Burgen, Schlösser und Ganoven

  • Am nächsten Morgen wurde Ben von der Frühdienstschwester gewaschen. Es war ein schwieriges Unterfangen, vor allem das Zähneputzen, das aber immens wichtig war, weil die Mundhöhle so eine Keimverminderung erfuhr. Ben bekam den Mund durch die Verdrahtung gerade so weit auf, dass die schmale Zahnbürste durchpasste, aber nichtsdestotrotz war das sehr schmerzhaft und die nachfolgende antibakterielle Mundspülung mit Chlorhexidin schmeckte widerlich. Allerdings, obwohl man es nicht für möglich hielt, hatte er trotzdem Hunger und sein Magen knurrte vernehmlich. Er hatte nachts immer wieder einen Schluck Wasser genommen und die Schwester erzählte ihm: „Sobald wir mit dem Waschen fertig sind, hänge ich ihnen Sondenkost an, dass sie das vertragen haben sie ja bewiesen mit dem Wasser!“ und Ben nickte.Geduldig ließ er sich herunter waschen, er hatte ja geschwitzt und so tat das sehr wohl. Als die Schwester allerdings nacheinander die Pflaster an den genähten, sauberen Wunden, außer der hauttransplantierten Brandwunde ablöste, dieselben desinfizierte und anschließend neu verklebte, musste er die Zähne zusammen beissen, so ziepte das, trotz Schmerzmittel. „Die Unterleibsverbände lasse ich im Moment. Der Urologe hat angeordnet, dass wir einen Teil der Wunden durch die Drainagen spülen, ich finde aber leider nirgends aufgeschrieben, welche das sind. Das soll er uns selber zeigen und markieren, das machen wir später!“ sagte sie und Ben war ehrlich gesagt recht froh darüber, denn im Augenblick langte es ihm.


    Das kreislaufstützende Medikament hatte man weiter reduzieren können, allerdings waren die Blutgase nicht so berauschend und Ben´s Brustkorb schmerzte bei jedem Hustenstoß, er hatte sich in der Kälte eine saubere Erkältung eingefangen. „Normalerweise würde ich mit ihnen Atemgymnastik machen!“ sagte die Schwester, aber mir fällt gerade keine Atemmaske ein, die man mit dem Kieferbruch anbringen könnte. Versuchen sie bitte immer wieder stark auszuatmen und später probieren wir, sie mal an den Bettrand zu setzen!“ Ben nickte und zu guter Letzt holte sich die Schwester noch eine Kollegin, die ihr half den Rücken zu waschen und die Wunden dort zu versorgen. Als das Desinfektionsmittel brannte, hielt Ben die Luft an und endlich war auch das und der Leintuchwechsel geschafft. Durch die Metallbeschichtung war er wenigstens nicht so stark an seiner Unterlage angeklebt, wie das sonst sicher der Fall gewesen war.Aufatmend ließ Ben sich wieder zurücksinken, inzwischen konnte er sich wenigstens minimal bewegen, aber gegen den Schmerz in seiner Seele half das leider auch nicht. Die Schwester hängte nun mit einer Sondenpumpe eine bräunliche Nährlösung an die Magensonde. „Da ist alles drin, was man zum Leben braucht!“ erklärte sie und Ben nickte geistesabwesend.Als man ihn wieder alleine ließ, hing er seinen Gedanken nach. Was Sarah wohl gerade machte? Hatte sie ihm gestern abgekauft, dass er sie nicht mehr liebte? Obwohl, so eindeutig hatte er das ja gar nicht gesagt, aber sie war gegangen, also war er wohl überzeugend gewesen. Wieder schlich sich eine vereinzelte Träne in seinen Augenwinkel und er starrte deprimiert die Wand an und wartete, was weiter passierte.


    Semir hatte gut geschlafen. Als er nach dem Duschen mit seiner Familie am Frühstückstisch saß, erklärte er, dass er erst bei Ben vorbeischauen und danach ins Revier gehen würde. Er würde der Chefin kurz Bescheid geben, dass er ein wenig später kam, aber er brannte darauf, die beiden anderen Verbrecher, die für Ben´s Qualen verantwortlich waren, hinter Gitter zu bringen.„Und Schatz-denk dran, was wir gestern besprochen haben-versuche bitte herauszufinden, was in Ben gefahren ist, dass er mit Sarah Schluss gemacht hat!“ wies ihn Andrea an, woraufhin Lilly fragte: „Was ist Schluss machen?“ und Ayda ihr daraufhin altklug erklärte: „Wenn jemand seinen Freund nicht mehr mag, dann macht er Schluss, ach bist du dumm, Lilly!“ woraufhin die zu heulen anfing und Semir und Andrea alle Hände voll zu tun hatten, den Streit zwischen den Geschwistern zu schlichten und dafür zu sorgen, dass sie rechtzeitig in Schule und Kindergarten kamen.


    Sarah war nach dreistündigem Erschöpfungsschlaf wieder aufgewacht. Als sie in den Spiegel sah, blickte ihr zwar ein hohläugiges Gespenst entgegen, aber sie beschloss trotzdem auf ihrer Station anzurufen, dass sie ab heute wieder in den Spätdienst kommen würde. Ihre Sachen aus Ben´s Wohnung zu holen, brachte sie mit Sicherheit noch nicht fertig, aber das hatte ja auch Zeit, er würde so bald nicht nach Hause kommen. Gut, dass sie auf einer anderen Intensivstation arbeitete, als die, wo Ben lag, ihr würde es das Herz zerreissen, wenn sie ihn sehen müsste, aber so war Arbeit vermutlich die beste Ablenkung.Ihre Pflegedienstleitung fragte verwundert: „Sind sie wirklich schon wieder bereit zu arbeiten, ich dachte, ihrem Freund geht es nicht so gut?“ aber als Sarah ihr daraufhin antwortete: „Ich habe keinen Freund-ich bin solo!“ dachte die sich ihren Teil und rief die Kollegin an, die Sarah´s Dienst übernommen hätte, dass sie nun doch nicht zu kommen brauchte.


    Der Anwalt hatte eine ruhige Nacht hinter sich. Er war überzeugt davon, dass seine Strategie aufgehen würde und er Florian bald wieder frei hatte. Er würde später ins Krankenhaus marschieren und diesem Polizisten ein Angebot machen, dass dieser nicht ausschlagen konnte. Sehr zufrieden mit sich, machte er sich erst mal auf den Weg in seine Kanzlei, um zu sehen, was sonst heute anstand.

  • Gegen acht war große Visite auf der chirurgischen Intensivstation. Wieder wurde es Ben ganz anders, als er die Menge an Weißkitteln sah, die in sein Zimmer strömten. Allerdings referierten die einzelnen Fachgebiete nun über die jeweiligen Operationen und zeigten sich sehr zufrieden mit dem Verlauf der Eingriffe. Der Kieferchirurg betastete mit einem Lächeln Ben´s Kopf, bat ihn den Mund zu öffnen, soweit es mit den Cerclagen möglich war und sagte: „ Sie haben noch Glück gehabt, dass kein Zahn auch nur locker war. Die Verplattungen haben sich gut machen lassen und ich denke, diese Verletzung wird folgenlos ausheilen. Die ersten Tage, bis sich die Schleimhautwunden ein wenig geschlossen haben, werden wir sie über die Magensonde ernähren und sie trinken bitte nur klare Flüssigkeiten und nichts mit Milch, das gibt sonst üble Beläge. Danach können sie pürierte Sachen zu sich nehmen und in etwa zwei Wochen werden wir die Drähte entfernen und sie können wieder normal kauen!“ Mit einem prüfenden Blick kontrollierte er noch den Grad der Schwellung und der Hämatome und bat darum, doch den Oberkörper immer etwas erhöht zu lagern und weiter mit Eiskompressen zu kühlen.


    Nun trat der Unfallchirurg vor: „Wir haben im Rahmen der gestrigen Operation die Achillessehne rekonstruiert und genäht. Sie hatte sich zwar schon ziemlich weit in die Wade zurückgezogen, aber ich konnte sie doch erfolgreich mit einer Sehnenplastik versorgen und wir werden den Fuß nun noch einige Wochen in Spitzfußstellung halten müssen. Die erste Woche im Gips, danach beginnen wir mit einem Spezialschuh mit keilförmigen Einlagen, die nach und nach flacher werden!“ erklärte er. „Wie lange dauert es ungefähr, bis ich wieder normal laufen kann?“ wollte Ben nun wissen. „Bis zur völligen Wiederherstellung und Stabilität der Sehne und bis sie wieder schnell über unebene Untergründe laufen können, müssen sie mit etwa fünf bis sechs Monaten rechnen!“ antwortete der Unfallchirurg, was bei Ben ein Aufstöhnen hervorrief. Oh Gott, er sah sich schon am Schreibtisch versauern! „Die Wunden habe ich alle miteinander angefrischt, damit das Wundsekret ablaufen kann und die große, tiefe Verbrennung auf der Brust habe ich mit einem Hauttransplantat vom Oberschenkel versorgt!“ referierte nun der Operateur noch. Nun war Ben klar, warum er am Oberschenkel an einer Stelle einen Verband und Schmerzen hatte, die vorher völlig unbeschädigt gewesen war. „Wir lassen den Verband auf der Brandwunde auf jeden Fall bis übermorgen drauf, damit wir die neue Haut nicht gleich wieder versehentlich wegreißen und den ersten Verbandwechsel mache ich persönlich!“ erklärte der Chirurg noch und nun trat der urologische Chefarzt, der Ben operiert hatte, mit ernstem Gesicht vor.


    „Leider kann ich noch nicht so viel Positives berichten, wie meine Kollegen. Die Verletzungen des Unterleibs waren schwerer als erwartet. Wir haben uns zwar alle Mühe gegeben, aber ob die Zeugungsfähigkeit noch gegeben ist, wird die Zeit zeigen. Wir mussten mikroskopisch einen Samenleiter rekonstruieren und mehrere unangenehme Begleitverletzungen versorgen. Die Knochen –und Weichteildefekte waren sehr infiziert und wir müssen leider befürchten, dass die Entzündungen auch auf andere Organe übergreifen. Was wir tun konnten, haben wir getan, aber eine sichere Prognose kann ich noch nicht stellen!“ erklärte er. Ben, der zwar am Vorabend vom Intensivarzt schon aufgeklärt worden war, entfuhr trotzdem ein dumpfer Laut. Er kam sich vor, als hätte gerade jemand sein Todesurteil verkündet. Der junge Urologe, der ihn bei der Aufnahme untersucht hatte, sah ein wenig unglücklich drein. Mann sein Chef neigte ein wenig zum Dramatisieren und er persönlich würde die Situation nicht ganz so negativ einschätzen. In den meisten Fällen heilten solche Verletzungen nämlich gut, aber klar war es für den Operateur einfacher, zunächst nicht allzu optimistisch zu sein, dann wurde hinterher niemand enttäuscht, wenn das Ergebnis nicht so ganz optimal war. Aber was er mit diesem verhaltenen Pessimismus gerade seinem jungen Patienten antat, war seinem Chef natürlich mal wieder nicht klar. Für den Polizisten war eine normale Funktionalität all seiner Organe extrem wichtig. Wenn man einem älteren Mann mit erfülltem Kinderwunsch solche Eröffnungen machte, konnte der das vermutlich gelassener sehen, aber Ben, der etwa so alt wie er selber war, stand ja in der Blüte seines Lebens und soweit er erfahren hatte, hatte sich der auch noch nicht reproduziert. Das war für ihn sicher eine große Belastung! Er würde später nochmal in Ruhe mit ihm reden!


    Während die Visite weiter zog, zupfte Ben´s betreuende Schwester ihn am Ärmel. „Dr. Eckert, wir haben die Wundspülungen noch nicht gemacht, weil wir nicht wussten, welche Drainagen genau wir wie spülen sollen!“ flüsterte sie ihm zu. „Ich komme nachher, wenn die Visite zu Ende ist und mache das mit ihnen gemeinsam!“ sagte er ihr zu und folgte dann eilig der Truppe, die schon im nächsten Zimmer verschwunden war.
    Ben lag immer noch wie erstarrt da. Obwohl er ja eigentlich schon erfahren hatte, was bei ihm da unten los war und auch in der Zeit vor seiner Rettung durch die massiven Schmerzen, die Schwellung und die Blutergüsse dort vorgewarnt gewesen war, hatte es ihn trotzdem nochmals schier umgehauen aus der Mund eines Chefarztes die grausame Wahrheit zu erfahren. Insgeheim hatte er wohl gehofft, dass ihm erklärt würde, dass Alles nur ein großes Missverständnis war, sein Befund mit dem eines anderen Patienten verwechselt worden war und er Sarah bitten könnte, zurückzukommen. Aber unter diesen Voraussetzungen war das keiner Frau zuzumuten. Vor ihm lag ein einsames Leben und vielleicht wäre es sogar besser für ihn, das beizeiten zu beenden, bevor er noch andere mit seinem Schicksal belastete.


    In dieser Stimmung fand Semir ihn kurz nach acht vor, als er zu seinem Freund gelassen wurde. „Wie geht´s dir?“ fragte er liebevoll und war erschrocken, welch tiefe Verzweiflung aus Ben´s braunen Augen schimmerte. Der zuckte die Schultern, als er etwas sagen wollte, brach seine Stimme und ohne dass er sie zurückhalten konnte, begannen seine Tränen zu fließen.

  • Semir war mit zwei Schritten bei seinem Freund. „Ben, was ist los?“ fragte er erschrocken.“Hast du so große Schmerzen, oder ist es was anderes?“ wollte er wissen und griff nach Ben´s Hand. Er hätte ihn gerne in den Arm genommen, aber das ging beim besten Willen nicht mit diesen ganzen Schläuchen, Kabeln und Verbänden. Ben klammerte sich wie ein Ertrinkender an Semir´s Hand fest, aber er konnte momentan überhaupt nicht reden, so erschüttert war er nach dieser Visite. Normalerweise hätte er sich zusammengerissen, wenn Besuch gekommen wäre, aber Semir war sozusagen kein Besuch. Er, Andrea, Ayda und Lilly waren seine Familie, sogar seine einzige Familie, seitdem Sarah weg war. Sein Vater und Julia waren zwar seine engsten leiblichen Verwandten und ihr Verhältnis zueinander war schon wieder in Ordnung, im Gegensatz zu früher, aber diese Nähe und dieses Vertrauen, das er zu den Gerkans hatte, war das, was er persönlich als seine Familie bezeichnen würde. Vor Semir, der ihn schon in allen Lebenslagen gesehen hatte, traute er sich, sich gehen zu lassen. Sonst versuchte er meistens cool zu wirken, aber dazu war im Augenblick nicht der Zeitpunkt.


    Semir hielt hilflos Ben´s Hand, wenn er bloß wüsste was los war, aber Ben war gerade nicht fähig zu sprechen, so hatten ihn seine Emotionen überwältigt. Semir´s Gedanken schweiften in die Vergangenheit. So hatte er Ben eigentlich meistens dann erlebt, wenn er eine seiner Freundinnen verloren hatte. Nach Saskia´s Tod hatte er ihn in der Wohnung besucht und da war er ähnlich fertig gewesen und hatte sich die Schuld daran gegeben, dass sie umgebracht worden war. Genauso nach dem grausamen Mord an Laura, die in seinen Armen gestorben war. Sicher hatte es etwas mit der Trennung von Sarah zu tun und langsam begann Semir dem detektivischen Spürsinn seiner Frau zu glauben, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war.Gerade begann Ben sich wieder ein wenig zu fangen, da kamen der junge Urologe, der Ben in der Nacht nach der Einlieferung untersucht hatte und eine Schwester mit dem Verbandswagen um die Ecke. Auf diesem Wägelchen waren alle Dinge enthalten, die man üblicherweise für verschiedene Verbände brauchte. Die Schwester wollte gerade den Besucher hinausschicken, da gebot ihr der Arzt Einhalt. „Einen Moment, Schwester, wir wollen erst unseren Patienten fragen, ob er möchte, dass sein Besuch bei der Wundspülung dabeibleibt, der war auch bei der Aufnahmeuntersuchung an seiner Seite und das hat Herrn Jäger anscheinend sehr gut getan!“ sagte er, denn mitleidig hatte er sofort erfasst, wie fertig sein Patient nach der Visite war. Und jetzt würde er zum Seelenschmerz noch einen körperlichen Schmerz hinzufügen, denn leider würden der Verbandwechsel und die Spülung weh tun, auch wenn man Herrn Jäger natürlich wieder gut Schmerzmittel geben würde, aber es wäre doch keine Narkose.


    Zunächst aber trat er erst einmal zu seinem Patienten und ergriff dessen andere Hand, um einen körperlichen Kontakt und emotionale Nähe herzustellen, wie einem schon im Medizinstudium in den Psychologiepflichtvorlesungen beigebracht wurde. „Herr Jäger, ich weiß, was der Chefarzt ihnen vorhin erzählt hat und natürlich hat er nicht Unrecht mit seinen Ausführungen und Befürchtungen. Allerdings heilen solche Verletzungen nach meiner Erfahrung wesentlich besser, als man im ersten Augenblick erwartet. Der Beckenboden ist sehr gut durchblutet und daher findet eine rege Stoffwechseltätigkeit statt. Natürlich war alles infiziert, aber wir haben das Wundgebiet während der Operation ordentlich gereinigt, halten es jetzt sauber und unter Kontrolle und außerdem bekommen sie ja auch Antibiotika. Im Moment noch ein Breitbandantibiotikum, aber wir haben auch Abstriche entnommen und können, wenn das Keimspektrum damit nicht abgedeckt sein sollte, nach dem Antibiogramm aus dem Labor dann zielgerichtet behandeln. Die Wahrscheinlichkeit, dass andere Organe, wie der Chefarzt befürchtet hat, also in Mitleidenschaft gezogen werden könnten, ist gar nicht so groß. Natürlich war der eine Samenleiter abgerissen und musste rekonstruiert werden, aber für die Fortpflanzung wichtige Organe sind bei Mensch und Tier paarig angelegt und auf der anderen Seite war ja nichts verletzt. Meine persönliche Einschätzung der Situation, ohne natürlich meinem Chef zu nahe treten zu wollen, ist gar nicht so schlecht. Ich würde die Chance, dass da unten wieder alles in Ordnung kommt mit weit über 50% ansiedeln. Allerdings muss ich jetzt gemeinsam mit der Schwester die Drainagen spülen und das wird nicht angenehm werden. Natürlich bekommen sie Schmerzmittel, aber eine Narkose ist wegen so einer Wundspülung nicht indiziert. Wenn sie möchten, darf ihr Freund dabeibleiben, aber wir können ihn jetzt auch rausschicken!“ stellte er Ben vor die Wahl, dessen Tränen inzwischen versiegt waren und der aufmerksam zugehört hatte.


