Burgen, Schlösser und Ganoven

  • Hieronymus schob sich wie ein Schatten in den Raum. Berghoff war nochmal schnell losgegangen, um mit einem Korb Holz und Kohlen aus einem Schuppen außen an der Burg zu holen. Einen Moment überlegte er, ob er einfach türmen sollte und Ben und Hieronymus alleine lassen, aber ihm war klar, dass der dann sein Opfer umbringen würde und er hatte dann alleine die Beseitigung der Leiche am Hals. Außerdem musste Ben schon ein wenig mehr als eine Million Euro bringen, denn sonst hatte sich das Risiko, das er eingegangen war, überhaupt nicht gelohnt. Immerhin würde er für lange Jahre ins Gefängnis kommen, falls er gefasst würde. Aber man wollte nun nicht vom Schlimmsten ausgehen.
    Während Berghoff nun mit seinem gefüllten Korb den Rückweg antrat, war Hieronymus in Ben´s Blickfeld getreten. Der schloss die Augen erst und öffnete sie dann wieder, so unwirklich kam ihm die Gestalt vor, die da plötzlich vor ihm stand. Er dachte erst, seine Nerven würden ihm einen Streich spielen, denn der Typ sah aus, wie aus der nächsten Geisterbahn entsprungen. Als er aber näher hinsah, wurde ihm bewusst, dass dieses Gefühl der Unwirklichkeit von den merkwürdigen Katzenaugen kam, aber klar, da gab es Partylinsen, mit denen man so einen Effekt vortäuschen konnte. Bald war Halloween und da tummelten sich ja immer vermehrt solche Gestalten in den Straßen Kölns. Allerdings gab es da eine ganzjährige Gothic-Szene, die sich nicht mit dem Hören spezieller Musik abgab, sondern ihr Faible lebte und zu dieser Fraktion gehörte wohl sein Gegenüber. Allerdings waren die meist harmlos und waren zufrieden, wenn sie die normalen Bürger ein wenig schocken und miteinander psychodelische Partys feiern konnten, auf denen Drogen fast immer ein Thema waren.


    Hieronymus verzog nun sein Gesicht zu einem diabolischen Grinsen und nun sah Ben auch die angeschliffenen Eckzähne. Mann das war wirklich ein Freak und der konnte einem auch einen Schreck einjagen! Als er sah, dass Ben nach seinem ersten Schock seine Muskeln wieder abgespannt hatte, wurde ihm bewusst, dass sein Gegenüber im Augenblick keine Angst vor ihm hatte. Fieberhaft überlegte er, was er zu seinem Opfer wohl sagen konnte, um es wieder in Angst und Schrecken zu versetzen, wie das bei seinem ersten Anblick gewohnterweise der Fall war. Der war allerdings schon zu lange Polizist, um sich mit solchen Typen nicht auszukennen. Der Freak öffnete den Mund und mit viel zu hoher Stimme für sein Aussehen, sagte er: „Ich bin Hieronymus und du wirst mich noch kennenlernen!“ und das sollte drohend klingen. Ben allerdings konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Oh bei diesem Jüngling war der Stimmbruch auch noch lange nicht vorbei. „Angenehm, Ben Jäger!“ antwortete er und im selben Augenblick bereute er schon, dass er seine Klappe nicht gehalten hatte, denn der Freak trat mit dem Fuß nach ihm, dass ihm bald das Kiefer wegflog. Ben hörte es krachen und ihm war klar, dass da eben was gebrochen war. Das Blut schoss ihm aus Mund und Nase und nun war er sicher, dass er gerade einen großen Fehler begangen hatte.


    In diesem Augenblick kam Berghoff zur Tür herein und sah, dass sich der Kunde schon das erste Mal an seinem Opfer vergriffen hatte. Ben hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und das Blut lief dazwischen heraus. Hieronymus stand angespannt, wie ein Raubtier auf dem Sprung, vor ihm, drehte sich bei dem Geräusch allerdings abrupt um und nahm Berghoff den Korb ab. Im Nebenraum war eine spezielle Feuerstelle mit Blasebalg und Belüftungslöchern. Er würde nun die Kohle zum Glühen bringen und Ben zum Schreien, das schwor er sich!


    Berghoff trat nun zu Ben. Er wollte gar nicht so genau wissen, was der Junge mit ihm angestellt hatte, allerdings würde sich das Opfer im Augenblick nicht wehren, denn es war anderweitig beschäftigt. Berghoff öffnete die Kette und schob sie durch das eine Hosenbein, bevor er Ben wieder festkettete. „Zieh dich an!“ sagte er mit rauer Stimme und als Ben seine vor Schmerz zusammengekniffenen Augen ein wenig öffnete, musste sich Berghoff beinahe wegdrehen, denn gerade kam ein Funken Mitleid in ihm hoch. Ben nahm die Hände vom blutigen Gesicht, schmiss die Zudecke weg, schlüpfte eilig ins zweite Hosenbein und zog das feuchte, schmutzige Kleidungsstück hoch. Berghoff hatte einen kurzen Blick auf Ben´s Unterkörper erhascht und musste nun schlucken. Der Polizist vor ihm musste fürchterliche Schmerzen haben, aber er sagte keinen Ton, sondern drehte sich mit resigniertem Gesichtsausdruck zur Wand. Berghoff suchte in seiner Hosentasche nach einer Packung Papiertaschentücher, die er Ben wortlos hinwarf. Er würde jetzt schauen, wo die Wassersuppe war und auch den Wasserkrug und den Becher holen, aber das war auch das Einzige, was er für Ben im Moment tun konnte.

  • Hieronymus hatte mit verklärtem Gesichtsausdruck das Feuer angefacht. Erst legte er kleineres Holz nach, aber als die Flammen eine gewisse Höhe erreicht hatten, kam die Kohle dazu und durch geschickten Einsatz des Blasebalgs entwickelte sich bald eine schöne Glut, die den Freak zum Jubeln brachte.


    Berghoff hatte inzwischen die Wassersuppe gefunden und mitsamt dem Wasserkrug zu Ben gebracht. „Iss!“ sagte er und stellte die beiden Gefäße vor ihn. Trotz Schmerzen hatte Ben ja Hunger und Durst und versuchte erst mal zu trinken. Als er den Mund auch nur ein kleines bisschen öffnen wollte, durchfuhr in ein dermaßen starker Schmerz, dass er es gerne bleiben ließ. Verzweifelt versuchte er das Wasser zu löffeln, aber er hatte eine dermaßen starke Kieferklemme, dass es nicht möglich war, dabei hatte er doch solchen Hunger und Durst. Berghoff hatte seine Versuche beobachtet. Gut, unter diesen Umständen musste er es bald zu Ende bringen, denn sein Gefangener würde in Kürze sowieso sterben. Wortlos räumte er das Geschirr wieder weg und konnte die Verzweiflung in Ben´s Gesicht, das inzwischen schon begonnen hatte anzuschwellen, erkennen.


