Burgen, Schlösser und Ganoven

  • Wie der Notarzt untersuchte der Aufnahmearzt Ben erst einmal von oben bis unten. Als man das Tuch über seine Lenden wegnahm, wurde Sarah blass und musste sich abwenden. Semir, der ja schon wusste, wie das darunter aussah, war zu seinem Freund getreten und hatte dessen Hand wieder fest in die Seine genommen.


    „Kann mir bitte jemand das Ultraschallgerät bringen?“ fragte der Arzt und Sarah nickte mit trockenem Mund und stürzte auf den Flur der Notaufnahme, erstens um das Gerät zu suchen und zweitens, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Als sie das Gerät gefunden hatte, atmete sie mehrmals tief durch und betrat wenig später erneut den Behandlungsraum. Sie musste jetzt für Ben stark sein, alles andere musste sie zur Seite schieben.


    „Wie lange war er in Gefangenschaft?“ hörte sie den Arzt fragen und Semir antwortete wahrheitsgemäß: „Seit vergangenen Samstag!“ und der Arzt nickte. „So alt dürften in etwa die Wunden am Rücken sein, ein Tag hin oder her!“ erklärte er.“Herr Jäger, wie lange haben sie schon nichts mehr getrunken?“ fragte er und Ben antwortete schwach: „Ich weiß nicht genau, so zwei, drei Tage vielleicht?“ antwortete er. Obwohl nun schon zwei Liter Infusion in Ben´s Organismus verschwunden waren, blieb an seiner Haut eine Falte stehen, wenn man sie hochzog, ein Zeichen der immer noch bestehenden Austrocknung. Trotzdem nahm der Arzt kurzentschlossen einen Stauschlauch und legte an einem Arm eine Stauung an. Zwar schwach, aber doch tastbar konnte er eine Vene erahnen und tatsächlich gelang es ihm, die zu punktieren. Er nahm mehrere Blutröhrchen und Blutkulturen ab, damit man wusste, wo man stand und schloss dann eine weitere Infusion mit einer Vollelektrolytlösung an, die im Schuss in Ben tropfen durfte.
    Mit einem Lächeln bedankte er sich bei Sarah für das Sonographiegerät und schallte dann Ben´s Bauch. „Es liegt, Gott sei Dank, kein Anhalt für innere Verletzungen vor!“ erklärte er, nachdem er die Untersuchung abgeschlossen hatte. Ben´s Blutdruck war inzwischen bei akzeptablen 90/60 mm/Hg angekommen, während der Puls allerdings immer noch bei 120 lag.


    "Gut, dann können wir es wagen, die Eisenklammer zu entfernen!“ sagte der Arzt und die Aufnahmeschwester hatte den Spezialsägefaden schon nähergebracht. „Bitte geben sie noch 2,5 g Metamizol in die Infusion!“ bat sie der Arzt, denn Ben konnte durchaus noch Schmerzmittel vertragen. Nur ging das Opiat natürlich auch auf den Kreislauf und deswegen war man da einigermaßen zurückhaltend und einen Atemstillstand wollte man auch nicht provozieren.
    „Das wird jetzt vermutlich trotz allem etwas weh tun, aber um den Fuß zu retten, können wir nicht länger warten!“ erklärte der Arzt und zog auch schon den mit Diamanten besetzten Faden durch den Ring der Eisenklammer. Die Schwester versuchte noch eine Kunststoffplatte darunter zu schieben, aber da war leider überhaupt kein Platz mehr. So begann der Arzt den Faden hin-und her zu bewegen und dadurch das Eisen durchzusägen. Sarah hatte Ben´s andere Hand genommen, dem nun der Schweiß in Strömen von der Stirn floss. Erstens wirkte das Schmerzmittel fiebersenkend und zweitens tat jede Sägebewegung an seinem Knöchel fürchterlich weh und riss dort auch die Haut auf. Er jammerte laut und Sarah meinte, die Minuten, in denen der Arzt so vor sich hin sägte, dehnten sich zu Stunden. „Bei den Eheringen, bei denen wir das normalerweise machen, dauert das nicht solange, aber da müssen wir auch nicht so viel Material durchdringen!“ bemerkte der Arzt gerade, als plötzlich der Ring aufsprang und das Blut nun wieder ungehindert in den blauschwarzen Fuß strömen und vor allem, das mit Stoffwechselgiften belastete alte Blut in den Organismus zurücklaufen konnte. Ben brüllte auf, wie ein Stier, so unsäglich schmerzhaft war das gerade, um dann die Augen zu verdrehen und plötzlich schlaff zu werden.

  • Der Arzt wies die Aufnahmeschwester an, während er schon das Kopfteil der Untersuchungsliege flach stellte und eine Schocklage vornahm: „Bitte rufen sie das Notfallteam!“ und die drückte auf den speziellen Knopf, der in fast jedem Raum des Krankenhauses vorhanden war und das dazu eingeteilte Team auf der Intensivstation verständigte. Sarah hatte nun ihre ganzen persönlichen Gefühle ausgeschaltet und funktionierte nur noch wie eine Marionette. Sie warf einen routinierten Blick auf den Monitor und sah, dass Ben´s Herz zwar sehr langsam, aber immer noch schlug. Semir war schreckensbleich einen Schritt zurückgetreten, er hatte sofort erkannt, dass er jetzt da überhaupt nichts machen konnte, außer die Profis nicht bei der Arbeit zu stören.


    Als Sarah auf die automatische Blutdruckmessung drückte und dabei auch gleich das Messintervall von 15-minütlich auf minütlich verstellte, war momentan überhaupt kein Druck messbar. Schon öffnete sich die Tür und das Reateam kam herein. „Was haben wir da?“ fragte der diensthabende Anästhesist und registrierte dann überrascht, dass Sarah in Zivilkleidung neben dem Patienten stand. Als er genauer hinsah, erkannte er auch deren Freund, der ja bei ihnen schon Patient gewesen war. Allerdings sah der schrecklich aus und war anscheinend übelst gefoltert worden. Was war denn dem schon wieder passiert, der zog das Unheil ja an wie Motten das Licht?

    „Der Patient war seit Samstag entführt und wurde währenddessen anscheinend gefoltert. Er hatte eine Eisenklammer um den Fuß, die die Blutversorgung abgeschnürt hat und beinahe zum Absterben desselben geführt hat. Ich habe die entfernt und er ist dann kollabiert.“ erklärte der Aufnahmearzt kurz den Ablauf. Inzwischen war der Fuß zwar nicht mehr blauschwarz, sondern tendierte eher ins bläuliche, aber gesund sah der immer noch nicht aus. „Vor Ort war der Patient so zentralisiert, dass der Notarzt ihm eine ossäre Nadel legen musste, über die er in der letzten Stunde zwei Liter Volumen bekommen hat. Mir ist es vorhin gerade gelungen eine Armvene zu punktieren, Blut abzunehmen und da eine Infusion anzuhängen!“ erklärte der Aufnahmearzt noch, während das Reateam schon geschäftig begann die Intubation vorzubereiten und Medikamente aufzuziehen. Sarah hatte vom Narkosegerät inzwischen eine Maske genommen, den Sauerstoff voll aufgedreht und hielt sie Ben vor´s Gesicht. Im Augenblick atmete er noch selber und es wäre auch, durch das augenscheinlich gebrochene Kiefer, nicht möglich, ihn mit der Maske zu beatmen. Entweder man intubierte ihn nasal, oder nahm sofort eine Notfallkoniotomie vor, wenn seine Atmung aussetzte.
    „Oh je, das werden wir oral nicht hinbringen mit der Intubation!“ sagte nun auch der Intensivarzt mit einem abschätzenden Blick auf Ben´s Gesicht. Dessen Herz schlug Gott sei Dank immer noch und so ordnete der Anästhesist an: „Versuchen wirs mal mit drei Milliliter verdünntem Supra!“ und die Intensivschwester die bereits eine Ampulle mit einem Milliliter Adrenalin mit 9 Millilitern Kochsalzlösung nach Standard verdünnt hatte, setzte die Spritze an und injizierte das in den Zugang an Ben´s Ellbeuge. „Das Metamizol bitte weg und dafür eine leere Ringerlösung!“ befahl der Narkosearzt noch und Sarah erledigte das sofort, wie in Trance, während die Aufnahmeschwester die Sauerstoffmaske übernahm. Die Intensivschwester hatte inzwischen alles für eine nasale Intubation vorbereitet, da begann Ben sich plötzlich zu regen. Das Adrenalin war in seine Adern geschossen und hatte das Herz dazu gebracht, wieder schneller zu pumpen. Das Blut wurde durch körpereigene Mechanismen und dazu die Kopftieflage wieder dahin befördert, wo es am Nötigsten gebraucht wurde-ins Gehirn-und er kam langsam wieder zu sich.


    Der Anästhesist wartete noch die nächste Blutdruckmessung ab, der betrug zwar nur 70/40 mm/ Hg, aber immerhin, sie hatten wieder einen Druck. Dann sagte er, während er sich über seinen Patienten beugte und die Reflexe checkte: „Hallo Herr Jäger, haben sie sich doch entschlossen, noch ein Weilchen bei uns zu bleiben?“ und Ben, der überhaupt nicht wusste, wie ihm geschah, starrte ihn verständnislos an. Der Blutdruck sackte zwar wieder ab, als die Wirkung des Adrenalins nachließ, aber die Intensivschwester hatte inzwischen, laut Anordnung des Narkosearztes, einen Perfusor mit Noradrenalin, eine Abart des puren Adrenalins, vorbereitet und der wurde nun gestartet und damit Ben´s Blutdruck künstlich hochgehalten, bis sein Körper das selber wieder übernehmen konnte.


    Semir, der in einer Zimmerecke stand und unbewusst die Luft angehalten hatte, begann wieder normal zu atmen und als ihn Ben´s Blick traf, der begonnen hatte, im Raum herumzuwandern, trat er schnell wieder zu ihm und sagte beruhigend: „Ben, ich bin schon da, ich habe dir doch versprochen, dich nicht alleine zu lassen!“ und daraufhin schloss der beruhigt die Augen.

  • Der Narkosearzt besprach sich mit dem Aufnahmearzt: „Wie machen wir jetzt weiter?“ fragte er. „Er muss auf jeden Fall auf Intensiv und das Kiefer muss auch bald gerichtet werden, allerdings erst, wenn er stabilisiert ist. Er ist kreislaufinstabil und immer noch sehr trocken. Er braucht eine Arterie, einen ZVK und ziemlich viel Volumen. Dazu vermutlich Elektrolyte und eine Breitbandantibiose.“ bestimmte der Anästhesist. Der Aufnahmearzt zog das Tuch, das man über Ben´s Mitte gelegt hatte, zur Seite und nun hielt der Intensivarzt kurz die Luft an, bevor er seinen Satz vervollständigte „Und dann auch noch einen Urologen!“ setzte er hinzu und warf einen schnellen Seitenblick auf Sarah.
    Kein Wunder, dass die so blass war! Aber wer zum Teufel tat denn einem anderen Menschen sowas an? „Hat man wenigstens das Schwein, der ihm das angetan hat?“ fragte er empört und Semir antwortete: „Nur einen Teil der Täter und das da unten“- und er warf einen kurzen Blick zu Ben „war übrigens eine Frau!“ und nun schossen Sarah doch die Tränen in die Augen. „Armer Schatz!“ sagte sie weich und Ben, der inzwischen wieder völlig orientiert war und nur noch ein wenig vom Schmerz und Schock zitterte, konnte seinen Mund schon wieder zu einem schiefen, angedeuteten Lächeln verziehen. „Das hätte ich mir auch nie träumen lassen!“ murmelte er „Dass eine Frau zu sowas fähig ist!“ und dann schloss er wieder erschöpft die Augen und ließ Sarah und die Ärzte machen. Er wollte sich jetzt nur noch fallen lassen, keine Schmerzen und keinen Durst mehr aushalten, ein weiches Bett zum Liegen und vielleicht einen kühlen Waschlappen auf die Stirn. Wie bescheiden man wurde, wenn es einem nicht gut ging!


    „Ich würde vorschlagen, wir mache gleich noch eine Röntgenaufnahme des Kiefers und dann entscheiden wir, ob wir den Kieferchirurgen jetzt noch in der Nacht brauchen, oder ob wir das auf morgen früh schieben können. Den Urologen habe ich schon verständigen lassen, der kommt in Kürze vorbei und ich würde gerne noch unter die Verbände schauen!“ erklärte der Aufnahmearzt seinem Kollegen, was er weiter geplant hatte. „Gut, das Röntgen geht in Ordnung, aber dann hätte ich ihn gerne oben auf der Intensiv. Da können wir einfach besser reagieren, wenn sich was Lebenswichtiges verschlechtert und alles Weitere lässt sich auch von dort anleiern!“ erklärte der Anästhesist und der Aufnahmearzt nickte. „Das geht in Ordnung!“ sagte er und gemeinsam fuhren sie dann Ben in den Röntgenraum, der direkt neben der Notaufnahme lag.
    Es wurden mehrere Aufnahmen des Kiefers aus allen Ebenen geschossen, aber der Aufnahmearzt entschied dann: „Das kann noch ein paar Stunden warten, bis zur endgültigen Versorgung!“ und gerade wollten sie auf die Intensivstation fahren, da bog ein junger Arzt um die Ecke. „Da ist ja unser Urologe!“ sagte der Aufnahmearzt und begrüßte freundlich seinen Kollegen, der sich auch gleich bei Ben und Semir vorstellte. Kurz kehrten sie noch in den Behandlungsraum zurück und der Urologe der gerade Einmalhandschuhe angezogen hatte, wollte eben das Tuch von Ben´s Unterkörper nehmen, als der Intensivarzt plötzlich sagte: „Sarah, könntest du uns bitte ein Bett mit einer Thermacairmatratze und darauf einem Metallineleintuch besorgen?“ und Sarah, die gerade protestieren wollte, fing Ben´s Blick auf, der unmerklich nickte und sah, wie Semir neben seinem Freund stand und fest dessen Hand drückte. Gut, vielleicht wollten Männer für so eine Untersuchung unter sich sein und sie gab sich einen Ruck und verließ den Raum, um den Auftrag auszuführen. Kaum war sie den Flur ein paar Meter hinuntergelaufen da hörte sie Ben durch die nicht völlig geschlossenen Schiebetür schmerzerfüllt aufstöhnen, aber als sie dann die ruhige, besonnene Stimme des Anästhesisten hörte, der sich gerade eine Ampulle mit Piritramid, einem Opiat, geben ließ, ging sie schweren Herzens weiter und besorgte das gewünschte Bett.


    Als sie zurückkam, lag Ben wieder zugedeckt auf der Liege und hatte die Augen geschlossen. Sie konnte frische Tränenspuren entdecken, aber im Augenblick schien er friedlich zu schlafen. „Auch die operative Versorgung des Unterleibs kann bis morgen früh warten!“ informierte sie der Urologe, der gerade mit dem Ultraschallgerät aus dem Zimmer fuhr, mit dem er die Tiefe der Verletzungen kontrolliert hatte.


    Als Sarah das besonders weiche Bett mit der nicht klebenden, aseptischen, metallbeschichteten Matratzenauflage neben die Untersuchungsliege rangierte, fing sie einen besorgten Blick Semir´s auf, dem man die Strapazen und den wenigen Schlaf der letzten Tage ebenfalls deutlich ansah. Sie bemühte sich tapfer zu lächeln. Mein Gott, wenn es ihnen als Angehörige schon so schlecht ging, wie musste Ben sich dann erst fühlen?
    Alle packten mit an und so wurde der Patient mit Hilfe eines Rollbretts vorsichtig ins weiche Bett befördert. Man deckte ein dünnes Laken über seinen fieberheißen Körper, steckte den Transportmonitor, mit dem seine Vitalfunktionen kontrolliert wurden, in die vorgesehene Halterung, befestigte noch den Perfusor und hängte die beiden Infusionen an den Infusionsständer am Bett. „Herr Jäger, wir bringen sie jetzt auf die Intensivstation, wo wir sie noch ein wenig stabilisieren und verkabeln werden!“ informierte ihn der Intensivarzt und Ben, der inzwischen aus seinem Halbdämmer wieder erwacht war, nickte müde. Die Karawane setzte sich in Bewegung und als Sarah einen Blick auf die Uhr warf, sah sie, dass es inzwischen zwei Uhr in der Nacht geworden war. Was der kommende Tag wohl bringen würde?

  • Auf der Intensivstation angekommen, empfingen Sarah´s Kollegen und Kolleginnen sie freundlich. Routiniert wurden die Infusionen und der Perfusor umgehängt und kaum lag Ben an seinem Bettplatz, wurde auch schon der Eingriffswagen herein gefahren. Ben der eigentlich nur schlafen wollte und durch das Schmerzmittel, das er kurz zuvor ja bekommen hatte, sehr müde war, runzelte die Stirn. „Darf ich bitte meine Ruhe haben?“ fragte er nuschelnd, aber Sarah und der Intensivarzt schüttelten den Kopf. „Schatz, erst brauchst du ein paar Schläuche, das ist sehr wichtig!“ erklärte sie ihm und aufseufzend schloss Ben die Augen. Wenn Sarah diesen Ton drauf hatte, brauchte man nicht zu diskutieren, das hatte er in der Zeit ihrer Beziehung schon herausgefunden. Der Intensivarzt sah noch zu Semir und bat den: „Ich würde sie bitten nach Hause, oder wenigstens raus zu gehen. Wir haben sowieso schon wenig Platz hier. Morgen dürfen sie gerne anrufen, oder wiederkommen!“ sagte er freundlich und als der fragend Ben ansah, der die Augen wieder einen Spalt offen hatte, antwortete er für ihn. „Semir geh heim-Sarah ist ja bei mir!“ sagte er und nach kurzer Überlegung drückte Semir noch fest die Hand seines Freundes. „Gute Besserung-ich komme am Vormittag wieder!“ sagte er weich und Ben lächelte ihn ein wenig schief an. „Danke, dass du mich gerettet hast, ich wäre sonst schon tot!“ flüsterte er und mit einem letzten Blick zurück, verließ Semir den Raum.