    „Semir soll dableiben!“ entschied Ben und während der Arzt, der inzwischen Ben´s Hand losgelassen hatte, seine Hände desinfizierte, nahm die Schwester schon mal das dünne Laken von Ben, zog die Beinschiene aus dem Bett, ließ ihn eine Brücke machen und legte eine saugfähige Einmalunterlage unter seinen Unterkörper. Ben hatte nun ein wenig zu zittern begonnen, teils vor Kälte-anscheinend stieg gerade sein Fieber wieder- und teils vor Aufregung. Oh je, was stand ihm jetzt wohl bevor? Wenn Ärzte sagten, das würde nicht angenehm, dann würde das wohl ein wenig mehr als unangenehm werden. Ben atmete noch einmal tief durch und ließ die Sache, die nun gemacht werden musste, über sich ergehen.

  • Als die Spülung und der Verbandwechsel erledigt waren, war Ben vor Erschöpfung und als Nebenwirkung der Opiatgabe, die dringend notwendig gewesen war, eingeschlafen. Semir sah ihn ein wenig ratlos an. Eigentlich hatte er mit ihm über Sarah sprechen wollen, aber das war nun sichtlich gerade nicht möglich. Nach einem Blick auf die Uhr, beschloss er, nun erst einmal in die PASt zu fahren. „Richten sie ihm bitte aus, dass ich zur Arbeit gefahren bin, aber abends nochmal kurz vorbeikomme!“ bat Semir die Schwester, die versprach Ben das auszurichten.


    Semir, der noch ganz aufgewühlt vom Anblick der Operationswunden bei seinem besten Freund war, fuhr nachdenklich durch den morgendlichen Kölner Berufsverkehr. Normalerweise machte ihn Stau furchtbar ungeduldig, aber heute stellte er sich klaglos hinein, so hatte er noch ein wenig Zeit, über das Erlebte nachzudenken. Das musste schrecklich sein, wenn man da unten so schwer verletzt war, dass man vielleicht nie mehr Kinder zeugen konnte. Moment mal, hing das vielleicht mit der Trennung von Sarah zusammen? Aber egal-er konnte das im Augenblick nicht herausfinden und außerdem wollte er aus Ben´s eigenem Mund die Beweggründe hören, denn bei so einem sensiblen Thema konnte man eine Menge Schaden anrichten, wenn man das Falsche tat oder sagte! Auf jeden Fall mussten die beiden, noch nicht verhafteten Quäler festgenommen werden. Auch wenn es Ben nicht gesund machte, aber die sollten während einer langjährigen Haftstrafe darüber nachdenken, was sie wohl verkehrt gemacht hatten!


    In dieser Stimmung bog Semir in den Hof der PASt ein. Er wurde von Frau Krüger schon erwartet. Sie hätte auch mit jemand anderem losziehen können, die Täter zu verhaften, aber wie sie morgens mit Semir schon telefonisch vereinbart hatte, würde sie warten. Er hatte es verdient, die Genugtuung zu spüren, wenn sich die Zellentür hinter den Folterern seines Freundes schloss! Frau Schrankmann hatte am Vortag die Haftbefehle persönlich vorbeigebracht. Sie war ganz blass um die Nase gewesen und hatte zur Krüger gesagt: „Mein Gott, wie schrecklich! Ich bin ja sicher abgebrüht und manchmal auf Herrn Jäger nicht so gut zu sprechen, aber dass Menschen anderen sowas antun können, ist entsetzlich! Wie geht´s Herrn Jäger denn?“ fragte sie und die Chefin musste die Schultern zucken. „Ich habe keine neueren Informationen!“ sagte sie. „Er wurde operiert und liegt in der Kölner Uniklinik auf der Intensivstation, mehr kann ich ihnen nicht sagen." „Wenn man ihn besuchen kann, sagen sie mir bitte Bescheid, damit ich auch kurz bei ihm vorbeischaue!“ bat sie die Chefin, die sich insgeheim dachte, dass das bei Ben wohl keinen Anlass zu großer Freude geben würde. Es wäre sicher auch besser, er wüsste nicht, wer die Videos alles gesehen hatte, denn das würde ihn vermutlich nochmals runterziehen, ihr würde es zumindest unangenehm sein. Aber das waren eben auch Beweismittel und man musste das zwar mit der notwendigen Sensibilität handhaben, aber unter den Tisch fallen, konnte man sie deshalb nicht lassen. Außerdem wäre Ben vermutlich jetzt tot, wenn Semir und Hartmut nicht so einen Riecher gehabt und über die Videos seinen Aufenthaltsort herausgefunden hätten.


    So wartete sie also schon ungeduldig auf das Erscheinen Semir´s. Kaum betrat er das Büro, wurde er von allen Seiten bestürmt: „Wie geht´s Ben?“ wollten die ganzen Kollegen wissen. Semir machte ein ernstes Gesicht: „Nicht so gut, immerhin er lebt, aber er ist schwer verletzt und wird sicher lange brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen!“ erklärte er. Susanne, die ebenfalls mit versteinertem Gesicht hinter ihrem PC saß, fragte leise: „Aber er wird wieder ganz gesund?“ denn sie konnte auch nicht mehr richtig schlafen, seitdem sie die Foltervideos gesehen hatte, die man den anderen Kollegen natürlich nicht gezeigt hatte. Semir sah sie traurig an und erwiderte: „Ich weiß nicht!“ und Susanne schloss einen Moment verzweifelt ihre Augen.Die Chefin hatte die Jacke ihres schicken Kostüms genommen und stand nun abfahrtbereit in der Tür, unter dem Arm die Mappe mit den beiden Haftbefehlen. „Wollen wir, Herr Gerkan?“ fragte sie freundlich und Semir drehte sich auf dem Absatz um, seine Miene wurde ernst und mit entschlossenem Gesichtsausdruck sagte er: „Jetzt werden wir die Täter festnehmen und Ben so wenigstens ein kleines bisschen rächen!“ und damit machten sie sich auf den Weg zum BMW.


    Wenig später standen sie vor der Geschäftsadresse des ersten Täters, die Susanne ermittelt hatte. An der Rezeption zeigten sie ihre Ausweise. „Wir hätten gerne mit Herrn Kaul gesprochen!“ sagten sie zur Dame am Empfang, die mit arrogantem Gesichtsausdruck begann, in ihren PC zu sehen. „Moment, ich schaue, wann er noch einen Termin frei hat, oh tut mir leid, aber die nächsten zwei Tage ist das leider nicht möglich!“ sagte sie blasiert. Als sie nun allerdings aufblickte, erschrak sie beinahe, denn der Blick, den ihr Semir zuwarf, hätte Eisen zum Schmelzen gebracht. „Wenn sie uns jetzt nicht sofort sagen, wo er ist, werden wir sie wegen Behinderung der Polizei festnehmen und dann können sie im Kittchen darüber nachdenken, was das Vernünftigste wäre!“ sagte Semir drohend und nun wies die junge Frau eingeschüchtert nach hinten. Da stand an einer Tür: " Chefsekretariat" und Semir riss die Tür auf, um einer ebenso aufgetakelten, bildhübschen Frau gegenüber zu stehen, die ihn mit hochgezogener Augenbraue verächtlich musterte. „Wo ist Herr Kaul?“ fragte er und gerade wollte sie anheben zu fragen, was er für eine Unverfrorenheit besitze, einfach so in ihr Büro zu platzen, da hatte Semir schon die zweite Tür entdeckt, die ins Büro des Geschäftsmanns führte.Mit zwei Schritten war er dort, öffnete die Tür und sah auf den Mann, den er auf dem Video in der Kluft eines Folterknechts in Aktion gesehen hatte. Eine unbändige Wut erfüllte ihn und am liebsten wäre er über den Schreibtisch gehechtet und hätte ihm eine blutige Nase verpasst, nur so zur Einstimmung. Dann aber spürte er eine Hand am Ärmel und als er ein wenig zur Seite sah, erblickte er Frau Krüger, die ihm mit einer Handbewegung bedeutete, Ruhe zu bewahren. Sie holte ihre Mappe hervor und sagte: „Sind sie Herr Robert Kaul?“ und der nickte ein wenig verblüfft. Normalerweise gingen die Beamten der Steuerfahndung diskreter vor, da war mal wieder ein Rüffel an geeigneter Stelle notwendig. Man konnte da immer mal ein Wörtchen fallenlassen, wenn man mit dem Polizeipräsidenten beim Golfen war!


    „Herr Robert Kaul, ich verhafte sie hiermit wegen des dringenden Tatverdachts der schweren Körperverletzung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung an einem Polizisten!“ sagte sie eisig und nun fiel Kauls Fassade zusammen. Ach du lieber Himmel! Berghoff war doch tot, wie er aus der Presse erfahren hatte, wie waren sie nur auf seine Spur gekommen. Semir war inzwischen um den Schreibtisch herumgegangen. „Stehen sie auf!“ sagte er mit mühsamer Beherrschung zu seinem Gegenüber. Der erhob sich und Semir war es eine Genugtuung, die Handschellen um die Handgelenke zuschnappen zu lassen. Grob packte er Kaul am Arm und führte ihn vor allen Augen, vorbei an den blasierten Vorzimmerdamen, zum BMW. „Das hat man davon, wenn man einen Polizisten foltert!“ sagte er laut im Hinausgehen und die entsetzten Blicke der Damen waren ihm die reinste Genugtuung.

  • In der PASt angekommen, steckten sie Kaul erst mal in die Zelle. „Da soll er erst einmal ein wenig nachdenken, warum er unser Gast ist-inzwischen holen wir uns die feine Dame, die vor lauter Charity nicht weiss, wie sie ihren Tag rumbringen soll!“ beschloss die Chefin. Semir bedachte sie mit einem Lächeln. Hatte er da die gleiche Wut und Entschlossenheit in ihrer Stimme wahrgenommen, die auch ihn umtrieb? Es war ihm eine Genugtuung gewesen, Kaul vor seinen arroganten Vorzimmerdamen festzunehmen. Wer andere Menschen so geringschätzte, dass er sie quälen konnte, der hatte es nicht anders verdient!


    Wenig später saßen sie wieder im BMW und waren unterwegs zu der Adresse, die Susanne herausgefunden hatte. Als sie an der riesigen Stadtvilla in bester Kölner Wohnlage läuteten, öffnete ihnen eine verhärmt aussehende, ältere Frau in schwarzem Kleid mit weisser Rüschenschürze. Semir musste die Augen zweimal schliessen und wieder aufmachen. War er schon wieder mal im vergangenen Jahrhundert gelandet? Er hatte ja gehofft, dass das bei Berghoff eine Ausnahme sei, aber anscheinend war das in höheren Kreisen normal, sein Personal zu erniedrigen und auszustaffieren, wie für einen Kostümfilm aus dem 19. Jahrhundert!
    „Könnten wir bitte mit Frau Eder sprechen?“ fragte Semir freundlich.Nach einem kurzen Zögern sagte die ältere Frau: „Tut mir leid, aber die gnädige Frau ist nicht da!“ Semir und die Chefin holten nun ihre Ausweise aus der Tasche und stellten sich vor. „Gerkan und Krüger, Kripo Autobahn! Würden sie uns dann bitte sagen, wo wir sie finden können? Wir haben nämlich einen Haftbefehl für sie! “sagte Semir knallhart, denn es war ja egal, wenn das Personal das erfuhr, das war eine rechtlich einwandfreie Sache und wenn jemand ein Verbrechen beging, musste er auch dafür einstehen. Die Frau schluckte und sagte zögernd: „Vielleicht ist sie im Fitnesstudio, wir haben zwar hier im Haus auch einen Trainingsraum, aber manchmal geht sie dahin, die haben nämlich einen sogenannten VIP-Bereich!“ Frau Krüger sagte ungeduldig: „Die Adresse bitte, wir haben nicht den ganzen Vormittag Zeit!“ und die Angestellte gab sie ihnen.
    Während sie zum angegebenen Studio in Lindenthal fuhren, sagte Semir nachdenklich: „Irgendwie war diese Frau ganz verschreckt, mich würde interessieren warum!“ und die Chefin erwiderte: „Glauben sie, dass die Eder zu ihrem Personal anders ist? Jemand der ein Vergnügen daran findet, andere Menschen, oder auch Tiere zu quälen, ist doch immer rücksichtslos und ihm fehlt es an Mitleid und Empathie. Für so jemanden zu arbeiten, muss nicht lustig sein!“ sagte sie und Semir erwiderte: „Da könnten sie Recht haben!“


    Nach gut halbstündiger Fahrt mit Stau kamen sie an dem angegebenen Club an. Sie liessen sich zum Geschäftsführer bringen, da der Einlass nur mit Karte möglich war. Ein Otto Normalverbraucher kam dort schon gar nicht rein. Während sie durch ein paar Fitnessräume geführt wurden, musterte Semir neugierig die Trainierenden. Da waren viele Gesichter dabei, die er aus der Presse, oder von Sendungen von RTL her kannte. Moderatoren, Schauspieler, Politiker-er wollte gar nicht wissen, was da der Jahresbeitrag kostete. Auffällig war auch, dass eine Menge Fitnesstrainer und Trainerinnen herumwuselten, jeder einzelne gutaussehend und durchtrainiert. Na klar, die Créme de la Créme würde sich nicht mit hässlichen Menschen umgeben, man wollte schliesslich auch was fürs Auge haben !Der Geschäftsführer begrüsste sie freundlich in seinem Büro. „Was führt sie zu mir?“ fragte er und Semir sagte wieder gnadenlos: „Wir haben einen Haftbefehl für eine ihrer Kundinnen, Melissa Eder, ist die da?“ fragte er und der Geschäftsführer bat sie, kurz zu warten. „Einen Moment bitte, ich schaue mal, ob sie heute schon eingecheckt hat.“ sagte er und rief ein Computerprogramm auf. Nach einem kurzen Blick darauf informierte er sie: „Nein, sie war zum letzten Mal vorgestern da!“ und Semir und die Chefin bedankten sich. Semir gab ihm seine Karte: „Falls sie kommen sollte, rufen sie mich bitte an!“ bat er und während er sie persönlich hinausgeleitete, versicherte ihnen der etwas geschockte Mann, sie natürlich sofort zu verständigen. Mein Gott, war er froh, dass da keine Polizisten in Uniform erschienen waren, das hätte dem Club und seinem Image sehr geschadet. Als Semir und die Chefin draussen waren, wischte er sich den Schweiss von der Stirn und ging wieder seiner Arbeit nach.


    Als Semir und Frau Krüger im Freien waren, begann Semir´s Magen laut und vernehmlich zu knurren. „Wie wär´s Chefin, sollen wir was essen gehen?“ fragte er und nach kurzem Zögern stimmte ihm die Krüger zu. „Wohin?“ wollte er wissen. Die Chefin sagte nach kurzer Überlegung: „Dorthin, wo sie jetzt mit Ben hingehen würden!“ und Semir lenkte den BMW nach kurzer Überlegung zu einem Dönerstand in der Nähe, wo er und Ben gelegentlich Pause machten. Während Semir genüsslich in den Döner mit allem biss, musterte die Chefin, die sich das Gleiche bestellt hatte, misstrauisch das belegte Fladenbrot. Dann biss sie allerdings herzhaft hinein und war begeistert. Nachdem sie beide ihre Portion verdrückt hatten, sagte die Chefin: „Das war köstlich!“ und Semir nickte lächelnd. Das hätte Ben jetzt auch geschmeckt, aber mit dem verdrahteten Kiefer würde das vermutlich noch eine Weile dauern, bis der sowas wieder essen konnte. Die Chefin fügte dann noch hinzu: „Das war nämlich mein erster Döner!“ und jetzt war es an Semir, sie fassungslos anzustarren.
    Nach einem Blick auf die Uhr-es war kurz nach eins inzwischen- beschlossen sie, nochmals zum Haus der Eders zu fahren. Wenn sie ihre Täterin diesmal nicht antreffen würden, würde sie zur Fahndung ausgeschrieben und den Ehemann würde man auch verständigen.


    Als die beiden Polizisten das Haus verlassen hatten, war die Angestellte zu ihrer Chefin geeilt, die mit einer dunklen Augenbinde mit innenliegenden Coolpads auf dem Bett lag. Der Vorabend auf einer Charityveranstaltung war lang und feuchtfröhlich gewesen. Ihr Kopf brummte, vielleicht würde sie auch wieder eine Migräne kriegen! Na ja, ganz sicher zumindest, wenn ihr Mann Sex von ihr wollte, was sie zur Zeit gar nicht aushalten konnte. Seitdem sie diesen gutaussehenden, dunkelhaarigen Mann gequält hatte, verzehrte sie sich nach dessen Körper. Sie wollte ihn weiter quälen, sehen, wie er schrie und litt und alleine bei dem Gedanken an dieses Hochgefühl, begann es zwischen ihren Beinen zu kribbeln. Sie malte sich aus, was sie noch mit ihm anstellen würde, allerdings würde es schwer werden, an ihn ranzukommen, denn sie hatte von Berghoffs grausamem Tod in der Zeitung gelesen. Aber vielleicht sollte sie einfach noch mal zur Burg fahren? Man hatte soweit nichts gehört, vielleicht war ihr Opfer noch dort und sie konnte ihn ganz für sich alleine haben? Gerade, als sie sich anziehen und auf den Weg machen wollte, stand ihre Angestellte schreckensbleich vor ihr: „Gnädige Frau, soeben ist etwas Schreckliches passiert!“ sagte sie und nun richtete sich Melissa erschrocken auf.

  • „Maria, was ist passiert?“ fragte Melissa erschrocken. Maria war schon als Angestellte im Hause ihrer Eltern beschäftigt gewesen, als sie noch Kind gewesen war. Ihre leibliche Mutter war sehr beschäftigt gewesen und hatte deswegen die Versorgung ihrer eigenen Tochter vertrauensvoll in die Hände des damals gerade 18jährigen Dienstmädchens gelegt, die Melissa von Anfang an versorgt hatte. Maria hatte nie geheiratet, sie hatte nur eine Schwester, mit der sie eher losen Kontakt pflegte. Melissa kannte sie besser, als ihre richtige Familie und als sie geheiratet hatte, war das eine Bedingung an ihren Mann gewesen, dass Maria mitkam. Sie hatte auf dem Gelände im ehemaligen Pförtnerhaus der Stadtvilla eine eigene Wohnung, aber sie lebte nun seit über 40 Jahren mit und für Melissa, versorgte sie, nahm ihr Arbeit ab, damit die den Rücken frei hatte, aber dabei blieb sie immer devot-sie wusste, wer ihre Brötchen bezahlte!