    Doch bald kam die Wärme vom Feuer aus dem Nebenraum in das Verließ gekrochen und wenn Ben nicht solche Angst davor gehabt hätte, was die für einen Zweck haben sollte, dann wäre es direkt angenehm gewesen. Hieronymus hatte inzwischen seinen Umhang abgelegt. Die weite Hose mit den Springerstiefeln an den Füssen kontrastierte zu seinem schmalbrüstigen, blassen Oberkörper, der mit vielerlei Tattoos von Teufeln, Drachen und Vampiren bedeckt war. Berghoff machte seine Videoausrüstung startklar. Wie wenn sie ein Drehbuch besprechen würden, legten sie fest, wo Ben angekettet würde. Die beiden Handschellen mitten im Raum, die mit einem Seilzugsystem von der Decke baumelten, erschienen beiden richtig und so fand sich Ben wenig später mit den Armen straff nach oben gezogen, so dass er gerade noch mit den Füßen den Boden berührte, dort angebunden. Der Taser war griffbereit, aber Ben war von vorneherein klar, dass er gegen diese beiden Gegner keine Chance haben würde. Zu viel Hass und Sadismus sprach aus der Miene des jungen Freaks. Eine Psychologin würde ihm sicher eine schwere Persönlichkeitsstörung attestieren, aber da konnte sich Ben leider auch nichts davon kaufen. Als er da hing, sah er mit Entsetzen, wie der Freak nun mehrere alte Eisenstäbe mit Holzgriff von der Wand nahm und die im Feuer zum Glühen brachte. Ihm brach der Schweiß aus, ohne dass die Hitze daran schuld war. Langsam konnte er sich vorstellen, was ihm bevorstand.


    Als das Eisen glühte und der Raum eine schier unerträgliche Hitze angenommen hatte, begann Hieronymus eines davon aus dem Feuer zu nehmen. Kurz fuchtelte er damit noch vor Ben´s Gesicht herum, aber bevor es auch nur ein wenig abkühlen konnte, drückte er es mit Wucht mittig gegen Ben´s Brustkorb. Der versuchte noch nach hinten auszuweichen, aber der Freak kam mit dem glühenden Eisen unbarmherzig nach. Es zischte, als das Metall den Oberkörper des Polizisten berührte und dann stiegen Rauchwolken auf und es begann nach verbranntem Fleisch zu riechen. Ben hatte zu brüllen begonnen, wie ein Stier. Unerträgliche Schmerzen gingen von der Verbrennung aus, verzweifelt zerrte er an seinen Fesseln, schrie sich die Seele aus dem Leib und bettelte um Gnade. Auch als Hieronymus das Eisen endlich wegnahm, war der Schmerz nicht besser. Jeder Nerv in der Umgebung der Brandwunde sandte Schmerzsignale ans Gehirn, aber bevor Ben sich nur im geringsten erholen konnte, kam Hieronymus schon mit dem nächsten glühenden Eisen. Mit verzücktem Gesichtsausdruck beobachtete er die Qualen seines Opfers, das war das Schönste, was er seit langem erlebt hatte, er konnte gar nicht genug davon kriegen. Er leckte sich nervös über die Lippen, begann einen irren Tanz um den verzweifelten Polizisten und malträtierte ihn dabei wieder und wieder mit den verschiedenen Brandeisen.


    Berghoff hockte hinter seiner Kamera und war ganz grün im Gesicht. Der Geruch nach verbranntem Fleisch hing schwer in der Luft, es war fast nicht auszuhalten. Ben war inzwischen fast nicht mehr bei Bewusstsein, der Verbrennungsschock und die stärksten Schmerzen hatten ihn in eine Art Agonie fallen lassen. Seine Beine gaben nach und wie ein nasser Sack hing er in den Ketten und leistete weder Widerstand, noch hatte er mehr die Kraft zu schreien. Nur noch ein mattes Wimmern kam aus dem zugeschwollenen Mund und endlich begann Hieronymus den Spaß an der Sache zu verlieren. Er blickte auf seine teure Designeruhr, die am Lederband an seinem Handgelenk festgemacht war. Fast Mitternacht! Er bedeutete Berghoff, zu ihm zu kommen. Gemeinsam ließen sie Ben am Seilzug zu Boden gleiten. Ben nahm nur noch wie durch einen Schleier war, dass es anscheinend vorbei war. Aber nun bedeutete Hieronymus Berghoff wieder hinter die Kamera zu treten. Der nahm verwundert Platz, wagte es aber nicht, dem irren Freak zu widersprechen. Ben sah aus den Augenwinkeln, wie sich das Gesicht mit der teuflisch verzogenen Fratze dem Seinen näherte und dann spürte er noch den scharfen Schmerz, als Hieronymus seine angeschliffenen Eckzähne in seinen Hals schlug.

  • Berghoff filmte noch ganz kurz, aber dann stand er auf und zog Hieronymus von seinem Opfer weg. Der hatte genug, das war deutlich zu sehen. Wenigstens hatte der Freak bei seiner Beißaktion nicht die große Halsschlagader erwischt, sondern nur kleinere Hautgefäße. Berghoff schauderte-Mann war dieser Typ fertig. Sein krankes Hirn bedurfte eigentlich einer Unterbringung in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Berghoff schleppte den beinahe bewusstlosen Ben wieder in seinen Kerker und kettete ihn fest. Der war kaum mehr bei sich und bekam nur entfernt mit, wie er auf den Strohsack gelegt wurde. Sobald Berghoff den Freak los war und das Geld hatte, würde er Ben´s Wunden versorgen. Aber zunächst mal musste der Freak von seinem Opfer abgelenkt werden. „Wenn ich wieder was reinbekomme, melde ich mich bei ihrem Vater!“ sagte Berghoff zu Hieronymus, der gerade seinen Umhang überwarf.


    „Ich weiß was besseres!“ entgegnete Hieronymus. „Wir drehen ein Snuff-Video! Ich komme morgen mit ein paar Kumpels und überlege mir derweil schon eine Inszenierung. Mir wäre das ne glatte Million wert. Aber sie müssen sich vorstellen, was danach noch Geld damit reinkommt, wenn sie das Video vermarkten. Ich wüsste da schon den einen oder anderen Interessenten-und außerdem helfen wir ihnen hinterher bei der Beseitigung der Leiche!“ Berghoff überlegte kurz. Dass die Stunden des Polizisten gezählt waren, war sowieso klar, er konnte ihn nicht davonkommen lassen. Wenn er jetzt noch eine Million in bar zusätzlich bekam und danach noch einen großen Reibach mit der Vermarktung des Videos machen würde, konnte er sich die Burg kaufen und gleich mit den ersten Renovierungen anfangen. Dann würden sich sicherlich noch mehr Möglichkeiten finden, schnelles Geld zu machen und er konnte dieses wunderschöne historische Ensemble wieder originalgetreu restaurieren. Man musste Opfer bringen und so sagte er für den kommenden Abend um 20.00 Uhr zu, während er Hieronymus nach draußen brachte. Er nahm die 300000 Euro und sah zu, wie der Freak mit seinem Kleinwagen beschwingt den Burgberg hinunterfuhr.