    Als er langsam Richtung Ausgang lief und gerade überlegte, ob wohl der Taxistand nachts auch besetzt war, kam ihm Frau Krüger entgegen, die gerade vom Nachtpförtner erfahren hatte, wo Ben gelandet war. „Semir, wie geht es ihm?“ fragte sie besorgt und Semir zuckte müde die Schultern. „Es ging ihm schon mal besser, aber er ist hier in guten Händen. Er wird gerade auf der Intensivstation verkabelt und hat morgen einige Operationen vor sich.“ erklärte er der Chefin. „Die haben mich gerade weggeschickt, man kann ihn momentan nicht besuchen!“ hängte er noch an und sie drehte sich um. „Gut, dann fahre ich sie jetzt nach Hause. Die Spurensicherung in der Burg ist abgeschlossen. Hartmut ist mit ihrem Wagen heimgefahren und wird sich morgen Berghoffs Computer vornehmen. Jetzt allerdings sollten wir alle schauen, dass wir noch ein Ründchen Schlaf abkriegen!“ bestimmte sie und Semir ließ sich müde auf den Beifahrersitz des A-Klasse-Mercedes von Frau Krüger fallen. „Keine schlechte Idee!“ murmelte er und döste auf der Fahrt zu sich heim beinahe ein wenig ein. Kurz vor der Ankunft schreckte er hoch. „Verdammt, Andrea!“ fiel ihm ein, aber die Chefin beruhigte ihn. „Susanne hat sie auf dem Laufenden gehalten, sie weiß Bescheid!“ beruhigte sie ihn und mit einem schlichten: „Danke!“ verließ Semir das Fahrzeug. „Sie brauchen morgen, oder vielmehr heute nicht zur Arbeit zu kommen, außer sie haben Lust darauf, ein paar Berichte zu schreiben!“ sagte die Chefin mit einem Lächeln und Semir drehte sich noch kurz um. „Das wage ich zu bezweifeln!“ sagte er trocken. „Ich werde mich erst um Ben kümmern und dann sehen wir weiter!“ erklärte er und verschwand im Haus.
    Während die Chefin durchs nächtliche Köln zu sich nach Hause fuhr, ging Semir leise ins Haus und fiel wenig später todmüde neben Andrea ins Bett. Die drehte sich ein wenig zu ihm um und fragte im Halbschlaf: „Wie geht es Ben?“ und Semir antwortete wahrheitsgemäß: „Nicht gut, aber er ist versorgt!“ und diese Antwort musste fürs Erste genügen.


    Im Krankenhaus hatte man inzwischen begonnen, Ben einen ZVK zu legen. Nachdem die Gefäßfüllung immer noch sehr schlecht war, gestaltete sich das schwierig und während der steril angezogene Arzt wieder und wieder versuchte die Schlüsselbeinvene an Ben´s Oberkörper zu punktieren, was beiden den Schweiß auf die Stirn trieb, beschäftigte sich der Aufnahmearzt parallel damit, Ben´s Schnittverletzungen, die Hartmut so sorgsam verbunden hatte, in Lokalanästhesie zu nähen. Man hatte da ein Zeitfenster von etwa 8 Stunden, sonst würde es eine Sekundärheilung mit hässlichen Narben geben. Davon hatte Ben nun wahrlich schon genug und es würden sicher noch welche hinzukommen und so flickte der Arzt systematisch eine Wunde nach der anderen. Einige konnte man auch mit Steristrips versorgen und damit die Wundränder adaptieren, aber alle, die ein wenig klafften, musste der Arzt von Hand nähen. Sarah war bei ihrem Freund, hielt seine Hand und half nur manchmal ein frisches Fadenpäckchen anzureichen, oder einen sterilen Wundverband auf die versorgten Wunden aufzukleben. Man hatte das Bett relativ steil kopfwärts gekippt und Ben hatte manchmal unter seinem grünen Tuch, das auch über seinem Gesicht lag, das Gefühl ersticken zu müssen. Sarah hob es dann immer wieder ein wenig hoch, drehte den Sauerstoff höher, der wieder über eine Sonde in seine Nase lief, aber vor allem redete sie ihm gut zu, drückte seine Hand und war einfach da. Eine der Intensivschwestern assistierte und so war eine ganze Gruppe Menschen um Ben herum, dem langsam alles zu viel wurde.
    Sein Kreislauf wurde durch das Katecholamin künstlich hochgehalten, aber der ZVK war dringend nötig, um eine große Menge Flüssigkeit und Elektrolyte in ihn zu bringen. Auch die Laborwerte waren inzwischen angekommen und gaben Anlass zu großer Sorge. Es war so ziemlich alles entgleist, kaum ein Wert war im Normbereich und man konnte nur hoffen, dass Ben´s Jugend und seine vorher doch ausgezeichnete Verfassung ihm helfen würden, das ohne bleibende Schäden zu überstehen.


    Irgendwann-Sarah hatte es schon nicht mehr zu hoffen gewagt, gelang es unter Ultraschallkontrolle dem Anästhesisten doch, die große Vene in der Tiefe zu punktieren und den zentralen Venenkatheter vorzuschieben und festzunähen. Weil durch den Flüssigkeitsmangel, die Elektrolytentgleisung und den Stress Ben´s Herz viel zu schnell und unregelmäßig schlug, verzichtete man auf ein elektrisches Einmessen des Katheters, sondern fertigte kurz eine Röntgenaufnahme des Thorax im Liegen zur Lagekontrolle an. Gott sei Dank war alles am richtigen Ort und so konnte man nun beginnen, Ben ausreichend Flüssigkeit und Medikamente zuzuführen. Von einem leichten Schweißfilm bedeckt, lag er mit geschlossenen Augen im Bett und ertrug einfach stoisch, was mit ihm gemacht wurde. Was blieb ihm auch anderes übrig? Allerdings waren diese Schmerzen doch eher dazu da, ihn zu retten, während die Freaks in der Burg ihn inzwischen sicher schon zu Tode gefoltert hätten.

  • Zu gerne hätte Ben einfach nur geschlafen, aber noch während die Intensivschwester die notwendigen Infusionen und Perfusoren vorbereitete, suchte der Intensivarzt schon nach einer möglichen Punktionsstelle für die Arterie. Die war notwendig, damit man immer aktuell den Blutdruck hatte und so das Katecholamin, also das blutdrucksteigernde Medikament genau dosieren konnte. Außerdem war so ein arterieller Zugang auch wichtig zum Blutabnehmen, da man die engmaschigen Kontrollen auf Intensiv so, für den Patienten schmerzfrei, bewerkstelligen konnte. Der Arzt besah sich erst beide Unterarme und durch die mannigfaltigen Verletzungen blieb nur eine mögliche Seite übrig. Nach vorheriger gründlicher Desinfektion versuchte der Arzt die Speichenarterie zu punktieren, was sich aber ebenfalls schwierig gestaltete, weil die Gefäßfüllung immer noch mangelhaft war. Ben biss die Zähne zusammen, als der Anästhesist in seinem Unterarm herumstocherte und suchte. Beinahe wurde ihm schlecht und obwohl er ja sowieso schon schwitze, hatte er nun das Gefühl, er wäre gerade aus einem Regenschauer gekommen, so perlte der Schweiß von seinem Körper. Endlich gelang es dem Narkosearzt die Arterie zu treffen und erst den Seldingerdraht und darüber das Kunststoffschläuchlein in Ben zu schieben. Der Zugang wurde sachgemäß verklebt und das vorbereitete Drucksystem kalibriert und angehängt. Auch den zentralen Venendruck konnte man so kontinuierlich messen und der zeigte an, dass Ben immer noch viel zu wenig Flüssigkeit in sich hatte.


    Trotzdem entfernte der Arzt aber nun sofort den ossären Zugang. Je länger der lag, desto höher war die Infektionsgefahr und mit einer Osteomyelitis, einer Knocheneiterung war nicht zu spaßen. Wieder zuckte Ben zusammen, als die Nadel aus seinem Knochen gezogen, der Einstich desinfiziert und mit einem sterilen Pflaster versehen wurde. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieses ganze Gepieke endlich aufhörte, aber gerade als er begann Hoffnung zu schöpfen, beugte sich der Anästhesist, der das Ultraschallgerät wieder nähergefahren hatte, über ihn.
    „Herr Jäger, als letzten Akt dieser Nacht lege ich ihnen jetzt noch eine Blasendrainage, da es durch ihre Verletzungen für sie unmöglich ist, normal Wasser zu lassen. Das ist ein kleines Kunststoffschläuchlein, das über die Bauchdecke den Urin nach außen ableitet.“ erklärte er ihm und Ben nickte fast verzweifelt. Gab es jetzt noch irgendeinen Körperteil in dem kein Schlauch steckte? Die Intensivschwester nahm das Tuch über seinen Unterkörper weg und nun begann Ben vor Angst zu zittern. Bitte, konnte man ihm denn nicht einfach seine Ruhe lassen? Sarah, die sah, wie viel Stress Ben schon wieder hatte, nahm seine Hand in die ihrige und sagte beschwörend: „Ben, erstens wird das nicht so schlimm, wie du dir sicher gerade vorstellst und außerdem bin ich bei dir! Das ist der letzte Schlauch den du heute Nacht kriegst und ich verspreche dir, danach machen wir das Licht aus und du darfst schlafen!“ Ben nickte zögernd und während die Intensivschwester den Bereich über seinem Schambein mit einem Rasierer von Haaren befreite, schaute er nur immer Sarah an, die ihm aufmunternd zulächelte.


    Der Anästhesist hatte sich währenddessen wieder steril angezogen. Er desinfizierte Ben´s Unterbauch durch dreimaliges Abstreichen mit farbigem Desinfektionsmittel. Dann ließ er sich einen sterilen Überzug für den Ultraschallschallkopf geben, der innen mit Sonographiegel befüllt wurde, aber von außen nun ohne Keimverschleppung mit sterilen Handschuhen angefasst werden konnte. Eine sterile Abdeckung vervollständigte die Vorbereitungen. Der Arzt hatte in eine Spritze das angereichte Lokalanästhetikum aufgezogen und begann nun, unter Sonographiekontrolle, direkt über dem Schambein senkrecht nach unten die Bauchdecke zu infiltrieren. Ben fühlte den scharfen Einstich, aber als der Arzt die Nadel nun gerade nach unten unter mehrfachem Aspirieren vorschob, spritze er die ganze Zeit das örtliche Betäubungsmittel und als er in der Blase mit der dünnen Nadel ankam und Urin aspirieren konnte, zog er die Nadel schnell zurück. Nun griff er als nächstes zu einer dicken, scharf geschliffenen, aber in der Mitte teilbaren Spezialnadel und ging mit der an der betäubten Stelle ein. Gott sei Dank saß die Lokale und Ben merkte außer einem unangenehmen Drücken nun keinen Schmerz mehr, als das dicke, spitze Rohr in seinen Bauch gestoßen wurde. Als die Spitze sicher in der Blase lag, brach der Arzt die Nadel in der Mitte auseinander, zog sie heraus und nähte das momentan noch mit einer Kunststoffschiebeklemme verschlossene Schläuchlein dann an der Bauchdecke fest. Ein steriler Verband vervollständigte die Katheteranlage und während der Arzt die selbstklebenden Abdecktücher abzog, was durch das Ziepen an den noch vorhandenen Haaren sehr unangenehm war, hängte die Schwester einen sogenannten Stundenurimeter an, also einen sterilen Urinablaufbeutel, der einen Kunststoffbehälter vorgesetzt hatte mit Feingraduierung, so dass man auf den Milliliter genau die Urinausscheidung kontrollieren konnte. Routinemäßig wurde der auf Intensivstationen zu jeder vollen Stunde umgeleert und die Menge dokumentiert. Man entnahm zur bakteriologischen Untersuchung noch Urin aus dem Schlauch, der zum Beutel führte, aber es kam sowieso relativ wenig, dafür, dass Ben ja schon seit Tagen nicht mehr zur Toilette gewesen war. Auch die Nierenwerte waren besorgniserregend hoch und Sarah hoffte nur, dass sich die wieder erholen würde, wenn es Ben besser ging.


    Aber nun endlich war die wichtigste Verkabelung geschehen, Ben bekam eine leichte Decke über seine Mitte, man löschte das Licht, Sarah setzte ich auf einen bequemen Stuhl neben ihren Freund und hielt seine Hand, während er völlig erschöpft einschlief. Inzwischen war es bereits drei Uhr morgens geworden und die kurze Restnacht würde sich bald ihrem Ende zuneigen. Aber Ben würde seine Kräfte für die anstehenden Operationen brauchen.

  • Die sechs Freaks waren inzwischen, voneinander getrennt, der routinemäßigen erkennungsdienstlichen Behandlung zugeführt worden. Die Verhöre würden am nächsten Tag geführt werden, auch war noch nicht so ganz klar, wer das übernehmen würde und so beschloss man auf dem Polizeirevier, das der Burg am nächsten gelegen war, die Burschen einfach mal getrennt voneinander einzusperren. Sie waren plötzlich, trotz ihres wilden Aussehens, nur noch spätpubertierende junge Männer, die Angst hatten, was ihnen nun wohl drohen würde. Die Umhänge hatte man ihnen abgenommen und ebenfalls die künstlichen, aufgesetzten scharfen Fingerkappen. Daran waren überall Blutspuren zu erkennen und so wurden die Beweise akribisch gesichert. Lediglich Hieronymus, der sich anfangs sogar weigerte seinen richtigen Namen zu sagen, war nicht so eingeschüchtert. Zu oft hatte er diese Prozedur schon hinter sich gebracht und nie war ihm danach ernsthaft etwas geschehen. Er musste nur seinen Vater verständigen, der würde ihn schon rausholen.


    Der zuständige Richter und die Staatsanwaltschaft wurden telefonisch informiert und sagten zu, bald die Sachlage zu prüfen, aber jetzt über Nacht würde erst mal gar nichts passieren, außer dass man die Freaks wegsperrte. Auch Hieronymus Klarnamen erfuhren die Beamten von einem der anderen verängstigten jungen Männer und nun sahen sie sich gegenseitig zweifelnd an-das war natürlich ein echter Promisohn, da durfte man keine Fehler machen! Als sie im PC noch seine Akte aufriefen, stellten sie fassungslos fest, was der Junge schon auf dem Kerbholz hatte und trotzdem frei herumlief. Die anderen waren bis auf Drogenkonsum bisher noch nicht grösser aufgefallen und es war klar, wer der Anführer dieses Trüppchens war. Die SEK-Beamten hatten den Männern auf dem Polizeirevier erzählt, in welchem Zustand ihr Kollege von der Autobahnpolizei, das Folteropfer, gewesen war und es musste diesmal einfach klappen, die brutalen Folterer für lange Zeit von der Bildfläche verschwinden zu lassen.
    Nachdem man die Halter der auf der Burg geparkten Fahrzeuge festgestellt hatte und anzunehmen war, dass diese Wagen auch zum Fall gehören könnten, öffnete man sie und die Spurensicherung unter Hartmut´s Leitung, hatte noch eine Sporttasche mit einer Million Euro gefunden, die nachlässig im Tewett´schen Fahrzeug im Kofferraum lag.


    Tewett selber hatte keine Ruhe gefunden. Nachdem er seinen Sohn gewarnt hatte, hatte er von ihm nichts mehr gehört. Er wartete eine ganze Weile, aber dann versuchte er wieder und wieder seinen Sprössling zu erreichen. Nur die Mailbox ging hin. Dummerweise hatte er ihn nicht gefragt, wo das Video gedreht werden würde, sonst wäre er da selber hingefahren, um nach dem Rechten zu sehen. Allerdings hatte er seinen Sohn in Aktion ja auf dem ersten Film gesehen und das war klar eine mittelalterliche Folterkammer gewesen, vermutlich auch ein Original, wie er Berghoff kannte. Er überlegte fieberhaft und irgendwann fiel ihm ein, dass bei einem Mittelalteressen vor einiger Zeit Berghoff mal von einem interessanten Objekt erzählt hatte, an dem er dran war, Moment, wie hieß denn diese Burg noch? Nach einiger Überlegung fiel es ihm ein. Er musste dahin, um nach dem Rechten zu sehen. Allerdings wäre es vielleicht sinnvoll, wenn er nicht persönlich erscheinen würde, nicht dass man ihm noch Mitwisserschaft unterstellte, wenn etwas schief ging und so griff er weit nach Mitternacht zu seinem Telefon, um seinen Anwalt und Freund anzurufen, der auch über die etwas besonderen Neigungen der männlichen Tewetts informiert war, allerdings da überhaupt keine Skrupel hatte, Florian wieder und wieder rauszupauken, solange die Kasse stimmte.
    Der hörte sich an, was Tewett senior ihm offen erzählte und seufzte dann auf. „Mann und du sagst, das Opfer sei ein Polizist? Welche Blödheit ist denn Florian da wieder eingefallen. Du weißt doch, dass diese Bande da empfindlich reagiert, wenn man einem aus ihren Reihen was antut. Die sollen die Leiche bloß gut verschwinden lassen, am besten verbrennen oder mit Säure übergießen, damit keine verwertbaren Spuren zurückbleiben. Mann konnte er da nicht stattdessen nen netten Asientrip machen, dort wäre das viel einfacher zu regeln und da verschwindet halt ein Toter einfach im Meer und wird von den Haien gefressen!“ schimpfte er und der ältere Tewett pflichtete ihm bei. Allerdings versprach der Anwalt, sich sofort ins Auto zu setzen und zu der fraglichen Burg zu fahren. Irgendwo musste ja Florian sein und er würde ihm dann mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das kam ihm gerade gelegen-er hatte da eine süße kleine Jacht im Auge, so ne Finanzspritze konnte er gut gebrauchen!