    "Soeben war die Polizei da und wollte sie sprechen, gnädige Frau!“ beantwortete Maria die gestellte Frage. „Melissa versuchte gelassen zu wirken. „Und-was wollten sie denn?“ fragte sie und Maria sagte entsetzt: „Sie hatten einen Haftbefehl für sie dabei!“ und nun wich alles Blut aus Melissas Gesicht. Verdammt, Berghoff war tot, war vielleicht ihr Opfer befreit worden und hatte gegen sie ausgesagt? Sie hatte sich so sicher gefühlt und eigentlich gedacht, dass Berghoff Vorkehrungen getroffen hätte, um ihre Identität zu schützen, wie er ihr glaubhaft versichert hatte. Insgeheim hatte sie gewusst, dass er den Mann nicht mit dem Leben davonkommen lassen konnte, aber das hatte sie zur Befriedigung ihrer Triebe in Kauf genommen. Ehrlich gesagt hatte sie gehofft, sie würde nochmals zum Zug kommen, bevor der eliminiert würde, aber sie hätte nicht gewusst, wie sie nochmals 300.000 € von ihrem Mann rausleiern könnte. Sie hatte ihm vorgeschwindelt, dass sie damit ein Charityprojekt unterstützen würde und er hatte daraufhin sein Scheckbuch gezückt und ihr die Summe angewiesen, er wusste, wie er seine Frau glücklich machen konnte.Wenn nun allerdings herauskommen würde, was sie mit ihrem Opfer getan hatte, wäre ihr Leben in diesem Stil verwirkt. Sie wusste, dass sich ihr Gatte sofort von ihr trennen würde. Ihre Beziehung bestand auch noch nie aus Liebe, sondern sie wollte endlich reich sein und er hatte ihr was bieten können, deshalb hatte sie ihn geheiratet und für ihn war sie ein Vorzeigeobjekt, das mit ihrem guten Aussehen und ihren vollendeten Umgangsformen gut in seine Kreise passte und fürs Bett hatte er auch etwas gewollt. Sonst lebten sie eher nebeneinander her und führten jeder sein eigenes Leben. Seines geprägt von Arbeit, Macht, Geld und Erfolg und ihres von einer inneren Leere, die sie mit Shopping, Sport und eben öffentlichen Auftritten an seiner Seite zu füllen versuchte.


    Sie war auch schon länger in psychologischer Behandlung bei einem Nobelpsychiater, der sich die Gespräche und die Rezepte für die Psychopharmaka teuer bezahlen liess. Schon von klein auf hatte sie sich nur richtig wohl gefühlt, wenn sie jemanden erniedrigen konnte. Wenn eine Klassenkameradin wegen ihr in Tränen ausgebrochen war, hatte sie sich frei gefühlt. Macht über andere Menschen war es, was sie haben wollte.
    Irgendwann hatte sie dann begonnen, auch körperlich Andere zu quälen und es gab da auch in höheren Kreisen eine diskrete Sado-Maso-Szene, die genau das bediente. Mit ein bisschen Kleingeld fand man willfährige Opfer, allerdings gab es da Grenzen und mit jeder Sitzung war sie gieriger auf mehr geworden, auf tabulosen Sadismus, auf Quälereien, die richtige Schäden an den Opfern hinterliessen und in dieser Phase war sie durch Empfehlung auf das Forum und Berghoff gestossen. Wenn das aber nun öffentlich wurde, bekam sie nie mehr einen Fuß auf den Boden, dann wollte sie nicht mehr leben!


    In ihrem Kopf reifte ein Plan und sie überlegte fieberhaft, wie sie Maria loswerden konnte, ohne dass die Verdacht schöpfte. „ Maria, du musst mir helfen!“ bat sie dann und wusste schon, dass Maria ihr jeden Wunsch erfüllen würde. Diese Frau, die der Mensch in ihrem Leben war, die ihr am nächsten stand, würde alles tun, was sie ihr auftrug-so war es schon gewesen, seit Melissa denken konnte. „Pack mir schnell einen Koffer mit dem Nötigsten und bring ihn zum Flughafen. Ich muss eine Weile verschwinden. Ich versuche da heimlich hinzukommen, aber mit Gepäck falle ich auf. Wir treffen uns in zwei Stunden dort, ich ruf dich dann an, wo wir die Gepäckübergabe machen!“ befahl sie und Maria begann sofort in Windeseile für sie zu packen. Melissa ging derweil ins Bad und begann sich sorgfältig herzurichten. Eigentlich wäre es ja jetzt egal, wie sie aussah, aber nach alter Gewohnheit trug sie sorgfältig Schminke auf und richtete sich. Maria war derweil mit dem Packen fertig geworden und stand aufgeregt vor ihr. Sie gab ihr 100€ und sagte: „ Fahr bitte mit öffentlichen Verkehrsmitteln, es würde auffallen, wenn wir ein Taxi bestellen. Ich setz mich irgendwohin ab, wo es schön ist und lasse dich dann nachkommen!“ und Maria, die immer schon naiv gewesen war, glaubte ihr das unbesehen. Sie fragte auch nicht nach, warum ihre Chefin, die eben auch wie eine eigene Tochter für sie war, untertauchen musste und wegen was ein Haftbefehl ausgestellt worden war, wichtig war, dass sie zusammenblieben, alles weitere war ihr egal. Sie würde auch irgendwo in Südamerika glücklich sein, solange sie bei Melissa blieb.


    Als Maria kurze Zeit später das Haus verlassen hatte, ging Melissa mit schweren Schritten an ihren Medikamentenschrank, nahm zwei Packungen heraus, schenkte sich Wein in ein Saftglas und begann Tablette um Tablette zu nehmen. Als die beiden Packungen leer waren, trank sie die restliche Flasche Wein aus-ein teurer Chablis- legte sie sich auf ihr Bett, schloss die Augen und wartete darauf, dass es vorbei war.


    Semir und die Chefin waren derweil wieder an der Villa des Grossindustriellen Eder angekommen. Nun war sogar das schmiedeeiserne Außentor geschlossen, zwei Stunden vorher hatten sie noch in den Innenhof fahren können. Auf ihr Läuten rührte sich diesmal nichts und gerade als Semir das Tor musterte und in Erwägung zog, da rüberzuklettern und sich drinnen umzusehen, kam ein älterer Mann, der gerade seinen Dackel spazieren führte, näher und sagte: „Da ist vorhin gerade eine Frau mit einem grossen Rollkoffer herausgekommen und zur Strassenbahnhaltestelle gelaufen!“ Er hatte das Fahrzeug als Polizeifahrzeug identifiziert und war ein rechtschaffener Bürger, der seine Umgebung im Auge behielt. „Mist, sie ist abgehauen!“ sagte Semir wütend und ging sofort ans Funkgerät, um eine Fahndung nach Melissa Eder herauszugeben. „Die Flughäfen und Bahnhöfe überwachen, sie darf uns nicht entkommen!“ wies er die Zentrale an. Die Chefin liess sich von dem aufmerksamen Nachbarn noch erklären, wo sie die Firma von Melissas Mann finden konnten und nun machten sie sich erst mal auf den Weg zu ihm, um ihn ein wenig über seine Frau aufzuklären und herauszufinden, ob er mit dieser Geschichte was zu tun hatte.


    Ben war inzwischen wieder wach geworden. Er versuchte die ganze Zeit den Anblick seines Unterkörpers, den er beim Verbandwechsel hatte sehen können, aus seinen Gedanken zu verdrängen, aber es gelang ihm nicht. Obwohl die Schmerzen gerade erträglich waren, starrte er blicklos die Wand an und fühlte eine schreckliche innere Leere. Er ließ sich versorgen und betten, antwortete auch einsilbig auf die Fragen des Pflegepersonals, aber sonst hatte er das Gefühl, dass ein Teil seiner selbst gestorben war. Semir und Hartmut waren zu früh gekommen, jetzt hätte er es schon hinter sich!

  • Sarah war in den Spätdienst gegangen. Als ihre Kollegen sie bei der Übergabe mitleidig musterten-sie sah nämlich alles andere als frisch aus-wehrte sie gutgemeinte Aufmunterungsversuche unwirsch ab. Sie ging wenig später zu ihren Patienten und begann die routiniert und liebevoll zu versorgen. So konnte sie sich ein wenig ablenken, auch wenn sie immer wieder daran denken musste, dass Ben jetzt nur ein Stockwerk tiefer, auf der operativen Intensivmedizin, vermutlich vor sich hinlitt. Aber er hatte sie abserviert und wollte sie nicht mehr sehen und sie war nicht der Typ, der einem Mann nachlief. Das hatte sie einmal in ihrem Leben getan, als ihr voriger langjähriger Freund sie verlassen hatte und sie ihn danach in seiner Wohnung noch zu einem Gespräch hatte besuchen wollen, weil sie immer noch starke Gefühle für ihn gehegt hatte. Er war in der Tür gestanden und hatte so komisch rumgetan, dass er sie nicht reinlassen könne und nach einer Weile war eine Frau, die sie jahrelang als Freundin bezeichnet hatte, nur mit einem Handtuch bekleidet, von hinten dazugetreten und hatte frech gefragt, ob er jetzt endlich wieder ins Bett kommen würde. Danach hatte sie erfahren, dass er schon längere Zeit zweigleisig gefahren war und sie hatte nichts bemerkt. Nie wieder würde sie einem Typen nachlaufen hatte sie sich damals geschworen!


    Frau Krüger und Semir waren inzwischen in der Firma Eder angekommen. Als sie zu dem kleinen, dicklichen Mann geführt wurden, der nach Geld und Macht roch, blickten sie sich kurz an. Er passte so gar nicht zu der grossen, schlanken, gutaussehenden Frau, die sie auf dem Video gesehen hatten. Trotzdem ergriff diesmal die Krüger das Wort: „Herr Eder, wissen sie, wo ihre Frau ist?“ wollte sie wissen, aber ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. „Was sie untertags macht, entzieht sich meiner Kenntnis. Sie muss lediglich abends, wenn ich nach Hause komme , anwesend sein, untertags kann sie tun und lassen, was sie will!“ gab er ihnen kurz Bescheid. „Was sie da so treibt, ist aber leider nicht so erfreulich!“ mischte sich nun Semir ein. „Wir haben einen Haftbefehl für sie, aber sie war angeblich nicht zu Hause, als wir sie festnehmen wollten, ein Nachbar hat dann beobachtet, dass kurz nach unserer Abfahrt-wir haben im Fitnessclub nachgesehen-eine Frau im Cape mit einem Rollkoffer Richtung Strassenbahn gelaufen ist. Können sie sich vorstellen, wohin sie geflohen ist?“ wollte er nun wissen. Eder schüttelte den Kopf: „Das ist ja unerhört, aber darf ich erst mal erfahren, warum sie einen Haftbefehl für sie haben?“ stellte er die Gegenfrage. „Sie hat einen unserer Kollegen grausam gefoltert, der nun in kritischem Zustand im Krankenhaus liegt. Wir haben Videoaufnahmen ihrer Tat, also brauchen wir uns jetzt gegenseitig nichts vormachen. Wir haben bereits eine Fahndung herausgegeben, wir werden sie über kurz oder lang schnappen!“ erklärte Semir schonungslos. Eder schwieg erst betreten. „Wenn sie sie gefasst haben, geben sie mir Bescheid, ich werde sofort die Scheidung einreichen!“ sagte er dann. „Ich bin bekannt für mein soziales Engagement, sowas ist ja schrecklich für mein Image, mit dieser Frau will ich nichts mehr zu tun haben!“ sagte er mit Abscheu und während sie sich verabschiedeten, griff er schon nach seinem Telefon, um seinen Anwalt anzuweisen, die nötigen Schritte wegen der Scheidung zu unternehmen. Semir drehte sich noch kurz um.“Hätten sie uns noch die Handynummer ihrer Frau?“ fragte er dann und Eder gab sie ihm sofort. Susanne könnte die zwar anderweitig auch herausfinden, aber so war es einfacher. Bereits im Auto nahmen sie Kontakt mit Susanne auf, aber auch die konnte das Handy nicht orten, das war anscheinend, wie seine Besitzerin, spurlos verschwunden.


    Maria hatte eine ganze Weile am Flughafen gewartet. Sie war voller Aufregung und Sorge, aber Melissa kam und kam nicht. Mehrmals versuchte sie ihre Chefin und Ziehtochter anzurufen, aber da ging nicht einmal die Mailbox ran. Maria hatte ein ganz schlechtes Gefühl und irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie brachte den Koffer in die Gepäckaufbewahrung und machte sich nun ohne Ballast auf den Weg zurück. Kurz entschlossen nahm sie ein Taxi, wenn Melissa das nicht erstatten würde, wäre es ihr auch egal, sie hatte genug Geld angespart, in den langen Jahren ihrer beruflichen Tätigkeit. Geld das ihr selbst gehörte, während Melissa zwar aus dem Vollen schöpfte, aber finanziell völlig von ihrem Mann abhängig war. Als sie die Haustür aufsperrte fiel ihr Blick an die Garderobe. Melissas Mantel hing dort und mit einem schrecklich unguten Gefühl eilte sie ins Schlafzimmer und fand ihre Chefin leblos auf dem Bett liegend vor, neben sich eine leere Flasche Wein und zwei Tablettenschachteln. Mit einem Aufschluchzen stürzte sie sich auf Melissa, stellte aber fest, dass die durchaus noch am Leben war und einen kräftigen Puls hatte. Sie drehte sie auf die Seite-so viel wusste sie noch von ihrem Erste Hilfe-Kurs-und wählte dann mit zitternden Fingern den Notruf.


    Semir und die Chefin hatten inzwischen beschlossen, erst einmal Kaul zu verhören und auf einen Zufall zu hoffen, dass man Melissa Eder aufspüren konnte. Sie hatten gehofft, dass ihnen Eder irgendwelche Hinweise geben könnte, aber dem war auch nicht eingefallen, wohin seine Noch-Frau vielleicht untertauchen wollte. Allerdings hatte er ihnen versichert, dass er sie in jeder Form unterstützen würde und sich von den Taten seiner Frau streng distanzierte. Sogar nach dem Opfer hatte er sich erkundigt und finanzielle Hilfe angeboten, falls es nötig wäre. Der war ein Geschäftsmann durch und durch, auf seinen Ruf bedacht, aber an seiner Frau lag ihm anscheinend überhaupt nichts, wenn der sie, ohne zuvor mit ihr gesprochen zu haben, fallen liess, wie eine heisse Kartoffel.Die Chefin und Semir liessen Kaul in den Verhörraum bringen, aber das Einzige, was er sagte war: „Ich möchte bitte sofort meinen Anwalt sprechen!“ und sonst war nichts aus ihm herauszubringen. Man liess ihn den Anwalt anrufen, der versprach, in einer Stunde in der PASt zu sein und nun schrieb Semir erst einmal Berichte und die Chefin widmete sich anderer administrativer Tätigkeiten, während sie auf das Eintreffen des Staranwalts warteten.Hartmut rief wenig später auch noch an und teilte ihnen mit, dass er auf Berghoffs Computer noch andere Entdeckungen gemacht habe und man einen grösseren Skandal in Kölns besseren Kreisen nicht verhindern könne. Da waren Ausschnitte aus anderen, wohl sexuell motivierten, Foltervideos in historischen Kostümen zu finden gewesen, mit denen Berghoff in einem gewissen „Vergangenheitsforum“ für seine verschwiegenen Dienste geworben hatte. „Vielleicht sollten wir da jemanden einschleusen, damit wir auch gerichtlich verwertbare Beweise kriegen! Wie wär´s mit dir, Hartmut?“ fragte Semir und nach kurzem Zögern stimmte der zu. Na da hatten sie ja noch so einiges vor in nächster Zeit!


    Konrad Jäger war von Semir informiert worden, nachdem man Ben gefunden hatte. Er hatte sich selber beruhigt, dass man am OP-Tag wohl besser niemanden besuchte, aber am nächsten Nachmittag hatte er sowieso einen Termin in Köln. Er schaute kurz im Krankenhaus vorbei und war erschrocken, wie schlecht Ben aussah. Nicht nur die Verbände, soweit er sie sehen konnte und der geschwollene, blutunterlaufene Kiefer waren furchtbar, sondern auch die Hoffnungslosigkeit, die sein Sohn ausstrahlte, machten ihm Angst. Er machte sich selber die höchsten Vorwürfe, denn Semir hatte ihm knapp erklärt, dass Ben von seinem Geschäftsfreund gekidnapped und gefoltert worden wäre. „Ben, wenn ich gewusst hätte, dass Berghoff so einer ist, dann hätte ich dich doch nie zu dem Dinner mitgenommen!“ sagte er hilflos, aber Ben drehte nur den Kopf auf die Seite, sagte: „Ist schon gut,Papa!“ und schloss dann die Augen. Nachdem eine viertel Stunde keiner mehr was gesagt hatte und das Schweigen immer bedrückender wurde-Konrad bemerkte nämlich durchaus, dass Ben nicht schlief-erhob sich Konrad und verabschiedete sich unbeholfen. Was sollte er nur tun? Aber er war seinem Sohn nicht so nah, als dass der mit ihm wirklich sprechen wollte. Konrad beruhigte sich selbst damit, dass Ben ja jetzt eine nette Freundin hatte und ausserdem auch Semir als langjähriger Freund und Kollege sich um ihn kümmern würde. Mit einem hilflosen Blick zurück verliess er die Intensivstation und machte sich auf den Weg zu seinem Geschäftstermin.