    Ben hatte mit einem Rest Bewusstsein noch das Schlagwort Snuff-Video gehört. Das hatten sie in der Ausbildung durchgenommen, er hätte aber nicht in seinen wildesten Träumen gedacht, dass sowas in Wirklichkeit hergestellt wurde. Das war ein Video, in dem ein Mensch vor laufender Kamera gefoltert und getötet wurde. Und er wäre der Hauptdarsteller, aber es war sowieso egal. Er würde so oder so sterben und bei den ganzen Schmerzen, die er aushalten musste, begann er sich zu wünschen, dass es schnell vorbei wäre.
    Als Berghoff nun wieder zu ihm zurückkam, begann der damit, seinen Hals mit ein paar Kompressen zu verbinden. Er kühlte die Brandverletzungen erst mit Wasser und trug danach die Ringelblumensalbe aus dem Töpfchen auf. Ben hätte ihm am liebsten voller Hohn zugerufen, dass er sich nicht so viel Mühe zu geben brauchte, aber trotzdem tat die Versorgung gut. Als nach einer Weile Berghoff wegging und ihn in dem nun warmen Verließ zurückließ, fiel Ben trotz alledem in einen Erschöpfungsschlaf. Vor dem Einschlafen dachte er nochmal intensiv an Semir und Sarah. „Bitte sucht mich, ich komme hier alleine nicht mehr weg und bald macht das dann keinen Sinn mehr!“ flehte er innerlich und dachte ganz intensiv an die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben, bis er endlich eindämmerte.


    Berghoff fuhr nach Hause und brachte das Videomaterial in ein gutes Versteck hinter einer Tapetentür seines Schlösschens. Das würde er morgen in aller Ruhe bearbeiten. Er ging erst duschen, legte sich dann in sein Himmelbett und war binnen kurzem eingeschlafen.

  • Semir hatte geduscht und sie hatten alle miteinander gefrühstückt und er war dann in die KTU gefahren. Sarah hatte beschlossen, erst mit Andrea die Kinder in Schule und Kindergarten zu bringen und dann in Ben´s Wohnung klar Schiff zu machen. Auch wenn Hartmut sich bemüht hatte, nicht allzu viel Unordnung zu machen, aber so eine Durchsuchung ging nicht spurlos ab. So hatte sie etwas zu tun und mit Putzen verging wenigstens die Zeit. Sie zermarterte ihren Kopf, wo sie noch nach Ben suchen könnten, aber ihr fiel einfach nichts ein.


    Semir war inzwischen in der KTU angekommen. Hartmut hatte sich ein kleines Nickerchen auf einer Isomatte unter seinem Schreibtisch gegönnt. Als Semir ihn ansprach, fuhr er hoch und stieß sich den Kopf am Schreibtisch an. „Oh verdammt Semir, musst du mich denn so erschrecken!“ beschwerte er sich, während er sich den schmerzenden Kopf rieb. Semir zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid aber nun sag schon-hast du was?“ fragte er neugierig. Hartmut schüttelte den Kopf. „Bisher noch nicht, ich habe noch ein paar Analysen laufen, auf dem Beifahrersitz waren einige lange hellbraune Haare, aber ich konnte an der DNA sehen, dass die wohl von deiner Tochter sind, die da saß.
    Der Schmutz an den Reifen hat lehmige Anteile, aber das findest du hier in der Gegend rund um Köln an vielen Stellen. Wenn wir einen anderen Hinweis hätten, könnte ich das Material vielleicht grob einem Gebiet zuordnen, aber diese Bodenart kommt häufig in der Gegend vor. Sicher ist nur, dass das Fahrzeug nicht nur auf befestigten Straßen unterwegs war!“ erklärte er und Semir seufzte auf. Er hatte so große Hoffnungen in Hartmut gesetzt, aber nun waren sie nicht weiter, als am Vorabend.
    Gut, unter diesen Umständen würde er einfach mit der systematischen Polizeiarbeit fortfahren, die er am Vortag unterbrochen hatte. Er hatte ja noch nicht alle Gäste befragt, die mit Ben bei dem Schlossdinner gewesen waren und so setzte er sich in sein Fahrzeug und führte die Zeugenvernehmungen fort.


    Nachdem er ja ziemlich große Strecken im Raum Köln und Düsseldorf zurücklegen musste, war es schon Nachmittag, als er das letzte Gästepaar befragte. Der Mann hatte nichts gehört, aber die Frau sagte nach kurzer Überlegung. „Ich war am späteren Abend einmal kurz zur Toilette, die sich unmittelbar unterhalb der Terrasse befindet. Ich konnte durchs gekippte Fenster hören, wie sich Herr Berghoff und dieser gutaussehende junge Mann für den Samstag auf irgendeiner Burg verabredet haben. Näheres habe ich allerdings nicht mitbekommen!“ sagte sie und nun wurde Semir hellhörig. Dieser Berghoff mit seiner Kostümierung und den Strangulationsmalen hatte beteuert, dass er sich mit Ben über Kochrezepte unterhalten hatte, von einer Verabredung hatte er nichts erwähnt! Semir bedankte sich bei der auskunftfreudigen Dame und machte sich auf den Weg zu Berghoffs Schlösschen, was in der Rushhour rund um Köln doch eine ganze Weile dauerte. Es war 16.00 Uhr, als Semir am Schloss ankam. Der livrierte Diener wollte ihn anmelden, aber Semir zeigte seinen Ausweis und befahl knapp: „Führen sie mich sofort, ohne Anmeldung zu ihrem Chef, ich habe da noch ein paar Fragen!“ und der Diener nickte eingeschüchtert.


    Berghoff hatte untertags das Videomaterial gesichtet und geschnitten. Ihm wurde allerdings sogar heute noch übel, wenn er an den gestrigen Abend dachte. Aber dann schob er seine Bedenken beiseite. Er hatte eine kurze Stippvisite in seiner Firma gemacht, aber die lief auch ohne ihn so gut-er hatte einfach die richtigen Leute dort angestellt-dass seine Anwesenheit nicht ständig notwendig war. Deshalb war er ins Schlösschen zurückgefahren, um den heutigen Abend vorzubereiten. Er kontrollierte, ob die Akkus seiner hochwertigen Kamera voll geladen waren, dann hatte er von seinem Smartphone aus immer wieder Ben auf der Webcam angeschaut. Der lag zwar nur noch und hatte sich kein einziges Mal aufgerichtet, aber an den gelegentlichen Bewegungen konnte man erkennen, dass er lebte und bei Bewusstsein war.