    Im Krankenhaus war inzwischen Sarah auf ihrem bequemen Stuhl sitzend, aber den Kopf auf Ben´s Bett liegend, ebenfalls ein wenig eingenickt. Ben war kurz erwacht, als er versucht hatte, sich im Halbschlaf umzudrehen, was aber wegen der Schmerzen nicht möglich war. So versuchte er wieder eine halbwegs erträgliche Position zu finden und betrachtete dabei seine Sarah, die mit leicht geöffnetem Mund vor sich hinschlummerte. So hatte er sich ihr Wiedersehen nicht vorgestellt. Er hatte ein wundervolles Festmahl mit kalten Delikatessen zaubern wollen, Kerzenlicht, gedämpfte Musik im Hintergrund und nach dem Essen die feierliche Versöhnung im Bett. Als sein Blick nun bei sich ein Stockwerk tiefer wanderte, wo die kleine Decke ein Stück zur Seite gerutscht war, wagte er allerdings zu bezweifeln, dass er je wieder eine Frau glücklich machen konnte. Das konnte er niemandem zumuten. Er musste sich von Sarah trennen, die sollte nicht mit einem Krüppel aus Mitleid zusammen sein, so schlimm es für ihn war, aber er durfte nicht selbstsüchtig sein!

  • Trotzdem schlummerte er irgendwie vor Erschöpfung wieder ein und erschrak bis ins Mark, als er um 6.30 Uhr von der Frühdienstschwester geweckt wurde. Er hob abwehrend die Hände und befürchtete einen erneuten Angriff. Erst als er Sarah´s beruhigende Stimme hörte, die liebevoll zu ihm sagte: „Schatz, es ist alles gut, du bist im Krankenhaus in Sicherheit!“ fiel ihm wieder ein, wo er war und dass er gerettet war. Dann allerdings stöhnte er erst einmal auf. Die letzte Opiatgabe war schon eine Weile her und nun brach der Schmerz am ganzen Körper, wie eine Welle, über ihn herein. „Sie kriegen sofort was gegen die Schmerzen!“ versuchte ihn nun auch die andere Schwester zu beruhigen, die ebenfalls über den Anblick der mannigfaltigen Verletzungen erschrocken war. Sie trat zum Perfusor, in den die Piritramidspritze inzwischen eingespannt war und gab ihm einen Bolus von drei Milligramm. Es wurde zwar ein wenig leichter, aber trotzdem tobte es noch in Ben´s Körper vor sich hin, so dass er sich kaum zu atmen wagte. Sarah und die andere Schwester beobachteten ihn, aber als er dann die nächsten drei Milligramm erhalten hatte, entspannte er sich und ließ den angehaltenen Atem wieder fließen. Nun war ihm zwar schwindlig, aber die Schmerzen waren erträglich. Verdammt, irgendetwas Wichtiges hatte er mit Sarah besprechen wollen, aber er war dazu momentan gerade nicht in der Lage.


    „Herr Jäger, ich möchte sie jetzt gerne waschen, denn sie werden ja heute operiert und nachdem ich nicht weiß, wann´s losgeht, würde ich sie gerne fertig haben!“ erklärte ihm die Schwester und er nickte stumm. Sarah war noch kurz raus gegangen zur Toilette und einem Tässchen Kaffee, um dann zurückzukommen und ihrer Kollegin zu helfen. Die hatte derweil sinnend seinen ordentlich nachgewachsenen, langen Bart betrachtet. „Es tut mir leid, aber der muss heute weg. Sie werden ja am Kiefer operiert und da hält sonst kein Kleber!“ teilte sie ihm mit und Ben seufzte ergeben. Normalerweise war ihm sein gepflegter Drei-Tage-Bart sehr wichtig, aber im Augenblick war es sowas von egal, wie er aussah und deshalb sagte er keinen Ton, als der Rasierschaum aufgetragen wurde und die schwarzen Haare Strich um Strich fielen. Es war eher schlimm, weil die Schwester trotzdem ein wenig aufdrücken musste und dann sein mehrfach gebrochener, geschwollener, blutunterlaufender Kiefer extra weh tat, obwohl das Opiat ja doch den Schmerz dämpfte. Endlich war das geschehen und Ben seufzte erleichtert auf.
    „Mit dem Zähneputzen wird das wohl nichts werden!“ sagte die Schwester bedauernd und Ben sah ganz unglücklich drein. Wie gerne hätte er mal wieder den frischen Geschmack nach Pfefferminze im Mund gehabt, aber nachdem er seine Zähne nicht mehr als drei Millimeter auseinander brachte, war es unmöglich, da mit der Zahnbürste reinzukommen. „Die machen die Zähne im OP, wenn sie in Narkose sind, schon sauber, bevor sie an den Knochen gehen!“ versuchte ihn die Schwester zu trösten, aber Ben erschauerte eher. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, was da heute wohl mit ihm gemacht wurde. Er war nur froh, als er das Wort Narkose in Verbindung mit OP hörte-wenn, dann wollte er schlafen und nichts von dem Ganzen mitkriegen.


    Sarah war inzwischen wieder hereingekommen. Sie hatte eine Jeans und ein Sweatshirt an, schob aber ihre Ärmel nach oben, band sich eine Plastikschürze um und lächelte ihn an. „Dann machen wir mal weiter!“ sagte sie und jetzt fiel es Ben wieder ein, was er so dringend zu ihr sagen musste. Allerdings war jetzt nicht der geeignete Moment, so unter Zeugen und so ließ er sich von den beiden Frauen von Kopf bis Fuß waschen. So vorsichtig sie auch waren, es tat an manchen Stellen fürchterlich weh, wenn ihn nur der Waschlappen berührte.


    Eigentlich wollte die Schwester ihn noch untenrum rasieren, damit man für die urologische OP gewappnet war, aber das war von Ben weder physisch, noch psychisch auszuhalten-er schob die Hand mit Tränen in den Augen weg- und so ließ es die Schwester. „Das sollen die auch in der OP-Einleitung machen, wir quälen ihn jetzt nicht weiter!“ sagte sie zu Sarah, die bekräftigend nickte. Überall war verkrustetes Blut und Eiter, die Brandwunden waren stark gerötet und die eine-S-förmige auf der Brust war ganz schwarz. Der Fuß war zwar ein wenig abgeschwollen, aber immer noch blau verfärbt. So gut es ging versuchten die Frauen mit mildem Desinfektionsmittel die oberflächlichen Wunden zu reinigen und desinfizieren und Ben jammerte zwischendurch immer wieder auf.
    Zuletzt wurde noch sein Rücken gewaschen, aber auch da floss der Eiter aus der aufgeplatzten Haut. Ben´s Temperatur war, obwohl er ja schon die erste Antibiotikadosis erhalten hatte, immer noch über 39°C. Man verkniff es sich allerdings, ihm fiebersenkende Medikamente zu geben, denn die Niere hatte sich zwar durch die massive Flüssigkeitsinfusion inzwischen ein wenig erholt, war aber noch lange nicht außer Gefahr. Man würde versuchen, die Medikamente so zu wählen, dass sie dadurch nicht noch mehr Schaden erlitt und so fielen die meisten fiebersenkenden Schmerzmittel schon mal weg.
    Ben´s Kreislauf war immer noch auf Katecholamine angewiesen, wenn man die Spritze auswechselte, fiel der Blutdruck sofort in einen nicht messbaren Bereich, ein Zeichen, dass eine, zumindest beginnende, Sepsis vorlag, was aber anhand der Verletzungen niemanden wunderte. Endlich war Ben fertig gewaschen und lag nun schwer atmend auf dem frischen Metallinetuch. Sarah versuchte noch mit einer Bürste seine verschwitzten, verstrubbelten Haare in Form zu bringen, da kam schon die große morgendliche Intensivvisite, um den Fall zu besprechen und die weitere Tagesplanung vorzunehmen.


    Tewett´s Anwalt war kurz nach 1.00 Uhr an der Burg angekommen. Als er im Hof mehrere Fahrzeuge, darunter auch einige Polizeifahrzeuge und Florians auffälligen kleinen Flitzer sah, wendete er sofort. So ein Mist-die Jungs waren aufgeflogen! Hoffentlich war der Polizist wenigstens tot und konnte nicht mehr aussagen! Er überlegte kurz, was er nun machen sollte, aber dann beschloss er, seine Kontakte zur Polizei anzuzapfen, um Florians Aufenthaltsort herauszufinden. Wenn der klug war, verlangte er sowieso einen Anwalt und spätestens dann würden sie wissen, wo er festgehalten wurde. Wie zur Bestätigung seiner Gedanken läutete kurz darauf sein Telefon und Papa Tewett war aufgeregt dran: „Florian ist verhaftet und wird im Polizeirevier festgehalten.“ erklärte er. Er gab noch die Adresse durch und wenig später war der Anwalt schon auf dem Weg zur Dienststelle.
    Die Beamten dort sahen sich verwundert an, als kaum 15 Minuten nach dem Anruf des jungen Mannes, den dieser dringend verlangt hatte und der ihm auch nicht verweigert werden durfte, sein Anwalt draußen läutete und Einlass begehrte. Schulterzuckend öffneten sie aber die Tür und mussten Florian mit dem Mann dann alleine lassen, nicht dass ihnen später wegen einem Formfehler der Prozess platzte.

  • Inzwischen war die große Visite zu Ben gekommen. Der Intensivarzt hatte zusätzlich zu den normalerweise anwesenden Chirurgen und Internisten gleich einen Mund-Kiefer-und Gesichtschirurgen dazugeholt und der junge Urologe, der Nachtdienst gehabt und Ben bereits untersucht hatte, war sowieso gleich mit seinem Chef erschienen.
    Ben starrte entsetzt auf den großen Auflauf der Weißkittel, denn etwa 20 Personen füllten das Zimmer und drängten sich bis auf den Flur. Waren die alle wegen ihm da? Sarah legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Keine Angst Schatz, die wollen alle nur dein Bestes und manche der Anwesenden sind einfach da, um zu lernen!“ flüsterte sie ihm ins Ohr und nun entspannte er sich ein wenig.


    Der Intensivarzt, der Nachtdienst gehabt und Ben versorgt hatte, referierte: „Herr Jäger wurde am Samstag das Opfer eines perversen Kidnappers und ist seitdem wiederholt auf verschiedenartige Weise gefoltert worden. Die Folterungen wurden gefilmt und deswegen wissen wir ziemlich genau, wie die Verletzungen entstanden sind!“ erklärte er den Anwesenden und Ben sah nun fürchterlich unglücklich drein-wurden die Videos jetzt der Allgemeinheit vorgeführt, oder wie sah das aus? Auch Sarah hörte zum ersten Mal, dass es Filmaufnahmen gab und war sich sehr unsicher, ob sie das aushalten konnte, die anzuschauen.


    „Wir haben am ganzen Körper teilweise infizierte Hautverletzungen durch Peitschenhiebe, Verbrennungen und Schnittwunden. Die Schnittverletzungen waren allerdings ganz frisch und konnten heute Nacht gleich durch meinen chirurgischen Kollegen versorgt werden.“ fügte der Arzt hinzu.
    „Der Kiefer ist mehrfach gebrochen, wir haben hier die Röntgenbilder“ sagte er dann und war mit zwei Schritten am großen Monitor neben Ben´s Bett, wo er die Aufnahmen aufrief. Der MKG-Chirurg trat näher und besah sich, nach einem Seitenblick auf Ben, die Bilder. Genauer würde er das später an einem Spezialmonitor mit höherer Auflösung machen, aber er konnte gleich vermelden: „Ja, das müssen wir verplatten, keine Frage!“ und der Intensivarzt nickte.
    „Laut Ultraschall haben wir keine weiteren inneren Verletzungen, die eine chirurgische Intervention notwendig machen, allerdings ist die Achillessehne gerissen, als Herr Jäger auf der Streckbank gequält wurde. Der Fuß war auch in einer Eisenfessel, was durch die Schwellung massive Gewebeschäden hervorgerufen hat. Heute Nacht wurde die in der Notaufnahme entfernt und es kam daraufhin zu einem Kollaps. Herr Jäger ist seither katecholaminpflichtig und instabil, aber seitdem wir ihn massiv auffüllen beruhigt sich die Lage ein wenig, denn er war stark exsicciert“ erklärte der Anästhesist weiter.


    Inzwischen war ein Unfallchirurg vorgetreten, war kurz in Einmalhandschuhe geschlüpft und hatte Ben´s Fuß und Wade betastet. Deutlich konnte er den Befund fühlen, oberhalb der Ferse war ein regelrechtes Loch und der Fuß fiel nach vorne und er nickte deshalb bestätigend: „Ja, da müssen wir die Sehne nähen!“ und dann zog er die Handschuhe wieder aus und trat zurück in die Menge.

    „Sehr schwerwiegende Verletzungen sind am Unterleib durch den sogenannten „Spanischen Reiter“ entstanden-wie unser urologischer Kollege sicher bestätigen kann!“ referierte der Intensivarzt und der junge Urologe von heute Nacht trat hervor. Ben war ganz blass geworden, oh nein, die würden ihn doch jetzt nicht vor dieser Menschenmenge zur Schau stellen? Unbewusst wanderte seine Hand nach unten und legte sich schützend auf seine, immer noch zugedeckte Mitte. Der junge Arzt lächelte ihn beruhigend an: „Keine Sorge Herr Jäger, niemand wird sie hier bloßstellen, ich erzähle bloß meinen Kollegen, was ich für Befunde erheben konnte, damit wir ihre Operation planen können.“ sagte er und nun atmete Ben vernehmlich aus. „Massive Blutergüsse und Schnittverletzungen, die teilweise bis zum Sitzbein reichen, müssen dringend gespült und versorgt werden. Die Verletzungen sind infiziert und eine lokale Entlastung sollte zeitnah erfolgen!“ erklärte der Urologe seinen Kollegen und seinem Chefarzt. Die nickten und nun zog sich die Menge aus dem Zimmer zurück, um draußen, ohne den Patienten weiter zu beunruhigen, eine Ablaufplanung vorzunehmen.


    Man einigte sich darauf, mit dem Kiefer anzufangen, als nächstes würden die Urologen zum Zug kommen und zu guter Letzt würde der Unfallchirurg die Wunden erst vorne revidieren, dann würde man Ben in Narkose umdrehen, auf den Bauch lagern und so die Achillessehne nähen. Als letzten Akt würde man die Wunden am Rücken versorgen und dann versuchen, ihn wieder wach werden zu lassen, wenn es möglich war.
    „Es wird eine schwierige Intubation werden, denn ich muss nasal eingehen!“ überlegte der erfahrene Oberarzt, der die Narkose machen würde. „Ich werde das mit dem Bronchoskop unter Sicht versuchen und wenn es nicht klappt, müssen wir schnell handeln und eine Notfallkoniotomie vornehmen!“ erzählte er seinen gespannt lauschenden Kollegen, die verständig nickten. Man sah auf die Uhr, rief dann im entsprechenden OP an, um dem dort arbeitenden Personal die Vorbereitung zu ermöglichen und dann schwärmten noch die Assistenten der verschiedenen Fachgebiete aus, um Ben für den jeweiligen Eingriff die Einverständniserklärung unterschreiben zu lassen.


    Der hatte sich wieder ein wenig beruhigt, aber nun stand ihm sein schwerster Weg bevor-er musste Sarah dazu bringen, ihn zu vergessen, um ihre Zukunft nicht zu versauen. Hoffentlich hatte er so viel schauspielerisches Talent, um das glaubwürdig durchzuziehen. Ihm selbst zerriss es jetzt schon beinahe das Herz deswegen, aber es musste sein. Gerade setzte er an: „Sarah, ich muss mit dir reden!“ da stand schon der erste Assistenzarzt mit seinem vorgedruckten Aufklärungsbogen vor ihm. Ben brach ab und hörte nun dem Arzt zu, um dann die Einverständniserklärung zu unterschreiben und dann kam einer nach dem anderen. Kaum war der letzte Assistent verschwunden, zog ihm die Schwester eine OP-Haube auf, legte ein frisches Leintuch über ihn, um ihn vor neugierigen Blicken zu schützen und los ging die Fahrt in den OP, ohne dass Ben sein Anliegen losgeworden war. Der Perfusor mit dem Katecholamin, dazu Trägerlösung, eine frei tropfende Infusion, der Monitor und die Arterie kamen mit, was einigen Vorbereitungsaufwand erforderte, aber Sarah schob das Bett zusammen mit ihrer Kollegin und half auch in der Schleuse, ihn auf das Förderband zu legen, was nicht ohne Schmerzen vonstatten ging. „Viel Glück, Schatz, ich liebe dich!“ sagte Sarah zum Abschied, als das Schleusenband sich in Bewegung setzte. Ben überlegte gerade noch fieberhaft, was er darauf sagen sollte, aber da war er schon auf dem OP-Tisch angelangt und eine große Aufregung bemächtigte sich seiner. Er wandte den Kopf und sah Sarah mit Tränen in den Augen an. Er liebte sie doch auch, aber gleich wenn er wieder wach war, würde er Schluss machen, nur jetzt standen andere Dinge für ihn im Vordergrund.


    Tewett´s Anwalt hatte derweil ein intensives Gespräch mit seinem Mandanten geführt. Florian hatte ihm offen und ohne sich nur im Geringsten zu schämen, den genauen Ablauf der letzten Tage erzählt. Insgeheim schauderte den Anwalt, als er zum wiederholten Male feststellen musste, dass dieser junge Mann über keinerlei Moral oder auch nur den Hauch eines Unrechtsbewusstseins verfügte. Er war sich sicher, dass ihn sein reicher, einflussreicher Vater schon wieder rauspauken würde und an die Schmerzen des Opfers verschwendete er keinen Gedanken. Aber nun-er als Anwalt verdiente gutes Geld damit, genau das zu versuchen- und so beruhigte er Florian, schärfte ihm ein, keine Aussage in seiner Abwesenheit zu machen und machte sich dann in den frühen Morgenstunden wieder auf den Weg zur Tewett´schen Villa um mit Florians Vater einen Schlachtplan zu schmieden.

