waren sie ausgeflogen. Erst vom Sicherheitsdienst habe ich erfahren, dass Florian auch dabei war, mein armer Sohn!“ begann sie nun zu weinen. „Jetzt beruhigen sie sich erst mal!“ sagte Semir. „Dürfen wir reinkommen?“ und die Frau nickte. Im Wohnzimmer angelangt fragte Semir: „Können sie sich vorstellen, wohin die gefahren sein könnten?“ aber die Frau schüttelte den Kopf.
    „Mein Mann hat so viele Immobilien auf der ganzen Welt, wir haben ein Ferienhaus in Österreich, eine Wohnung in Berlin, ich habe keine Ahnung!“ weinte sie. „Warum haben sie mich nicht mitgenommen?“ fragte sie weiter und Semir und die Chefin wechselten einen Blick-sie hätten sich die Betrunkene auch nicht ans Bein gebunden, das war durchaus verständlich.
    „Überlegen sie bitte, wohin würden sie gehen, wenn sie sich den Strafverfolgungsbehörden entziehen wollten-ich meine, in welchem Land, das nicht an Deutschland ausliefert, hat ihr Mann noch Grundbesitz?“ fragte Semir eindringlich und plötzlich hob Frau Tewett den Kopf. „Ich weiß es-die sind zu unserer Hazienda in Brasilien unterwegs!“ sagte sie. Semir ging kurz vor die Tür-„Susanne, check doch bitte ab, ob gestern die Tewetts einen Flug nach Brasilien oder ein anderes südamerikanisches Land gebucht haben. Eigentlich dürfte das nicht klappen, denn Florian darf das Land, weil er ja nur auf Kaution frei ist, nicht verlassen, diese Meldung liegt normalerweise an den Flughäfen vor, aber sieh´ trotzdem nach!“ bat er und hörte, wie im Hintergrund Susannes Finger in Windeseile über die Tasten flogen. Nach kurzer Zeit sagte sie: „Nein Semir, Florian ist von keinem deutschen Flughafen abgeflogen!“ sagte sie und Semir kehrte nun zu der immer noch weinenden Frau zurück. „Wenn sie nicht geflogen sind, wie könnten sie dann außer Landes kommen?“ fragte er, aber aus der Frau, die vom Alkohol nun beinahe im Sitzen einschlief, war nichts mehr herauszubekommen. Schulterzuckend verabschiedeten sich Semir und die Chefin, legten noch ihre Visitenkarten auf den Tisch und zogen dann die Tür hinter sich ins Schloss. Frau Tewett hatte sich derweil auf dem Sofa zusammengerollt und leise zu schnarchen begonnen.


    Semir und die Chefin befragten nun die Sicherheitsleute. Die sagten aus, dass am gestrigen Nachmittag Tewett und sein Sohn mit dem Rolls Royce abgefahren und seitdem nicht mehr zurückgekommen waren. Susanne fand das Zulassungskennzeichen heraus und sofort wurde das auffällige Fahrzeug auf die Fahndungsliste gesetzt. Noch während die Krüger und Semir ein wenig deprimiert zur PASt zurückfuhren, kam von einer Streife die Meldung. „Der Rolls steht am Kölner Rheinhafen auf einem Parkplatz!“ und nun richtete sich Semir gespannt auf. „Susanne, bitte finde heraus, ob Tewett ein Schiff besitzt!“ sagte er aufgeregt ins Funkgerät und Susanne antwortete: „Habe ich schon erledigt, er hat eine hochseetaugliche Jacht, die gestern am späten Nachmittag ausgelaufen ist!“ teilte sie mit.Semir sah auf die Uhr. Verdammter Mist, er wusste nicht genau, wie viele Knoten so ein Schiff auf dem doch vielbefahrenen Rhein machte, aber inzwischen dürften die schon via Rotterdam auf hoher See sein. Dann allerdings kam von Susanne die Meldung: „Heute Nacht gab es eine Havarie zwischen ein paar Schiffen 150 Flusskilometer rheinabwärts. Die Schiffahrtsstrasse war wegen der Gefahr auslaufenden Öls bis heute Morgen gesperrt, ich versuche gerade herauszufinden, ob die Jacht von Tewett da schon dran vorbei war, oder nicht!“ sagte sie und Semir sah Kim Krüger nun mit Jagdfieber in den Augen an: „Chefin, wir müssen sie kriegen, so wahr ich Semir Gerkan heiße!“ rief er.