  • Kurze Zeit, nachdem Maria den Notruf abgesetzt hatte, kam der Notarzt mit den beiden Rettungssanitätern. Er stellte fest, dass seine Patientin zwar nicht ansprechbar war, aber durchaus Schutzreflexe aufwies. Er nahm die beiden leeren Medikamentenpackungen mit, warf einen Blick auf die leere Flasche Wein und nahm Melissa mit in die Uniklinik. Eine Intubation wäre nur nötig, wenn der Hustenreflex ausfiel, allerdings musste man nun den Giftnotruf kontaktieren, welche Maßnahmen man wegen der Überdosis des Psychopharmakums ergreifen musste, aber das würde man im Krankenhaus eruieren. „Wissen sie zufällig, wie viele Tabletten noch in dieser Schachtel waren?“ fragte der Notarzt Maria und die überlegte, wann sie in der Apotheke gewesen war. „So etwa 10 Stück!“ antwortete sie dann und der Notarzt vermerkte das in seinem Protokoll. Die andere Schachtel waren Schlaftabletten, die Melissa zwar in Verbindung mit dem Alkohol momentan ausgeknockt hatten, die aber folgenlos abgebaut werden würden.In der Uniklinik wurde Melissa aufgenommen und der Giftnotruf angerufen. Die empfahlen wegen der Überdosis des Psychopharmakums, das Herzrythmusstörungen hervorrufen konnte, eine 48- stündige Intensivüberwachung und so bekam wenig später Sarah auf ihrer kardiologischen Intensivstation einen tief schlafenden, betrunkenen Zugang.Nachdem Sarah Melissa verkabelt hatte, sah sie voller Mitleid auf die Frau, während sie die Infusion aufhängte. Was bei der wohl schiefgelaufen war, dass sie sich das Leben nehmen wollte? Nachdem das EKG im Augenblick unauffällig war, hatte Melissa nur eine Infusion mit Vollelektrolytlösung laufen und ihre Herztätigkeit, die Sättigung und der Blutdruck wurden überwacht. Sarah ging weiter zu ihrem nächsten Patienten, man würde sehen, wann ihr Neuzugang aufwachte.
    Maria hatte derweil im Eder´schen Haus alles aufgeräumt, als wenn nie etwas geschehen wäre. Sie hatte ihre eigene Handynummer als Kontakt hinterlassen. Später würde sie einmal zur Klinik fahren, aber zuvor musste sie überlegen, wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte. Hoffentlich konnte man ihre Ziehtochter retten, aber vermutlich würde die sich der Justiz ohne ihre Hilfe nicht entziehen können.


    Die Krüger und Semir hatten inzwischen ein Gespräch mit Kaul und seinem Anwalt. Der hatte die Aktenlage geprüft und seinem Klienten empfohlen, in vollem Umfang zu gestehen. Er selbst hatte keinerlei Verständnis für Menschen, die zu Sadismus neigten, ob Klient oder nicht. „Stehen sie als Mann für ihre Taten ein, versprechen sie volle Mitwirkung bei der Aufklärung der Verbrechen und lassen sie sich therapieren, denn mit Sicherheit ist das nicht normal, wenn man Lust daran empfindet, andere Leute zu quälen, allerdings ist das ja weit verbreitet und als sexuelle Spielart mit Einverständnis des Gequälten geduldet. Konnten sie in irgendeiner Weise davon ausgehen, dass ihr Opfer sich freiwillig an dieser Sache beteiligt hat?“ fragte der Anwalt im vorhergehenden Gespräch unter vier Augen seinen Kunden. Kaul schüttelte betreten den Kopf und sagte leise: „Das war ja das Schöne dran!“ und nun musste der Anwalt schlucken, denn die Magensäure stieg ihm gerade hoch. Kaul gestand beim anschließenden Verhör in vollem Umfang die Folterung an Ben, erzählte von der gespielten Gerichtsverhandlung und erklärte auch, wie der Kontakt zu Berghoff zustande gekommen war. Semir horchte auf: „Sie sind also Mitglied dieses Vergangenheitsforums. Das interessiert uns unheimlich, wie kommt man da rein?“ wollte er von Kaul wissen. „Nur auf Empfehlung eines anderen Mitglieds!“ erklärte der. Semir holte Hartmut dazu, derweil stellte er einige interessierte Fragen, die Kaul, ohne zu zögern, beantwortete. Als der rothaarige Kriminaltechniker da war, schob er Kaul seinen Laptop zu: „Na dann machen sie mal!“ sagte er und Kaul loggte sich ein. Wenig später war auch Hartmut unter einem nickname, nämlich Ron Weasley, Mitglied im Forum. Semir hatte Pumuckel vorgeschlagen, was ihm einen vernichtenden Blick seines Kollegen eingebracht hatte.


    Wenig später wurde Robert Kaul ins Untersuchungsgefängnis gebracht und Semir, Hartmut und die Chefin machten Feierabend.Semir sah auf die Uhr. Schon kurz nach fünf! Ben würde sicher schon sehnsüchtig auf seinen Besuch warten. Ein wenig fröhlicher gestimmt, denn langsam bewegte sich etwas in ihrem Fall, machte er sich auf den Weg zur Uniklinik.

  • Als Semir in der Klinik ankam und auf der Intensivstation geläutet hatte, wurde er von der für Ben zuständigen Schwester hereingebeten. Sie trat kurz zu ihm und erklärte.“Gut, dass sie kommen! Herr Jäger scheint langsam in eine Depression zu rutschen. Vorher war sein Vater da, aber er wirkt völlig traurig und teilnahmslos, wir kommen gar nicht an ihn ran!“ erzählte sie ihm. Dass sie versucht hatte Sarah zu erreichen, die aber am Telefon kurz angebunden erklärt hatte, sie sei nicht mehr mit Ben zusammen, verschwieg sie. Mann, da hatte sie eine Riesenwut auf ihre Kollegin. Man verließ-aus welchen Gründen auch immer-doch nicht seinen schwer traumatisierten Freund. Sowas konnte man machen, wenn es ihm wieder besser ging, aber der hatte an seinen ganzen Diagnosen schon schwer genug zu knabbern!


    Semir hörte sich mit gerunzelter Stirn die neuesten Entwicklungen an und trat dann in Ben´s Zimmer. Auch er erschrak, welche Hoffnungslosigkeit und tiefe Traurigkeit da herrschte. Die Stimmung war fast mit den Händen greifbar. Ben lag einfach so da, aber er hatte anscheinend nicht einmal mehr Tränen zu vergießen. Mit zwei Schritten war Semir am Bett seines Freundes. Der Klappstuhl, auf dem Konrad vorher gesessen hatte, stand noch da und auf den ließ Semir sich jetzt nieder, während er nach Ben´s Hand griff. „Ben, was ist los?“ fragte er besorgt und liebevoll, während er seinen Freund musterte. Ben drehte den Kopf in seine Richtung und sprach aus, was ihm schon die ganze Zeit im Kopf herumging: „Warum habt ihr mich gerettet, du und Hartmut? Es wäre besser gewesen, wenn ihr später gekommen wärt! Dann hätte ich es hinter mir gehabt!“ sagte er heftig. Semir überlegte kurz. Es war klar, dass diese Frage eigentlich ein Hadern Ben´s mit seinem Schicksal war und so antwortete er langsam und überlegt: „Wir haben dich mit aller Kraft gesucht und ja auch gefunden, weil du uns wichtig bist. Du bist unser Freund, wir brauchen und mögen dich, egal wie du aussiehst, oder was für Einschränkungen du durch diese Dinge, die dir böse Menschen angetan haben, auch zurückbehalten magst. Du fehlst uns an allen Ecken und Enden, in der Freizeit, in der PASt, als Freund, als Pate. Sehr viele Menschen haben alles getan, um dich aufzuspüren und zu finden und ich hoffe, nein ich weiß, dass du genau dasselbe auch getan hättest, wenn ich gekidnapped worden wäre. Auch du hättest alles daran gesetzt mich zu befreien und wärst auch hinterher immer für mich dagewesen, so wie ich jetzt für dich-sowas machen nämlich Freunde!“ formulierte er, aber noch viel mehr, als die Worte, kamen Semir´s starke Gefühle der Sorge und Zuneigung rüber, durch seine Mimik, seine Gestik und auch den Händedruck. Alles war so vertraut für Ben, sie kannten sich nun schon so lange und verbrachten mehr Zeit miteinander, wie mit ihren Partnern, es war, als würde er gerade heimkommen und langsam löste sich die Starre in seinem Herzen und die Tränen begannen zu fließen.
    Ben weinte um seine Gesundheit, um sein altes Leben, das wohl nie mehr so unbeschwert sein würde wie vorher, er weinte wegen der Schmerzen und der Ängste und um Sarah. Aber es war gut so und Semir saß einfach still daneben und hielt seine Hand, bis Ben nach einer Weile sagte: „Mann, ich heule hier wie ein Waschweib-hast du mir mal ein Taschentuch?“Semir zog lächelnd eine angebrochene Packung Papiertaschentücher aus der Hosentasche und reichte sie Ben. Der trocknete sich umständlich und unter Schmerzen sein Gesicht, schneuzen ging wegen des Kieferbruchs und der Magensonde schon mal überhaupt nicht, aber trotz allem war ihm jetzt leichter ums Herz.


    „Willst du wissen, wie weit wir in deinem Fall gerade sind?“ fragte Semir nun, der merkte, wie sich Ben´s Stimmung in den wenigen Minuten gebessert hatte und sein Freund nickte und hörte gespannt zu, als Semir von Kaul´s Verhaftung, dem erfolgreichen Verhör, weil dessen Anwalt ein Mann mit Ehrgefühl war und der Einschleusung Hartmut´s in das Vergangenheitsforum erzählte. „Einstein soll bloß aufpassen, diese Leute sind gefährlich!“ sagte Ben besorgt, aber Semir beruhigte ihn: „Da sind wir alle miteinander dahinter, ach übrigens, willst du wissen, wie sein Nickname ist?“ fragte er schmunzelnd. Ben überlegte kurz und fragte dann: „Pumuckel?“ und nun berichtigte ihn Semir und erzählte von Ron Weasley. „Das passt auch!“ sagte Ben zufrieden und nun stellte ihm Semir die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf den Nägeln brannte:


    „Ben, was ist zwischen Sarah und dir geschehen?“ wollte er wissen und Ben überlegte kurz, ob er Semir einweihen sollte. Allerdings waren sie sich gerade so nahe, Semir würde ihn eh durchschauen und so erklärte er: „Ich habe mit ihr Schluss gemacht, weil ich keine Kinder mehr zeugen kann, man nicht weiß, ob ich überhaupt noch Sex haben kann und nicht will, dass sie sich wegen mir ihr Leben kaputt macht! Ich liebe sie viel zu sehr, als dass ich ihr eine Zukunft mit einem Krüppel zumuten würde und deshalb habe ich mich gestern von ihr getrennt!“
    Semir schwieg eine Weile und versuchte das Gesagte zu verarbeiten: „Hast du ihr das auch genau so gesagt, wie mir gerade, oder hast du das anders formuliert?“ fragte er dann. Ben druckste ein wenig herum, blickte zu Boden und sagte dann leise: „Na ja, nicht direkt, ich habe ihr erklärt, dass ich in unserer Trennungswoche zu dem Entschluss gekommen wäre und wir nicht zusammenpassen!“ und nun sagte Semir nur ein Wort zu ihm, während er sich erhob: „Schafskopf!“

  • Sarah hatte den Patiententransport eines ihrer beatmeten Schützlinge zum Thorax- und Abdomen- CT begleitet. Das war immer recht aufwendig, erforderte viel Logistik und man war froh, wenn der Patient wieder heil zurück war. Als sie mit dem Intensivarzt und ihrem schlafenden Patienten in den Aufzug stieg, schlüpfte Dr. Eckert, der junge Urologe, der Ben behandelt hatte, noch mit hinein. Während sich der Fahrstuhl langsam in Bewegung setzte, sagte er zu Sarah: „Übrigens, rede deinem Freund ruhig gut zu. Die Einschätzung des Chefarztes wegen der fraglichen Impotenz und Zeugungsunfähigkeit teile ich in keinster Weise, ich denke eher, dass das Ganze schon wieder wird mit der Zeit, wenn wir das schön sauber halten. Du kennst doch meinen Chef-der ist momentan immer so pessimistisch eingestellt, damit er sich später in die Brust werfen kann und sagen: „Dank meiner Operation und Behandlung ist wieder alles in Ordnung gekommen“, welche Sorgen und Ängste er bis dahin seinen Patienten auferlegt, bedenkt er eben oft nicht!“ und mit einem Gruß stieg er im nächsten Stockwerk aus.Sarah stand wie erstarrt im Fahrstuhl. Sie hatte ihre Hände um das Fußende des Betts gekrallt und als der Aufzug hielt, wo sie mit ihrem Patienten hin musste, hätte sie beinahe vergessen, das Bett zu schieben, so rasten die Gedanken in ihrem Kopf. Der begleitende Intensivarzt hatte sie aufmerksam gemustert und aus den Worten seines Kollegen und Sarah´s Reaktion konnte er sich so einiges zusammenreimen. „Sarah! Eigentlich gehörst du nicht in die Arbeit, sondern zu deinem Freund. Unglücklicherweise bist du jetzt eingeteilt und musst diese Schicht noch bis zum Ende durchziehen, aber über die Hälfte hast du ja schon geschafft. Ich gebe dir einen guten Tipp-geh morgen zu deinem Hausarzt und lass dich krankschreiben, ich glaube, du hast den Kopf nicht für die Arbeit frei, solange du solche privaten Belastungen zu tragen hast. Ich habe da am Rande ja was mitgekriegt, aber bitte tu mir den Gefallen und bring die Sache mit deinem Freund in Ordnung, steh´ ihm bei und denk mal nicht immer nur an die Arbeit, es gibt im Leben wichtigere Dinge!“ und dann fuhren sie mit ihrem Patienten weiter zu den längerdauernden Untersuchungen.


    Semir hatte unterdessen Ben´s Zimmer verlassen. Er versuchte Sarah telefonisch zu erreichen, aber es ging nur die Mailbox ran. Er machte sich auf den Weg zum nahen Schwesternwohnheim, wo Sarah´s Appartement war, aber auch dort öffnete ihm niemand. Als er Sturm läutete und vor der Tür stand, kam eine Kollegin Sarah´s vorbei und sagte: „Die hat Spätschicht, glaube ich!“ und nun machte sich Semir verwundert auf zur Intensivstation, auf der Sarah arbeitete. Dort bekam er die Auskunft, dass Sarah in der Schicht sei, aber gerade mit einem längerdauernden Patiententransport im Haus unterwegs. Er bat Sarah´s Kollegin ihr auszurichten, sie möge ihn doch baldmöglichst anrufen und hinterließ für alle Fälle noch seine Karte, falls Sarah ihr Handy nicht dabei hatte, oder keinen Empfang damit. Ein wenig unschlüssig, was er nun tun sollte, ging er zu Ben zurück, der sich schon hatte denken können, wohin Semir verschwunden war. Als er zur Tür hereinkam, sah ihn Ben fragend an: „Und?“ sagte er, aber Semir konnte nur von der Erfolglosigkeit seiner bisherigen Mission berichten. „Semir, geh nach Hause!“ bat ihn Ben, der bemerkte, wie müde sein Kollege wirkte. „Wenn es so sein soll, dann kommen Sarah und ich wieder zusammen, aber vielleicht eben auch nicht. Ich liebe sie immer noch, aber was sie für mich empfindet, wissen weder du noch ich. Mit dem Schafkopf hattest du völlig Recht, aber ich danke dir trotzdem für deine klaren Worte, jetzt geht´s mir wieder besser!“Nach kurzer Überlegung stimmte Semir seinem Freund zu. Der machte jetzt einen wesentlich besseren Eindruck als vorher, wobei er trotzdem stöhnte, als er sich ein wenig anders hinlegen wollte. Da kam auch schon die Schwester und bat Semir, doch jetzt zu gehen, denn die Besuchszeit war nun wahrlich schon lange beendet. Sie wollte ihren Patienten noch für die Nacht vorbereiten und er brauchte auch dringend wieder ein Opiat, wie sie aus seinem Stöhnen entnommen hatte. Semir verabschiedete sich auch ohne Widerworte und fuhr nach Hause zu Andrea und den Kindern. Mit Sarah konnte er auch am Telefon sprechen, während ihrer Arbeitszeit machte alles andere sowieso keinen Sinn. Er hinterließ ihr für alle Fälle noch eine „What´s App“ auf dem Smartphone und freute sich dann darauf, seine Familie zu sehen.


    Sarah war inzwischen zurück auf der Intensiv. Sie verkabelte ihren Patienten wieder aufwendig an seinem Bettplatz und ging dann zu ihren beiden anderen Patienten, die während ihrer Abwesenheit von ihren Kollegen versorgt worden waren. Den nächsten beatmeten Patienten bettete sie mit einer Kollegin, saugte ihn ab und als sie dann zu ihrem Neuzugang ging, stellte sie fest, dass die Patientin gerade aufgewacht war. Sie lallte zwar noch ein bisschen, wusste aber wieder wer und wo sie war. „Frau Eder, wie geht´s ihnen denn?“ fragte sie freundlich, aber die sah mürrisch zur Wand. „Ich wollte nicht gerettet werden!“ sagte sie heftig. „Wenn ich mein Leben nicht so weiterführen kann, wie bisher und meiner Passion frönen, dann ist es für mich nicht mehr lebenswert!“ Nun war Sarah verwundert. Es gab ja viele Gründe, sich umzubringen, aber das klang ja fast so, als wäre für ihre Patientin das, wie auch immer geartete Hobby, der Grund dafür gewesen, sich zu versuchen, umzubringen. „Was ist ihnen denn so wichtig und warum können sie das nicht mehr machen?“ fragte sie freundlich.Melissa war ja immer noch betrunken und von den Medikamenten benebelt, trotzdem wollte sie jetzt jemanden ihren Kummer mitteilen. Diese junge Schwester kam ihr gerade Recht. Sonst war Maria ihre einzige Vertraute, mit der sie ihre geheimsten Gedanken teilte, die ihr aber nie in irgendeiner Weise widersprechen würde, aber die war nun schließlich nicht da. Deshalb sagte sie: „Es ist wegen diesem Mann!“ Sarah dachte sich nun: „Also doch!“ Die meisten Selbstmorde waren wegen Liebeskummer. Wie sie aus dem Notarztprotokoll entnommen hatte, war ihre Patientin, die in Köln´s bester Wohngegend lebte und sehr gepflegt wirkte, verheiratet, aber „dieser Mann“ würde wohl nicht ihr Ehemann sein! „Er sieht wahnsinnig gut aus, groß, dunkelhaarig, ein durchtrainierter Körper!“ fuhr Melissa fort. Sarah dachte bei sich, dass diese Beschreibung ebenfalls auf Ben zutraf, den sie in dieser Sekunde schmerzlich vermisste. „Ich habe mich mit ihm vergnügt, ihn gezwungen, sich nackt vor mir zu waschen und dann musste ich ihn bestrafen, weil er unartig war!“ flüsterte Melissa, die gerade voller Entzücken an den denkwürdigen Abend auf der Burg zurückdachte. Sarah runzelte die Stirn. Anscheinend waren die Sexspielchen dieser Dame nicht gerade harmlos, aber gut, jeder sollte nach seiner Fasson selig werden.„Aber du hättest ihn sehen sollen“ fuhr Melissa verzückt fort, die gleich ins vertraute Du mit Sarah fiel, diese nette Schwester würde nun auch einmal zu hören bekommen, wie Erwachsene spielten. „Als er auf dem Spanischen Reiter saß, das Blut an seinen Beinen herunterlief und er vor Schmerzen geschrien und um Gnade gebettelt hat, da hat mich so ein Hochgefühl überkommen, so einen Orgasmus hatte ich zuvor in meinem ganzen Leben nicht!“ Sarah`s Gesichtszüge entgleisten. Ihr wurde übel und sie floh aus dem Zimmer, um sich auf der Personaltoilette zu übergeben. Diese Frau war an Ben´s Qualen schuld! Wegen ihr musste er um seine Männlichkeit fürchten und fast mit Sicherheit hatte er aus genau diesen Gründen ihre Beziehung beendet. Puzzleteil fügte sich in Sarah´s Kopf zu Puzzleteil. Wie eine Marionette ging sie zum Medikamentenschrank. Dieses Psychopharmakum, das Melissa eingeworfen hatte, konnte schwere Herzrythmusstörungen hervorrufen, es würde also nicht auffallen, wenn Melissa jetzt genau diese bekam. In aller Ruhe zog Sarah eine Ampulle mit 20 ml Kaliumchlorid auf.