    Gegen 16.00 Uhr zog Berghoff sein mittelalterliches Gewand wieder an, als er zufällig aus dem Fenster sah. Gerade stieg dieser kleine Polizist wieder aus seinem BMW-den konnte er nun gar nicht brauchen! Gut, er hatte keine Hinweise hinterlassen, aber egal aus welchem Grund der da war, er würde nun einfach losfahren und in der Burg schon mal alles vorbereiten und sich nicht ermüdenden Befragungen aussetzen. Leise verließ er durch eine Hintertür das Schlösschen, nahm seine Kamera mit und fuhr seinen Geländewagen aus der Garage.


    Gerade als Semir den Angestellten fragte, wo Berghoff sei, bemerkte er, wie plötzlich ein dunkler, großer Porsche Cayenne aus dem Schlosshof bog. Semir schaltete rasch. „Ist das das Auto ihres Chefs?“ fragte er den Diener, der verdutzt nickte. Semir ließ ihn einfach stehen, drehte sich auf dem Absatz um und rannte zu seinem BMW. Na warte, jetzt würde er sehen, ob Berghoff eine saubere Weste hatte und nur zufällig weggefahren war, oder ob der Bescheid über Ben´s Aufenthaltsort wusste!

  • Als Semir auf die Zufahrtsstraße des Schlösschens bog, war Berghoff schon ein ganzes Stück vor ihm. Semir drückte aufs Gas, aber da der PS-starke Motor des SUVs auch genügend unter der Haube hatte, verringerte sich der Abstand nur unmerklich. Berghoff schlug den Weg zur nahegelegenen Autobahn ein. Um diese Zeit würde er es schon schaffen auf der vielbefahrenen Fernstraße irgendwie im Feierabendverkehr zu verschwinden und den Polizisten abzuhängen. Als er auf den Beschleunigungsstreifen einbog atmete er sozusagen schon auf, ja, der Verkehr floss, aber es war viel los, das würde klappen! Allerdings hatte er nicht mit Semir gerechnet. Das hier war sein Revier, da war er zuhause und routiniert begann er den Abstand durch geschickte Fahrmanöver zu verringern. Außerdem hatte er das Blaulicht eingeschaltet, so dass die anderen Verkehrsteilnehmer auch Platz machten, na ja, einige zumindest. Andere schnallten gar nichts, aber mit ein paar Ausweichmanövern auf den Standstreifen verringerte sich Semir´s Abstand zum Porsche zusehends. Zugleich gab Semir die Fahrzeugdaten durch und bat um Hilfe uniformierter Polizeistreifen in der Nähe. Das wäre doch gelacht, wenn er diesen Berghoff nicht kriegen würde! Inzwischen war er so gut wie sicher, dass der etwas mit Ben´s Verschwinden zu tun hatte, denn was hätte er sonst für einen Grund gehabt zu fliehen? Fahrzeug um Fahrzeug wurde der Abstand zwischen den beiden Autos kleiner.


    Berghoff sah nervös in den Rückspiegel. Verdammt, das hatte nicht hingehauen den BMW abzuhängen. Er wurde immer hektischer und unvorsichtiger. Nun begann auch er rechts zu überholen, mit Lichthupe und Gestikulieren die Vordermänner wegzuscheuchen. Als plötzlich eine Lücke im fließenden Verkehr war, drückte er aufs Gas und versuchte mit hoher Geschwindigkeit, er war schon bei etwa 230km/h, seinen Verfolger abzuhängen. Gerade hatte er noch in den Rückspiegel geschaut, wo Semir war, da zog plötzlich eine unaufmerksame Autofahrerin vor ihm heraus, um einen langsam dahintuckernden Gefahrguttransporter, der Flüssiggas geladen hatte, zu überholen. Berghoff versuchte noch zu bremsen und auszuweichen, aber vergeblich. Erst fuhr er auf den Vordermann auf und dann begann sein schwerer Wagen durch die Wucht des Aufpralls zu schleudern und ohne dass er irgendetwas dagegen unternehmen konnte, prallte er in die Seite des Gefahrguttransporters und schob den sozusagen auf den Standstreifen, wo sie beide zum Stehen kamen. Einen kurzen geisterhaften Moment war alles still und dann gab es eine gewaltige Explosion, als der Inhalt des Transporters plötzlich explodierte. Der Fahrer des LKWs war noch aus dem Führerhaus gesprungen, aber Berghoffs Wagen wurde einige Meter hochgeschleudert, überschlug sich und verschwand in dem riesigen Feuerball.


    Semir hatte voller Entsetzen den schrecklichen Unfall beobachtet, aber er konnte nichts anderes mehr tun, als die Feuerwehr und Rettungskräfte zu verständigen. Er stellte seinen BMW mit Warnblinker hinter der Unfallstelle ab und nahm seinen Feuerlöscher heraus, aber die Hitze, die ihm entgegen schlug, als er näher rannte, war so stark, dass er nur Abstand halten konnte und warten, bis die Feuerwehr eintraf. Der LKW-Fahrer stand geschockt, aber unverletzt neben seinem ausbrennenden Fahrzeug und stammelte nur: „Ich konnte nichts machen, ehrlich und Semir beruhigte ihn. „Ich habs gesehen, er war ganz alleine schuld und auch das ausscherende Fahrzeug, aber das wird man später klären!“ sagte er. Andere Autofahrer hatten inzwischen Erste Hilfe in dem Fahrzeug geleistet, auf das Berghoff aufgefahren war und das nun nicht mehr fahrtüchtig und um einen Meter kürzer, quer über der Autobahn stand, aber außer einem Schleudertrauma und Kopfschmerzen war der jungen, fahrlässigen Fahrzeuglenkerin nichts Schlimmeres passiert.


    Die Flammen begannen schon kleiner zu werden, als endlich die Feuerwehr und die Rettungskräfte eintrafen. Die Autobahn wurde total gesperrt und die Trümmer abgelöscht. Als Semir danach einen Blick auf die qualmenden Wrackteile des Cayenne warf, konnte man darin beinahe nichts mehr erkennen, nur die verkohlten Überreste Berghoffs auf dem Fahrersitz zeugten noch davon, dass hier soeben ein Mensch grausam ums Leben gekommen war. Alles was sonst noch mit im Wagen gewesen war, war verbrannt oder zerschmolzen, auch Hartmut würde da vermutlich nichts mehr finden können, was einen Hinweis auf Ben´s Aufenthaltsort gab.