  • Im Krankenhaus waren Ben und Hartmut in der Früh relativ gleichzeitig erwacht. Hartmut weil er aufs Klo musste und Ben weil er Schmerzen hatte. Sie sahen beide gähnend auf die Uhr-kurz nach sechs! „Normalerweise würde ich mich zuhause gerade noch genüsslich umdrehen, aber hier im Krankenhaus kann ich nicht mal ausschlafen, wenn mich ausnahmsweise mal keiner weckt!“ moserte Ben. Hartmut richtete sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Auch bei ihm ziepte es im Oberschenkel, aber es war auszuhalten und so beschloss er, die Schwester nicht zu stören und jetzt selber aufs Klo zu gehen. Gestern hatte man ihm eine Pinkelflasche gegeben, aber das war eine einmalige Sache gewesen, dass er sich darin erleichtert hatte, er würde aufstehen. Kurz musterte er die Konstruktion, mit der die Infusion an seiner Hand befestigt war, dann drehte er den Dreiwegehahn zu, schloss die Rollklemme und schraubte dann das Schläuchlein einfach ab und hängte es an die Flasche zurück. Er kam sich gerade vor, wie Mc Gyver. Dann griff er nach den Krücken, die in einer Halterung am Bett steckten-er konnte sich noch daran erinnern, wie der Arzt in der Nacht nach seinem Erwachen aus der Narkose zu ihm gesagt hatte, dass das Projektil den Knochen ein wenig verletzt hatte und er das Bein eine ganze Weile entlasten sollte-und stand auf.


    Ben musterte seinen Zimmerkollegen. Er hätte jetzt gesagt, die Krücken wären viel zu lang, aber die im Krankenhaus und vor allem Hartmut, das Technikgenie, würden schon wissen, ob das richtig war-er würde sich da nicht einmischen. „Soll ich nicht lieber nach der Schwester läuten?“ fragte er, aber da hatte Hartmut schon seine Drainagen von der Betthalterung abgenommen, an seine Krücken gehängt und stand. Sein Kreislauf machte keine Zicken, aber da hatte er normalerweise eh keine Probleme und inzwischen pressierte es schon ganz ordentlich und so wackelte er los. Er war noch nie mit Krücken gelaufen und so setzte er die viel zu langen Dinger ziemlich ungeschickt ein, nach drei Schritten Richtung Nasszelle rutschten sie seitlich einfach weg und Hartmut landete recht unsanft auf seinem blanken Hinterteil. Ben drückte sofort auf den Klingelknopf und fragte einerseits besorgt, aber andererseits mit unterdrücktem Lachen-zu komisch war diese Vorstellung gewesen-„Hartmut, ist dir was passiert?“ aber der schüttelte den Kopf und versuchte verbissen wieder hochzukommen, was aber gar nicht so einfach war, ohne Last auf das operierte Bein zu bekommen. Ben konnte inzwischen nicht mehr an sich halten und lachte, bis ihm die Tränen kamen, während sich Hartmut bei seinen Aufstehversuchen in die Drainageschläuche verhedderte. So fanden ihn die Schwestern, die wenig später auf das Läuten reagierten und auch sie konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie fassten Hartmut rechts und links unter und zogen ihn hoch, während er stammelte: „Ich wollte doch nur aufs Klo!“ und da wurde er dann auch gleich hingeführt. „Sieh mal, die Krücken sind noch gar nicht eingestellt, die muss zuvor ein zwei Meter-Mann gehabt haben!“ rief die eine Schwester aus und korrigierte das sofort, während man Hartmut in der Nasszelle draußen gleich noch Waschzeug hinstellte.
    Ben bekam auf seine Bitte hin eine neue Infusion mit Schmerzmittel darin an den ZVK gehängt und die Schwester kündigte an: „Wenn ihr Kollege da draußen fertig ist, bringen wir sie ebenfalls raus und später kriegen sie beide Frühstück!“ sagte sie. Ben protestierte: „Ich habe aber bisher noch gar nichts zu essen gekriegt, wegen meiner Kiefer-OP“, aber die Schwester lächelte ihn an. Das ist ab sofort laut Arztanordnung geändert-jetzt geht es aufwärts, Herr Jäger!“ sagte sie und nun musste Ben glücklich grinsen-das wäre schön!
    Tatsächlich funktionierte das ganz gut mit dem selber Waschen-man hatte ihn mit einem Stuhl hinausgefahren- und als wenig später Ben und Hartmut beide am Bettrand saßen und das Frühstück serviert wurde, sah Ben erwartungsvoll unter den Deckel seiner Schüsseln. Während Hartmut genüsslich seine Brötchen aufschnitt, mit Butter Wurst und Marmelade bestrich und sich dazu den Kaffee anrührte, wurde Ben´s Gesicht beim Anblick des Schüsselinhalts lang und länger. In dem einen Töpfchen war eine klare Suppe und im anderen ein dünner Griessbrei, dazu gab es Kamillentee. Neidvoll musterte Ben Hartmuts Frühstück, begann dann aber seufzend zu essen. Die Wunde im Kiefer war inzwischen verheilt-die Schwester hatte ihm erklärt, dass da die Fäden heute rauskommen würden, aber durch die Verdrahtung bekam er den Mund gerade so weit auf, dass ein Löffel dazwischen passte. Mühsam stillte er seinen Hunger-Mann und das ihm, der doch für sein Leben gerne aß!