  • Semir war inzwischen zuhause angekommen. Seine Mädels waren gerade im Bad. Andrea begrüßte ihn mit einem vorwurfsvollen Lächeln. „Schon wieder so spät!“ seufzte sie und Semir hatte kurzzeitig ein schlechtes Gewissen. Als er dann allerdings sagte: „Ich war nach der Arbeit noch bei Ben!“ hellte sich Andrea´s Gesicht auf. „Und wie geht´s ihm und hast du ihm auch von uns allen Grüße ausgerichtet, wie aufgetragen?“ fragte sie und Semir schwindelte: „Natürlich“-außerdem nahm er sich ganz fest vor, das nachzuholen- „aber ihm geht´s natürlich noch bescheiden, das war ja auch nicht anders zu erwarten, bei den ganzen Verletzungen und dem, was er hinter sich hat!“ sagte er und Andrea war dann sofort bereit, alles zu verzeihen, immerhin ging´s um Ben und nicht darum, irgendwelche blöden Verkehrssünder zu verhaften.
    Semir verschwand nun mit seinen Töchtern und einem Märchenbuch im Kinderzimmer. Dort legte er sich neben Lilly und begann vorzulesen. Als er eine ganze Zeit später immer noch nicht wiederkam, sah Andrea nach, wo er denn steckte. Semir lag friedlich schlafend neben seiner Tochter. Auch Ayda schlummerte und so löschte Andrea das Licht und ließ Semir liegen, wo er war. Irgendwann würde er schon aufwachen und dann in sein eigenes Bett gehen.


    Hartmut war inzwischen auch zuhause. Mit der Empfehlung Kauls hatte er Zugang zu den Themen im Forum. Langsam arbeitete er sich über die Software vor. Es gab Tipps zu mittelalterlicher Kleidung, Kochrezepte wurden veröffentlicht, eine Apothekenseite mit alten Heilmitteln, unter anderem von Hildegard von Bingen, fand er ebenfalls und irgendwann, eher zufällig, stieß er auf das Thema „Gerichtsbarkeit“. Als er sich da einlas und über verschiedene harmlose Links immer tiefer ins Geschehen eintauchte, stockte ihm schier der Atem. Man konnte Ausschnitte aus Kinofilmen sehen, in denen Hexenverbrennungen nachgestellt wurden, es folgten Hinweise zu sehenswerten Fernsehfilmen, wie die „Wanderhure“, „Der Name der Rose!“ und dann hatte er plötzlich jemanden im Chat. „Hallo Ron Weasley-bist du neu hier und was suchst du speziell?“ wurde er gefragt und kurz darauf hämmerten seine Finger eine Antwort in die Tastatur.


    Ben war inzwischen von seiner betreuenden Schwester mit einem kühlen Waschlappen erfrischt worden. Normalerweise hätte man den Rücken eines fiebernden Patienten mit Franzbranntwein abgefrischt, aber das verbot sich bei Ben´s multiplen Verletzungen. So versuchte man ihm wenigsten ausreichend Schmerzmittel und Eiskompressen zukommen zu lassen. Weil das Fieber wieder über 39°C gestiegen war und die Katecholamine zwar reduziert, aber eben noch nicht draußen waren, was ein Hinweis auf eine noch nicht überstandene Sepsis war, verzichtete die Schwester auf die angekündigte Mobilisation an den Bettrand. Sie hatte zwar einen Sitzring besorgt, damit die Wunden ihres Patienten nicht am Bett auflagen, aber in Anbetracht der Gesamtsituation wurden diese Dinge auf morgen vertagt. Ben bekam noch zu trinken, er durfte seine Zähne diesmal sogar versuchen selber zu putzen, was aber wegen der Drahtcerclagen nicht so einfach und vor allem schmerzhaft war, aber dann löschte man das Licht und ließ ihn in Ruhe. Ben konnte zwar noch nicht einschlafen, aber ganz zaghaft begann er sich wieder eine Zukunft mit Sarah vorzustellen.


    Sarah war inzwischen von ihrer Kollegin angesprochen worden. „Ach Sarah, bevor ich´s vergesse-vorhin war ein Herr Gerkan von der Autobahnpolizei da, der hat dich gesucht. Er hat mir seine Karte dagelassen, du sollst ihn anrufen, hat er gemeint!“ sagte sie fröhlich und gab Sarah die Visitenkarte. Die hatte bei der Annäherung ihrer Kollegin die aufgezogene Spritze schnell in ihrer Kitteltasche verschwinden lassen. „Danke!“ sagte sie und nahm die Karte entgegen. „Sarah, sei mir nicht böse, aber du siehst schrecklich aus!“ bemerkte ihre Kollegin mitfühlend. „Denkst du nicht, es wäre vernünftiger, du würdest noch ein paar Tage zuhause bleiben?“ fragte sie dann. Sarah nickte gleichmütig. „Ich denke, ich werde morgen zum Arzt gehen und mir eine Krankmeldung holen, du hast ja Recht!“ sagte sie und begann dann geschäftig die 20.00 Uhr-Medikation all ihrer Patienten aufzuziehen.Wenig später hatte sie alle Spritzen erledigt und die Kurzinfusionen für diese Uhrzeit bei ihren Patienten angehängt. Das letzte Zimmer war das von Melissa. Immer langsamer wurden Sarah´s Schritte, als sie näherkam. Ihre Hand krampfte sich um die tödliche Spritze in ihrer Tasche. Würde sie in Kürze eine Mörderin sein?

  • Sarah trat an Melissa´s Seite. Die war wieder eingeschlafen und lag mit leicht geröteten Wangen im Bett. Die anderen Intensivpflegekräfte gingen alle in anderen Zimmern ihrer Arbeit nach, keiner hatte ein Auge auf Sarah.


    Hartmut hatte mit seinem Chatpartner, der sich Nostradamus nannte, inzwischen einen regen Mailwechsel hinter sich. Sie hatten sich sozusagen angeregt unterhalten, inzwischen waren sie beim Thema „ Folterkammern in Deutschland“ gelandet. Hartmut hatte sich Gott sei Dank vorher aus gegebenem Anlass extra noch belesen und konnte so aus dem Stegreif, ohne etwas nachzusehen, mithalten. Nach einer Weile fragte ihn sein Gegenüber: „Hättest du Lust, mal live bei Rollenspielen mit Schauspielern mitzumachen?“ und Hartmut antwortete: „Ja, gerne!“ Sie stellten fest, dass die Gegend um Köln für Hartmut wohl am Geschicktesten wäre. Der hatte natürlich versucht, den Ort, an dem sein Server stand, zu verschleiern, damit ihn keiner orten konnte. Als er nach einer konkreten Verabredung für den nächsten Abend die Gesprächsprotokolle für die Akten ausdruckte und sich ein wenig ansah, was während seines Chats gelaufen war, konnte er feststellen, dass da Profis am Werk gewesen waren, die derweil versucht hatten, auf seinen Computer zuzugreifen. Er konnte nur hoffen, dass seine Firewall standgehalten hatte.


    Im Krankenhaus war inzwischen ein roter Alarm ertönt. Die Pflegekräfte auf der Intensiv ließen alles liegen und stehen und rannten, zusammen mit dem Intensivarzt, zum Bettplatz. Eine hatte den Notfallwagen mit dem Defibrillator dabei und machte sich daran Melissa, die plötzlich schwere Herzrythmusstörungen bekommen hatte, damit zu behandeln. Die erste Pflegekraft, die am Bett eingetroffen war, hatte Melissa gepackt und auf den Rücken gedreht. Das Hemd schob man hoch, so dass der Oberkörper frei lag. Man klebte in Windeseile die Defikleber, die eine optimale Stromdurchleitung gewährleisteten auf und eine Minute später jagte ein Stromstoß durch Melissa´s Körper, der sich daraufhin aufbäumte. Man setzte ihr eine Beatmungsmaske auf und der Intensivarzt beatmete sie mit dem Ambubeutel, während er das EKG beobachtete. Immer noch war der Herzschlag viel zu schnell und unregelmäßig, so dass nochmals das Kommando ertönte: „Zurücktreten vom Bett“ und als jeder, außer der Schwester mit den Paddels, einen Schritt zurückgegangen war, wurde erneut, diesmal mit einer höheren Stromstärke, defibrilliert und als man wenig später den Monitor beobachtete, begann das Herz wieder in einem geregelten Rhythmus zu schlagen. „Bitte noch einen Magnesiumperfusor über fünf Stunden!“ ordnete der Intensivarzt an und die Schwester, die defibrilliert hatte, nickte. Das könnte Sarah jetzt eigentlich selber machen, dachte sie, aber als sie einen Blick auf ihre Kollegin warf, die schreckensbleich, völlig untätig in der Ecke stand, disponierte sie um und beschloss das selber zu erledigen.„Sarah was ist los?“ fragte sie, aber die sah aus, als hätte sie einen schweren Schock erlitten.
    Melissa hatte sich wieder zu regen begonnen und als sie die Augen aufschlug, sah sie verwirrt auf die ganzen Menschen, die um ihr Bett standen. Sie fühlte sich, als hätte sie gerade einen Boxkampf gegen Klitschko verloren, so sehr schmerzten ihr alle Muskeln. „Ich brauche ne Schmerztablette!“ lallte sie ein wenig und der Arzt versprach ihr, dass sie etwas bekommen würde.Alle verließen mit dem Notfallwagen wieder das Zimmer. Natürlich hatte jeder mitbekommen, dass Sarah bei dieser Aktion überhaupt nichts gemacht hatte, sondern nur stocksteif, wie gelähmt, danebengestanden hatte. Man schob sie aus dem Zimmer und die anderen Kollegen teilten, nach einem Blick auf die Uhr, Sarah´s Patienten unter sich auf. „Mach noch schnell Übergabe und dann geh nach Hause und leg dich hin, Sarah. Du bist noch nicht wieder fit genug zu arbeiten, aber das habe ich dir ja vorhin schon gesagt. Das hier ist jetzt nochmal gut gegangen, aber du musst erst wieder zu Kräften kommen, sonst bringst du versehentlich noch einen Patienten um!“ sagte ihre Kollegin. In einer Stunde würde der Nachtdienst kommen und die würden sie auch ohne Sarah rumbringen.


    Wie ferngesteuert machte Sarah, was man ihr aufgetragen hatte und als sie wenig später in ihrem Appartement war, warf sie sich heulend aufs Bett. Als sie sich nach einer halben Stunde ein wenig beruhigt hatte, griff sie zum Telefon und wählte eine Nummer. Gespannt lauschte sie auf das Tuten im Hörer, sie konnte einfach nicht mehr!

  • Semir war unterm Vorlesen einfach weggepennt. Die vergangenen Tage waren anstrengend gewesen, weniger körperlich, aber emotional. Bei allem Glück, Ben gefunden zu haben, hatten sie alle miteinander noch einen weiten Weg zurück in die Normalität vor sich. Die Folterer mussten verhaftet und bestraft werden und er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dieses „Vergangenheitsforum“ auffliegen zu lassen, um wenigstens diese Folterbörse zu beseitigen, wobei ihm durchaus klar war, dass es immer Menschen mit solchen perversen Neigungen geben würde, aber wenn das einvernehmlich geschah, war es ihm völlig egal. Er erwachte, weil sein Handy zu vibrieren begann. Er hatte es so eingestellt, dass erst der Vibrationsalarm begann und dann erst später der Ton in ansteigender Lautstärke dazukam, oder sagen wir lieber, Ben hatte das so programmiert, denn er stand mit seinem neuen Handy immer noch ein wenig auf Kriegsfuß. So praktisch er diese Dinger fand, war er immer wieder überrascht, was man damit noch alles tun konnte. Er nutzte kaum einen Bruchteil der Funktionen, weil er sich einfach nicht aufraffen konnte, sich hinzusetzen und damit rumzuspielen, wie Ben das stundenlang tun konnte.
    So stand er leise auf, als ihm bewusst wurde, wo er lag und schlich sich auf Strümpfen aus dem Kinderzimmer, um seine Mäuse nicht zu wecken, die im Schein des Nachtlichts wie die Engel schliefen.
    Auf dem Flur sah er, während er die Zimmertür leise schloss, aufs Display. „Sarah!“ blinkte der Anrufer. Na Gott sei Dank hatte sie seine Nachricht erhalten und meldete sich. Es war inzwischen kurz nach 21.00 Uhr und Semir wollte gerade etwas sagen, als er Sarah ins Telefon weinen hörte: „Semir, ich hätte gerade beinahe jemanden umgebracht!“ und nun blieb ihm erst mal vor Schreck das Wort im Halse stecken. „Sarah, wo bist du?“ fragte er und sie schluchzte ins Telefon: „In meinem Appartement!“ „Ich bin in einer halben Stunde bei dir, reg dich nicht auf und dann reden wir!“ versuchte er sie zu beruhigen, während er schon an Andrea vorbeilief, die auf dem Wohnzimmersofa liegend, den Abend mit ein wenig fernsehen ausklingen ließ.„Wo fährst du hin?“ wollte sie wissen und stand auf, während Semir schon in seine Schuhe schlüpfte. „Ich muss zu Sarah, die ist fix und fertig und ehrlich gesagt, habe ich nicht ganz verstanden, was eigentlich los ist, aber auf jeden Fall muss ich zu ihr!“ erklärte Semir. Andrea nickte ein wenig eingeschnappt. Na klar, wenn es jemand anderem schlecht ging, war Semir immer zur Stelle, nur bei ihr war das selbstverständlich, dass sie mit allem alleine zu Recht kam. Aber es war unnötig, da jetzt etwas zu sagen, denn Semir war schon weg.


    Ben lag wieder wach in seinem Bett. Er war zwar hundemüde, aber er hatte Schmerzen und die Gedanken in seinem Kopf fuhren Karussell. Was wäre, wenn er wieder mit Sarah zusammenkäme? Konnte man ein Leben ohne Sex führen? Ohne Kinder, das ging, aber ohne miteinander richtig zu schlafen? Noch nie hatte er sich wegen sowas Gedanken gemacht, warum auch, er war ein normaler Mann mit einem erfüllten Geschlechtsleben gewesen und nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass sich das mal ändern könnte. Aber jetzt würde er am liebsten alles unterhalb seiner Gürtellinie ausblenden, so weh tat das und er konnte sich in keinster Weise vorstellen, dass sich das nochmal ändern würde. Wenn schon der Chefarzt da große Zweifel hegte und der war ja schließlich nicht umsonst Chefarzt und hatte ihn persönlich operiert, dann musste er sich wohl mit dem Gedanken abfinden, dass es nie mehr normal werden würde. Als die Nachtschwester kam, lag er schon die zweite Nacht hellwach in seinem Bett. Sie machte ihn ein wenig frisch, maß das Fieber und hängte danach eine Kurzinfusion mit einem Gramm Paracetamol an. Das würde das Fieber senken und gleichzeitig gegen die Schmerzen helfen. „Wollen sie was zum Schlafen?“ fragte sie ihn freundlich und Ben nickte. Normalerweise hatte er keine Schlafprobleme, aber im Augenblick war es die Hölle, wenn die Minuten einfach nicht vergingen. Jedes Mal wenn er auf die Uhr sah, war der Zeiger erst um wenige Millimeter nach vorne gerückt. So bekam er eine Schlaftablette, die über die Schleimhäute wirkte und merkte, wie er langsam ein wenig müde wurde. Allerdings wirkte dann das fiebersenkende Mittel und er begann zu schwitzen, wie selten in seinem Leben. Der Schweiß floss in Strömen von seinem Körper, brannte in den offenen Wunden am Rücken und im Halbdämmer meinte er, wieder im Schwitzkasten in der Burg zu sein. Er warf sich unruhig hin und her, was nur noch mehr wehtat und die Nachtschwester kam nach einiger Zeit mit einer Kollegin, machte das große Licht und wusch ihn vorsichtig wieder kühl herunter, erneuerte die komplette Bettwäsche, inclusive dem metallbeschichteten Leintuch und bettete ihn. Nun war allerdings die einschlaffördernde Wirkung des Tavor expidet wieder verflogen und Ben zählte weiter die Minuten und grübelte, bis die Morgendämmerung das Zimmer in ein diffuses Licht tauchte.


    Als Semir bei Sarah eingetroffen war, öffnete sie ihm völlig verheult die Tür. „Danke dass du gekommen bist!“ sagte sie und musste schon wieder zu schluchzen beginnen. Semir nahm sie in den Arm und führte sie ins kleine Wohn-Schlafzimmer, wo er sich mit ihr auf dem Sofa niederließ. „Jetzt erzähl mal!“ sagte er freundlich und stockend begann Sarah zu berichten.