  • Ben war inzwischen auf dem, mit einer Gelauflage gepolsterten und mit grünen Tüchern abgedeckten OP-Tisch angelangt. Drei grün vermummte Menschen standen um ihn herum und eine Schwester deckte ihn sofort mit angewärmten grünen Tüchern zu. Unter seinen Kopf kam ein dicker Silikonring als Kopfkissen und alle waren sehr ruhig und nett zu ihm. Jetzt erkannte er auch den einen grauhaarigen Arzt an der Stimme, der morgens bei der Visite dabei gewesen war. Ben war anzusehen, wie viel Angst er vor dem hatte, was nun auf ihn zukam. Ihm schwirrte noch der Kopf, was die verschiedenen Assistenzärzte ihm vorher erzählt hatten, was alles passieren könnte, von Nachblutungen, über Wundheilungsstörungen, unmöglichen Intubationen und Luftröhrenschnitten, er wollte gar nicht darüber nachdenken. Als man den Monitor und die ganzen Geräte und Schläuche, die er mitgebracht hatte am OP-Tisch vorübergehend angebracht hatte, rollte man ihn über einen langen Flur in die Einleitung, die gemeinsam mit der Ausleitung jeden OP komplettierte. Dort standen schon einige Geräte bereit, die die Narkoseeinleitung erleichtern konnten und auch alles für den Notfall. Ben sah sich voller Angst um-alles war aus glänzendem Edelstahl, die Wände grün gefliest und nur auf einem Tischchen war auf einem grünen Tuch alles zum Intubieren hergerichtet. Seine Hände wurden am Tisch festgemacht, damit die nicht herunterfielen, wenn er erschlaffte und das Noradrenalin stellte man gleich höher, um die blutdrucksenkende Wirkung der Narkosemittel auszugleichen. Das Kopfteil des Tisches wurde hochgefahren, so dass Ben in einer halbsitzenden Position war. In seiner Nase steckte eine Sauerstoffsonde und man drehte das O2 hoch, um ihm da möglichst viel zukommen zu lassen.


    Der ältere Arzt, dem man die Besonnenheit und Erfahrung ansah, warf einen Blick zur Schwester, die nochmal ihre vorbereiteten Dinge musterte und als sie nickte und auch gleich das Kaltlicht für´s Bronchoskop einschaltete, damit das sofort betriebsbereit war, sagte er zu Ben, dem das Herz vor Aufregung jetzt bis zum Hals schlug: „Herr Jäger, sie müssen keine Angst haben. Sie dürfen jetzt gleich schlafen und wenn sie wieder aufwachen, haben sie die ganzen Operationen überstanden. Ich werde gut auf sie aufpassen!“ Nun nickte er der Schwester zu und die begann gleich damit, nacheinander die Narkosemittel in den ZVK zu spritzen. Als erstes kam das Opiat und Ben merkte, wie ihm warm wurde, dann folgte das Propofol und bevor er noch irgendetwas sagen konnte, fielen ihm die Augen zu und er war, mit einem letzten Gedanken an Sarah, eingeschlafen.


    Als das Muskelrelaxans zu wirken begann und Ben völlig erschlaffte, griff der Arzt zum Tubus, den man statt auf einen Führungsstab, aufs Bronchoskop aufgefädelt hatte. Nun musste es schnell gehen, denn Ben hatte keinerlei Eigenatmung mehr und durch den gebrochenen, verschobenen Kiefer konnte man ihn auch nicht durch Maskenbeatmung, wie sonst üblich, mit Sauerstoff versorgen. Die Sättigung, die durch einen Fingerclip mit Infrarot gemessen wurde, zeigte 93% an, das war in Ordnung, aber man hatte keinen Puffer, wie normalerweise, wo man die Patienten erst auf 100% aufsättigte. Der Arzt führte mit seinen behandschuhten Händen den eingegelten Tubus durch Ben´s eines Nasenloch ein und schob ihn unter Sicht, vorbei an den ganzen Nasenmuscheln, zum Rachen. Er musste durch das Bronchoskop saugen, denn blutiger Schleim versperrte den Weg. Erst wollte der Tubus nicht um die Kurve gleiten, aber als der Arzt nun die Spitze des Bronchoskops mit einem Schalter ein wenig bog, kam plötzlich der Kehlkopf in Sicht. Es waren zwei Löcher zu sehen, das eine, das der Speiseröhreneingang war und das andere, wo die Stimmlippen den Weg zur Lunge wiesen. Vorsichtig manövrierte der Arzt den Tubus durch das verschwollene Gewebe und schob ihn durch die Stimmritze in die Luftröhre. Die Sättigung hatte inzwischen zu alarmieren begonnen, sie war auf 88% gefallen, aber das beantwortete momentan niemand, zu aufregend war die Situation. Die Schwester hatte eine luftgefüllte Spritze parat und blockte nun den Ballon des hellblauen, besonders weichen Endotrachealtubus, hinter den Stimmbändern. Der Arzt zog vorsichtig das Endoskop heraus und steckte sofort den Beatmungsbeutel auf, der schon mit einem Sauerstoffanschluss versehen, auf seinen Einsatz wartete. Während er mehrmals daraufdrückte und Ben so beatmete, hörte er mit dem Stethoskop auf die Lunge.

    „Beide Lungenflügel sind gleichmäßig belüftet!“ sagte er dann mit einem Lächeln und nun verklebte die Schwester den Tubus gut, damit der nicht mehr verrutschen konnte. Man optimierte den sogenannten Cuffdruck, also den Druck mit dem der luftgefüllte Ballon in der Trachea gehalten wurde, denn wenn der zu niedrig war, blies Luft seitlich vorbei und was noch schlimmer war-Blut, Speichel und Spülflüssigkeit könnten dann in die Lunge laufen, war der aber zu hoch, konnte es Druckgeschwüre in der Luftröhre geben und das war auch nicht wünschenswert. Also prüfte man mit dem Cuffwächter, einem kleinen Manometer, den Luftdruck und optimierte den Wert. Der Mund-Kiefer- und Gesichtschirurg, der vom OP aus gespannt mit seinen beiden Assistenten durch die halbgeöffnete Schiebetüre beobachtet hatte, ob die Intubation klappte, ging nun mit einem der Assistenten in den Waschraum, um mit der chirurgischen Händedesinfektion zu beginnen. Der zweite Assistent würde noch beim Lagern helfen und sich erst danach waschen.
    Während statt dem Ambubeutel nun ein kleines Beatmungsgerät Ben´s Sauerstoffversorgung sicherstellte, schob man den OP-Tisch auf seiner Lafette in den Saal und arretierte ihn auf der OP-Säule, die in der Mitte des Raumes stand. Man konnte elektrisch den Tisch in alle Richtungen verstellen und nun begann der nächste Schritt: Die Lagerung zur ersten OP.


    Der Anwalt war in den frühen Morgenstunden bei den Tewetts zuhause eingetroffen. Tewett senior erwartete ihn schon in seiner Bibliothek. Er hatte sich kurz hingelegt, war aber zu aufgeregt gewesen, um schlafen zu können und hatte ungeduldig auf einen Anruf seines Anwalts gewartet. Seine Frau, die von der ganzen Situation wenig mitbekommen hatte, denn sie war auf einer Charityveranstaltung in Köln gewesen und erst recht spät, ziemlich angeschickert, vom Chauffeur nach Hause gebracht worden, lag leise schnarchend im Bett und Tewett beschloss zum wiederholten Mal, nun auf getrennten Schlafzimmern zu bestehen. Die Alkoholexzesse seiner Frau wurden immer häufiger und er fand schon den Geruch im luxuriösen Schlafzimmer einfach widerlich. Deshalb hatte er einen Bademantel über den Pyjama gezogen und wartete unruhig darauf, dass sein Vertrauter eintraf.
    Der ließ sich mit ernstem Gesichtsausdruck in einen Sessel fallen und sagte: „Es sieht schlecht aus!“ und Tewett sah ihn daraufhin fragend an. „Florian hat mir genau erzählt, was abgelaufen ist, aber so wie´s aussieht wurden sie sozusagen in flagranti ertappt. Der Polizist lebt und Florian ist irgendwie auch nicht ganz bei sich. Er hat etwas von einem Hadeswächter geschwafelt, der sie zu Satan führen wollte. Ich habe veranlasst, dass den Jungs Blut abgenommen wird und sie eine Urinprobe abgeben. Dann haben wir zwar den Drogenkonsum, der zweifelsfrei vorgelegen hat, in der Anklage, aber damit können wir auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Mehr wird leider nicht möglich sein, ich glaube nicht, dass ich es schaffe, den Jungen frei zu bekommen!“ erklärte er.
    „Allerdings werde ich versuchen alle Videoaufnahmen als unzulässige Beweismittel darzustellen und wenn das Opfer nun noch auf eine Aussage verzichten würde, dann könnten wir auf ein mildes Urteil hoffen. Ich würde vorschlagen, wir bieten dem Polizisten Geld, viel Geld, dann wird der schon vergessen, was Florian ihm angetan hat!“ erklärte er Tewett seine Strategie. „Finde raus, wo der Polizist liegt und geh´ zu ihm. Biete ihm, was du für notwendig hältst-das funktioniert doch in den meisten Fällen. Vielleicht könnte er sogar aussagen, dass die Spielchen einvernehmlich stattgefunden haben, dann wäre Florian aus dem Schneider!“ überlegte Tewett und nun erhob sich der Anwalt mit einem Lächeln. „Gut, so machen wir das, schlaf gut und ich melde mich bei dir, sobald ich was weiß!“ sagte er und fuhr dann nach Hause, um noch ein paar Stündchen Schlaf zu bekommen, bevor er vor Gericht als Verteidiger in einem anderen Fall erscheinen musste.

  • Im OP hatte inzwischen der sogenannte Springer, also die unsterile Pflegefachkraft begonnen, Ben für die erste Operation am Kiefer, die in halbsitzender Position vorgenommen wurde, zu lagern. Unter seine Knie kam eine bequeme Rolle und am Oberschenkel wurde eine neutrale Klebeelektrode angebracht. Man schaute, dass alle Gelenke frei beweglich waren und legte auch unter die beiden Arme Polster, damit es da keine Druckstellen gab. Der Pfleger kontrollierte den festen Sitz der gepolsterten Handfesseln und legte dann über Ben´s Oberschenkel einen breiten Gurt. Es kam nicht vor, dass während der Operation jemand unkontrolliert aufwachte, aber gerade weil man den OP-Tisch oft in alle Richtungen kippen musste, damit der Operateur besser hinkam, bestand sonst die Gefahr, dass ein Patient herunterfiel und sich schwer verletzte. Also hatte es mehr haftungsrechtliche Gründe, als alles andere, diese Fixierung.


    Als die Lagerung perfekt war, breitete der Pfleger die grünen Tücher, die er vorübergehend weggenommen hatte, wieder über seinen Patienten. Um Ben´s Haare wurde über die Papierhaube noch ein saugfähiges Tuch geschlungen, denn häufig lief bei den, doch recht blutigen Kieferoperationen, Sekret und Blut herunter und war danach schwierig zu entfernen. Der Assistenzarzt öffnete nun noch Ben´s Mund-jetzt war das wenigstens teilweise möglich, weil die Muskulatur schlaff war und kein Schmerz mehr die Bewegung einschränkte und machte mit einem Reinigungsgerät, ähnlich einer elektrischen Munddusche Ben´s Zähne sauber, während das auslaufende Schmutzwasser gleich von einem eingehängten Sauger entfernt wurde. Das machte man, um eine Keimverminderung zu haben. Die Mundhöhle war nie komplett desinfizierbar und Kieferoperationen hatten immer ein hohes Infektionsrisiko, denn einerseits musste eine Knochenop eigentlich hochsteril ablaufen, aber durch die Lokalisation war das unmöglich. Man gab deswegen immer prophylaktisch Antibiotika und weil der Kopf ja gut durchblutet war, heilte es meist doch relativ gut.
    Nun spülte der Assistent die Mundhöhle noch mehrmals mit einer aseptischen Lösung aus, entfernte dann den Sauger und ging sich steril waschen. Der Operateur und der andere Assistent waren inzwischen fertig und kamen nun in den Operationsraum, wo die instrumentierende, steril gewaschene und angezogene Schwester ihnen die grünen Einmalkittel mit der wasserabweisenden Vorderseite und sterile Handschuhe anzog.
    Die Anästhesieschwester hatte während der Vorbereitungen den Transportmonitor abgebaut und die Elektrodenkleber mit der Überwachungseinheit des Narkosegeräts verbunden. Das transportable Beatmungsgerät stellte man ebenfalls zur Seite und nun wurde Ben zur Narkoseführung mit einem Inhalationsnarkotika-Sauerstoffgemisch über das Narkosegerät beatmet.


    Der Operateur deckte Ben komplett mit sterilen Tüchern ab, nur der Mund schaute heraus. An einem Bildschirm über dem OP-Tisch wurden die Röntgenbilder aufgerufen und der Assistent griff schon zu Mundhaken und öffnete Ben´s Mund, während der Operateur seine Kaltlichtlampe auf seinem Kopf, einstecken liess. Mit einem Skalpell wurde ein großer Schnitt im Zahnfleisch unterhalb der Unterkieferzahnreihe gemacht und der Assistent und der Operateur begannen gleich mit der elektrischen Blutstillung. Einer saugte und als wenig später der zweite Assistent noch seinen Platz einnahm, schafften die drei routinierten Kieferoperateure Hand-in Hand. Man schob mit stumpfen Elevatoren die Schleimhaut ab und konnte wenig später die gebrochenen Plattenknochen des Unterkiefers erkennen. Der Operateur richtete die drei Frakturen von Hand ein und ließ sich dann eine Titanplatte anreichen. Die wurde mit selbstschneidenden Schrauben und einem luftdruckgetriebenen sterilen Schrauber in den Kieferknochen eingeschraubt. Als das erste Bruchende fixiert war, verfuhr man mit dem nächsten genauso und zum Schluss auch noch mit dem dritten Fragment. Immer wieder testete der Operateur den korrekten Biss und die Beweglichkeit des Unterkiefers, indem er die Zähne aufeinander hin-und herbewegte. Insgesamt hatte Ben nun drei Titanplatten und 12 Schrauben im Kiefer, die in sechs bis zwölf Monaten wieder entfernt werden würden.
    Trotz elektrischer Blutstillung war ziemlich viel Blut geflossen, aber das war bei diesen Operationen einfach nicht zu verhindern. Der Operateur und seine Assistenten vernähten noch die Schleimhaut und außer einer Reihe Fäden war nun von der ganzen Operation nichts mehr zu sehen. Die Zähne waren Gott sei Dank alle fest geblieben. Zuletzt spülte man den Mund noch gründlich aus und während der Operateur noch das Unter-am Oberkiefer mit einer Metallcerclage zur Ruhigstellung locker befestigte, hatte die Anästhesieschwester schon das nächste OP-Team, die drei Urologen, telefonisch verständigt.


    Der Narkosearzt, der Ben in einer tiefen Narkose gehalten hatte, sah auf die Uhr und markierte zusätzlich noch am Narkoseprotokoll das OP-Ende des ersten Eingriffs. Siebzig Minuten, nicht schlecht!“ sagte er anerkennend, denn die MKG-Chirurgen hatten wirklich zügig gearbeitet. Momentan fuhr er jetzt eine flache Narkose, denn die Vorbereitung und Lagerung zur nächsten OP würde noch einige Zeit in Anspruch nehmen, aber nicht belastend und schmerzhaft für seinen Patienten sein, was sich während des Eingriffs dann aber schnell ändern würde.


    Sarah hatte voller Wehmut beobachtet, wie Ben in den OP gefahren wurde. Rein theoretisch hätte sie sich einschleusen und zusehen können, aber sie verzichtete lieber darauf. Ben hätte nichts davon und sie würde sich dem Gespött der Kollegen aussetzen, wenn ihr dann vielleicht schlecht wurde, oder sie sogar umkippte. Sie ging deshalb langsam zur Station zurück und überlegte, was sie jetzt machen sollte, als ihr Semir über den Weg lief, der gerade nach einer kurzen Nacht wiedergekommen war, um seinen Freund zu besuchen. „Semir, er ist gerade im OP und weil ja mehrere Eingriffe vorgenommen werden müssen, rechnen die Ärzte mit einer Operationsdauer von etwa fünf Stunden. Wir können derweil auch gar nichts machen, was ihm irgendwas bringt. Ich glaube, ich gehe in mein Appartement und lege mich noch ein wenig hin. Ich werde meine Kollegen bitten, mich zu verständigen, wenn sich die OP dem Ende zuneigt. Ich rufe dich dann an, dann können wir dabei sein, wenn er aufwacht!“ sagte sie zu Semir, der zustimmend nickte. „Hoffentlich geht Alles gut und die können ihm helfen!“ hoffte Semir und Sarah sagte leise: „Nichts sehnlicher wünsche ich mir auch!“ und damit verließen sie, nachdem Sarah ihre Kollegen auf der Station noch gebeten hatte, anzurufen, wenn sie am PC das Operationsende absehen konnten, gemeinsam das Krankenhaus.

  • Semir war zwar müde, aber eben auch entschlossen, die Menschen, die für Ben´s momentane Situation verantwortlich waren, zur Rechenschaft zu ziehen. Deshalb fuhr er erst einmal in die PASt, wo ihn Frau Krüger mit gerunzelter Stirn begutachtete. „Herr Gerkan, was wollen sie denn hier? Gestern Abend haben sie mir noch erklärt, dass sie sich jetzt Volllast um Ben kümmern wollen. Gerade jetzt, wo ich überhaupt nicht mit ihnen gerechnet habe, stehen sie vor mir und wollen einen Arbeitsauftrag!“ bemerkte sie ein wenig spitz. Semir musste erst einmal schlucken. Verdammt, er hatte Überstunden genug, um bis Weihnachten zuhause zu bleiben und er war auch nur deswegen in seiner Dienststelle erschienen, weil er Ben´s Fall klären wollte, wenn er im Augenblick schon nichts anderes tun konnte. Er beschloss, den eigentlich unnützen Kampf, aufzunehmen. „Frau Krüger, Ben wird gerade operiert. Die Eingriffe werden mehrere Stunden dauern und in dieser Zeit würde ich gerne mithelfen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen!“ sagte er wütend und als die Krüger die Stimmung ihres langjährigen Mitarbeiters und Vertreters wahrnahm, lenkte sie ein. „Herr Gerkan, wir sind alle miteinander gereizt und übernächtigt. Wollen sie mitkommen, wenn wir die Folterer, die sie und Hartmut festgesetzt haben, vernehmen?“ fragte sie und anstatt eine Antwort zu formulieren, war Semir schon aufgesprungen und stand abfahrtbereit in der Tür.