    Wenig später klopfte es an der Tür. Darin stand Andrea und hatte eine Sporttasche für Ben dabei. Sie musste heute ein wenig später anfangen und hatte zuerst die Kinder in Schule und Kindergarten gebracht, um dann- wie mit Semir abgesprochen, der ihr beim Frühstück in Kurzfassung die Geschehnisse des Abends erzählt hatte-in Ben´s Wohnung zu gehen und ihm das Nötigste zu packen. Sie begrüßte ihren Freund und natürlich auch Hartmut herzlich und war positiv überrascht, dass er eigentlich besser aussah, als sie zu hoffen gewagt hatte. „Hey-dann könnte ich ja nachmittags mit den Kindern zu Besuch kommen!“ sagte sie und Ben konnte nur begeistert zustimmen. Wie gerne würde er die beiden Mäuse mal wieder sehen! Hartmut sagte betreten: „Mann, ich weiß ja jetzt nicht, wie lange ich bleiben muss, aber als ich eingeliefert wurde, hatte ich nur das Mittelalterkostüm am Leib. Mein Wohnungsschlüssel liegt in der PASt-könntest du mir vielleicht auch was bringen?“ bat er Andrea und die versprach, das nachmittags zu erledigen, wenn sie mit den Kindern kam. Als Andrea sich aufgemacht hatte, zur Arbeit zu gehen, legten sich Ben und Hartmut wieder flach und warteten, was so weiter mit ihnen passieren würde.


    Semir und die Chefin waren indessen an der PASt angelangt. Susanne hatte über verschiedene Kanäle und die Schifffahrtspolizei herausgefunden, dass Tewetts Jacht tatsächlich bis zum Morgen hinter den havarierten Schiffen hatte warten müssen. Durch verschiedene Meldungen konnte man feststellen, dass die inzwischen kurz vor Rotterdam waren. „Wenn wir sie noch vor der Drei-Meilen-Zone erwischen würden, könnten wir sie vielleicht noch festnehmen!“ hoffte Semir. Die Tewetts waren inzwischen allerdings ja auf niederländischem Hoheitsgebiet und bis man die holländische Wasserschutzpolizei da um Amtshilfe gebeten hatte, wären sie längst über alle Berge! Semir´s Blick fiel auf den Polizeihubschrauber, der vor der PASt auf dem großen Parkplatz stand. Die Chefin verstand sofort Semir´s Gedankengänge und wenn das vielleicht jetzt auch viel zu teuer war und sie gar nicht wusste, ob das rechtlich überhaupt einwandfrei war, aber es war ihre letzte Chance die verbrecherische Familie Tewett hinter Schloss und Riegel zu bringen. „Herr Gerkan, ich habe verstanden!“ sagte sie kurzentschlossen und rief dann ins Funkgerät: „Susanne, schicken sie bitte sofort den Piloten raus-Einsatz!“ und Susanne erledigte das umgehend.

  • Der Pilot kam aus der PASt gelaufen.“Wo geht´s hin?“ fragte er, aber es erwartete ihn eine Gegenfrage: „Ist der Hubschrauber vollgetankt?“ wollte die Chefin wissen und der Pilot sagte verwundert ja. „Wir fliegen nämlich nach Rotterdam, um eine flüchtige Jacht zu verfolgen, bevor die auf hoher See ist!“ sagte die Chefin und der Pilot nickte. So weit flog er zwar normalerweise nicht, aber die Krüger war seine Vorgesetzte und schon bat er seine Fluggäste einzusteigen und startete den Motor. „Wir brauchen noch eine Genehmigung zur Grenzüberschreitung!“ sagte er, aber da hatten sie noch ein wenig Zeit, denn auch im günstigsten Fall wären sie jetzt mindestens 1,5 Stunden unterwegs. Susanne wurde beauftragt, die Genehmigung einzuholen, außerdem schickte sie ihnen ein Bild der Jacht, damit sie ungefähr wussten, nach was sie überhaupt suchten. Der Informant aus Rotterdam hatte inzwischen mitgeteilt, dass die Jacht inzwischen aus dem Hafen in die Nordsee ausgelaufen war und Kurs auf den Ärmelkanal genommen hatte.