  • „Als Ben mit mir Schluss gemacht hat, war ich momentan geschockt und zornig. Ich habe mir auch geschworen, nie mehr einem Mann nachzulaufen, wenn der mich nicht mehr mag-ich habe da in einer früheren Beziehung einschlägige Erfahrungen gesammelt. Als der erste Schmerz verflogen war, habe ich gedacht, es wäre eine gute Idee, wieder zu arbeiten, um mich abzulenken, inzwischen verfluche ich mich allerdings, denn sonst wäre das, was passiert ist, nie geschehen
    .Ich habe ganz normal meine Schicht angetreten und zwei beatmete Patienten übernommen. Das war Routine und in Ordnung, ich konnte die aus meiner Erfahrung heraus versorgen, ohne viel nachzudenken. Am Nachmittag habe ich allerdings einen Zugang gekriegt, eine Frau, Anfang vierzig nach einem Selbstmordversuch mit Tabletten und Alkohol. Sie hatte einen Mix aus Psychopharmaka, Schlaftabletten und Wein zu sich genommen und hat momentan fest geschlafen. Als Nebenwirkung der Psychopharmakaüberdosierung hat die Giftnotrufzentrale eine 48-stündige Überwachung vorgeschlagen, weil das Antidepressivum, das sie eingeworfen hatte, zu schweren Herzrythmusstörungen führen kann. Soweit war noch alles Routine, sowas haben wir ständig und ich muss leider auch sagen, dass gerade manche Antidepressiva unweigerlich zum Tod führen, weil man die Nebenwirkungen nicht beherrschen kann und man sie auch nicht aus dem Körper herausdialysieren kann, was man im Zweifelsfall dann als ultima ratio noch versucht. Jeder der auf Intensiv arbeitet hat Patienten sozusagen noch hereinlaufen sehen und eine Stunde später waren sie tot, ohne dass man nur den Hauch einer Chance hatte, sie zu retten. Allerdings war bei dieser Frau die Dosierung zwar gefährlich, aber nicht unbedingt tödlich und wenig später ist sie auch aufgewacht.


    Jetzt muss ich allerdings noch vorausführen, dass ich zuvor mit einem beatmeten Patienten im Haus unterwegs war. Zufällig war der Urologe, der in der Nacht Ben untersucht hat und jetzt wohl auch in die Behandlung involviert ist, mit mir im Aufzug und hat versucht-ohne zu wissen, dass Ben mich abserviert hat-mich davon zu überzeugen, dass Ben´s Genitalverletzungen nicht so schlimm sind, wie der Chefarzt glauben machen will. Ich bin mir nicht sicher, aber inzwischen habe ich fast die Befürchtung-oder eher Hoffnung, dass das mit der Grund dafür war, dass Ben die Beziehung beendet hat. Natürlich kann ich mich auch täuschen, aber weißt du Semir, ich liebe ihn doch noch so sehr, vielleicht versucht man sich da dann was einzureden!“ erklärte Sarah unglücklich.


    Semir sah sie an-es interessierte ihn brennend, was Ben´s Freundin ihm zu erzählen hatte, aber es war nur recht und billig, ihr jetzt zu berichten, was Ben zu der Trennung bewogen hatte, vor allem, weil sie ja eigentlich schon selber draufgekommen war. „Sarah-Ben liebt dich ebenfalls immer noch und genau deswegen habe ich versucht, dich zu erreichen, er hat es mir nämlich gesagt. Es ist so, wie du dir das schon gedacht hast, er denkt, er kann keine Kinder mehr zeugen und dich auch sonst nicht glücklich machen und hat sich deswegen schweren Herzens von dir getrennt!“ sagte er und nun begann Sarah leise vor sich hin zu weinen. Semir zog sie in seine Arme, er war ein wenig ratlos, warum diese doch erfreuliche Eröffnung jetzt bei Sarah für Tränen sorgte. Sie weinte eine ganze Weile vor sich hin, aber dann fasste sie sich ein Herz und sprach weiter:
    „Als die neue Patientin, zwar noch alkoholisiert, aber sonst relativ orientiert, erwacht ist, hat sie mir von ihren Hobbys und dem Grund, warum sie versucht hat, sich umzubringen, erzählt. Semir, sie war die Frau, die Ben da unten so schwer verletzt hat! Und sie wollte sich nicht aus Reue umbringen-wenn sie das überhaupt wirklich vorhatte- sondern weil sie keine Chance mehr gesehen hat, weiter gutaussehende Männer wie Ben grausam zu foltern und ohne diesen Kick, fand sie ihr Leben nicht mehr lebenswert! Semir, wir hier im Krankenhaus kämpfen jeden Tag um Leben und versuchen, dass wir die Menschen retten, ihnen helfen etc. und diese Tussi probiert sich umzubringen, weil sie glaubt, ab sofort nicht mehr foltern zu können! Wie pervers ist sowas?“ fragte Sarah und Semir fiel vor Entsetzen momentan gleich gar keine Antwort ein.
    Klar war, dass er sofort die Frau unter Bewachung stellen musste, damit die nicht türmte! „Sarah, heißt deine Patientin Melissa Eder?“ fragte er sie und Sarah nickte. Es war immer schwierig, die Sache mit der Schweigepflicht, aber hier ging es darum, Licht in eine schreckliche Sache zu bringen und außerdem hatte Sarah in ihren Augen eh nichts mehr zu verlieren.


    Bevor er sich weiter mit Sarah unterhielt, griff Semir zum Telefon: „Ich brauche sofort eine Bewachung für eine Patientin, die auf der kardiologischen Intensiv der Uniklinik Köln liegt. Sie ist dringend tatverdächtig, an der Entführung und Körperverletzung eines Polizisten beteiligt zu sein!“ gab er durch und es wurde ihm versichert, dass sich sofort eine zuständige Streife auf den Weg machen würde.„Semir, ich weiß aber nicht, ob das noch notwendig sein wird!“ sagte Sarah leise und nun sah der sie mit gerunzelter Stirn an. „Warum?“ fragte er nur und nun hob Sarah an, weiter zu erzählen:„Als mir die Patientin voller Lust geschildert hatte, welches Vergnügen sie dabei gefunden hat, Ben zu foltern, hat mich eine unbändige Wut übermannt. Ich wollte sie töten!“ sagte Sarah einfach und Semir starrte sie nun entsetzt an. „Ich habe eine Spritze mit Kaliumchlorid aufgezogen. Das ist zwar ein Elektrolyt, das der Mensch unbedingt zum Leben braucht, aber bei einer schnellen Injektion kommt es unweigerlich zum Herzstillstand, deshalb wird es auch zum Einschläfern von Tieren mitverwendet, ist da aber nur nach vorheriger Narkose zugelassen, weil es starke Schmerzen in den Venen verursacht, bevor es das Herz lähmt,“ erklärte sie.


    „Sarah, du willst mir doch jetzt hoffentlich nicht sagen, du hast die Frau umgebracht?“ fragte Semir voller Angst. Sarah schüttelte erst den Kopf, dann nickte sie aber: „Ach Semir, ich weiß doch selbst nicht!“ begann sie dann wieder zu weinen. „Als ich vor ihr gestanden habe, habe ich die Spritze aus meiner Kitteltasche geholt und wollte sie gerade ansetzen, da hat sie auf einmal spontan schwere Herzrythmusstörungen gekriegt. Ich war so entsetzt, dass ich die Spritze wieder eingesteckt habe, aber ich habe auch nichts getan, um die Frau zu retten. Wenn meine Kollegen nicht gekommen wären, wäre sie in diesen Minuten gestorben. Sie haben sie wieder hergebracht, aber ich wurde dann nach Hause geschickt. Semir, ich kann meinen Beruf doch nicht mehr ausüben, wenn ich solche Dinge tue, oder eher nicht tue!“ schluchzte sie.
    Semir schluckte trocken und fragte dann eindringlich: „Und du hast ihr wirklich nichts gespritzt?“ und Sarah schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich hatte es vor und jetzt ekelt es mich vor mir selber!“ sagte sie. Semir atmete innerlich auf. Bei allem Verständnis für Sarah, aber er hätte sie festnehmen müssen, wenn sie Melissa etwas Konkretes angetan hätte, aber so war das nochmals glimpflich abgegangen. „Was hast du danach mit der Spritze gemacht?“ fragte Semir und Sarah erhob sich: „Ich habe sie wieder in die Kitteltasche gesteckt und als ich in der Personalumkleide war, wollte ich sie auch nicht einfach in den Mülleimer werfen, drum habe ich sie mit nach Hause genommen!“ sagte sie und war mit zwei Schritten an ihrem Wohnzimmerschrank und zog eine gefüllte Spritze mit einer glasklaren Flüssigkeit darin, heraus. „Wieviel Milliliter hattest du aufgezogen?“ fragte Semir und Sarah antwortete wahrheitsgemäß: „Zwanzig-das ist genau der Inhalt einer Ampulle!“ und Semir besah sich die Graduierung. Es waren wirklich auf den Teilstrich genau 20 Milliliter, da fehlte kein Quentchen.
    „Sarah, alleine ein Verbrechen zu planen, aber dann aus welchen Gründen auch immer, nicht auszuführen, ist nicht strafbar. Wenn das so wäre, säße wohl die Hälfte der Menschheit im Knast. Gut, vielleicht hättest du sie getötet, wenn sie diese Herzprobleme nicht gekriegt hätte, aber vielleicht hättest du es auch nicht geschafft, die Spritze zu entleeren, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall bist du nicht zur Mörderin geworden und das freut mich-für dich und für Ben. Und glaub mir, Melissa wird ihre gerechte Strafe bekommen. Sie wird einige Jährchen im Frauenknast verbringen und ihre Schuld abbüßen, dort ist es nicht schön, sage ich dir!“ erklärte Semir. „Beinahe hätte ich an ihrer statt erfahren, wie es dort ist!“ sagte Sarah, immer noch schwer geschockt. „Ob ich allerdings meinen Beruf noch ausüben kann, wenn ich dann nicht helfe, wenn ein Patient Probleme kriegt, das weiss ich nicht!“ sagte Sarah leise und bedrückt. „Nun sei mit dir nicht strenger, als notwendig, Sarah. Bleib erst mal zu Hause und vor allem, versuch doch morgen mit Ben zu reden, das ist viel wichtiger. Lass ein wenig Zeit vergehen und dann siehst du, wie du mit Abstand über die Sache denkst“ gab er ihr einen guten Rat und erhob sich dann. „Und ich gehe jetzt ins Krankenhaus und erkläre der guten Frau Eder, dass sie verhaftet ist!“ sagte er voller Genugtuung.Sarah nickte und legte sich, nachdem sie die Tür hinter Semir geschlossen hatte, ins Bett. Allerdings konnte auch sie nicht ruhig schlafen und als die Morgendämmerung hereinfiel, war sie froh, dass diese schreckliche Nacht endlich vorbei war.

  • Semir verließ Sarah´s Appartement. Als er die kurze Strecke zum Haupteingang des Krankenhauses gefahren war, sah er da gerade den Streifenwagen den er angefordert hatte, vorfahren. Er stieg aus und wies sich bei den Kollegen, die ihn vom Sehen her kannten, mit seinem Dienstausweis aus. „Ich dürfte euch bitten, Melissa Eder, für die ein Haftbefehl vorliegt, zu bewachen, bis sie ins Untersuchungsgefängnis gebracht werden kann.“ erklärte er den Uniformierten und gemeinsam gingen sie zur kardiologischen Intensivstation. Auf sein Läuten hin wurden sie hereingebeten und die Nachtschwester sah entsetzt auf das Aufgebot, das vor der Tür stand. Sie holte den diensthabenden Arzt dazu, aber als ihnen der Grund ihres Erscheinens erklärt wurde, wies der den Beamten den Weg zu Melissa.
    Die hatte inzwischen ein Schmerzmittel als Kurzinfusion bekommen und dann die Augen wieder geschlossen, um ihren Alkoholrausch vollends auszuschlafen. Morgen würde sie hier einfach abhauen. Maria hatte ja ihren Koffer sicher noch gepackt und sie würde sie anrufen und dann Richtung Holland, gemeinsam mit ihr, mit einem Mietwagen verschwinden, weil die Flughäfen vermutlich überwacht wurden. Melissa öffnete überrascht die Augen, als plötzlich eine Unruhe in ihrem Zimmer herrschte. Das große Licht wurde angemacht und dann erschien das Gesicht eines ihr fremden Mannes über ihr, der voller Genugtuung sagte: „Melissa Eder, ich verhafte sie hiermit wegen des Verdachts der schweren Körperverletzung in Tateinheit mit Entführung eines Polizisten. Sobald sie sich gesundheitlich stabilisiert haben, werden sie ins Untersuchungsgefängnis überführt. Meine Kollegen hier werden ihnen so lange Gesellschaft leisten!“ Melissa starrte ihn entsetzt an, alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. Plötzlich begann der Monitor Alarm zu schlagen und Melissa bekam, ausgelöst durch die Aufregung, wieder schwere Herzrythmusstörungen. Das Intensivpersonal rannte, wie beim letzten Mal, mit dem Notfallwagen herbei und Melissa´s Herz wurde mit einem Elektroschock wieder zum geregelten Schlagen gebracht. Diesmal war sie noch nicht völlig bewusstlos, als die Defipaddels angesetzt wurden und der Stromschlag fuhr als furchtbarer Schmerz durch ihren Körper.Semir und die beiden Uniformierten hatten von der Zimmerecke aus entsetzt das Geschehen beobachtet, aber wenig später war Melissa wieder stabil und lag nun weinend in ihrem Bett. Der Schmerz war zwar verebbt, aber nun begann sie erst zu begreifen, was ihr nun bevorstand. „Wie lange muss sie noch hierbleiben, bis sie ins Gefängnis gebracht werden kann?“ fragte Semir den behandelnden Arzt. Der sagte: „Bis 48 Stunden nach der Medikamenteneinnahme, also etwa übermorgen Mittag!“ antwortete der und Semir nickte den Kollegen daraufhin zu: „Kriegt ihr das geregelt von eurem Dienstplan her?“ fragte er und die grinsten ihn an: „Das ist doch mal ein angenehmer Dienst, nur auf dem Stühlchen sitzen und nichts tun, da finden sich genügend Freiwillige!“ sagte der eine der beiden Beamten und nun verabschiedete sich Semir von ihnen und fuhr endlich zu Andrea nach Hause.


    Inzwischen war es kurz vor Mitternacht und Andrea war bereits schlafen gegangen. Nachdem er sich geduscht hatte, schlüpfte er ebenfalls ins Bett und Andrea kuschelte sich im Halbschlaf an ihn ran und er küsste sie zärtlich. Wie schön war es, nach einem solchen Tag nach Hause kommen zu dürfen!


    Als Ben am nächsten Morgen, wie am Vortag, von der Frühdienstschwester gewaschen wurde, war er heilfroh, dass die Nacht endlich vorüber war. Wieder kam die große Visite danach und die Spülung seines Tiefparterres wurde auf später vertagt, wenn Semir da wäre. Die Parameter hatten sich nicht maßgeblich verbessert und die Ärzte konstatierten besorgt, wie angegriffen und erschöpft ihr Patient aussah. Langsam müsste sich einmal ein Ruck nach vorne tun, aber immer noch brauchte Ben kreislaufstützende Medikamente, die Entzündungswerte waren gleichbleibend, statt fallend und sein Atem rasselte vermehrt. Vermutlich hatte sich nun doch noch zusätzlich ein Infekt in der Lunge festgesetzt und der psychische Zustand des Patienten ließ auch zu wünschen übrig. „Heute muss dringend der Krankenhauspsychologe ran, so lange Herr Jäger das Geschehen nicht aufgearbeitet hat, kann er wahrscheinlich nicht gesund werden!“ vermutete der anästhesiologische Chefarzt und der Stationsarzt beteuerte, da gestern bereits einen Konsilschein ausgefüllt zu haben. Allerdings war der Psychologe dermaßen ausgelastet, dass es schwierig war, da einen Termin zu bekommen. „Rufen sie da nachher persönlich an und schildern die Lage!“ befahl der Chefarzt seinem Abteilungsleiter und der nickte, einen Versuch war es wert.


    Sarah war am Morgen zeitig aufgestanden. Vom Hin-und Herwälzen wurde sie auch nicht fitter, aber dann zog sie ihre Laufsachen an und begann durchs morgendliche Köln zu joggen. Sie lief zum Stadtpark und in gleichem Maße, wie sie sich körperlich auslastete und ihr Atem rythmisch zu fließen begann, wurde ihre Laune besser. Wie oft war sie mit Ben schon gejoggt, allerdings nicht um diese frühe Uhrzeit. Da zog sich der die Decke über den Kopf und beschwerte sich: „Spinnst du? Ich stehe doch nicht vor Tau und Tag auf, um mit dir deinem Frühsport nachzugehen-meinetwegen können wir abends zusammen laufen, aber doch nicht jetzt!“ hatte er sich dann immer empört umgedreht und weitergeschlafen. Ja er war schon ein Morgenmuffel, aber sonst passten sie so hervorragend zusammen und nachdem ihr Semir nun auch den Grund für seine Trennungsabsichten mitgeteilt hatte, beschloss sie, ihn zurückzugewinnen. Sie würde heute über ihren Schatten springen und zu ihm gehen, denn immerhin konnte er ja noch nicht zu ihr kommen, aber sie musste ihn sehen und mit ihm sprechen, sonst würde sie das nicht aushalten.
    Als sie zurück in ihrem Appartement war, duschte sie gründlich, wusch ihre Haare und stylte sich ein wenig. Sie brezelte sich nicht auf, wie wenn sie abends wegging, aber sie legte einen dezenten Lidschatten auf, benutzte einen schwachen Lippenstift und zog zur Jeans eine hübsche Bluse an, die Ben ihr mal gekauft hatte. So ausgerüstet machte sie sich auf den Weg zur Intensivstation. Unterwegs hatte sie zuvor noch ein Croissant erstanden und gegessen, jetzt konnte der Freitag beginnen!


    Ben lag derweil in seinem Bett und hatte nur noch Angst und Panik vor der Spülung. Er würde das nicht aushalten, es war gestern so schlimm gewesen! Am liebsten würde er auf der Stelle sterben oder wenigstens eine Narkose kriegen. Nicht nur der Schmerz, sondern auch die Scham vor dem Kommenden beherrschten seine Gedanken und als wenig später Semir in der Tür stand, begann er zu zittern, obwohl er sich ja eigentlich über den Besuch freute. Semir war mit ein paar schnellen Schritten bei seinem Freund. Du lieber Himmel, der sah ja jeden Tag kränker aus! Er fasste sich heiß an und Semir, der ja eigentlich gute Neuigkeiten mitgebracht hatte, war gleich wieder voller Besorgnis. Die Utensilien für die Spülung standen schon bereit und kaum hatte die Schwester Semir gesehen, rief sie auch schon den jungen Urologen an.