    Ben lag inzwischen voller Schmerzen in seinem Verließ und wartete auf den nahen Tod. Ihm ging es so schlecht, er hatte überhaupt keine Reserven mehr. Die Wunden an seinem Körper brannten, er hatte hohes Fieber und dämmerte nur so vor sich hin. Er war zudem dem Verdursten nahe und außerdem wusste er ja nun, was ihm bevorstand. Er begann zu beten, dass er doch bitte zuvor bewusstlos werden dürfte, bevor ihn diese Freaks vor laufender Kamera zu Tode quälten, aber willentlich gelang ihm das einfach nicht. Immer wieder dachte er an Ereignisse aus seiner Vergangenheit, seine verstorbene Mutter und seine toten Freundinnen. Ob er sie wohl bald wiedersehen würde, oder ob nach dem Tod alles vorbei war? Er würde es bald erfahren, wenn ihn nicht in Kürze jemand fand.

  • Noch während die Löscharbeiten auf der Autobahn liefen, griff Semir zu seinem Handy. Wenn er Glück hatte, war die Chefin noch im Büro und tatsächlich, nach dem zweiten Klingeln am Festnetz hatte er sie sofort am Apparat. „Semir, haben sie irgendwelche Neuigkeiten von Ben?“ erkundigte sie sich besorgt. „Teils, teils!“ teilte ihr Semir daraufhin mit. „Ich habe bei der Zeugenbefragung den deutlichen Hinweis darauf bekommen, dass Ben am Samstag irgendeine Burgbesichtigung mit Berghoff vereinbart hatte. Ich wollte nun den Schlossherrn zuhause befragen, aber er ist abgehauen, bevor ich mich mit ihm unterhalten konnte!“ erklärte Semir. „Dann geben sie doch eine Fahndung nach ihm raus!“ schlug die Krüger nun vor „Das bringt leider nichts mehr, ich habe ihn sozusagen direkt vor mir. Er ist beim Fluchtversuch mit seinem Auto verunfallt und liegt jetzt, zur Unkenntlichkeit verbrannt, in seinem Wagen!“ fuhr Semir fort, was ihm ein erschrockenes Schweigen am anderen Ende des Telefons bescherte. „Und jetzt?“ wollte die Chefin wissen. „Schicken sie mir Hartmut, der muss sich mit mir gemeinsam das Schloss anschauen, vielleicht finden wir dort einen Hinweis darauf, wo Ben stecken könnte. Susanne soll auch alle Immobilien Berghoffs checken, ob er irgendwo eine alte Burg besitzt oder einen Bezug dazu hat, dort war nämlich laut Zeugenaussage ein Treffen zwischen ihm und Ben am Samstag geplant, außerdem brauchen wir einen Durchsuchungsbefehl für Berghoffs Schloss!“ fügte er hinzu und Kim Krüger versprach sofort die Staatsanwaltschaft deswegen zu kontaktieren und auch Hartmut zu verständigen, damit sich der auf den Weg machte. Obwohl er in der Nacht nur drei Stunden geschlafen hatte, warf Hartmut sofort einige Dinge in sein Fahrzeug und fuhr los, zu der von Semir genannten Adresse, wohin er etwa eine knappe Stunde brauchen würde.


    Semir hatte den diensthabenden Polizisten der lokalen Polizeidienststelle inzwischen seinen Ausweis gezeigt und ihnen grob den Sachverhalt erklärt. „Ich werde die Angehörigen persönlich verständigen!“ erklärte er sich bereit und dem jungen Polizisten, der Dienst hatte, fiel daraufhin ein Stein vom Herzen. Das Überbringen von Todesnachrichten gehörte nicht zu seinen liebsten Beschäftigungen.
    Nachdem Semir sich überzeugt hatte, dass in dem Auto wirklich nichts mehr übriggeblieben war-da würde jetzt der Gerichtsmediziner kommen und das Auto dann zur näheren Untersuchung weggebracht werden- machte er sich auf den Rückweg zum Schloss. Keine Stunde vorher war er hier mit wehenden Fahnen dem Hausherrn hinterhergehetzt und jetzt war plötzlich alles anders! Berghoffs Frau hatte von der Totalsperre auf ihrer Hausautobahn gehört und war deswegen nach einem netten Stadtbummel in Köln mit ein paar Freundinnen, über die Dörfer zu ihrem Wohnsitz zurückgefahren. Als Semir läutete und ihm der gleiche livrierte Diener wie vorhin öffnete, sah ihn dieser fragend an. Sein Arbeitgeber war noch nicht zurück-was wollte wohl der kleine Polizist schon wieder hier. „Ist Frau Berghoff zu sprechen?“ wollte Semir nun wissen und der Diener antwortete hoheitsvoll: „Ich werde die gnädige Frau fragen, ob sie dazu bereit ist, hätten sie mir ihre Karte?“ fragte er mit einer kleinen Verbeugung. Semir drehte die Augen zur Decke-Mann dieser Typ war genauso bekloppt wie seine Herrschaft. Sie lebten doch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert! Trotzdem gab er eine Visitenkarte her, die der Diener auf einem silbernen Tablett beförderte und nahm folgsam im Empfangszimmer Platz, bis wenig später die Herrin des Hauses im eleganten Kostüm vor ihm stand. „Wie kann ich ihnen helfen, Herr Gerkan?“ fragte sie freundlich. Der Polizist war doch erst gestern dagewesen, was wollte er nun schon wieder?


    Semir erhob sich momentan, bat aber dann die Dame des Hauses, sich ebenfalls zu setzen. Die sah ihn ängstlich an, der Mann vor ihr wirkte so merkwürdig, warum sollte sie sich setzen? „Frau Berghoff, ich muss ihnen leider die traurige Mitteilung machen, dass ihr Mann bei einem schweren Verkehrsunfall auf der Autobahn ums Leben gekommen ist!“ eröffnete ihr nun Semir und die Berghoff sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Das konnte doch nicht wahr sein? Sie wurde blass, aber bevor Semir noch etwas tun konnte, war wie ein Schatten der Diener aus dem Hintergrund zu seiner Herrin geeilt und stützte sie fürsorglich. „Wie ist das passiert?“ wollte sie mit zitternder Stimme wissen. „Ihr Mann ist aus unbekanntem Grund mit dem Wagen vor mir geflohen. Ich wollte ihn nur nochmals befragen, ob er weiß, wo mein Kollege steckt. Er hat mir nämlich gestern nicht die Wahrheit gesagt, wie mir eine Zeugin mitgeteilt hat. Er wollte sich am Samstagnachmittag mit Herrn Jäger auf einer Burg treffen-wissen sie vielleicht, welche damit gemeint sein könnte?“ fragte er eindringlich, aber die Witwe schüttelte den Kopf. „Ich kenne keine Burg, die mein Mann hätte besuchen wollen. Er hatte immer schon ein Faible für die Vergangenheit und wir haben uns mit diesem Schlösschen unseren Traum erfüllt, aber von einer Burg hat er mir nichts erzählt. Aber wie ist er jetzt ums Leben gekommen?“ wollte sie nun wissen. „Er ist mit hoher Geschwindigkeit auf einen ausscherenden Wagen aufgefahren und wurde dadurch in einen LKW geschleudert, der mit Flüssiggas beladen war. Bei der Explosion ist sein Wagen in Flammen aufgegangen, ich denke aber, dass er durch die Wucht des Aufpralls sofort tot gewesen sein dürfte!“ teilte ihr Semir nun schonungslos mit. Irgendwann musste sie es ja erfahren. Frau Berghoff weinte auf und in diesem Augenblick läutete Semir´s Telefon.