    Der Pilot begann nun systematisch die vielbefahrene Schifffahrtsstraße abzusuchen und nach kurzer Zeit rief Semir, der das Bild der Jacht mit den echten Booten verglich: „Da vorne sind sie!“ und der Pilot nahm Kurs auf das Schiff. Florian und sein Vater standen an Deck und ließen sich den Wind ins Gesicht blasen. Bald waren sie für immer in Freiheit und konnten ein neues Leben, wie es ihnen gefiel, beginnen! Als der Helikopter sich näherte, sagte ein Besatzungsmitglied, das ebenfalls an Deck gekommen war: „Der fliegt sicher zur nächsten Bohrinsel-hier herrscht reger Flugverkehr!“ und die beiden Tewetts nickten. Sie waren noch deutlich innerhalb der Drei-Meilen-Zone und so galt noch niederländisches Recht und die Holländer hatten diesbezüglich klare Regeln und arbeiteten immer mit Deutschland zusammen. „Wir müssen sie dazu bringen, umzukehren und den nächsten Hafen anzulaufen!“ sagte die Chefin aufgeregt und griff zum Megaphon. „Gehen sie tiefer!“ bat sie den Piloten und nun öffneten sie und Semir die Schiebetür des Hubschraubers einen Spalt. „Hier spricht die Polizei! Ändern sie sofort ihren Kurs und laufen sie den nächsten Hafen an!“ rief die Chefin in den Lautsprecher und nun wandten sich erstaunte Blicke zum Polizeihubschrauber. Man konnte erkennen, dass die Tewetts, genauso wie ein Teil der Besatzung erschrocken nach oben blickten. Auch der Kapitän hatte die Ansage vernommen, verlangsamte die Fahrt und wollte gerade beidrehen, da zog Tewett senior eine Waffe aus seiner Hose, die er vorsichtshalber mitgenommen hatte. Er stürzte zum Steuerhaus und bedrohte seinen Angestellten mit dieser Waffe. „Wenn sie nicht sofort Fahrt aufnehmen und uns hier wegbringen, werden sie das mit dem Leben bezahlen!“ sagte er drohend und der Kapitän bemühte sich, den Anordnungen seines Arbeitgebers zu folgen. Verdammter Mist, er hatte schon so ein ungutes Gefühl gehabt, als sie ausgelaufen waren, jetzt hatte er die Wahl, entweder sein Leben, oder sein Kapitänspatent zu verlieren, denn man konnte nun deutlich erkennen, dass das ein Polizeiheli war und das Recht und die Polizeihoheit galten auch auf einem Schiff-allerdings immer das, in dessen Hoheitsgewässern man sich gerade befand!


    Seine Matrosen und der Steuermann waren fast alle an Deck gekommen und hatten erschrocken gesehen, wie der Kapitän bedroht wurde. Niemand würde sich gegen einen Bewaffneten stellen, denn jedem einzelnen war sein Leben lieb! Also beschleunigte der Kapitän nun wieder die Fahrt Richtung Freiheit und die Chefin sagte zornig und verzweifelt:“Mist, sie entkommen uns!“ aber sie hatte die Rechnung ohne Semir gemacht. „Ich gehe runter!“ sagte er entschlossen und kontrollierte, ob seine Waffe geladen war. Er steckte sie ins Holster zurück und bat den Piloten tiefer zu gehen. Gott sei Dank war es ein windstiller Tag und so gelang es dem erfahrenen Piloten, den Heli relativ nah über der Jacht zu halten und die Geschwindigkeit anzugleichen.


    Tewett wusste nicht, was er machen sollte. Er hatte schon bemerkt, dass der Kapitän sofort den Anweisungen der Polizei Folge leisten würde, darum konnte er die Waffe nicht von ihm abwenden, denn er befürchtete, der würde sich dann gegen ihn stellen. Schoss er auf den Heli, würde der eventuell aufs Schiff stürzen und dann würden sie alle sterben, also hielt er seine Waffe einfach weiter an den Kopf des Kapitäns, dem der Schweiß ausgebrochen war.Semir öffnete die Schiebetür und ängstlich beobachtet von der Chefin, sprang er die paar Meter aufs Deck und rollte sich gekonnt ab, ohne sich zu verletzen. Der Heli zog wieder hoch, denn das war eine ungeheuer gefährliche Position so nahe am Schiff.
    Noch bevor Semir wieder auf den Beinen war, stürzte sich nun Florian auf ihn. Der hatte zwar keine Waffe, aber mit dem Mut der Verzweiflung wollte er seiner Verhaftung entgehen. Er wollte nicht mehr ins Gefängnis, denn dort wehte ein rauher Wind und er hatte da nichts Schönes zu erwarten, das war klar. Sofort begann ein Gerangel zwischen Semir und Florian. Der alte Tewett rief aus dem Steuerhaus: „So helft ihm doch!“ aber kein Besatzungsmitglied rührte nur einen Finger. Florian rang mit dem Mute der Verzweiflung und Semir, der von seinem waghalsigen Sprung noch die Erschütterung in den Gliedern spürte, merkte auf einmal, wie es Florian gelang, ihm die Waffe aus dem Holster zu ziehen. Bevor er sich versah, hatte Florian die entsichert und hielt sie nun seinerseits Semir an den Kopf, dem der Atem stockte. Er wusste, er hatte nun keine Gnade zu erwarten, sein Lebensfilm zog an ihm vorbei und er verfluchte sich für seinen waghalsigen, missglückten Einsatz, als plötzlich zwei Dinge geschahen.


    Der Kapitän, der nun sah, dass ein weiterer Unschuldiger in Lebensgefahr war, stellte plötzlich auf Schubumkehr und ein Ruck ging durch die Jacht, der alle Stehenden, die darauf nicht gefasst waren, von den Beinen holte. Der Kapitän stürzte sich auf Tewett und versuchte, ihm die Waffe zu entwinden, die dieser am Boden liegend, verwirrt festhielt. Florian war zurückgetaumelt und noch während sich Semir mit einem Hechtsprung in Sicherheit brachte, ertönte ein Schuss.
    Mit Entsetzen sahen alle Umstehenden, wie Florian mit ungläubigem Blick auf seine Brust sah, auf der ein roter Fleck sich in Sekundenschnelle ausbreitete, bevor er zusammenbrach und die Waffe aus seiner Hand fiel. Der alte Tewett und der Kapitän waren inzwischen auch wieder auf den Beinen, denn aus genau dieser Waffe hatte sich der Schuss gelöst und hatte Florian getroffen. Der Finger des alten Tewett war noch um den Abzug gekrümmt und erst nach ein paar Sekunden realisierte er, was geschehen war. Er hatte seinen eigenen Sohn erschossen!