    Als die Tortur nach wenigen Minuten beendet war und Ben nur noch völlig erschöpft unter seiner dünnen Zudecke lag und den Opiatrausch, den man ihm verpasst hatte, ausschlief, kam leise Sarah ins Zimmer. Semir erhob sich lächelnd, als er sie sah und sagte flüsternd: „Schön, dass du gekommen bist, er ist gerade fix und fertig und die haben ihn abgedopt. Ich habe gestern noch Melissa Eder verhaftet, die wird jetzt, bis sie haftfähig ist, von zwei Kollegen bewacht, ich hatte aber noch gar keine Gelegenheit ihm das mitzuteilen, das könntest du übernehmen!“ und Sarah nickte zuversichtlich. Sie setzte sich auf den Stuhl neben Ben´s Bett und nahm die Hand ihres schlafenden Freundes. Egal was er sagte, sie würde sich jetzt nicht mehr wegschicken lassen!

  • Ben wurde langsam wieder wach. Die Erinnerung an die Spülung hing noch dumpf in seinen Gedanken, aber diesmal hatte er ziemlich früh einen Opiatbolus bekommen und das Ganze nur noch so halb mitbekommen. Gut dass Semir bei ihm gewesen war, so hatte er es wenigstens halbwegs aushalten können. Er spürte eine Hand, die die seine hielt. Die war irgendwie so vertraut und dann streichelte ihn jemand ganz zart an der Stirn. Die Berührung war federleicht und zärtlich, das war wunderschön, aber nicht Semir! Der hätte ihn nie so angefasst und außerdem wären seine Hände viel grösser gewesen. Langsam schlug Ben die Augen auf und ganz nah bei ihm, war die wunderschönste Frau, die er sich vorstellen konnte. Ohne etwas zu sagen, sog er den Duft ihres leichten Parfums ein, soweit das mit der Magensonde überhaupt möglich war. Sie hatte die Bluse an, die er ihr kürzlich gekauft hatte, weil sie ihm so gut gefallen hatte und sie stand ihr immer noch so gut, wie er es in Erinnerung hatte.„Sarah!“ sagte er leise und ergriffen und die legte den Finger auf ihre Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. „Schlaf erst noch ein bisschen, ich bin da und ich gehe auch nicht mehr weg, da kannst du sagen, was du willst!“ bedeutete sie ihm entschlossen und folgsam schloss er die Augen wieder. Es war nicht sinnvoll, Sarah zu widersprechen, wenn sie ihn so ansah. Wenig später verrieten tiefe Atemzüge, dass Ben eingeschlafen war und seinem Körper die dringend notwendige Erholung zuteilwerden ließ.


    Auch Sarah konnte sich nun endlich entspannen. Versonnen hing sie ihren Gedanken nach und betrachtete den schlafenden Ben. Obwohl er durch den Kieferbruch immer noch verschwollen und entstellt war, überall Schläuche aus ihm raushingen und sein Körper infolge der Narben nie mehr so sein würde, wie vorher, liebte sie ihn mit jeder Faser. Wie kleinlich war sie gewesen, einen Streit wegen einer dummen Putzfrau anzufangen! Nun, da sie Angst gehabt hatte, ihn zu verlieren, waren die Dinge wieder an ihren richtigen Platz gerutscht. Wenn man sich das Leben wegen solcher Banalitäten schwer machte, dann war einem wirklich nicht zu helfen. Zwei Stunden vergingen und man konnte zusehen, wie Ben´s Gesichtsfarbe ein wenig rosiger wurde. Natürlich hatte er noch Fieber, was sie an seiner heißen Hand spüren konnte, aber sie wollte ihm die Ihrige nicht entziehen, auch wenn ihre Sitzposition langsam unbequem wurde. Plötzlich merkte Sarah, die gedankenlos ein wenig im Zimmer herumgeschaut hatte, dass sie jemand ansah. Ben war aufgewacht und hatte sie intensiv gemustert. Was sie wohl gerade dachte? In der ersten Sekunde hatte er Angst gehabt, dass er sich Sarah´s Anwesenheit nur eingebildet hatte und nach wie vor Semir bei ihm saß, aber als er die Augen geöffnet hatte, war er erleichtert gewesen. Nur, eigentlich hatte sich ja gar nichts geändert! Er hatte immer noch dieselben Verletzungen, die Sarah seit der Operation auch nicht mehr gesehen hatte, vorher ja, aber da war das Ausmaß noch nicht abzusehen gewesen und der Chefarzt hatte doch wahrscheinlich Recht mit seiner Vermutung.


    „Sarah, ich kann das von dir nicht verlangen, dass du bei mir bleibst!“ sagte er verzweifelt, aber die sah ihn wissend an.“Und warum denkst du, dass das für mich ein Opfer ist, mit dir alt zu werden? Ich habe in dir den perfekten Mann gefunden, warum sollte ich dich so einfach ziehen lassen?“ fragte sie kampfesmutig mit blitzenden Augen. Sie war aufgesprungen und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. „Weil, ja weil ich dich nicht mehr glücklich machen kann, unsere ganze Zukunftsplanung ist durch diese Verletzungen da unten aus den Fugen geraten. Wir können vermutlich nie gemeinsame Kinder haben und im Bett…“ stammelte er und dann verstummte er, denn nun ging Sarah in die Offensive: „Ben Jäger, ob du es hören willst, oder nicht! Ich liebe dich und zwar dich als Person, nicht dieses kleine Anhängsel da unten, dem ihr Männer immer so viel Wert beimesst! Nun gut, wenn es mit den gemeinsamen Kindern nicht klappt, dann adoptieren wir eben welche und wenn du dir Sex nur mit deinem Schniedel vorstellen kannst, dann werde ich dir eben zeigen, was du mit deinen Händen, deiner Zunge und anderen Körperteilen anstellen kannst. Ich werde dich nicht mehr so einfach ziehen lassen und nur damit du´s weißt, gestern hätte ich sogar beinahe für dich getötet!“ sagte sie heftig und nun wurde Ben blass „Was hast du gerade gesagt? Ich muss mich verhört haben!“ fragte er nach, aber Sarah erzählte ihm nun:
    „Deine Peinigerin, die für dieses ganze Dilemma verantwortlich ist, ist bei mir nach einem Suizidversuch als Patientin auf der Station gelandet. Sie hat mir im Detail erzählt-ohne zu wissen, wer ich bin-wie sie es genossen hat, dich zu quälen. In mir war so eine unbändige Wut, dass ich sie mit dem Tod dafür bestrafen wollte. Ich hatte die todbringende Spritze schon aufgezogen, aber durch einen glücklichen Zufall kam etwas dazwischen, was mich davon abgehalten hat. Und glaub mir, nur die Vorstellung, dass du dann alleine hier deinem Schicksal überlassen gewesen wärst und ich derweil im Knast versauert wäre, hat mich davon abgehalten, es erneut zu versuchen, darum leg dich nicht mit mir an, das sage ich dir!“ beteuerte sie mit geröteten Wangen.


    Ben war ganz erschüttert und fragte dann: „Weiß Semir davon?“ und Sarah nickte. „Ich habe ihn direkt danach angerufen und er war gestern Abend noch lange bei mir. Ob ich meinen Beruf nach diesem Vorfall noch ausüben kann, steht in den Sternen, aber jetzt weißt du, wie wichtig du mir bist. Übrigens soll ich dir von Semir ausrichten, dass deine Quälerin verhaftet ist und bis zu ihrer Verlegung ins Gefängniskrankenhaus unter Bewachung steht!“ fügte sie noch hinzu und Ben streckte nun seine Arme aus: „Komm her, ich weiß nicht, wie ich das fertiggebracht habe, mir ein Leben ohne dich vorzustellen, außerdem glaube ich, ich muss ganz schön vorsichtig sein, mit dem, was ich tue oder sage-du bist ziemlich gefährlich, wenn du zornig bist!“ sagte er liebevoll und soweit es seine Verletzungen zuließen fanden sie sich in einer zärtlichen Umarmung. „Das mit dem Küssen muss ich noch ein wenig vertagen!“ flüsterte Ben und Sarah erwiderte: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!“ und dann ließ sie sich in seine Arme sinken und war ihm ganz nahe.

  • Semir war inzwischen in die PASt gefahren und hatte der Chefin Bericht erstattet, na ja, zumindest teilweise.„Gestern Abend hat mich eine Schwester davon verständigt, dass eine Patientin, die sich mit einer Folterung gebrüstet hat, nach einem Suizidversuch in der Kölner Uniklinik befindet. Ich habe festgestellt, dass es sich um Melissa Eder handelt und sie noch am Abend festgenommen und ihre Bewachung veranlasst. Sie muss noch einen Tag zur Beobachtung auf der Intensivstation bleiben, aber dann können wir sie ins Untersuchungsgefängnis überstellen. Eigentlich haben wir nun alle, die wir auf den Videos gesehen haben. Sonst sind an Ben keine weiteren Verletzungen feststellbar, also denke ich, dass wir die Täter vollständig haben.“ erklärte er der Chefin. Die zeigte sich erfreut und sagte: „Das ist gut-gleich kommt noch Herr Freund vorbei, der ist gestern auch ein wenig weitergekommen und hat uns ebenfalls was zu erzählen!“ und schon bog Hartmut um die Ecke.
    Ohne Umschweife kam er zur Sache: „Ich habe mich gestern längere Zeit im Vergangenheitsforum aufgehalten und bin nach dem Stöbern in harmlosen Bereichen dann auf das Thema Gerichtsbarkeit gestoßen. Wenig später hat jemand mit mir Kontakt aufgenommen und wir haben eine ganze Weile gechattet. Nun habe ich auf jeden Fall heute Abend die Einladung zu einem Rollenspiel mit Schauspielern, wobei ich nicht weiß, was ich mir darunter vorstellen soll!“ erzählte er. Als ich die Gesprächsprotokolle ausgedruckt und mir meinen Computer danach näher angesehen habe, konnte ich erkennen, dass man währenddessen versucht hat, auf meinen PC zuzugreifen, ich denke aber, meine Firewall hat gehalten!“ erzählte er und legte die Ausdrucke dann auch auf den Tisch. "Ich soll um 20.00 Uhr in zeitgerechter Kleidung-was auch immer die sich darunter vorstellen-am Parkplatz vor dem botanischen Garten sein!“ erklärte er und Semir und die Chefin sahen sich an: „Na Hartmut, dann werden wir mal nach passenden Klamotten für dich suchen und dich ein wenig verwanzen, wäre doch gelacht, wenn wir da nicht bald weiterkämen!“ sagte Semir und die Chefin nickte. Zusammen überlegten sie noch, was wohl das Ziel der Leute war, die mit Hartmut Kontakt gesucht hatten. „Ich denke, die Forenbetreiber, die sich sehr gut tarnen, wollen zwei Dinge: Geld und Macht! Sie werden erst mal abklopfen, wer hinter dem Interessenten steckt und wie viel Geld da zu holen ist, das heißt, wir brauchen eine Vita, die nach Geld riecht. Entweder die lassen sich ihre Dienste teuer bezahlen, oder wenn sie an Leute in verantwortungsvoller Position herankommen, wäre es auch möglich, dass sie mit Erpressung arbeiten, denn niemand möchte doch, dass so eine finstere Seite seines Charakters an die Öffentlichkeit kommt. Wir brauchen jetzt erst einmal einen teuren Wagen für Hartmut und dann überlegt ihr euch eine Story, wer Ron Weasley ist und was er beruflich macht!“ gab die Chefin den Auftrag, um dann zum Telefon zu greifen, um ein geeignetes Fahrzeug aufzutreiben. „Ach ja und an den Städtischen Bühnen haben sie sicher genügend mittelalterliche Kostüme im Fundus, gehen sie doch da gleich mal vorbei und suchen sich eins aus!“ befahl sie noch und machte telefonisch alles soweit klar. „Um ihre Verwanzung kümmern sie sich selber, Herr Freund, wir treffen uns um 18.30 Uhr wieder in meinem Büro und starten dann von hier aus den Einsatz!“ plante sie und Semir und Hartmut nickten.


    Inzwischen war es Mittag geworden. Ben lag wieder halb schlafend in seinem Bett und fieberte vor sich hin. Die Umarmung war zwar schön gewesen, aber doch schmerzhaft und so hatte Sarah ihn gerne zurückgelegt und versucht, ihn möglichst bequem zu lagern und so gut es ging zu pflegen. Er hatte erneut Schmerzmittel gekriegt, aber Sarah lauschte trotzdem besorgt dem Rasseln in seiner Brust. Wie sinnvoll wäre jetzt maschinelle Atemgymnastik gewesen, aber so konnte man ihn nur mit einem sogenannten Triflow, einem kleinen mechanischen Atemtrainer, behandeln und ihn so zum starken Ausatmen animieren. Alles Weitere mussten die Antibiotika richten, die er in regelmäßigen Abständen intravenös bekam.Irgendwann knurrte Sarah´s Magen vernehmlich. Ben, der dieses Geräusch von sich selber nur zu gut kannte, schlug die Augen auf. „Sarah, du musst was essen gehen!“ sagte er schwach und nach kurzer Überlegung stimmte sie zu. Niemand hatte etwas davon, wenn sie abnahm, sie würde mal in der Krankenhauskantine vorbeischauen und dann fiel ihr ein, dass sie ja noch eine Krankmeldung von ihrem Hausarzt brauchte. „Ben, ich muss danach noch was erledigen, aber ich komme sobald wie möglich wieder zu dir!“ sagte sie und Ben nickte. Er selber trank immer mal einen Schluck Wasser, aber sonst hatte er überhaupt keinen Hunger, weil die Sondennahrung kontinuierlich in ihn floss, ehrlich gesagt, war ihm manchmal sogar schlecht, aber das musste wohl so sein. „Ich werde mal ein Mittagsschläfchen starten!“ kündigte er an und Sarah verabschiedete sich mit einer Kusshand und Ben schloss die Augen.


    Der Anwalt der Familie Tewett hatte sich inzwischen einen Schlachtplan zurechtgelegt. Er hatte seinen Aktenkoffer dabei und durch seine Kontakte herausgefunden, dass der Polizist, der so schwer verletzt worden war, in der Uniklinik in Köln lag. Er hieß Ben Jäger und er würde nun versuchen müssen, unbemerkt auf der chirurgischen Intensivstation an ihn ranzukommen, um ihm sein Angebot zu unterbreiten. Arzneimittelvertreter trugen auch schwarze Anzüge und Aktenkoffer, er würde einfach so tun, als wäre er so einer und sich so Zutritt erschleichen. Selbstbewusst musterte er im Foyer den Krankenhausplan und stellte fest, wo er hinmusste. Vor der Intensiv hielt er sich nicht lange damit auf, zu läuten und um Einlass zu bitten, sondern drückte auf den Türöffner und betrat mit selbstbewusster Miene die Station. Er war kaum ein paar Meter weit gekommen, da sprach ihn eine Schwester an: „Kann ich ihnen helfen, suchen sie jemanden?“ fragte sie und er antwortete arrogant: „Firma Medical-ich suche dringend ihren Chef!“ und wegen des barschen Tons eingeschüchtert, wies sie mit dem Finger in eine Richtung den Flur entlang, von dem viele halbgeöffnete Schiebetüren abgingen. Mit erhobenem Kopf und geschäftigen Schritten ging er in die Richtung und die Pflegekraft verschwand wieder in einer Intensivbox. Aufatmend verlangsamte der Anwalt seine Schritte und spähte in eines der Zimmer nach dem anderen. Plötzlich verharrte er. In diesem Raum lag ein jüngerer dunkelhaariger Mann, der vielfältige Verletzungen aufwies. Mit zwei Schritten war er am Bett und musterte das Namensschild am Fußende: „Ben Jäger“ stand dort und mit einem Lächeln stellte der Anwalt seinen Aktenkoffer ab.

  • Ben erwachte langsam, weil ihn jemand ansah. Als er die Augen aufschlug, stand am Fußende seines Bettes ein ihm fremder Mann im dunklen Anzug und mit einer Aktentasche. Als er sah, dass Ben wach wurde, war er mit zwei Schritten an seiner Seite und reichte ihm mit jovialem Lächeln die Hand, die er aus Höflichkeit auch ergriff. „Guten Tag Herr Jäger, schön, dass ich sie gefunden habe, ich wurde nämlich von meinem Mandanten, Florian Tewett, beauftragt, mich in seinem Namen bei ihnen zu entschuldigen und ihnen sein übergroßes Bedauern wegen des Vorfalls auszudrücken!“ sagte er. Ben starrte ihn verwundert an. Erstens fragte er sich, wer dieser Tewett war und dann, wie der Anwalt eigentlich hier hereinkam. Er war bisher der Meinung gewesen, dass nur nächste Angehörige auf einer Intensivstation Zutritt hatten und keine Anwälte! Außerdem war ihm schlecht, sogar sehr schlecht. Bevor er irgendetwas sagen konnte, hatte der Anwalt seine Hand wieder losgelassen und geschäftig seinen Aktenkoffer geöffnet. „Wie mir mein Mandant erzählt hat, ist es auf der Burg zu einem Zusammentreffen zwischen ihnen und ihm gekommen. Er war der Überzeugung, dass es sich bei ihnen um einen Schauspieler mit äh, gewissen Neigungen handelt, der natürlich einvernehmlich bei den Spielereien mitmacht. Viele Leute empfinden ja Lust bei körperlichen Schmerzen und das ist auch überhaupt nicht verwerflich!“ sagte er schleimig. Nun wurde Ben langsam klar, dass Florian Tewett einer seiner Folterer war, nur war noch nicht klar, welcher. „Wie sieht ihr Mandant aus?“ würgte er hervor, denn die Erinnerung an die Burg verstärkte noch seine Übelkeit. „Er ist in der Szene auch unter dem Namen „Hieronymus“ bekannt, groß, schlank…“. Ben winkte ab, nun wusste er, um wen es sich handelte. „Und was wollen sie jetzt von mir? Ich werde die Entschuldigung nicht annehmen, auch wenn sowas den Richter natürlich wohlwollend stimmt. Schauen sie mich doch an, ihr Mandant und die anderen haben mir mein Leben versaut, ich weiß nicht, ob ich je wieder ganz gesund werde, der soll nur viele Jahre im Knast darüber nachdenken, was er falsch gemacht hat!“ presste Ben hervor, dessen Übelkeit sich von Minute zu Minute verstärkte.„Aber mein Mandant verfügt über nicht ganz unerhebliche Mittel. Nachdem nicht mehr rückgängig zu machen ist, was geschehen ist, wäre es doch von Vorteil, wenn sie sich in Zukunft ohne finanzielle Sorgen ganz auf ihre Genesung konzentrieren könnten. Das Gehalt eines Polizisten ist ja nicht so wahnsinnig hoch und deshalb haben wir uns überlegt, dass wir ihnen finanziell unter die Arme greifen könnten, sagen wir mit drei Millionen Euro, wenn sie sich im Gegenzug bereiterklären, vor Gericht auszusagen, sie hätten bei den Spielen freiwillig mitgemacht!“ unterbreitete ihm der Anwalt, der inzwischen ein Schriftstück und einen Kugelschreiber aus seinem Koffer geholt hatte und das Ben , indem er sich leicht über ihn beugte, zur Unterschrift entgegenhielt. Ben versuchte es noch zu vermeiden, aber nun kam es ihm hoch und er erbrach sich im Schwall über sein Bett und die Kleidung des Anwalts und konnte gar nicht mehr aufhören, zu kotzen.