    „Na denn mal los!“ sagte er auffordernd und die Krüger erhob sich seufzend von ihrem Stuhl. „Sie wissen schon-wir müssen dazu in die Polizeidienststelle, die der Burg am Nächsten liegt?“ fragte sie und Semir nickte ungeduldig. „Ben´s OPs sind für mehrere Stunden geplant, ich denke, das könnten wir bis dahin schaffen!“ sagte er und wenig später saßen die beiden Beamten in Semir´s BMW und waren auf dem Weg zum Revier. Gut, dass Hartmut mal wieder an alles gedacht hatte und Semir´s Dienstfahrzeug jetzt vor der PASt geparkt war. Dort hingekommen war Semir nämlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln, was er sonst ja strikt zu vermeiden versuchte, aber was sollte er machen-Andrea brauchte ihr Auto selber und hatte ihn nur kurz am Krankenhaus rausgelassen, als sie zur Arbeit fuhr.
    „Frau Krüger-wir müssen diese Freaks überführen, denn die hätten Ben, ohne mit der Wimper zu zucken, umgebracht!“ bläute Semir der Chefin ein, die wieder einmal begonnen hatte, sich am Sitz festzuhalten. Wenn Semir wütend war, fuhr er wie eine Sau, aber sie wäre die Letzte, ihm das gerade vorzuhalten!


    Im Operationssaal hatten inzwischen die Kieferchirurgen das Feld geräumt. Der Tisch wurde elektrisch gerade gestellt und die beschmutzten Tücher entfernt. Der Kieferchirurg mahnte seinen Kollegen noch an: „Hör mal, es wäre vermutlich sinnvoll, Herrn Jäger eine Ernährungssonde zu legen. Er wird die nächsten Tage Hunger haben, aber das Wenige, was er durch den verdrahteten Kiefer zu sich nehmen kann, wird nicht ausreichen!“ erklärte er und der Anästhesist nickte. Das hatte er eh schon vorgehabt, seinen Patienten die nächsten Tage via Sonde zu ernähren. Der war von der Gefangenschaft so ausgemergelt, ihm würde jede Kilokalorie gut tun!


    Die instrumentierende Schwester warf das spezielle Instrumentarium, das sie benutzt hatten, in einen Entsorgungscontainer. In diesem wurde es in die Zentralsterilisation gebracht und dort aufbereitet. Die Kittel und Abdecktücher waren Einmalmaterial und wurden einfach weggeworfen. Auf dem Sterilflur warteten auf Wägen die sterilen Instrumentencontainer, Kittel und sonstiges Einmalzubehör für die nächste, die urologische OP. Das hatten die Mitarbeiter dieses Saals hergerichtet, sobald sie von der OP-Planung erfahren hatten. So konnte man die Wechselzeiten möglichst kurz halten. Allerdings würde sich auch die instrumentierende Schwester für jede einzelne OP frisch waschen, denn gerade die MKG-Chirurgie und auch die Urologie waren so Grenzbereiche, in denen die Sterilität nie völlig einzuhalten war, so sehr man sich auch bemühte, einfach durch die Tatsache, dass der Mund nicht komplett desinfizierbar war und in der Urologie für die tieferen Regionen das Gleiche galt.


    Während die Schwester ihre Hände im Waschraum erneut chirurgisch desinfizierte, hatte der Springer, unterstützt von der Anästhesieschwester begonnen den Tisch umzubauen. Dazu schraubte er außen an das Mittelteil des Tischs Beinhalter an, denn die OP würde in sogenannter Steinschnittlage durchgeführt werden. Dann entfernte er den Gurt über Ben´s Oberschenkel und nahm die Knierolle heraus. Nun hielt die Narkoseschwester Ben´s erstes Bein, das nun sehr schwer war, da ja jeder Muskeltonus fehlte. Der OP-Pfleger kippte das erste gerade Beinteil des Operationstisches ab und nahm es aus der Führung, um es dann wegzustellen. Man würde es für die nächste Operation wieder brauchen und außerdem war es üblich, außer für Kaiserschnitte, in denen es um jede Minute ging, die Patienten nicht in dieser, psychisch doch belastenden Position, einschlafen und aufwachen zu lassen. Nun wurde das Bein in den Beinhalter gelegt und locker festgemacht, damit es nicht herunterfiel und dann folgte das andere Bein. Der OP-Pfleger zog Ben noch ein wenig nach unten, damit er genau an der Kante lag und brachte oben am Tisch zwei Schulterstützen an, damit er nicht nach oben rutschte, wenn man den Tisch kippte. Nun wurden die Beine in den ebenfalls verstellbaren Beinhaltern noch exakt gelagert und dann mit Klett festgemacht. Nachdem der schlafende Patient ja nicht sagen konnte, wo etwas drückte, war das eine Wissenschaft für sich, denn eine falsche Lagerung, oder ungenügende Polsterung konnte Nervenschäden hervorrufen. Sogar Gelenke waren so schon ausgekugelt worden, darum war auch diese Tätigkeit standardisiert und von großer Wichtigkeit.
    Als der Pfleger nun mit seiner Arbeit zufrieden war, begann er, unterstützt von der Anästhesieschwester, der instrumentierenden Schwester die Einmalverpackungen aufzureißen, damit die ihren Steriltisch wieder vorbereiten konnte. Die Urologen hatten sich inzwischen ebenfalls zu waschen begonnen und so begann die nächste Operation, die gerade für einen so jungen Mann von großer Wichtigkeit war.

  • Die drei Urologen gingen ihrer Arbeit nach und auch sie waren erschüttert, welch schwere, schmerzhafte Verletzungen ihrem Patienten zugefügt worden waren. Gott sei Dank gelang es ihnen, mit vielen Drainagen, Spülungen und einem Schienungskatheter die Situation zu verbessern. „Jetzt können wir nur hoffen, dass das Antibiotikum greift und die Wunden abheilen. Inzwischen bin ich mir wegen der Zeugungsfähigkeit gar nicht mehr so sicher-da darf jetzt echt nichts schiefgehen!“ erklärte der leitende Operateur, denn die Verletzungen hatten sich intraoperativ als schwerwiegender herausgestellt, als sie vorher erwartet hatten. Allerdings hätte auch ein um wenige Stunden vorgezogener OP-Beginn die Problematik nicht verändert. „Bis sich was tut, müssen die Wunden jetzt täglich gespült werden, was mit Sicherheit nicht angenehm werden wird!“ kündigte der Operateur an und der Narkosearzt nickte. Er würde das auf seinem Protokoll vermerken und es dann auch auf die Intensiv so weitermelden. Mitleidig blickte er auf seinen jungen, normalerweise sicher gutaussehenden Patienten, der aber gerade durch die Kieferfraktur und die Spuren der Misshandlungen sehr verschwollen war. Der hatte Furchtbares hinter sich, aber bis er wieder ganz gesund wäre, würde es noch einen weiten Weg bedeuten. Mehrere gepolsterte Verbände beendeten diesen Eingriff und der OP-Pfleger baute nun den Tisch wieder in umgekehrter Reihenfolge um.


    Der Unfallchirurg war auch schon verständigt und als er kam, widmete er sich erst einmal den Verletzungen, die noch nicht versorgt waren, auf der Vorderseite. Um die Flächen desinfizieren zu können, hatte man die ganzen Pflaster von den Schnittwunden entfernt. Die sahen gut aus, denn die waren zeitnah, ordnungsgemäß genäht worden. Anders sah es mit den Verbrennungen aus. Der überwiegende Teil dieser Verletzungen war zwar oberflächlich, aber die mittig auf der Brust liegende Brandwunde war drittgradig mit schweren Gewebeschäden bis in die Tiefe. „Ich vermute, die anderen Wunden werden ohne Narben abheilen, aber diese Verbrennung geht dermaßen in die Tiefe, dass die Muskelschicht und sogar die Knochenhaut des Brustbeins in Mitleidenschaft gezogen sind!“ stellte er fest, als er die verkohlte Wunde Schicht um Schicht mit dem Skalpell abtrug.
    „Wir müssen eine Hauttransplantation vornehmen, sonst wächst das nie zu!“ erklärte er und trat mit seinem Assistenten zur Seite, dass der OP-Pfleger eine Stelle an Ben´s Oberschenkelvorderseite freilegen und desinfizieren konnte. Dann ließ er sich ein Dermatom-eine kleine Schneidemaschine von der OP-Schwester anreichen, mit der er einen Streifen Haut von da sozusagen abhobelte. Mit einer raffinierten Schnittführung des Geräts in der Wachstumsschicht würde an der Entnahmestelle die Haut wieder problemlos zuheilen und das entnommene Streifchen konnte man wie eine Art Gitter auseinanderziehen. Während der Assistent noch ein paar Kompressen auf die Entnahmestelle drückte, die ziemlich blutete, legte der Unfallchirurg die neue Haut auf die nun angefrischte Brandwunde, in der er das zerstörte Gewebe so weit abgetragen hatte, bis gut durchblutetes Fleisch sichtbar war. Ein feuchter, steriler Wundverband hielt das Transplantat an seinem Ort und nachdem die Vorderseite verbunden war, würde man Ben nun auf den Bauch drehen, um die gerissene Achillessehne nähen zu können.


    Der Anästhesist sah ein wenig sorgenvoll auf seine Uhr. Sie operierten nun schon knapp vier Stunden und die lange Narkosedauer begann seinen Patienten ganz schön mitzunehmen. Obwohl er viel Volumen bekam, hatte man immer wieder das Noradrenalin steigern müssen, die Herzfrequenz schwankte und insgesamt ging es Ben nicht gut. Man nahm ihm intraoperativ Blut ab, um Mangelversorgungen erkennen zu können und glich die beginnende Übersäuerung seines Organismus mit Natriumbikarbonat aus. „Können wir noch fertig machen?“ fragte der Operateur und der Anästhesist nickte zögernd. „Wenn ihr es unter einer Stunde schafft, dann können wir´s wagen!“ sagte er und der Chirurg bemerkte: „Wir werden uns Mühe geben!“


    Semir und die Chefin waren inzwischen am Polizeirevier angekommen. Nacheinander verhörten sie die jungen Männer, aber Florian Tewett würden sie sich bis zum Schluss aufheben. Vielleicht hatten die anderen dann schon etwas verraten, mit dem man ihn konfrontieren konnte. Wie sie sich schon gedacht hatten, waren die Freaks nach einer Nacht in der Zelle, alleine und ohne Unterstützung ihrer Freunde und außerdem ohne den Einfluss bewusstseinserweiternder Drogen sehr unkompliziert und mitteilungsbedürftig. Ausnahmslos beteuerten sie, dass sie von Florian angestiftet worden seien, ein kleines Video zu drehen. Das wäre aber alles nur Spaß gewesen und sie hätten nie vorgehabt, ihrem Opfer in irgendeiner Weise zu schaden. Das sei ein tolles Spiel gewesen, in dem sich Fiktion und Realität vermischt hatten, sie wären sich gar nicht bewusst gewesen, dass sie dem Mann schaden könnten und so versuchten sie, sich von jeder Schuld frei zu waschen.


    Semir ließ sich vom Revierleiter die Handys der Verhafteten aushändigen. Die waren am Vorabend gleich von den SEK-Männern konfisziert worden und als Semir nun die Videos der Gewaltorgie anschaute, wären ihm beinahe die Tränen gekommen, als er sah, wie ausgeliefert, schwer verletzt und voller Angst Ben da auf dem Tisch festgebunden war, was er ja auch mit eigenen Augen hatte sehen können.
    In ihm stieg die Wut hoch und so zeigte er den Freaks nacheinander verschiedene Ausschnitte und herrschte sie an: „Ja genau, das war alles nur ein tolles Spiel, oder was? Mein Freund und Kollege wäre dabei fast draufgegangen, aber Hauptsache ihr hattet euren Spaß! Allerdings habt ihr jetzt die nächsten 10 Jahre im Knast Zeit, um darüber nachzudenken, was ihr verkehrt gemacht habt!“ gab er ihnen zu bedenken. Es war zwar höchst unwahrscheinlich, dass die Freaks eine dermaßen hohe Strafe bekommen würden, aber momentan genügte diese Ansage, um sie auskunftsfreudiger zu machen Nun in nüchternem Zustand, brach einer nach dem anderen zusammen und gab zu, angestiftet von Florian, bei einem Video mitgewirkt zu haben, das den Tod des Opfers wenigstens billigend in Kauf genommen hatte.
    Nachdem sie nun diese fünf Aussagen hatten, wurde Florian hereingeführt und als Semir dessen arrogantes Lächeln sah, wäre er am liebsten aufgesprungen und hätte ihn erst mal ordentlich geschüttelt. Aber nach einem warnenden Blick der Krüger beherrschte er sich und lehnte sich betont lässig in seinem Stuhl zurück. „Und nun zu ihnen Herr Tewett!“ begann er und Florian sah ihn spöttisch an.

  • Semir begann mit dem Verhör, indem er die Personalien aufnahm. „Sind sie Florian Tewett, geboren am 3.03.1992 in Köln?“ fragte er den jungen Mann und hängte auch noch die Adresse an.„Wenn sie eh schon alles über mich wissen, warum fragen sie dann überhaupt?“ antwortete der mit einem Grinsen und Semir ballte seine Hände unbewusst zu Fäusten. „Ich beginne dieses Verhör, wie jedes andere und erwarte, dass sie mir mit einem klaren ja oder nein antworten und nicht mit einer Gegenfrage!“ sagte Semir und man konnte an seiner Stimme hören, wie mühsam er sich beherrschte.Florian lehnte sich nun seinerseits in seinem Stuhl zurück, begann ungerührt an seinen Fingernägeln rumzuspielen und sagte mit gelangweiltem, provokativen Ton: „Ja!“„Was haben sie gestern Abend gemacht, erzählen sie mir, wie sie auf die Burg gekommen sind und warum sie meinen Kollegen dort gefoltert haben?“ fuhr Semir fort. Florian grinste ihn frech an, zeigte ihm den Stinkefinger und säuselte: „Ohne meinen Anwalt sage ich keinen Ton!“ und nun hielt es Semir nicht mehr auf seinem Platz. Er packte den Freak an seinem Shirt und zog ihn nahe zu sich heran: „Bald wird dir auch dein Anwalt nicht mehr helfen können, das verspreche ich dir, so wahr ich Semir Gerkan heiße!“ drohte er ihm, ließ ihn aber sofort wieder los, ohne ihm was getan zu haben. Die Krüger war entsetzt aufgesprungen, um Semir davon abzuhalten, Florian zu vermöbeln und auch sie atmete nun erleichtert aus, als der aufhörte, ohne tätlich zu werden und es bei der Drohung beließ. Auch Florian war einen kurzen Moment blass geworden, er hatte schon befürchtet, nun eine Tracht Prügel verpasst zu kriegen, denn das hatte in vorigen Verfahren auch schon funktioniert, aber trotzdem ließ er sich nicht gerne schlagen, auch wenn es für ihn von Vorteil gewesen wäre. Sein Anwalt würde ihn dann in der Öffentlichkeit als armes Opfer willkürlicher Polizeigewalt hinstellen und der nächste Freispruch wäre ihm sicher. Trotzdem hatte er nun ein bisschen Angst bekommen vor diesem kleinen Türken, aber der würde das noch büßen, dass er ihm so einen Schreck eingejagt hatte. Ab sofort schwieg Florian und Semir und der Krüger blieb nichts anderes übrig, als ihn wieder abführen zu lassen und auf einen Verhörtermin mit Anwalt zu warten.Der hatte seine Personalien und seine Telefonnummer hinterlegt und als die Krüger ihn anrief, machten sie für den Spätnachmittag einen Termin aus. Allerdings kamen sie noch überein, dass Florian nach Köln in die PASt gebracht werden sollte, dann ersparten sich alle, der Anwalt eingeschlossen, eine Menge Fahrerei.Die anderen Freaks, deren Verhör ja abgeschlossen war, wurden ins Untersuchungsgefängnis überführt und durften dort auf den Verhandlungstermin warten, der vermutlich in ein paar Monaten angesetzt werden würde.


    Semir sah auf die Uhr. Inzwischen waren schon vier Stunden vergangen, seit er das Krankenhaus verlassen hatte, aber Sarah hatte sich noch nicht gemeldet. Zügig fuhren sie also zurück nach Köln und jeder hing seinen Gedanken nach. Hoffentlich ging es Ben einigermaßen gut, hoffte Semir und nachdem er die Krüger an der PASt rausgelassen hatte, fuhr er zur Uniklinik. Er musste jetzt einfach in Ben´s Nähe sein, egal ob der noch operiert wurde, oder schon wieder auf der Intensiv war. Allerdings vertraute er Sarah eigentlich schon, dass sie ihn, wie versprochen, verständigen würde und so zückte er, nachdem er sein Auto abgestellt hatte, sein Handy und rief sie an.
    Sarah hatte zwar ein wenig geschlafen, aber nun wanderte sie schon seit Stunden unruhig durchs Krankenhaus. In ihrer Wohnung hatte sie es nicht mehr ausgehalten und so nervte sie ihre Kollegen, indem sie im Fünf-Minuten Takt in den PC spähte, wo einzusehen war, wie weit die im OP inzwischen waren, aber ein Ende schien noch lange nicht in Sicht.Als ihr Telefon läutete und Semir dran war, war sie fast erleichtert, dass sie sich ein wenig ablenken konnte. Sie vereinbarte, sich mit ihm in der Krankenhauscaféteria zu treffen und wenig später saßen die beiden sich bei einem Cappuccino und einem Snack gegenüber. „Ach Semir, ich mach´ mir solche Sorgen!“ klagte sie und der nickte mit dem Kopf. „Ich auch, Sarah, ich auch!“ sagte er bedrückt und sah nervös auf die Uhr.