    Semir sprang auf und war mit ein paar Schritten bei Florian, der aber kein Lebenszeichen mehr von sich gab, was bei der riesigen Austrittswunde auf seiner Brust auch kein Wunder war. Hier kam jede medizinische Hilfe zu spät! Der Kapitän hatte dem alten Tewett vorsichtig die Waffe entwunden, aber von dem ging nun keine Gefahr mehr aus. Aufschluchzend eilte er zu seinem Sohn und während der Kapitän nun wieder Kurs aufs Festland aufnahm, gefolgt vom Polizeihubschrauber, hielt der Medienmogul seinen toten Sohn in den Armen und weinte wie ein kleines Kind.Semir hatte sich eine Plastiktüte geben lassen, die Waffe aus der geschossen worden war, sichergestellt und sagte nun leise zum Kapitän: „Danke, Mann, sie haben mir das Leben gerettet!“ und der nickte lächelnd. „Gern geschehen!“ erwiderte er und begann in den Hafen einzulaufen, in dem sich schon ein niederländisches Polizeiboot auf den Weg zu ihnen gemacht hatte.

  • Sarah war am Morgen aufgewacht und hatte sich besser gefühlt. Das Fieber war weg und nachdem sie geduscht hatte, hatte sie Lust auf ein gutes Frühstück, das sie sich auch genehmigte. Ihre Kollegen hatten ihr Bescheid gesagt, dass es Ben besser ging und er auf Normalstation verlegt worden war und so machte sie sich wenig später auf den Weg dorthin. Sie holte sich noch einen Mundschutz, band den um und desinfizierte ihre Hände gründlich, bevor sie das Zimmer betrat. Ben lag guter Dinge im Bett und unterhielt sich angeregt mit seinem Mitpatienten, in dem sie seinen Kollegen Hartmut erkannte. „Hallo Schatz!“ sagte sie weich und Ben strahlte sie an. „Mensch, wie geht´s dir denn?“ fragte er sie und sie antwortete: „Besser, viel besser-und dir?“ „Das Gleiche kann ich auch sagen!“ erwiderte Ben und Sarah atmete innerlich auf. Anscheinend hatte Ben körperlich das Schlimmste überstanden. Stirnrunzelnd betrachtete sie dann allerdings die Blasenspülung und wies darauf: „Und was ist das?“ fragte sie und Ben bekam einen roten Kopf: „Das ist eine lange Geschichte!“ wich er aus, aber Sarah holte sich einen Stuhl, setzte sich neben das Bett und sagte: „Erzähl, ich habe Zeit!“ und nun berichtete ihr Ben von seinen Erlebnissen der letzten Tage. Als er geendet hatte, schüttelte Sarah den Kopf: „Dich kann man doch nicht alleine lassen!“ sagte sie vorwurfsvoll und erhob sich dann, um kurz auf die kardiologische Intensiv zu gehen und nach Konrad zu sehen.


    Bei dem hatte man noch in der Nacht die Schleuse gezogen und weil er stabil war, würde er später ebenfalls auf Normalstation verlegt werden. Sie begrüßte ihn und er freute sich sehr über ihren Besuch. „Wie geht´s Ben?“ fragte er sorgenvoll, denn das nächtliche Intermezzo hatte ihm schwer zugesetzt, aber Sarah lächelte ihn an: „Der ist schon wieder recht fit!“ sagte sie „und außerdem hat er einen netten Zimmerkollegen, der tut ihm gut!“ erklärte sie und dann erledigte sie noch Konrads Auftrag und verständigte Julia. Die fiel zwar aus allen Wolken, als sie erfuhr, dass ihr Vater in der Nacht einen erneuten Infarkt gehabt hatte, aber dann war sie erleichtert, als Sarah ihr erklärte, dass der Herzkatheter erfolgreich gewesen war und man einen größeren Gewebeuntergang am Herzen so hatte vermeiden können. Sarah bat sie noch, wie ihr Konrad aufgetragen hatte, private Sachen aus seinem Haus zu holen, denn auch er fühlte sich im Flatterhemdchen nicht wohl, und dann kehrte sie zu Ben zurück.