    Die Chefin war dran: „Semir, ich habe den Durchsuchungsbefehl, Hartmut müsste in Kürze bei ihnen aufkreuzen und Susanne sitzt am PC und sucht alle Burgen der näheren Umgebung heraus!“ informierte sie ihn und tatsächlich, in diesem Augenblick fuhr auch schon ein Wagen vor und die Türglocke läutete.
    „Frau Berghoff, wir haben einen Durchsuchungsbefehl für dieses Schloss und hoffen so, irgendwelche Hinweise zu finden, wo mein Kollege sein könnte. Ich bitte sie die Durchsuchung nicht zu behindern und wünsche ihnen trotzdem mein herzlichstes Beileid!“ sagte nun Semir und der verunsicherte Diener hatte sich schon erhoben und die Tür geöffnet. Draußen stand, wie erwartet, Hartmut mit zwei großen Koffern in der Hand und musterte bewundernd die Örtlichkeit. Er grinste als er Semir sah, wurde aber sofort wieder ernst, als er Frau Berghoff im Hintergrund weinen hörte. Semir forderte über die Zentrale noch ein Kriseninterventionsteam an, das sich um die Witwe kümmern würde und ließ sich dann vom Diener zeigen, wo Berghoffs Räume waren.


    Inzwischen waren auch die Köchin und die Haushälterin vom Tod ihres Arbeitgebers verständigt und sahen nach der verzweifelten Frau.
    Hartmut und Semir sahen sich in Berghoffs Schlafzimmer mit dem Himmelbett um. Nach einem Blick auf die Uhr stellte Semir fest, dass es 18.00 Uhr geworden war. Hartmut öffnete im anschließenden Ankleidezimmer alle Schranktüren und gemeinsam staunten sie über den riesigen Fundus an historischen Kostümen aus verschiedenen Epochen. Direkt daneben, auch mit einer direkten Tür verbunden, war ein Badezimmer durch das man auch geradewegs ins Arbeitszimmer gehen konnte. Von allen Zimmern ging noch eine zweite Tür auf den Flur, aber Berghoff hatte so eine regelrecht abgeschlossene Wohnung für sich alleine gehabt. Vom Schlafzimmer aus führte die Tür, die von innen mit einem steckendem Schlüssel abgeschlossen war, direkt in ein weiteres Schlafzimmer, das zwar ebenfalls historisch eingerichtet war, aber durchaus weibliche Züge aufwies. Das war sicher das Schlafzimmer der Ehefrau-man hatte auch in alten Zeiten schon an alles gedacht.
    „Wenn wir hier alles durchsuchen wollen, brauchen wir eine Hundertschaft und Tage, Hartmut, sag, wo sollen wir anfangen?“ fragte Semir fast ein wenig verzweifelt. Ihnen lief die Zeit davon, man wusste ja nicht, in welchem Zustand Ben war. Semir sah sich schon in tagelanger Arbeit alle Burgen im Rheinland durchsuchen, ohne dabei zu wissen, ob Ben nicht vielleicht doch irgendwo ganz anders war!


    Hartmut ging zielstrebig zu Berghoffs PC, der auf dem Schreibtisch stand und fuhr ihn hoch. Mist,er war passwortgeschützt. Hartmut spielte ein wenig herum und plötzlich öffnete sich die Oberfläche. „Was hast du eingegeben, Hartmut?“ fragte Semir verwundert. „Burg 2013“ sagte der und Semir konnte nur den Kopf schütteln-keine Ahnung, wie sein Kollege da draufgekommen war. Hartmut sah die zuletzt gebrauchten Programme durch und auch den Papierkorb. „Da wurden erst kürzlich größere Datenmengen gelöscht, ich denke schon, dass ich die auf der Festplatte wiederherstellen kann, allerdings brauche ich da Zeit dazu und muss den PC mitnehmen!“ informierte er Semir, der frustriert aufseufzte. Hartmut erhob sich wieder. „Anscheinend ist die Bearbeitung von selbstgedrehten Videos auch ein Hobby von Berghoff gewesen!“ wies er auf die passende Ausrüstung hin. Semir sah sich mit Jagdinstinkt um. „Hartmut, wo würdest du Videos oder ähnliches verstecken, wenn deine Frau und das Personal die nicht finden sollen?“ fragte er und zog nebenbei mehrere Schubladen auf und spähte hinein.

  • Hartmut stellte sich in die Mitte der Räumlichkeiten und ging durch die Zimmerflucht. Im Schlafzimmer fiel ihm etwas auf. „Semir, siehst du den Kamin dort? Den kann man heizen, aber von wo aus?“ fragte er aufgeregt und begann dann systematisch die entsprechende Wand, die mit einer alten wertvollen Tapete verkleidet war, zu untersuchen. Plötzlich hielt er triumphierend inne und öffnete mit einem raffinierten Mechanismus die versteckte Tapetentür. „Wusst´ ich´s doch, in alten Schlössern wollten die Herrschaften nicht so viel von der Dienerschaft sehen, daher gab es dort meist doppelte Wände mit Gängen fürs Personal dahinter, das wäre doch ein hervorragendes Versteck!“ sagte er und begann sich dort hinten umzusehen. Semir fiel nun ein, dass sie auf den Königsschlössern sowas auch besichtigt hatten. Hartmut holte sein Smartphone mit der Taschenlampenfunktion hervor, aber da hatte er schon in einer versteckten Mauernische einen Stapel DVDs gefunden. „Voila, wollen wir mal sehen, was Berghoff da vor neugierigen Augen verbergen wollte!“ sagte er fröhlich und trat mit seinem Fund, den er vorschriftsmäßig mit einmalbehandschuhten Händen angefasst hatte, zum bereitstehenden DVD-Player.