    Im OP hatte man Ben inzwischen umgedreht und mit den Armen nach oben, ein dickes Kissen unter der Brust, gelagert. Beim Umlagern war er durch die Flüssigkeitsverschiebung einen Moment kurz eingebrochen und der Anästhesist hatte schon in Erwägung gezogen, die OP abzubrechen. Nachdem sich sein Patient aber nun wieder ein wenig erholt hatte und sich auch in Bauchlage problemlos beatmen ließ, nickte er den Unfallchirurgen zu: „Ok, dann mal los!“ sagte er und der eröffnete nun mit einem Schnitt direkt über der Ferse Ben´s Unterschenkel. Zuvor hatte man-noch in Rückenlage- eine Blutleere angebracht, das bedeutete, dass der OP-Pfleger das Bein mit Gummibinden straff bis zum Oberschenkel ausgewickelt hatte, um möglichst viel Blut daraus Richtung Körpermitte zu befördern. Dann hatte man eine große Blutdruckmanschette über den Oberschenkel gelegt und die straff auf 300 mm/Hg aufgepumpt. Die Gummibinden wurden danach wieder entfernt und Ben dann umgedreht. So hatte man den Vorteil, ohne Blutung und sauber operieren zu können, was man bei Eingriffen an den Extremitäten immer bevorzugte. Ben´s Bein war bis zum Knie desinfiziert und in grüne Tücher gehüllt und nun begann der Chirurg die beiden gerissenen Sehnenenden zu suchen, um sie mit einer sogenannten Z-Plastik, wieder zusammenzunähen. So versuchte man die sonst sehr straffe Sehne ein wenig zu verlängern. Das untere Teil war sofort gefunden, aber nachdem seit dem Sehnenabriss nun schon mehrere Tage vergangen waren, hatte sich das andere Ende bis weit in die Wade hinauf zurückgezogen. Aber endlich war auch das geschafft und der Operateur ordnete nach dem Verschluss der Hautnaht und dem Öffnen der Blutleere noch einen Gips in Spitzfußstellung an, um die empfindliche, frisch vernähte Sehne zu entlasten.


    Inzwischen waren seit OP-Beginn sechs Stunden vergangen. Die Urologen hatten wesentlich länger gebraucht, als geplant und alle Beteiligten im OP wären nun froh, wenn sich die Operation endlich dem Ende zuneigen würde. Ein Teil des Personals hatte rotierend Pause gemacht und war zwischendurch abgelöst worden, aber der Anästhesist und die instrumentierende Schwester hatten darauf verzichtet. Man hatte zwischendurch mal ein paar Schluck getrunken, aber das wars auch gewesen. Nun nahm man zuletzt noch die grünen Tücher von Ben´s Rücken und der Chirurg begann die eiternden und immer noch mit Salbe verklebten Peitschen-und Brandwunden zu reinigen. Teilweise musste er sie mit einem scharfen Löffel auskratzen und abgestorbenes Gewebe entfernen, aber das würde nur heilen, wenn der Eiter und die Nekrosen abgetragen waren. Doch endlich war auch das geschafft und nun drehte man Ben wieder zurück, um ihm noch eine Ernährungssonde durch die Nase zu legen und ihn dann aufwachen zu lassen.

  • Die Anästhesieschwester maß Ben´s Temperatur, wie schon mehrfach während der Operation. Es war gut gewesen, dass Ben zuvor Fieber gehabt hatte, denn jetzt war nach den ganzen Eingriffen die Körperkerntemperatur in den Normbereich gesunken. Normalerweise hatte man bei so langdauernden Operationen eher die Schwierigkeit, dass die Patienten zu sehr auskühlten und deswegen nicht extubiert werden konnten. Man versuchte dann, mit warmen Gelunterlagen und speziellen Wärmedecken um die Schulterpartie die Temperatur zu halten, aber in Ben´s speziellem Fall war das nicht nötig gewesen. Er hatte noch 37°C und der kritische Wert für die nicht mögliche Extubation lag bei 35°C und darunter. Der Narkosearzt hatte die flüchtigen Narkosegase schon eine Weile ausgeschaltet und für den letzten Teil der OP, die Wundreinigung, nur noch eine flache Narkose gefahren. Ben begann schon wieder dazuzuatmen, war aber noch sehr schlaff, als man ihn wieder auf den Rücken drehte. Wieder ging sein Kreislauf in die Knie, als die Flüssigkeitsmengen in seinem Körper durch die Lagerung verschoben wurden und der Narkosearzt betrachtete mit Besorgnis den Monitor, als Ben´s Herzfrequenz erst in die Höhe schoss, viele Extrasystolen, also außerordentliche Herzschläge bot, um dann plötzlich durch den Vagusreiz sehr langsam zu werden, als der Arzt die Ernährungssonde durch das zweite Nasenloch gefühlvoll in den Magen schob. Man prüfte die korrekte Lage, indem man mit einer großen Spritze Luft in die Sonde blies und dabei mit einem Stethoskop auf die typischen Blubbergeräusche in Ben´s Bauch hörte. Allerdings schaffte der Mediziner es, mit einigen Medikamenten den Kreislauf zu stützen und alle Anwesenden atmeten auf, als die Werte wieder halbwegs im Normbereich waren.


    Der OP-Pfleger legte noch den angeordneten Gipsverband in Spitzfußstellung an und dann versuchte man Ben zu wecken, indem man ihn ansprach und durch Kneifen einige Schmerzreize provozierte. Zu dieser Prozedur hatte man den gepolsterten Gurt wieder über ihm festgezogen, denn es kam nicht selten vor, dass Patienten in diesem Zwischenreich zwischen Wachen und Schlafen versuchten aufzustehen und da konnten sie sich übel verletzen. Ben allerdings war viel zu erschöpft und kraftlos, um mehr als nur die Augen aufzumachen. Das Gesicht war durch die Bauchlage nochmals extra angeschwollen, schillerte in allen Farben und bot gerade keinen schönen Anblick.Anfangs atmete Ben noch ein wenig zögerlich und hatte Pausen, in denen man ihn dann nochmals manuell beatmen musste, aber nach einigen Minuten beschleunigte sich sein Herzschlag und er begann zu husten. Man hatte ihn noch gründlich abgesaugt, als er tief geschlafen hatte, so dass kein Sekret im Rachen stand, das nach der Entfernung des Beatmungsschlauches hinten runterlaufen konnte. „Ich denke, wir können es wagen!“ nickte der Narkosearzt und entblockte den Tubus, während Ben mit allen Mitteln mitzuteilen versuchte, dass er das Ding in seinem Rachen loswerden wollte. Unter beruhigendem Zureden zog man den Tubus heraus, um dann gleich die Sauerstoffmaske vor seinen Mund und Nase zu halten. Mit einigen pfeifenden Atemgeräuschen hustete Ben ein paarmal und dann schloss er erschöpft wieder die Augen. Er war noch nicht so ganz wach, aber seine Schutzreflexe funktionierten und das war das Wichtigste. Die meisten Patienten konnten sich später an dieses Wachwerden nicht mehr erinnern und so kabelte man Ben jetzt an den Transportmonitor um und ersetzte die vorgehaltene Sauerstoffmaske durch eine Sonde in seinem Nasenloch. Zusammen mit seinem ganzen Equipment rollte man Ben in die Schleuse, wo ihn der übernehmende Intensivarzt und seine betreuende Schwester schon erwarteten.


    Sarah und Semir hatten ihre Kaffeepause schon lange beendet und saßen nun nervös auf den Besucherstühlen vor der Operationsabteilung, wenn nicht gerade mal der eine, mal die andere unruhig hin und herliefen. Sarah hatte zuvor auf der Intensiv noch in den Computer geschaut und da konnte man sehen, dass die Operationen beendet waren und Ben bald herauskommen würde. Es war inzwischen drei Uhr nachmittags geworden und auch Semir hatte das Gefühl, dass die Minuten des Wartens sich zu Stunden gezogen hatten. Komisch, wenn man beschäftigt war, verrann die Zeit wie im Flug, aber banges Warten war eine der schlimmsten Beschäftigungen, die Semir sich vorstellen konnte. Hoffentlich hatte man Ben helfen können und er würde wieder ganz in Ordnung kommen!


    Der Narkosearzt machte die Übergabe an seinen Kollegen und die Schwester, erklärte, was sie alles gemacht hatten und ordnete dann noch weitere Maßnahmen an, die er außerplanmäßig wünschte. „Die Genitalverletzungen waren schwerwiegender als zunächst angenommen und wir können nur hoffen, dass die Urologen gute Arbeit geleistet haben!“ erklärte er ausführlich die einzelnen Diagnosen und die Schwester, die ihren Patienten ja noch nicht kannte, weil inzwischen ein Schichtwechsel stattgefunden hatte, sah mitleidig auf den Körper, an dem kaum eine heile Stelle war. Hoffentlich würden sie es schaffen, den jungen Mann einigermaßen schmerzfrei zu halten! Mit diesen Gedanken packten sie und der Arzt das Bett und schoben es aus der Operationsabteilung. Ihre Kollegin Sarah, die aussah, als wäre sie in den letzten Stunden um fünf Jahre gealtert, so hohläugig erwartete sie ihren Freund, sprang auf und stürzte an Ben´s Seite. Sie hatte auf den ersten Blick gesehen, dass er extubiert war und wertete das als gutes Zeichen. Auch Semir war zum Bett getreten und nun liefen zwei Menschen nebenher, während die Fahrt von der Operationsabteilung zur Intensivstation begann. Sarah hatte versucht Ben´s Hand zu nehmen, aber das war während der zügigen Fahrt fast nicht möglich. Ben schaute mit müdem Blick auf und erst verschwommen und dann immer klarer, konnte er Sarah und Semir erkennen. Er wollte mit den Lippen ein paar Worte formen, aber das tat so weh, dass nur ein Aufstöhnen seinen Mund verließ. Die Tränen begannen aus Ben´s Augen zu laufen und auch der Intensivarzt sah mit einer adäquaten Schmerztherapie da noch so einiges auf sich zukommen. Eigentlich sollte das Opiat vom OP noch wirken, aber da bestätigte sich mal wieder der Unterschied zwischen Theorie und Praxis!

  • Kaum waren sie auf der Intensiv angekommen, wurde Semir gebeten, doch noch ein wenig draußen zu warten. Ehrlich gesagt, war sich die Intensivschwester auch nicht sicher, ob das so eine gute Idee war, wenn die sichtlich mitgenommene Sarah sofort mit hinein ging und half, ihren Liebsten zu verkabeln, aber nachdem der Arzt nicht protestierte, hielt sie ihren Mund. Ben hatte inzwischen das Gefühl, aus einem einzigen Schmerz zu bestehen. Ständig überlegte er, wo es ihm am meisten weh tat, dabei ballte er die Hände zu Fäusten und stöhnte unbewusst vor sich hin. Sie waren kaum um die Kurve, da fragte aber schon eine der diensthabenden Intensivschwestern: „Welche Schmerzmittel braucht ihr?“ und der Arzt verlangte einen Perfusor mit Piritramid und dazu noch eine Kurzinfusion mit einem Gramm Paracetamol. Novalgin traute er sich nicht, denn im Urinbeutel waren nur wenige Tropfen und Metamizol, dessen Wirkstoff, konnte die Nieren schädigen.Man schob Ben auf seinen Bettplatz und nahm erst mal die Decke wieder weg, weil die mitgebrachten Kabel, wie immer, völlig verwirrt waren, was eigentlich nie zu vermeiden war, wenn die Patienten umgelagert wurden. Alle Infusionsleitungen und Überwachungskabel wurden eines nach dem anderen wieder an ihren Ort gebracht und wenig später schloss die Schwester das Opiat mit einem dünnen Schläuchlein direkt an Ben`s ZVK an.


    Dessen Stöhnen war inzwischen lauter geworden und er hatte die Augen fest zusammengekniffen. Du lieber Gott, er hatte gedacht im Folterkeller den Gipfel der Schmerzhaftigkeit ausgekostet zu haben, aber jetzt schlugen die heftigen Schmerzen wie eine Woge über ihm zusammen und raubten ihm beinahe den Verstand. Im Unterbewusstsein bekam er mit, wie etwas piepte und nun rann Bolus um Bolus Opiat in seine Venen, immer gefolgt von der besorgten Frage des Arztes: „Wird’s schon ein wenig besser?“ die er immer mit einem Kopfschütteln beantwortete. Zunächst hatte er nicht das Gefühl, dass es in irgendeiner Weise leichter wurde, aber nach dem vierten Piepen merkte er, dass ihm schwindlig wurde und langsam begann er, ein wenig neben sich zu stehen. Auch das Paracetamol lief als Kurzinfusion in ihn hinein und nun begann er sich ein wenig zu entspannen.Nebenbei wurde aus der Arterie Blut abgenommen und dann hörte der Arzt noch seinen Brustkorb ab, konnte aber außer einem Rasseln, das zuvor schon dagewesen war, vermutlich einer beginnenden Erkältung, keine auffälligen Geräusche wahrnehmen. Es gehörte zum Intensivstandard, dass jede einzelne Drainage dokumentiert wurde und so nummerierte man die Beutel, die aus dem großen Verband zwischen seinen Beinen herauskamen und nebenbei stellte man Ben noch Fragen wie „Spüren sie das?“ als man die Durchblutung des eingegipsten Beins kontrollierte.


    Allerdings war Ben inzwischen von der ganzen Situation, den Nachwirkungen der Narkose und den zentral wirkenden Schmerzmitteln dermaßen verwirrt, dass er selber nicht mehr unterscheiden konnte, wer ihn gerade wo anfasste und wo was weh tat. Trotzdem konnte er irgendwie nicht aufhören zu stöhnen, eigentlich merkte er gar nicht mehr, wie jeder Atemzug mit einem Laut aus ihm herauskam. Nach der nächsten Opiatdosis hörte er zwar damit auf, aber dafür hatte er nun Atempausen, woraufhin ihn der Arzt und die Schwester schüttelten und nun immer wieder ein eindringlicher Befehl in seinem Gehirn ankam: „Schnaufen nicht vergessen, Herr Jäger!“ Verdammt, die sollten ihn in Ruhe lassen, er war doch so müde. Wie durch weite Ferne hörte er die Anordnung des Intensivarztes, ohne die in irgendeiner Weise auf sich beziehen zu können: „Ab sofort Pause mit dem Opiat, er driftet uns zu weit ab. Was er jetzt hat, muss vorerst genügen und bitte die Alarme scharf einstellen, damit wir sofort merken, wenn er mit der Sättigung abrauscht!“ sagte der Arzt, bevor er an den PC trat, um zu dokumentieren, was er gegeben und untersucht hatte und dann das Zimmer zu verlassen.


    Langsam kehrte Ruhe ein und nun konnte auch Sarah, die von ihren Kollegen freundlich, aber bestimmt, bisher auf Abstand gehalten worden war, endlich zu ihrem Freund, der nun ruhig da lag und anscheinend eingeschlafen war. Seine Qualen hatten ihr die Tränen in die Augen getrieben, wenn sie ihm irgendetwas hätte abnehmen können-sie hätte es gemacht-aber leider war das ja unmöglich. Mit zitternden Knien nahm sie, nachdem die Drainagebeutel am Bett befestigt waren und man wieder eine leichte Decke über Ben gebreitet hatte, auf einem Stuhl neben ihm Platz und griff nach seiner Hand, was er nur im Unterbewusstsein bemerkte. „Kann bitte noch jemand Semir hereinholen?“ bat sie und ihre Kollegin nickte, das war vermutlich der Mann draußen. Sarah war es gar nicht bewusst, dass ihre Kollegen den ja vermutlich gar nicht kannten. Eigentlich war es nicht üblich, dass man so kurz postoperativ schon Besuch zu seinen Patienten ließ, aber Sarah zuliebe würde sie eine Ausnahme machen. Allerdings sagte sie zu dem Besucher, als sie vor die Tür ging, um ihn hereinzuholen: „Bitte nur kurz, Herr Jäger muss sich dringend ausruhen, er hat einen regelrechten OP-Marathon hinter sich!“ erklärte sie und Semir nickte verständnisvoll. War ja klar, außerdem war ja Sarah bei seinem Freund und Kollegen. Er trat leise ins Zimmer und musterte Ben, der nun die Augen geschlossen hatte. Obwohl er ihn ja vorher schon gesehen hatte, erschrak er, als er ihn nun in der hellen Beleuchtung sah. Sein zugeschwollenes Gesicht schillerte in allen Farben und er lag so armselig in dem großen, blütenweiß bezogenen Bett. Gut unter ihm glänzte es silbrig von dem Metallinebettuch, auf das man ihn wieder gelagert hatte, aber ansonsten verstärkte die Farbe der Wäsche noch die Blässe seines Freundes. Kurz trat er zu ihm, strich ihm leicht über die Stirn, was Ben mit einem kurzen Stirnrunzeln quittierte, um dann nach einem Blick auf die Uhr wieder zurückzutreten. „Gute Besserung Ben!“ sagte er leise. „Ich fahre jetzt, um den Typen, die dir das angetan haben, den Arsch aufzureißen!“ und nun meinte Semir, dass gerade ein feines Lächeln über dessen Gesicht geflogen war, er konnte sich aber auch getäuscht haben.