    Inzwischen war die große Visite dagewesen. Hartmut hatte man erklärt, dass am kommenden Morgen die Drainagen gezogen würden und wenn er dann kein Fieber bekam, war die Entlassung für den folgenden Tag geplant. Er sollte noch zwei Wochen mit Krücken laufen, bis sich der Knochen wieder ein wenig gefestigt hatte, aber sonst war er sozusagen mit einem blauen Auge davongekommen.
    Bei Ben waren alle Ärzte sehr zufrieden. Der Urologe schüttelte zwar den Kopf, als er von Ben´s nächtlicher Aktion hörte, aber nachdem nun der Urin nicht mehr blutig war, konnte man die Blasenspülung abbauen und in zwei Tagen würde man die Fäden ziehen und den Katheter entfernen. Alle anderen Wunden heilten gut, der Unfallchirurg ordnete statt der Gipsschale einen speziellen Schuh an, in dem mit wechselnden Fersenpolstern die Achillessehne entlastet wurde und sagte: „ Der wird sie jetzt einige Monate begleiten, aber den können sie auch über der Kleidung tragen und zum Duschen und nachts abnehmen!“ was Ben beinahe in Entzücken versetzte. Duschen-das war´s!
    Das Hauttransplantat heilte ebenfalls gut an, die Peitschenverletzungen und kleineren Verbrennungen waren am Zuwachsen und man beschloss, die Antibiotika als Tabletten zu geben und den ZVK später herauszuziehen.


    Der Kieferchirurg entfernte die Fäden und zog bei dieser Gelegenheit auch gleich die Magensonde heraus, die man probeweise auf Ablauf gehängt hatte, die aber nichts mehr förderte. Das Frühstück war verdaut und so war das lästige Ding nicht mehr nötig. „Sie müssen auch auf nichts mehr achten, sondern dürfen alles essen und trinken, nur eben püriert, damit sie nicht groß kauen müssen. In zwei Wochen machen wir die Drähte auf und dann sollten sie wieder normal essen können. In etwa einem halben Jahr entfernen wir dann die Platten wieder und dann wird sie hoffentlich nichts mehr an diese schlimme Zeit erinnern!“ sagte der Kieferchirurg. Als die Ärzteschar verschwunden war, wurde Ben allerdings ernst. Ob er diese Zeit einfach so vergessen würde, wagte er zu bezweifeln. Zu viel war in den letzten eineinhalb Wochen geschehen!


    Als Sarah wenig später zurückkam, hatte sie jemanden mitgebracht. Der Psychologe des Krankenhauses hatte auf Sarah´s Bitten hin den Konsiliarschein, der eigentlich erst später drangekommen wäre, ein wenig vorgezogen und führte nun ein gutes Gespräch mit Ben. Hartmut hatte von den Schwestern Kopfhörer bekommen und hörte derweil Radio, während Sarah sich draußen mit ihren Kolleginnen unterhielt. Als der Psychologe eine halbe Stunde später aus dem Zimmer kam, lächelte er Sarah an und sagte: „Das wird zwar noch ein harter Weg werden, aber er wird das verarbeiten können-er ist stark. Nach der Entlassung sollte er die psychologische Behandlung allerdings unbedingt weiterführen-ich wüsste da auch einen guten Mann, der ist allerdings ziemlich teuer!“ sagte er nachdenklich, aber Sarah sagte nur: „Geld spielt in diesem Fall keine Rolle!“ und so versprach der Psychologe bis zur Entlassung täglich zu kommen und danach seinen Kollegen eingehend zu informieren und die weitere Behandlung mit ihm abzusprechen.
    Julia, die erst völlig außer sich zu Konrad geeilt war, den aber guter Dinge auf der kardiologischen Normalstation angetroffen hatte, sah auch kurz nach ihrem Bruder, musste aber dann Konrads Aufträge abarbeiten und in der Firma vorbeischauen.


    Wenig später war Ben´s Gips abgenommen, Sarah wusch seinen Fuß, auf dem noch das orangene Desinfektionsmittel von der OP haftete, man zog einen Baumwollstrumpf über die nun offenen Nähte und der Spezialstiefel wurde angepasst. Ben musterte den stirnrunzelnd: „Sarah ich denke, am anderen Fuß sollte ich dazu einen Skistiefel tragen, damit das auch zusammenpasst!“ sagte er erst ernst und dann grinste er spitzbübisch, während alle Anwesenden in befreites Gelächter ausbrachen. Ein Physiotherapeut kam mit einem Gehwagen und unterstützt von Sarah lief Ben nun die erste Runde im Zimmer. Es klappte besser, als erwartet und noch vor dem Mittagessen wurde der ZVK problemlos entfernt. Einzig das Essen setzte Ben zu: „Sarah, ich glaube ich muss verhungern, wenn ich jetzt die nächste Zeit so dünne Wassersüppchen essen muss!“ protestierte er, aber Sarah versprach, sich deswegen etwas einfallen zu lassen.
    Bis sie sich versahen war es Nachmittag und Andrea kam mit den Mädchen zu Besuch und brachte auch gleich Hartmut die versprochene Tasche mit. Unter viel Gelächter verging die nächste Stunde und als endlich alle weg waren, waren Ben´s Wangen vor Freude gerötet. „Mann bin ich froh, dass ich lebe!“ sagte er aus vollem Herzen und Sarah strich ihm lächelnd über die Stirn.