    Semir war inzwischen mit Hartmut zu den Städtischen Bühnen gefahren, wo sie schon vom Chef des Kostümfundus erwartet wurden. Er führte sie in große Lagerräume in einem Nebengebäude, wo hunderte von Kostümen, teils eingepackt, teils offen, auf Kleiderbügeln auf ihren nächsten Einsatz warteten. „Sie brauchen etwas Mittelalterliches?“ erkundigte sich der Requisiteur und Hartmut und Semir nickten. Gemeinsam gingen sie in die entsprechende Reihe und dort warteten vielerlei Kostüme nach Farben, Größen und Epochen sortiert, auf sie. Der Mann nahm nacheinander eines nach dem anderen hervor, aber Hartmut schüttelte den Kopf. Semir sah ihn neugierig an. Das war doch egal, was genau er trug, wichtig war doch nur, dass es einigermaßen ins Mittelalter passte und nicht billig wirkte. Gerade wollte er etwas diesbezüglich sagen, da begann Hartmut beim Anblick des Kostüms, das der Requisiteur gerade hervorgeholt hatte, zu strahlen. „Das ist es!“ sagte er glücklich und als Semir das Kostüm ansah, konnte er sich ein Lachen nicht verkneifen. Es war das Kostüm eines Narren, dem anhängenden Zettel konnte man entnehmen, dass es zwei Jahre zuvor für die Eulenspiegel-Festspiele hergestellt worden war. Sogar eine Narrenkappe mit Schellen daran lag bei, aber Hartmut ließ sich nun von nichts anderem mehr überzeugen. Er probierte das Kostüm und es passte wie angegossen. Sie füllten einen Verleihzettel aus, packten das Kostüm ein und fuhren zur KTU, um die Verwanzung vorzubereiten und eine Hintergrundgeschichte für Hartmut zu erfinden. „Hartmut, jetzt erklär mir bitte, warum es gerade dieses Kostüm sein musste!“ forderte ihn Semir auf. „Weil der mittelalterliche Narr der klügste Mann am Hofe war, der den Reichen und Mächtigen als Einziger ungestraft den Spiegel vorhalten durfte, deshalb gefiel mir das so!“ erklärte Hartmut seine Entscheidung und das war jetzt für Semir nachvollziehbar-wenn der klügste Mann dieses Kostüm trug, dann war Hartmut damit richtig angezogen!

  • Der Anwalt sprang mit einem Fluch zurück, während Ben gar nicht mehr aufhören konnte, zu brechen. Obwohl ihm alles weh tat, er merkte wie der scharfe Magensaft in den Operationswunden brannte und sein ganzer Bauch weh tat, fühlte er sich, wie ein Fass ohne Boden. Sein Monitor begann zu alarmieren und während der Anwalt empört versuchte mit Papiertaschentüchern seinen verschmutzten Anzug zu reinigen, kam schon eine Schwester um die Ecke, die auf den Alarm reagierte. Sie zog sich im Hereinlaufen Einmalhandschuhe an, holte eine Nierenschale aus dem Pflegewagen, obwohl das nun eigentlich auch schon egal war, denn der ganze Patient und das Bett dazu waren bereits verschmutzt und rief laut nach dem Stationsarzt, der eine Minute später bereits im Zimmer stand und sich die Bescherung ansah. „Eine Ampulle Ondasetron!“ ordnete er an und eine weitere Schwester, die den Tumult auch gehört hatte, brachte das Verlangte.
    Momentan hatte sich die Lage ein wenig beruhigt und obwohl Ben immer noch kotzübel war, hatte er aufgehört zu erbrechen. Irgendwas störte ihn aber wahnsinnig in seinem Rachen, mal ganz abgesehen davon, dass es immer noch brannte, wie das Höllenfeuer. Er würgte nochmals kurz und da sah die Schwester schon, was geschehen war. „Oh Herr Jäger, die Magensonde haben sie wohl mit raufgewürgt!“ sagte sie, denn nun war in seinem Mund das Ende der dünnen Ernährungssonde zu sehen. Die beiden Schwestern zogen sich nun Plastikschürzen an, die eine löste mit ihren behandschuhten Händen das Pflaster an seiner Nase und zog vorsichtig die Sonde heraus, was bei Ben wieder einen fürchterlichen Würgereiz hervorrief.
    Der Stationsarzt hatte inzwischen misstrauisch den Anwalt gemustert, der fluchend den beschmutzte Vertrag in den Papierkorb donnerte und fragte ihn: „Wer sind sie und was haben sie bei meinem Patienten zu suchen?“ Gut, man konnte ja nicht wissen, vielleicht war das ein naher Verwandter von Herrn Jäger, den man außerhalb der Besuchszeit aus irgendwelchen nachvollziehbaren Gründen hereingelassen hatte, aber sein Gefühl trog ihn nicht, denn ohne eine Antwort zu geben, schloss der Anwalt seinen Aktenkoffer und floh regelrecht aus dem Zimmer.
    Bevor er sich seinem Patienten widmete, der ja im Augenblick von den Schwestern versorgt war, trat der Arzt seelenruhig an den Papierkorb und fischte das vorbereitete Dokument heraus und las es sich durch, aha, daher wehte also der Wind! Er würde den unlauteren Vertrag dem Kollegen seines Patienten geben, wenn der wieder zu Besuch kam und bat eine der beiden Schwestern, ihm eine Plastikfolie zu bringen, um das Beweisstück zu sichern. Die sah ihn merkwürdig an, brachte zwar das Verlangte und dazu gleich noch eine Waschschüssel, meinte aber dann trocken: „So Herr Doktor, aber vielleicht sollten sie jetzt ihre kriminalistischen Neigungen mal in andere Bahnen lenken und versuchen, herauszufinden, warum es Herrn Jäger so übel ist!“ und mit einem kurzen Erröten wandte sich der Arzt nun seinem Patienten zu.


    Semir und sein rothaariger Kollege waren inzwischen in der KTU angekommen. Hartmut hatte die ganze Zeit überlegt. „Weißt du Semir, diese Leute, die dieses Vergangenheitsforum ins Leben gerufen haben, sind anscheinend versierte Technikfreaks, wie ich an den Versuchen meine Firewall zu knacken, sehen konnte. Die werden Geräte haben, mit denen man Wanzen aufspüren kann und dann kann ich nichts erfahren, weil ich dann sofort raus bin. Ich gehe aber nicht davon aus, dass die mir schon gleich was antun wollen, denn bisher haben die ja keine Ahnung davon, dass ich Polizist bin. Ich würde also vorschlagen, ich bringe nur eine einzige Wanze an-und zwar in der Narrenkappe, die ich hoffentlich unauffällig beiseitelegen kann, wenn sie mich scannen. Wenn ihr den Parkplatz observiert, dann dürfte das genügen. Semir überlegte-eigentlich war das stichhaltig, was Hartmut sich da überlegt hatte. „Gut dann mach das so, aber was verpassen wir dir jetzt für eine Vita?“ fragte er und auch darauf wusste Hartmut eine Antwort: „Ich habe die letzten Jahre in den Staaten verbracht, bin ein deutschstämmiger, reicher Immobilienmakler, der sich jetzt aus sentimentalen Gründen eine Wohnung direkt am Rhein kaufen möchte. Ich habe geschaut-im Augenblick steht ein Appartement im Kranhaus Nord im Rheinauhafen zum Verkauf, zur Zeit Kölns teuerste Wohnlage. Wenn wir uns jetzt einen Namen überlegen, bastle ich im Internet schnell einen Background für mich als fiktive Person, dass auch etwas erscheint, wenn sie mich googeln-was mit Sicherheit passieren wird. Dann nehme ich ganz offiziell mit dem Verkäufer des Luxusappartements Kontakt auf, um die Geschichte zu untermauern, damit dürfte ich bewiesen haben, dass bei mir was zu holen ist!“ erklärte er und nach kurzem Nachdenken einigten sie sich darauf, dass Hartmut ab sofort Walter Kayser heißen sollte.Während Hartmut mit Feuereifer begann, an der Geschichte zu basteln und sogar gefakte Bilder von sich im Internet platzierte, dann den Verkäufer des Appartements anrief und für den nächsten Tag einen Besichtigungstermin vereinbarte und nahe einer Schelle in der Kappe eine Wanze installierte, machte sich Semir wieder auf den Weg. Er würde kurz nochmals bei Ben im Krankenhaus vorbeischauen und danach Andrea schonend beibringen, dass es heute Abend sicher wieder später werden würde. Oh Mann, die war zur Zeit eh drauf wie´s Messer, hoffentlich konnte er sie besänftigen!


    Auf der Intensivstation hatten inzwischen die Pflegekräfte Ben notdürftig wieder sauber gemacht-die Verbände würde man später erneuern-und das Bett frisch bezogen. Der Arzt betastete Ben´s Bauch und hörte mit dem Stethoskop darauf. Seine Miene wurde immer ernster und während Ben schon wieder dringend nach einer Schale verlangte, um erneut zu kotzen, zog der Arzt seine Handschuhe aus. „Ich muss meinen Hintergrund informieren!“ murmelte er und verließ, nach seinem Telefon greifend, das Zimmer.

  • Wenig später erschien der Intensivarzt wieder, im Schlepptau einen internistischen Oberarzt, der eine Ultraschalluntersuchung des Bauches vornehmen sollte. Für ungefähre orientierende Einblicke mit dem Sonographiegerät genügten die Kenntnisse des Intensivarztes, aber einen detaillierten Ultraschall nahmen besser Leute vor, die sowas tagtäglich machten. Die Schwestern hatten inzwischen begonnen, nach und nach die beschmutzten Verbände abzuziehen, was Ben mit einem gequältem Gesichtsausdruck quittierte. Das ziepte ganz schön, aber er gab keinen Laut von sich, auch nicht, als die Wunden desinfiziert und mit neuen Pflastern versehen wurden. In diesem Moment kam auch Sarah ganz beschwingt wieder um die Ecke und erschrak, als sie ihre Kolleginnen und die beiden Ärzte mit ihrem Ben beschäftigt sah. „Was ist passiert?“ fragte sie erschrocken und ihre Kollegin wandte den Kopf. „Er hat massiv erbrochen und auch gleich die Magensonde mit hochgewürgt!“ erklärte sie und Sarah war mit zwei Schritten bei ihrem Freund. „Armer Schatz!“ sagte sie mitleidig und griff nach seiner Hand. „Jetzt wird’s aber ein bisschen eng hier!“ bemerkte der Internist, der sich inzwischen das Ultraschallgerät und einen Stuhl herangezogen hatte. „Wir sind auch schon fast fertig, wir müssen nur noch das letzte Pflaster in der Brustmitte frischmachen, wo das Hauttransplantat darunter sitzt!“ verteidigte sich die Schwester. „Das kann ja vielleicht noch warten!“ fand der Internist und während man das Zimmer verdunkelte, zog sich eine der beiden Schwestern zurück, um sich um ihre eigenen Patienten zu kümmern und die andere trat ein paar Schritte vom Bett weg.


    Der Internist verschaffte sich erst einen groben Überblick und schallte dann systematisch die Bauchorgane. Dann hörte auch er noch mit dem Stethoskop auf den Bauch, um letztendlich festzustellen. „Wie sie auch schon diagnostiziert haben, Herr Kollege, sind keinerlei Darmgeräusche zu hören. Bei der Ultraschalluntersuchung konnte ich nur bewegungsunfähige überblähte Darmschlingen feststellen, wir haben hier das Vollbild eines paralytischen Ileus, also einer Darmlähmung!“ stellte er seine Diagnose, der Ben und Sarah ängstlich lauschten. „Der Magen ist immer noch ziemlich gefüllt, ich würde also eine dicke Magensonde empfehlen, durch die das Sekret auch ablaufen kann und dann medikamentöse und mechanische Stimulation!“ teilte er noch seinen Therapievorschlag mit. „Wann waren sie denn zum letzten Mal groß auf der Toilette?“ fragte er Ben, der nach kurzem Nachdenken hervorwürgte: „Letzten Samstag!“ denn danach wurde ihm schon wieder schlecht und er befüllte erneut die bereitgehaltene Nierenschale.Die anwesenden Mediziner wechselten einen Blick, das war eine knappe Woche und während die Schwester das Zubehör zum Magensondenlegen holte, strich Sarah ihrem Freund die verschwitzen Haare aus der Stirn und hielt die Schale. Man hatte das Bett wieder hochgefahren, damit er sich leichter tat, aber trotzdem schmerzte Ben sowohl sein Kiefer, als auch alle anderen Wunden, wenn es in ihm alles zusammenzog, während er kotzte. Der Internist hatte noch den Schallkopf des Ultraschallgeräts mit einem Desinfektionstuch aus einem Spender gereinigt, seine Hände desinfiziert und nun verließ er mit einem kurzen Gruß das Patientenzimmer und nahm das Sonogerät gleich mit.


    Der Intensivarzt zog sich eine Plastikschürze und Einmalhandschuhe an und die Schwester, die die benötigten Dinge gleich geholt hatte, tat das Gleiche. Außerdem deckte sie das frisch bezogene Bett noch ab und machte das große Deckenlicht an.Sarah wurde ans Kopfende des Betts gescheucht: „Nicht dass du mit deinen schönen Klamotten noch was abkriegst!“ sagte die Pflegekraft ungerührt und Sarah wusste jetzt nicht, ob sie sich deswegen ärgern oder dankbar sein sollte. Allerdings war das Legen einer Magensonde bei einem wachen Patienten eine unschöne Angelegenheit und sie hätte das auch nicht gekonnt, bei jemandem der ihr nahestand, deshalb nahm sie folgsam ihren Platz dort ein. „Ben ich bin da und gehe auch nicht weg!“ sagte sie tröstend und holte schon mal einen feuchten Waschlappen, um ihm danach das Gesicht abwaschen zu können.


    Der Intensivarzt fackelte nicht lange und sagte: „Herr Jäger, wie mein Kollege schon bemerkt hat, brauchen sie wieder eine Magensonde. Diese hier ist ein wenig dicker und starrer als die vorige, ich verspreche ihnen auch, dass die nur so lange liegen bleibt, wie unbedingt nötig, aber wir müssen den Magensaft ablaufen lassen, um ihren Bauch zu entlasten. Ich werde das Ding jetzt langsam durch ihre Nase nach unten schieben und bitte sie, immer wenn ich es sage, zu schlucken!“ Ben starrte die Sonde an, wie die Maus die Schlange, aber es half ihm nichts, man bestrich die Sonde kurz mit Gleitgel und dann begann auch schon die Tortur. Als die Sonde hinten im Rachen anstieß, würgte Ben erneut und Sarah, der sowas normalerweise gar nichts ausmachte, wurde nun auch beinahe schlecht. Es war doch ein Unterschied, ob man einen unbekannten Patienten versorgte, oder jemanden, der einem nahe stand! Unter abwechselndem Würgen und Schlucken, was die Schwester noch mit einem angebotenen Becher Wasser, das er trinken sollte, zu unterstützen versuchte, wanderte die Sonde durch die, von der Magensäure wunde Speiseröhre, in Ben´s Magen. Es trieb ihm die Tränen in die Augen und als der Arzt endlich an der Markierung ablas, dass sie weit genug drinnen war, zog man den Mandrin heraus und eine Lagekontrolle erübrigte sich, weil nun massenhaft Sondennahrung und Magensaft herausliefen, gerade schaffte man es noch den Ablaufbeutel anzuschließen! Die Schwester putze mit einer speziellen Kompresse, die Kleberreste entfernte und die Haut entfettete, noch Ben´s Nase ab und verklebte dann mit hautfarbenen Pflasterstreifen die Sonde. Ben war schweißgebadet von der Tortur und ließ sich nun aufatmend auf sein Kissen zurückfallen. Dankbar registrierte er, dass Sarah ihm das Gesicht abwusch und ihn dann auch noch den Mund ausspülen ließ. Sie nahm nun wieder ihren Platz an Ben´s Seite ein und half danach ihrer Kollegin, das Hauttransplantat vorsichtig zu verbinden. Millimeterweise, um die aufgebrachte Spalthaut nicht versehentlich abzuziehen, entfernten sie das verschmutzte Pflaster. Nun kam eine sterile Salbenkompresse darauf und dann wurde wieder ein Klebeverband darüber befestigt.


    Ben atmete auf, er hätte nur zu gerne was Ordentliches gegen die Schmerzen gehabt, aber als er schüchtern fragte, schüttelte der Intensivarzt den Kopf. „Tut mir leid Herr Jäger, aber wir werden mit den Opiaten jetzt äußerst sparsam umgehen, denn die lähmen leider ihrerseits den Darm. Sie bekommen periphere Schmerzmittel, also Paracetamol und Novalgin, aber das wars dann auch. Nur wenn sie es gar nicht mehr aushalten können, kriegen sie ein Opiat-ist das jetzt so?“ fragte er, aber Ben schüttelte den Kopf. Er musste auch gestehen, er hatte die Nebenwirkungen der Opiate, dass er da ein wenig müde wurde und ihm dann alles egal war, in seiner momentanen Situation sehr geschätzt, aber er verstand auch das Dilemma. Im Augenblick war ihm auch nicht mehr übel, die Sonde störte zwar, aber langsam begann er sich damit abzufinden und so fragte er den Doktor: „Und was geschieht jetzt wegen dem Darmverschluss?“ und der antwortete: „ Da werden wir jetzt mit aller Kraft versuchen, den faulen Kerl in Schwung zu bringen!“ aber darunter konnte Ben sich jetzt erst mal gar nichts vorstellen.

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