  • Hartmut war, nachdem die Spurensicherung in der Burg erledigt war, mit Semir´s BMW nach Köln gefahren, hatte die Autos getauscht, war weiter nach Hause, um dort todmüde ins Bett zu fallen. Er hätte sich sicher den folgenden Tag frei nehmen können, bei den vielen Stunden, die er schon beinahe ohne Pause gearbeitet hatte, aber als er gegen Mittag aufwachte, trank er einen Kaffee und aß ein Müsli, um sich dann auf den Weg in die KTU zu machen. Er wollte alles tun, um Ben´s Folterer zu überführen und deshalb nahm er sich, nachdem er sich telefonisch bei Susanne nach Ben erkundigt hatte, Berghoff´s PC vor. Der hatte zwar relativ gute Schutzmaßnahmen vorgenommen, aber das war eine Hürde, die Hartmut zu nehmen wusste. Zwei Stunden später hatte er die Daten, die Berghoff meinte gelöscht zu haben, rekonstruiert.Fein säuberlich waren da Namen aufgelistet, die Hartmut teilweise bekannt vorkamen. Auf dem nicht gelöschten Teil waren die Namen und Kontaktdaten der Leute, die schon einmal bei einem Essen auf Berghoff´s Schlösschen gewesen waren. Manche der Namen deckten sich mit der Geheimdatei. Vermutlich hatte Berghoff seine Dinner dazu benutzt, Kontakte zu knüpfen und betuchte Kunden für seine anderen „Spielchen“ zu finden.


    Nun begann Hartmut die versteckten Personaldaten zunächst in den Polizeicomputer einzugeben, aber nur bei Florian lagen deutlich sichtbare Verurteilungen wegen sadistischer Spielchen vor, bei den anderen entweder gar nichts, oder mal ein Verkehrsdelikt, eine Festnahme wegen Kokskonsum, oder andere Kleinigkeiten. Keines der Gesichter glich denen, die er auf den Foltervideos gesehen hatte. Nun gab er die Namen der Reihe nach ins Internet ein, suchte da nach Bildern der Personen und siehe da, nach etwa 10 unbekannten Gesichtern, konnte er plötzlich den dicklichen Folterer, der Ben mit der Peitsche gequält hatte, erkennen. Der war ein reicher, bisher unbescholtener Kölner Geschäftsmann. Ein Lächeln zog über Hartmuts Gesicht und dann machte er mit Feuereifer weiter, bis er die Dame auch identifiziert hatte. Sie war, aufgenommen auf Wohltätigkeitsveranstaltungen, an der Seite ihres schwerreichen Mannes zu sehen, dessen Namen-wie viele andere in der Kartei eben auch- sehr bekannt war. Wenn man alles hatte und sich kaufen konnte, musste man sich anscheinend mit solch perversen Spielen die Zeit vertreiben, ungeachtet der Opfer.
    Er griff zum Telefon. Inzwischen war es Nachmittag geworden und die Chefin war seit kurzem wieder von dem Auswärtsverhör zurück. „Chefin, wir haben sie!“ rief er erfreut ins Telefon. Die fragte ein wenig verwirrt: „Wen haben wir?“ und dann erzählte ihr Hartmut, was er gemacht hatte und schickte ihr dann auch gleich über die abgesicherte Leitung zwischen KTU und Revier die Personaldaten der Verdächtigen mit Bild. „Hartmut, sie sind Spitze!“ rief die Chefin ins Telefon und er errötete leicht, obwohl das die Krüger ja jetzt nicht sehen konnte. Alles Weitere würden die Kollegen übernehmen und so machte er ganz regulär mit seiner Arbeit weiter.


    Die Krüger hatte mit der Staatsanwaltschaft telefoniert und die vom Stand der Ermittlungen unterrichtet. Frau Schrankmann versprach, sich um Haftbefehle zu kümmern, allerdings würde es wohl notwendig sein, dass sie sich dazu die Foltervideos ansah. Auch die Handys der Freaks würde man zur Datensicherung in die KTU bringen und auch diese Videos weiterleiten. „Frau Schrankmann, schauen sie, dass sie zuvor nichts gegessen haben, sonst wird ihnen schlecht!“ prophezeite die Chefin, die wie Susanne beinahe ihr Essen von sich gegeben hätte, als sie die Aufnahmen gesehen hatte. „So schlimm?“ fragte die Schrankmann mitfühlend und die Krüger sagte nur einfach: „Ja!“
    Nach einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass nun bald das Verhör mit Florian, der inzwischen hergebracht worden war, anstand. Gerade als sie überlegte, wen sie als zweiten Mann dazu nehmen sollte, stand Semir im Büro. Die Chefin sprang auf: „Und-wie geht es Ben?“ fragte sie gespannt und Semir zuckte die Schultern. „Wie es einem halt so geht nach einer sechsstündigen Operation. Er sieht furchtbar aus, aber er lebt und soweit ich das mitgekriegt habe, konnten sie alles soweit reparieren. Sarah ist bei ihm und er muss jetzt auf der Intensivstation seine Narkose ausschlafen.“ erklärte er.Die Chefin ging zum Schirm an der Wand und rief zwei Bilder auf. „Kennen sie die?“ fragte sie und überrascht und erfreut stellte Semir fest, dass das die Fotos der beiden anderen Folterer waren-darunter standen bereits deren Personalien. Er hatte sich schon den Kopf zerbrochen, wie sie die identifizieren könnten. „Wo haben sie die her?“ fragte er und die Chefin sagte nur ein Wort: „Hartmut!“
    Dann fuhr sie fort: „Die Staatsanwaltschaft stellt die Haftbefehle aus, aber sehen sie mal:“ und damit schob sie ihm eine Tageszeitung herüber. „Erfolgreicher Unternehmer und Kunstmäzen bei Verfolgungsjagd mit Polizei getötet und im Fahrzeug verbrannt!“ lautete die Schlagzeile und darunter war ein Porträtbild Berghoffs und daneben sein ausgebranntes Fahrzeugwrack. „Hoffentlich fühlen sich Berghoffs Kunden jetzt sicher, ich denke es eilt nicht mit den Verhaftungen und spätestens morgen werden wir das in Angriff nehmen, aber jetzt auf zu Tewett und seinem windigen Anwalt!“ sagte die Chefin und erhob sich seufzend. „Und Semir! Ruhe bewahren!“ hängte sie noch an, während sie zum Verhörraum gingen.
    Ben war in der Klinik inzwischen wieder vor Schmerzen aufgewacht. Als er laut stöhnte und sich verkrampfte, holte Sarah den Arzt. „Gut, eine kleine Dosis Piritramid kriegt er wieder, aber bitte vorsichtig fraktioniert geben, nicht dass er zu atmen aufhört!“ ordnete er an und Ben schloss wieder die Augen und pennte weg, als das Opiat in seinen Adern anflutete.

  • Die Chefin und Semir begrüßten kühl den Anwalt, der sich zuvor nochmal mit seinem Klienten besprochen hatte. Als die Krüger ganz offiziell das Verhör eröffnete, indem sie die Personalien Florian´s vorlas, bejahte er das, aber das war auch der einzige Ton, den er von sich gab, alles andere Reden übernahm sein Anwalt. Auf die Frage, wie Florian überhaupt auf sein Opfer getroffen war, erklärte der Anwalt, dass Berghoff, der sich ja nun nicht mehr wehren konnte, Florian unter Drogen gesetzt und in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht habe. Er habe das nicht gewollt, aber mit psychologischer Beeinflussung-und sein Klient sei sehr labil, wie viele bereits vorliegende Gutachten von mehreren namhaften Sachverständigen bewiesen-habe ihn der so weit gebracht, zu funktionieren, wie eine Puppe und Ben auf sein Geheiß hin zu brandmarken. Ihm sei überhaupt nicht bewusst gewesen, dass erstens das Opfer damit vielleicht nicht einverstanden gewesen sein könne, denn durch das Internet würde den jungen Menschen von heute vorgegaukelt, dass Sado-Maso-Spielchen zum Alltag gehörten und zweitens, dass er ihm damit eventuell bleibende Schäden zugefügt habe. Es tue Florian wahnsinnig leid und er wolle sich in aller Form für sein Fehlverhalten entschuldigen.Leider habe sein Klient bei beiden Terminen zu bewusstseinserweiternden Drogen gegriffen und so jeglichen Realitätsbezug verloren, wie auch seine Freunde. Sie wären im Internet in Online-Spielen zu Hause und da habe sich die Realität mit der Fiktion vermischt. Sie hätten Ben auf diesen Tisch, wie auf einen Altar gebunden, um ihn zu verehren wie eine Gottheit und hätten ihn selbstverständlich, wenn die Drogen abgeklungen wären, ärztlicher Behandlung zugeführt. Allerdings wäre der Polizist auch schon verletzt gewesen, als Florian ihn zum ersten Mal gesehen habe, daher wäre er sich ja so sicher gewesen, dass die Spiele einvernehmlich stattgefunden hätten.


    Die Chefin und Semir sahen sich sprachlos an. Was für eine gequirlte Scheiße gab dieser Typ denn von sich? Es war sonnenklar, was für eine Strategie der fuhr, aber die durfte um Himmels willen nicht funktionieren!Nun ergriff Semir das Wort. Mit drohendem Unterton sagte er: „Sie glauben doch nicht, dass sie damit durchkommen? Mein Kollege wäre beinahe gestorben und wie erklären sie dann die Szenen, die ich mit eigenen Augen gesehen habe? Immerhin haben die Freaks in ihren lächerlichen Kostümen-nun funkelte ihn Florian wütend an, sagte aber kein Wort, als sein Anwalt ihn warnend fixierte-Herrn Jäger mehrfache Schnittverletzungen zugefügt, als sie ihn umtanzt haben? Auch dafür gibt es Videobeweise, die uns vorliegen und meine Aussage wird vor Gericht auch Bestand haben. Das lässt sich wohl nicht mit einer Götterverehrung erklären!“ sagte er wütend, aber auch auf diese Frage fiel dem Anwalt etwas ein. „Doch, gerade eben. Durch diese leichten Blutungen wollten sie die gemeinsame Ekstase steigern, in die Herr Jäger ja gleichfalls gefallen war. Sie wussten ja nicht, dass er das gar nicht wollte! Berghoff hatte ihnen da was anderes erklärt und zusammen mit den Drogen….Außerdem müssen sie mir doch zustimmen, wenn die Jungs zu diesem Zeitpunkt bei vollem Verstand gewesen wären, hätten sie sich nie von einem lächerlich maskierten Schauspieler in diesen Kellerraum sperren lassen. Die waren in der Überzahl und haben sich trotzdem zu keinem Zeitpunkt aggressiv verhalten, sondern einfach bei einem, in ihren Augen, tollen Spiel mitgespielt!“ erklärte er zufrieden, denn diese Strategie erklärte nun wirklich alle Taten Florians.
    „Und die Million Euro in der Sporttasche im Wagen, die ja eindeutig als Bezahlung für Berghoff gedacht war, wie wollen sie die erklären?“ fragte nun die Chefin wieder. „Die war für einen Erholungsurlaub gedacht. Florian wollte mit seinen Freunden eine gemeinsame Reise machen, an die schönsten Schauplätze ihres Lieblingsspiels auf der ganzen Welt. Dante´s Inferno wird überall gespielt und da gibt es Communities, die sie gemeinsam besuchen wollten. Mir ist schon klar, dass das in ihren Augen viel zu viel Geld für einen netten Urlaub ist, aber die Relationen sind in anderen Kreisen eben grundlegend verschieden zu denen, eines Otto-Normalverbrauchers!“ erklärte der Anwalt und musterte verächtlich Semir´s Jeans und Sweatshirt. Er selber trug feinen Zwirn und Maßschuhe, so angezogen wie dieser Polizist würde er sein Haus nie verlassen. Semir bemerkte den abwertenden Blick und die Zornesader an seiner Stirn, die schon zu pochen begonnen hatte, schwoll nun gefährlich an. Verdammt, dieser windige Anwalt hatte auf jede Frage eine Antwort und das Gefährliche daran war, dass man Sorge haben musste, dass einem Richter seine Erklärungen eben auch logisch und sinnvoll waren. Wie konnten sie Florian nur festnageln? Leider fiel weder ihm, noch der Chefin irgendetwas ein, womit sie dieses Spiel durchkreuzen konnten. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Vernehmung zu beenden.Der Anwalt behielt sogar das letzte Wort, indem er sagte: „Richten sie bitte Herrn Jäger eine herzliche Entschuldigung im Namen meines Mandanten aus. Leider war meinem Klienten nicht klar, wie sehr er in die Privatsphäre ihres Kollegen eingedrungen ist, das ist unverzeihlich, aber wir wünschen ihm gemeinsam gute Besserung!“ erklärte er und nun blieb Semir sogar der Mund offenstehen.


    Florian wurde nach dem Verhör in das nächstgelegene Untersuchungsgefängnis verbracht und Semir und die Chefin gingen geknickt und sprachlos ins Büro zurück. „Verdammt, was können wir nur tun, um diesen Typen seiner gerechten Strafe zuzuführen?“ fragte Semir hilflos und die Chefin zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht!“ sagte sie niedergeschlagen und in dieser Stimmung machten sie beide Feierabend.

  • Ben wurde wieder wach. Vielmehr befand er sich in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen und die Schmerzen waren allgegenwärtig. Er meinte wieder in dem Verließ zu liegen, denn ihm war kalt und die Fessel um seinen Fuß tat schrecklich weh. Irgendwie tat ihm zwar alles weh, aber am Schlimmsten war diese Fußfessel. Wieder stöhnte er auf. Seine Zunge klebte trocken in seinem Mund und er schmeckte Blut. Er hatte fürchterlich Angst, dass der nächste Folterer in der Tür stehen würde und versuchte sich auf seinem Strohsack zusammenzurollen, aber seine Glieder waren schwer wie Blei. Wenn ihm nur nicht so kalt wäre! Fest hatte er die Augen zugekniffen. Er wollte die roh behauenen Wände des Kerkers nicht sehen, von denen er bald jeden Stein kannte, so lange hatte er sie verzweifelt angestarrt. Um seinem Elend Ausdruck zu verleihen, obwohl das ja sowieso nichts bringen würde, jammerte er leise vor sich hin.


    Sarah, die kurz zur Toilette und etwas trinken gegangen war, kehrte zurück und trat an seine Seite. Mit einer zärtlichen Berührung strich sie ihm eine verklebte Haarsträhne aus dem Gesicht und flüsterte leise: „Was ist los, Ben?“Das konnte doch nicht sein, oder doch? Hatte ihn gerade Sarah berührt? Nein, sie hatten doch einen Streit gehabt! Die Waschmaschine, verdammt die Wäsche in der Waschmaschine, er musste ihr sagen, dass er sie doch hatte rausnehmen wollen. Aua sein Fuß! Ben wurde sehr unruhig und jammerte leise vor sich hin, ohne die Augen zu öffnen. Er versuchte mit schmerzendem Kiefer immer etwas zu sagen, aber Sarah verstand immer nur ein verschwommenes „waschasch“, oder so ähnlich. Nachdem Ben sich gar nicht beruhigen ließ, holte sie den Stationsarzt dazu. Er machte das große Licht an und sprach Ben nun mit lauter Stimme an: „Herr Jäger, machen sie die Augen auf!“ sagte er und blinzelnd befolgte Ben den Befehl. Er sah verwundert um sich, aber dann fiel es ihm wieder ein. Semir und Hartmut hatten ihn gerettet, er war im Krankenhaus und er war operiert worden. Stöhnend sah er an sich herunter und stellte fest, dass er überall von Verbänden bedeckt war. Sein allgegenwärtiger Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen und der Stationsarzt, der ihn prüfend gemustert hatte, gab ihm wieder eine kleine Dosis Opiat aus dem Perfusor. Schlagartig wurden Ben´s Schmerzen leichter, ohne allerdings ganz zu verschwinden. Er versuchte etwas zu sagen und als der Stationsarzt sich über ihn beugte, konnte er ein: „Mein Fuß!“ verstehen. Er sah nach unten und stellte fest, dass die Haut über dem Gipsverband angeschwollen war. Ah ja, da konnte man Abhilfe schaffen! „Sarah ruf doch mal in der Notaufnahme an, die sollen mit einer oszillierenden Säge raufkommen, wir müssen den Gips spalten!“ bat er Ben´s Freundin, die daraufhin das Zimmer verließ, um vom Stationstelefon aus, den Auftrag zu erfüllen.


    Der Arzt untersuchte Ben kurz durch, leuchtete ihm auch in die Augen, deren Pupillen vom Opiat etwas verengt waren. „Wollen sie einen Schluck trinken?“ fragte er freundlich und Ben nickte. Sarah hatte auf dem Nachtkästchen einen Schnabelbecher Wasser mit einem Trinkhalm vorbereitet und tatsächlich, als Ben es versuchte, schaffte er es, zwar unter Schmerzen, aber immerhin, ein kleines Schlückchen zu sich zu nehmen, obwohl sein Mund furchtbar wund war. Die Mundwinkel fühlten sich an, als wären sie eingerissen, aber trotzdem konnte er jetzt verständlicher sprechen.„Ist bei der Operation alles gut gegangen?“ fragte er den Arzt nuschelnd und der wiegte den Kopf. „In groben Zügen schon, nur die Unterleibsverletzungen waren schwerer, als wir erwartet haben. Wir können noch keine klaren Aussagen treffen, ob sie ihre Zeugungsfähigkeit behalten, denn ein Samenleiter war abgerissen und musste repariert werden und auch sonst haben wir da einige nicht so harmlose Verletzungen. Nun sah ihn Ben verzweifelt an. Der Alptraum jedes Typen war wahr geworden, seine Manneskraft war in Gefahr. „Aber machen sie sich keine Sorgen-unser Urologe hat sein Möglichstes getan und wir hoffen durchaus, dass das wieder komplett in Ordnung kommt!“ versuchte der Arzt ihn zu beruhigen, aber das hörte Ben schon nicht mehr. In seinem Kopf dröhnte es. Zusätzlich zu den ganzen Schmerzen nun auch das noch! Jetzt war es klar-so schlimm es für ihn war, aber um seine Freundin zu schützen, musste er die Beziehung beenden. Sie sollte nicht ihr Leben mit einem Krüppel verbringen. Er wusste, sie wünschte sich Kinder und sie waren ja fast soweit gewesen, das in Angriff zu nehmen, als sie den blöden Streit gehabt hatten. Aber nun war es vorbei! Besser er brachte es hinter sich! Das Gespräch hinauszuziehen würde den Schmerz nur vergrößern.