  • Semir und die Chefin hatten in Rotterdam alles in die Wege geleitet, damit die Tewetts nach Köln zurückgebracht wurde. Der Medienmogul wurde mit einem Polizeifahrzeug transportiert, Florian mit dem Leichenwagen in die Gerichtsmedizin gebracht, Semir und die Chefin flogen mit dem Helikopter zurück und die Staatsanwaltschaft hatte inzwischen eine Anklage gegen den betrügerischen Anwalt verfasst. „Er war zwar nur indirekt beteiligt, aber wenigstens ein paar Wochen in Untersuchungshaft werden wir rausschlagen!“ hatte die Schrankmann angekündigt, die verbissen nach Formulierungen gesucht hatte, die rechtlich nicht angreifbar waren. Der Richter hatte den Haftbefehl unterzeichnet und kaum in Köln zurück, holten die Krüger und Semir den aufgebrachten Rechtsanwalt aus seiner Kanzlei, aber momentan konnte er nichts dagegen unternehmen, sondern musste murrend den Weg ins Untersuchungsgefängnis antreten, wo er eine Zelle neben Tewett bezog, der apathisch auf seiner Pritsche lag und an die Decke starrte. Der hatte das Liebste verloren, was er besaß und würde wohl nie damit fertig werden, dass er mit eigener Hand seinen Sohn umgebracht hatte.


    Semir fuhr nach dem wohlverdienten Dienstschluss direkt zu Ben ins Krankenhaus und war überrascht und erfreut, dass der erstens schon wieder so gut aussah und zweitens Sarah-zwar noch mit Mundschutz- aber sonst weitgehend wieder genesen, an seinem Bett saß. „Ich habe viele Neuigkeiten für euch alle!“ kündigte er an und holte sich ebenfalls einen Stuhl, mit dem er zwischen den beiden Betten, direkt neben Sarah, Platz nahm.
    Genüsslich erzählte er von den Erlebnissen des Tages und alle drei Zuhörer hingen gebannt an seinen Lippen und lauschten den Erzählungen ihres Freundes. „Mann, dann hast du ja jetzt den Fall sozusagen fast im Alleingang gelöst!“ sagte Ben beeindruckt und ein sehnsüchtiger Zug huschte über sein Gesicht. „Aber gerade auf dem Schiff wäre ich nur zu gerne dabei gewesen!“ fügte er hinzu und Semir beeilte sich zu versichern: „Auch diese Zeit kommt wieder, Ben.“
    Nun erzählten ihrerseits Hartmut und Ben von den Erlebnissen und Neuigkeiten des Tages, Sarah erwähnte, dass es Konrad soweit gut ging und dass Andrea und die Mädels schon Klamotten für die beiden Patienten gebracht und den Nachmittag aufgeheitert hatten. „Ich bin auch schon ein paar Schritte gelaufen und denke, auch ich werde die längste Zeit im Krankenhaus gewesen sein!“ verkündete Ben und nachdem sie noch ein wenig geplaudert hatten, stand Semir auf, der nun plötzlich schrecklich müde war. „Ich muss jetzt heim, erstens bin ich kurz vorm Verhungern, denn außer ein paar Keksen habe ich seit dem Frühstück vor lauter Stress nichts mehr gegessen und außerdem möchte ich meine Mädels auch noch kurz sehen, bevor sie ins Bett müssen!“ verkündete er und machte sich nach einer herzlichen Verabschiedung mit Ben´s Mercedes auf den Nachhauseweg.


    Die Genesung der Verletzten verlief planmäßig. Hartmut ging mit seinen Krücken nach Hause, wo er es aber nicht aushielt und deswegen sofort wieder seinen Platz in der KTU bezog und halt im Augenblick nur sitzende Tätigkeiten machte, Konrad ging direkt vom Krankenhaus aus auf Reha, in der er aber schnell wiederhergestellt war und eine Woche später wurde Ben endlich auch entlassen. Seine Fäden waren alle entfernt, er konnte mit dem Spezialschuh und gelegentlich Krücken ganz gut laufen und von außen sah man auch in seinem Tiefparterre außer ein paar Narben nichts mehr.
    Als er am Abend neben Sarah in seinem Bett lag, zeichnete sie liebevoll die Transplantationsnarbe auf seinem Bauch nach, die immer noch die Form eines großen S hatte. „Weißt du was, Ben-da steht Sarah, du gehörst ganz alleine mir!“ sagte sie und küsste ihn zärtlich. Ben grinste und sagte: „Da musst du dich aber jetzt mit Semir auseinandersetzen, der hat behauptet, das S steht für Semir und ich bin ab sofort sein Eigentum!“ und nun mussten beide lachen.Bei der Abschlussuntersuchung hatte sich der urologische Chefarzt erfreut über die gute Heilung der Genitalverletzungen gezeigt, aber dazu bemerkt: „Ob sie noch zeugungsfähig sind, muss man in einigen Wochen bis Monaten prüfen, aber da sind Prognosen einfach noch zu früh!“ erklärte er und Ben hatte genickt. Er konnte es sowieso nicht ändern, jetzt musste er erst wieder ganz gesund werden und dann würde man weitersehen. Während Sarah arbeiten war, recherchierte er viel im Internet und beschäftigte sich mit den Möglichkeiten der Adoption-er war sich sicher, sie würden schon irgendwann ein Kind adoptieren können, so sehr eilte es ja auch noch nicht.
    Sarah hatte einen Hochleistungspürierstab erstanden und nun bekam Ben eben alles, was er gerne aß fein püriert-sogar mit nem Döner hatte das schon geklappt, also hatte er jetzt auch keine Sorge mehr, verhungern zu müssen. „Den können wir später auch mal gut brauchen, wenn wir ein Kind adoptiert haben-dann machen wir unsere Babybreichen selber!“ hatte Ben verkündet und Sarah musste lachen.