    Die Cover der DVDs waren neutral, aber als Hartmut nun den Film, der nur mit einer eins gekennzeichnet war, in den Player legte, den riesigen Fernseher mit über einem Meter Bilddiagonale anmachte und mit der bereitliegenden Fernbedienung das Video startete, wurde Semir momentan ein wenig mulmig. Was würde sie wohl erwarten? Plötzlich erschien mit gestochen scharfem Bild Ben auf dem Bildschirm. Er war mit den Händen über Kopf angebunden und nun sahen Semir und Hartmut voller Entsetzen, wie ihr Freund von einem als Folterknecht verkleideten, halbnackten Mann mit der Peitsche gequält wurde. Auch die Tonqualität war erste Sahne und man meinte, Ben neben sich schreien zu hören. In Nahaufnahme sah man die Haut auf Ben´s Rücken, wie sie aufplatzte und das Blut herunterlief. Semir wurde übel und gerade wollte er Hartmut bitten, die Wiedergabe zu beenden, da sagte der mit kloßiger Stimme. „Semir, so schlimm das anzuschauen ist, aber richte bitte deine Aufmerksamkeit auf die Lokalität. Das muss entweder eine hervorragende Kulisse, oder ein echter Folterkeller sein, vielleicht können wir darüber feststellen, wo Ben gefangengehalten wird!“ und Semir nickte und sah voller Ekel und Mitleid der Folterung zu, während er nebenbei versuchte, mit professionellem Blick die Räumlichkeiten zu beschreiben.
    Auch die Streckbank kam ins Bild und während Semir gerade das Gefühl hatte, selber gefoltert zu werden-wobei, ihm könnte das vielleicht gar nicht schaden, ein wenig grösser zu werden-konnte er aber doch eine Raumaufteilung und andere Details wahrnehmen. Hartmut hatte derweil zum Telefon gegriffen und Susanne kontaktiert. „Susanne, ich schicke dir jetzt sofort ein Video. Bitte versuche auszublenden, was da gerade geschieht, es ist wirklich nicht schön, aber könntest du versuchen, die Daten und Grundrisse über die Folterkammern aller uns bekannten Burgen im Umkreis von sagen wir 100 km herauszufinden und mit der, die wir da zu sehen kriegen, abzugleichen? Vielleicht landen wir so einen Treffer, Semir und ich werden uns aber weiter umsehen!“ kündigte er an und Susanne, zu der im selben Augenblick die Chefin geeilt war und sich bemerkbar machte, versprach das sofort zu versuchen.


    „Chefin!“ sagte Hartmut, der mitkriegte, wie schlecht es Semir gerade ging. „Es ist jetzt sonnenklar, dass Ben gekidnapped wurde und der Hauptdarsteller in echten Foltervideos ist. Vielleicht könnten wir trotzdem veranlassen, dass auf alle Burgen der Region wenigstens eine Polizeistreife geschickt wird, um dort nach dem Rechten zu sehen!“ Die Krüger versprach ihr Möglichstes zu versuchen und Hartmut schickte das Video in die PASt, in der heute einige Leute Überstunden schoben. Immerhin war ein guter Kollege in Not. Draußen war es inzwischen Nacht geworden, obwohl-es war nicht völlig finster, denn der Vollmond schob sich gerade hinter den Wolken hervor und versprach ein besonderes Naturschauspiel zu bieten.


    Ben war in seinem Verließ inzwischen wieder aufgewacht. Er wurde von Stunde zu Stunde schwächer und langsam begann sich sein Verstand zu verwirren. Als er ein Rascheln hörte, drehte er matt den Kopf in die Richtung und erstarrte augenblicklich. Eine große Ratte musterte ihn mit ihren schwarzen Knopfaugen, vermutlich taxierte sie, ob sie sich schon einen Happen der vor ihr liegenden Delikatesse genehmigen sollte. Trotz seiner Schmerzen richtete sich Ben ein wenig auf und verscheuchte das Vieh, das auch sofort in einer dunklen Ecke verschwand. Sie hatte Zeit-im Gegensatz zu Ben.

  • Obwohl es den beiden widerstrebte, legten sie nacheinander noch die beiden anderen Foltervideos ein. Semir und Hartmut wurde gleichermaßen übel, als sie sahen, was man Ben noch angetan hatte. „Oh mein Gott, Hartmut, wir müssen ihn so schnell wie möglich finden-was glaubst du, wie lange ein Mensch solche Verletzungen überleben kann?“ fragte Semir den Tränen nahe. „Nicht lange jedenfalls!“ sagte Hartmut nun ebenfalls schwer geschockt. Als die Nahaufnahme zwischen Ben´s Beine zoomte, überkam Semir ein dermaßen starker Würgereiz, dass Hartmut das Video stoppte. Trotzdem schickte er auch dieses zu Susanne, die gemeinsam mit der Chefin fassungslos vor dem PC saß und verzweifelt versuchte, ihre Blicke von Ben weg und zum Hintergrund zu richten. Den Ton hatten sie stummgeschaltet, denn sonst war es nicht zu ertragen.


    Susanne hatte auf der Videowand Bilder verschiedener Folterkammern, die im Internet veröffentlicht waren zum Abgleich aufgerufen, aber es war keine Ähnlichkeit zu entdecken. Die Chefin hatte währenddessen mit mehreren lokalen Polizeidienststellen Kontakt aufgenommen und um Amtshilfe gebeten. Es wurde ihr überall gleichermaßen versichert, dass die Streifen die jeweilige Burg auf ihrer Routinefahrt aufsuchen würden und schauen, ob ihnen etwas Verdächtiges auffiel.


    Schweren Herzens hatte Hartmut nun auch noch das dritte Video eingelegt. Fassungslos betrachteten sie, wie der mysteriöse Freak Ben mit dem Brandeisen malträtierte und als er schließlich noch die Zähne in den Hals seines Opfers schlug, meinte Semir selber einen Schmerz dort zu spüren.
    Hartmut hatte mehrere Bilder des Freaks als Standbild hergezoomt, mit seinem Tablet, das er aus dem Koffer geholt hatte, fotografiert und suchte nun in der Verbrecherkartei nach Ähnlichkeiten. Die Gesichtserkennung brachte zwar keinen Treffer, denn durch die Schminke waren die Züge doch sehr verändert, aber Hartmut hatte mit anderen Kriminaltechnikern ein Programm entwickelt, das Tätowierungen erkennen konnte. Alle Festgenommenen wurden nun bei der erkennungsdienstlichen Behandlung auch am Körper fotografiert und siehe da, obwohl die Datei noch nicht so groß war, weil man erst vor wenigen Monaten mit dem Probelauf begonnen hatte, zeigte das Tablet plötzlich einen Treffer an.
    Semir richtete sich gespannt auf, als Hartmut die Daten des Verdächtigen aufrief. Der Mann heißt Florian Tewett, ist aber in der Gothic- Szene unter dem Namen „Hieronymus“ bekannt. Sein Vater ist DER Tewett, dem das riesige Medienunternehmen fast alleine gehört. Er wurde schon mehrfach wegen Körperverletzung und Drogenbesitz verhaftet, aber meist mit einem guten Anwalt mit einer geringen Strafe wieder freigelassen. Die Opfer wurden von Papa immer großzügig entschädigt, er hat jedesmal öffentlich bereut und sich entschuldigt und kam bisher mit Arbeitseinsätzen, mal einem Wochenende im Jugendknast und solchen milden Strafen davon. Ihm wurden seine Vergehen als jugendlicher Übermut ausgelegt und auch immer vor Jugendkammern verhandelt, obwohl er schon längst erwachsen ist. Vor den Medien hat jeder Richter Angst und ist deshalb sehr vorsichtig, um das Urteil nicht zu hart ausfallen zu lassen!“ erklärte Hartmut, der erst die Informationen zu ihrem Verdächtigen herunterlas, seine Interpretation der Fakten.