    Allerdings kamen nun Sarah und ein Pfleger mit einem merkwürdigen Gerät zur Tür herein. Man nahm sein Bein von der Schiene, auf der es hochgelagert gewesen war, legte eine Einmalunterlage darunter und schon fraß sich die Säge vorne an der Mittellinie durch den Gips. Ben hielt die Luft an. Die würden doch jetzt um Himmels willen nicht in seinen Fuß sägen? Er erwartete schier, dass sich der Gips gleich rot färben müsste, aber zu seinem Erstaunen stoppte die Säge von selber, als sie sich der Haut näherte. „Das ist eine Spezialsäge, da rotiert die Sägescheibe so, dass sie aufhört, wenn es weich wird. Man kann sich damit eigentlich nicht verletzen!“ erklärte der Pfleger, der nun den Gips mit kräftigen Händen noch auseinanderbog und während Sarah sein Bein hochhielt, eine elastische Binde darüber wickelte. Welche Wohltat! Als der Druck nachließ, war der Schmerz im Bein gleich viel besser, dafür ziepte es jetzt umso ärger unter der Gürtellinie, wie um ihn zu erinnern, was er jetzt hinter sich bringen musste.Der Arzt und der Pfleger hatten den Raum verlassen. Ben´s Bein lag wieder in der Braun´schen Schiene und Sarah hatte das grelle Licht gelöscht. Draußen begann es dunkel zu werden und nun räusperte sich Ben. „Was ist los, Schatz?“ wollte Sarah wissen und sah ihn fragend an. Anstatt lang drum herum zu reden, nahm Ben nun seine ganze Kraft zusammen und sagte mit vermeintlich fester Stimme: „Sarah, es ist vorbei! Ich bin mir in den letzten Tagen klar geworden, dass unsere Beziehung keine Zukunft hat, wir sind zu unterschiedlich!“ erklärte er und Sarah sah ihn fassungslos an. Das durfte doch nicht wahr sein? Sie hatte das Gefühl, ihr hätte jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Die ganzen SMS-es hatte sich doch so angefühlt, als wenn sie ihren blöden Streit beilegen würden. Sie war bereit gewesen, Kompromisse einzugehen und in der Zeit seiner Entführung hatte sie erst wieder festgestellt, wie sehr sie ihn liebte! Sie versuchte etwas zu sagen und begann; „Aber..“ da fiel ihr Ben ins Wort. „Geh bitte-und danke noch, dass du dich so um mich gekümmert hast!“ fügte er leise hinzu und wie in Trance erhob sich nun Sarah und verließ das Zimmer.


    Käsebleich wankte sie über den Flur, um in ihr Appartement zu gehen. Da kam ihr Semir entgegen: „Sarah, was ist los, ist was mit Ben?“ fragte er erschrocken, denn Sarah sah aus, als hätte sie gerade einen schweren Schock erlitten. Sie schüttelte den Kopf und sagte tonlos: „Er hat gerade Schluss gemacht und mich rausgeschmissen!“ und damit ging sie langsam Richtung Ausgang. Semir sah ihr entsetzt und ratlos nach. Was sollte er tun? Aber dann beschloss er, nun erst einmal nach seinem Freund zu sehen und beschleunigte deswegen seine Schritte. Was hatte Ben da nur wieder angerichtet?

  • Als Semir um die Ecke bog, lag Ben wie erstarrt in seinem Bett. Was hatte er gerade getan? Das Liebste, was er auf der Welt hatte, hatte er weggeschickt. Er schluckte trocken. Aber es war doch nur zu ihrem Besten, versuchte er sich selber zu beruhigen, gerade weil er sie so liebte, war es notwendig! Trotzdem musste er mit den Tränen kämpfen, denn jetzt wurde ihm Alles zu viel. Die Schmerzen, das falsche Spiel, das er vor Sarah getrieben hatte, die immer noch vorhandenen Ängste, was die Zukunft nun wohl bringen würde? Er hatte sich so gefreut, dass das Schicksal ihm Sarah geschenkt hatte, sie war das Beste, was ihm seit langem passiert war und er hatte eine gemeinsame Zukunft, Kinder, vielleicht ein Häuschen auf dem Land geplant, wo er Sarah die Möglichkeit zur Pferdehaltung geben würde, was deren Kindheitstraum war. Er hatte sich schon mit seinen Kindern spazieren gehen sehen, vielleicht für jedes ein niedliches Pony am Zügel, obwohl er ja eigentlich eher der Stadtmensch war. Aber sie konnten auch immer eine Wohnung in Köln behalten, die finanziellen Möglichkeiten waren ja gegeben. Manchmal, wenn sie am Sonntagnachmittag auf dem Sofa gelegen hatten, hatten sie sich ihre gemeinsame Zukunft ausgemalt und schon Namen für ihre Kinder ausgesucht. Wenn er dann spaßeshalber gesagt hatte, er wolle eine ganze Fußballmannschaft, hatte sie ihn eingebremst und gemeint, so ein Pärchen wäre gerade recht-ein Junge und ein Mädchen-und er hatte dann erwidert: „ Na so für den Anfang!“ und dann hatten sie sich geküsst und miteinander geschlafen und es war so wundervoll gewesen, so eine gleiche Zukunftsplanung zu haben! Und jetzt, was war geblieben? Ein einsames Leben, die Konzentration auf die Arbeit, um sich jeden Tag von neuem von diesem furchtbaren Schmerz abzulenken, der in seinem Herzen tobte.


    Semir sah, wie eine einzelne Träne von Ben´s Wange kullerte, der blass und zugeschwollen in seinem Bett lag. Verdammt noch mal, was hatte ihn denn nur dazu getrieben, die Beziehung mit Sarah zu beenden? Er hatte nach ihrem gemeinsamen Urlaub doch gemeint, die beiden würden sich versöhnen und bei dem Streit, den sie zuvor gehabt hatten, war es ja eigentlich um Nichtigkeiten gegangen, wobei er Sarah da teilweise verstehen konnte. Ihn selber regte Ben´s Unordnung nämlich auch manchmal auf, vor allem, wenn der sein Auto zumüllte und überall Krümel verteilte, weil er ständig unterwegs etwas essen musste! Genau das hatten Andrea und er ihrem gemeinsamen Freund ja dann mitgeteilt und er hatte das Gefühl gehabt, dass sich nach der Woche Trennung alles einfach wieder einrenken würde.


    Semir war nun mit zwei Schritten an Ben´s Bett, der wie in Trance aufblickte und nur tonlos sagte: „Ach du bist`s!“ bevor er die Augen schloss und versuchte, seine Gefühle zu kontrollieren. Wie es in ihm drinnen aussah, ging niemanden was an, auch Semir nicht, der ja schließlich eine glückliche kleine Familie hatte, etwas, was ihm nun versagt bleiben würde!Semir setzte sich auf den Stuhl, der noch von Sarah ganz nah neben Ben´s Bett stand und ergriff dessen Hand. „Du musst mir nichts erklären, ich habe gerade Sarah getroffen!“ sagte er einfach und wartete, was Ben zu diesem Thema zu sagen hatte, aber der schwieg und drehte den Kopf weg. Eine ganze Weile saßen sie schweigend beieinander, da machte Ben, der sich wieder ein wenig gefangen hatte, die Augen auf. Als er versuchte, sich ein bisschen anders hinzulegen, stöhnte er auf. Die Schmerzen brachen gerade wieder über ihn herein und er meinte, mit seinem Rücken am Leintuch festzukleben. Außerdem war ihm furchtbar warm und er hatte begonnen unter den Verbänden zu schwitzen. Vorhin war ihm so kalt gewesen, aber jetzt hatte sich das ins Gegenteil verkehrt. Auch Semir hatte bemerkt, wie warm Ben´s Hand sich wieder anfühlte, aber so einfach würde das Fieber vermutlich auch nicht verschwinden. Ben hustete und das trockene Rasseln in seinen Bronchien tat Semir gleich selber weh. Der Monitor schlug Alarm und als wenig später die Schwester um die Ecke bog, schaute sie sich überrascht um, wo Sarah war. An deren statt, saß der Freund am Bett ihres Patienten, den anscheinend einer ihrer Kollegen reingelassen hatte.


    „Herr Jäger, was gibt´s?“ fragte sie, denn der Blutdruck ihres Patienten war angestiegen, so dass sie das Katecholamin ein wenig reduzieren konnte. Dafür war die Sauerstoffsättigung nicht so optimal und sie drehte daraufhin den Sauerstoff höher. Ben stöhnte, als er nur eine klitzekleine Bewegung machte und sie fragte mitfühlend: „Haben sie wieder Schmerzen?“ und Ben nickte. Gut, eigentlich war diese Frage der pure Hohn. Er hatte die letzten Tage nicht aufgehört, Schmerzen zu haben, aber gerade war es wieder unerträglich. Der Perfusor piepte, als ihm die Schwester einen Bolus mit Opiat gab und es wurde ein wenig leichter für ihn. Auch die Pflegerin sah, dass Ben die Schweißtropfen auf der Stirn standen und griff zum Fieberthermometer, um seine Temperatur zu kontrollieren. „Würden sie bitte kurz rausgehen?“ fragte sie Semir freundlich und holte eine Kollegin dazu. Ben musste dringend gebettet und frisch gemacht werden, etwas was bisher Sarah gemanagt hatte, darum hatte sie sich da nicht drum gekümmert. Jetzt fiel ihr ein, dass sie die vorhin mit schweren Schritten um die Ecke hatte verschwinden sehen, die war vermutlich fix und fertig und hatte sich in ihr Appartement begeben, um sich hinzulegen. So würde sie jetzt ihren pflegerischen Aufgaben nachkommen und sie wusch erst vorsichtig Ben´s Gesicht mit einem kühlen Waschlappen ab und dann half ihr ihre Kollegin, Ben ein wenig unter Schmerzen und Jammern zu drehen, seinen Rücken abzutupfen und ein frisches Metallinetuch unterzulegen. Das vorige war voller Blut und Wundsekret, das war aber auch kein Wunder, denn man hatte den Rücken komplett ohne Verband gelassen, weil nicht genügend Platz für irgendwelche Kleber gewesen war. Das metallbeschichtete Tuch war sozusagen der eigentliche Verband und gemeinsam drehten sie Ben nach dem Austausch, des Leintuchs leicht auf die Seite, damit die Lunge anders belüftet wurde und legten ein Lagerungskissen unter. Auch ein Eisbeutel kam auf seine Körpermitte, dazu ein zusammengerolltes Handtuch zwischen seine Beine, wie der Urologe angeordnet hatte. Das Fieber war um die 39°C und als sie Semir wenig später wieder hereinließen, hatte Ben die Augen geschlossen und schien zu schlafen.
    Semir blieb noch zehn Minuten, aber dann erhob er sich leise, um selber nach Hause zu gehen. Auch ihm hatten die letzten Tage das Äußerste abverlangt und er musste dringend mal wieder richtig schlafen. Mit einem leisen: „Gute Nacht, Ben!“ verließ er das Zimmer und Ben öffnete die Augen erst wieder, als er sicher war, dass sein Kollege weg war.

  • Für Ben begann eine lange schmerzvolle Nacht. Sein Fieber stieg noch weiter und ihm war körperlich furchtbar unwohl, weil er abwechselnd schwitzte und fror. Jedes Mal wenn er sich umzudrehen versuchte, ließ er es wieder bleiben, weil der Schmerz durch seinen Körper fuhr. Aber viel schlimmer als die körperlichen Schmerzen war sein Kummer. Er vermisste Sarah jetzt schon. Manchmal meinte er im Fieberwahn, er würde gerade ihre kühlende Hand auf seiner Stirn spüren, oder eine andere tröstliche Berührung, aber wenn er dann die Augen öffnete, war es nur die Nachtschwester, die einen kalten Waschlappen brachte, um ihm den Schweiß von der Stirn zu wischen, oder einen frischen Eisbeutel für seinen geschwollenen Kiefer oder seine Körpermitte.Obwohl er hundemüde war, gelang es ihm nicht, in den Schlaf zu finden, sondern er zählte die Stunden, sah auf seinen Monitor und lauschte den Geräuschen auf der Intensivstation, wo es nie völlig ruhig war. Irgendein Infusomat oder Perfusor piepte ständig, dann alarmierte wieder eine Beatmungsmaschine und man hörte die Schritte des Pflegepersonals, die geschäftig umher wuselten. Einerseits war er immer froh, wenn jemand kam und nach ihm sah, aber andererseits tat es trotz Schmerzmittel immer so weh, wenn er anders hingelegt wurde, dass ihm jedes Mal die Tränen in die Augen schossen.Manchmal driftete er ein wenig ab und dann war er wieder im Folterkeller und erwachte voller Schrecken in Erwartung der nächsten Peinigung. Immer wieder schossen ihm wie Flashbacks die Erinnerungen an schöne Momente mit Sarah durch den Kopf. Er vermisste jetzt schon ihre Fröhlichkeit, ihr natürliches Wesen und vor allem ihre Liebe, aber er war sich sicher, den richtigen Schritt getan zu haben-oder doch nicht?


    Sarah war wie eine alte Frau zurück in ihr Appartement gewankt. Sie hatte das Gefühl, ihr hätte jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Ihre Zukunft, alles war zerstört, weil Ben mit ihr Schluss gemacht hatte. Sie hatte gemeint, den Mann ihres Lebens gefunden zu haben und jetzt hatte der kein Interesse mehr an ihr. Gut, er hatte eineinhalb Wochen Zeit gehabt, sich über seine Gefühle ins Klare zu kommen und war anscheinend zu dem Entschluss gekommen, dass er sie nicht mehr liebte. Es tat so fürchterlich weh, aber sie musste seine Entscheidung akzeptieren. Es war ihm anscheinend auch sehr wichtig gewesen, ihr das baldmöglichst mitzuteilen und das fand sie andererseits schon wieder nett von ihm. Er hatte sie jetzt nicht wochenlang in falscher Hoffnung gewiegt, sich von ihr pflegen lassen um nach seiner Genesung dann die Bombe platzen zu lassen. Lieber ein Ende mit Schrecken, als eine Partnerschaft, in der die Liebe nur einseitig war.
    Sie legte sich hin, aber an Schlaf war nicht zu denken. Immer wieder fielen ihr schöne Momente ein, die sie zusammen erlebt hatten. Wenn sie sich umdrehte, meinte sie, ihn neben sich zu spüren. Wie gerne hatte sie ihn beim Schlafen beobachtet, gerade wenn sie nach dem Nachtdienst am Sonntagmorgen ausgefroren heimgekommen war und zu ihm ins warme Bett geschlüpft war. Er hatte sie dann im Halbschlaf immer ganz fest in seine starken Arme genommen und dann waren sie gemeinsam wieder eingeschlafen. Sie waren das perfekte Paar gewesen-warum konnte das nicht für die Ewigkeit andauern? Er war der erste Mann gewesen, mit dem sie sich getraut hatte, eine konkrete Zukunftsplanung zu machen, sie hatten über ihre Vorstellungen von Familie gesprochen und es war für beide klar gewesen, dass sie Kinder wollten. Wie oft hatte sie sich ausgemalt, wie die wohl aussehen würden. Ob ein Junge so dunkelhaarig und drahtig wie Ben sein würde und das Mädchen ein süßer heller Blondschopf? Sie hatte sich ein Pärchen gewünscht, während er großmäulig von einer ganzen Fußballmannschaft gesprochen hatte. Aber im Gegensatz zu ihm, der keine Erfahrung mit Babys hatte, hatte sie schon oft bei ihrem Bruder auf dessen Kinder aufgepasst, deren Windeln gewechselt und sie nachts stundenlang herumgetragen, wenn sie gebrüllt hatten, wie am Spieß. Sie hatte gehofft, dass sich das schon alleine regulieren würde, wenn das erste Kind erst mal da war und Ben erfahren hatte, dass das auch mit Arbeit verbunden war. Aber sie war sich sicher gewesen, das gemeinsam mit ihm meistern zu können! Als es zwei Uhr geworden war und sie immer noch nicht schlafen konnte, stand sie auf und begann ihr Appartement zu putzen. Verbissen wienerte sie die Flächen, räumte Schränke um und schrubbte das Bad, bis sie früh um fünf so erschöpft war, dass sie doch noch ein wenig einschlief.


    Semir war nach Hause gekommen und hatte erst geholfen, seine beiden Töchter ins Bett zu bringen. Beinahe wäre er beim Geschichtenvorlesen als Erster eingeschlafen. Dann erhob er sich aber seufzend und ging zurück nach unten. Andrea hatte ihm was vom Mittagessen aufgehoben und er erzählte ihr bei einem Bier für sich und einem Glas Wein für sie, was am heutigen Tag so losgewesen war, während er mit Genuss das Gulasch verspeiste.Als er ihr von Ben´s Operation erzählte, fand sie es schon schlimm, aber als er ihr dann mitteilte, dass Ben mit Sarah Schluss gemacht hatte, sah sie ihn ungläubig an. „Semir, das kann doch nicht sein! Letzte Woche im Urlaub hat er uns noch von ihren gemeinsamen Zukunftsplanungen erzählt, er hat versprochen, ihr zuliebe ein wenig ordentlicher zu werden und ich hatte das Gefühl, der kleine Streit, den die beiden hatten, wäre eigentlich schon beigelegt. Da muss etwas anderes dahinterstecken und wenn du das nicht rausfindest, werde ich die Sache in die Hand nehmen!“ sagte sie entschlossen und Semir versprach, dem auf den Grund zu gehen. „Aber nicht mehr heute, Andrea. Ich bin hundemüde und möchte jetzt nur noch ins Bett!“ sagte er und nach der Abendtoilette legten sich Andrea und Semir bald hin und schliefen Arm in Arm ein.

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