    Ein paar Wochen später-Ben dachte schon wieder daran, langsam wieder arbeiten zu gehen, zumindest in den Innendienst- machte er sich große Sorgen um Sarah, denn der war plötzlich ständig übel und sie rannte nun schon den dritten Morgen zum Kotzen, kaum dass sie die Augen aufgeschlagen hatte. „Schatz, du musst unbedingt zum Arzt gehen, das ist doch nicht normal!“ sagte er besorgt und Sarah versprach ihm, das gleich heute zu erledigen. Als sie mittags nach Hause kam, stellte sie etwas auf den Tisch und sagte geheimnisvoll: „Ben, ich habe uns etwas mitgebracht!“ und Ben wollte sich gleich auf das Paket stürzen-er liebte doch Überraschungen und Geschenke, aber Sarah hielt ihn davon ab und führte seine Hand stattdessen zu ihrem Bauch und küsste ihn zärtlich. „Nein, das Geschenk ist da drin und es gehört keinem von uns und doch beiden!“ sagte sie und nun starrte Ben sie fassungslos an. „Du, du willst mir doch jetzt nicht sagen…“ stammelte er, doch Sarah nickte freudestrahlend: „Doch Ben, ich bin schwanger, wir bekommen ein Baby!“ und nun weinten beide vor Glück.


    ENDE

  • Epilog:
    Wenig später fand die Gerichtsverhandlung wegen Ben´s Folterungen statt. Alle Beteiligten wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, mit Ausnahme von Florian´s Freunden. Die wurden als Mitläufer angesehen und die mehrmonatige Untersuchungshaft auf die Strafe angerechnet, so dass sie den Gerichtssaal mit einer Bewährungsstrafe in die Freiheit verlassen durften.


    In Tewetts Haus hatte man eine Durchsuchung gemacht und eindeutige Videos sichergestellt, die den alten Tewett bei verschiedenen Folterungen zeigte und so wurde er für sehr lange Zeit weggesperrt. Seine Frau hat den Medienkonzern an RTL verkauft und hofft, in einer luxuriösen Entzugsklinik vom Alkohol wegzukommen.


    Der Anwalt war zwar nur einige Wochen in Untersuchungshaft, zu schwach waren die Beweise, aber er bekam von der Anwaltskammer seine Zulassung entzogen und hat sich jetzt als Rechtsberater für dubiose Firmen niedergelassen-die drei Millionen waren schneller weg, als er gedacht hatte, als er versucht hatte, die im Spielkasino zu verdoppeln.


    Melissa Eder wurde für nicht haftfähig erklärt und verbringt ihre Tage in einer forensischen Psychiatrie, wobei die Prognose für die schwere Persönlichkeitsstörung denkbar schlecht ist und sie wahrscheinlich nie mehr auf freien Fuß kommen wird.


    Kaul hat seine Strafe angenommen, kann aber wegen guter Führung und Zusammenarbeit mit den Behörden damit rechnen, vor Ablauf seiner Haftzeit freizukommen, er hat begonnen, sich einer Therapie zu unterziehen und macht dabei stetige Fortschritte.


    Der Prozess gegen die Forenbetreiber wurde abgespalten, bei diversen Durchsuchungen wurden einige PCs sichergestellt und obwohl sie gedacht hatten, ihre Daten vor allen Augen verborgen zu haben, gelang es Hartmut den Code zu knacken und so wurden vielerlei Beweise gesichert-auch von einigen dokumentierten Morden an ostdeutschen Prostituierten, deren Überreste man auch fand. Die Taten wurden dem organisierten Verbrechen zugeordnet, so dass die drei lebenslange Haftstrafen bekamen und auch andere Folterer noch ihren Prozess gemacht kriegten. Das Forum wurde aufgelöst und nun ist die Welt wieder ein bisschen sicherer geworden.


    Als Semir Hartmuts Kostüm, zwar frisch gereinigt, aber mit einem Loch im Hosenbein zum Kostümfundus zurückbrachte, schwor der Verwalter, dass das die letzte Leihgabe an die Autobahnpolizei gewesen war!


    Und dann wollt ihr noch wissen, was in dem Paket auf Ben´s Tisch war, das Sarah mitgebracht hatte? Da waren ein paar wunderhübsche, winzige Babyschuhchen drin-Sarah hatte, als sie aus der Praxis des Arztes gekommen war, die in der Auslage eines Babyausstatters entdeckt und konnte nicht widerstehen, die mitzunehmen!
    Ich hoffe, nun ist eure Neugier gestillt und so können wir uns aufmachen in die nächste Geschichte-in die Welt der Schmuggler, Schnapsbrenner und Todesstreifen.
    Eure susan

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