    „Wir schicken das Video auch noch zu Susanne-wo hat dieser Tewett seinen Wohnsitz, dann fahren wir doch dahin, um uns den vorzuknöpfen!“ sprang Semir auf. „ Er weiß ja schließlich, wo Ben steckt und mit diesem Video als Beweis wird er die nächsten Jährchen wohl im Knast verbringen. Und wenn er nichts sagen will, prügle ich notfalls aus ihm heraus, wo Ben steckt!“ sagte Semir wutentbrannt, aber doch glücklich, dass sie endlich eine vielverheißende Spur hatten.
    Hartmut schickte auch dieses Video in die PASt, packte die Originale ein und gleichzeitig telefonierte er mit der Chefin, um einen Haftbefehl für den jungen Mann zu erwirken. „Ich kümmere mich drum!“ sagte die Chefin. Gerade als sie das Haus verlassen wollten, stand unten der junge Streifenpolizist, den Semir durch die Todesnachrichtenüberbringung entlastet hatte. „Beim Abtransport des Wagens ist uns das aufgefallen!“ sagte er und überreichte Semir einen altertümlichen Schlüsselbund mit riesigen Schlüsseln, die eindeutig zu einer Burg gehörten. „Ich dachte mir, vielleicht hilft es ihnen, ihren Partner zu finden!“ sagte er, denn natürlich wussten alle Polizeieinheiten in NRW und den angrenzenden Bundesländern inzwischen, dass einer ihrer Kollegen vermisst wurde. Ben´s Bild prangte unter „vermisste Personen“ und jeder Uniformierte würde die Augen nach ihm offen halten. „Danke!“ sagte Semir einfach und nahm den Schlüssel, der Gott sei Dank das Feuer ziemlich unversehrt überlebt hatte.


    Hartmut hatte noch organisiert, dass das Spusi-Team, das den ausgebrannten Wagen Berghoffs angeschaut hatte, gleich im Anschluss zum Schloss kam und dort systematisch weiter seinen Job machen würde. Er und Semir hatten sich auf ihre Intuition verlassen, aber vielleicht fand man bei gründlicher Suche noch mehr Spuren. „Den PC legt ihr mir bitte in den Wagen und es wäre nett, wenn ihr den nach Köln zu meiner KTU bringen könntet!“ bat er die Kollegen und übergab ihnen seinen privaten Autoschlüssel. „Ist doch klar, wir informieren euch sofort, wenn wir noch irgendwas finden sollten, was uns weiterbringt!“ kündigte der Kriminalbeamte an und begann damit, seine benötigten Dinge auszupacken.
    Semir bedankte sich und fuhr gemeinsam mit Hartmut in Richtung der Villa des Vaters des Verdächtigen, die in den Akten als sein Wohnsitz angegeben war. Sie lag außerhalb Kölns in einem Nobelvorort, etwa eine halbe Fahrstunde entfernt und Semir drückte aufs Gas, um so schnell wie möglich dort zu sein.

  • Während Semir rasch und konzentriert fuhr, teilte Hartmut telefonisch in der PASt die neuesten Erkenntnisse mit. „Susanne, könntest du noch herausfinden, welches Auto dieser Florian fährt?“ fragte Hartmut und wenig später gab Susanne alle Fahrzeuge durch, die auf Florians Vater zugelassen waren. Der Junge selber hatte kein Auto angemeldet, aber ein Mini würde vermutlich ihm, oder seiner Mutter gehören. Mit Farbe und Autonummer ging auch der vorsichtshalber in die Fahndung und wenig später erreichten Semir und Hartmut das riesengroße, sehr moderne Anwesen. Eine Sicherheitsmauer mit Stacheldraht umgab das Haus, überall waren Überwachungskameras angebracht und Mitarbeiter einer bekannten Securityfirma hielten am Tor Wache.


    Semir und Hartmut wiesen sich aus und wurden, nach Anmeldung, kurze Zeit später von Tewett selber empfangen. Er saß in einem hypermodernen Arbeitszimmer, das mit den verschiedensten Fernsehern, Beamern und PCs ausgerüstet war. „Womit kann ich ihnen dienen?“ fragte er die beiden Polizisten. „Wir hätten gerne gewusst, wo sich ihr Sohn aufhält!“ sagte Semir fordernd. Der Medienmogul lehnte sich provozierend langsam in seinem bequemen Schreibtischsessel zurück. „Und warum interessiert sie das?“ wollte er mit einem süffisanten Lächeln wissen. „Ihr Sohn ist dringend der schweren Körperverletzung verdächtig und soll von uns vernommen werden!“ sagte Semir knapp, dessen Zornesader oben an der Schläfe bereits zu pochen begonnen hatte. „Ich weiß nicht, wo er ist, aber dann werde ich jetzt mal unseren Anwalt anrufen, der wird dann alles Weitere in die Wege leiten und die nächsten Tage mit meinem Sohn in ihrer Dienststelle vorbeikommen!“ erklärte Tewett und wollte gerade zum Telefon greifen, als Semir wie ein Schatten über ihm war und ihn am Hemdkragen packte. „Sie werden mir jetzt sofort sagen, wo ihr Sohn ist, sonst war ihre Nase die längste Zeit gerade!“ herrschte ihn Semir an und drehte den Hemdkragen zu, dass Tewett nach Luft japste. „Das werden sie noch bereuen!“ keuchte Tewett, machte dann aber keine Anstalten mehr, zum Telefon zu greifen.


    Mit einer Kopfbewegung forderte Semir Hartmut auf, die Folter-DVD herauszunehmen. Hartmut zog wieder Handschuhe an, um keine Spuren zu verwischen und Semir fragte knapp: „Wo kann man diese DVD ansehen?“ und Tewett wies auf einen Player in einem Seitenfach seiner Medienwand. Hartmut legte die DVD ein, der Medienmann startete sie via Fernbedienung und der Beamer projezierte das Bild auf die weiße Wand gegenüber. Es war fast unerträglich, Ben und seinen Peiniger in Überlebensgröße in Aktion zu sehen. Die Schreie hallten durchs Arbeitszimmer und jede Wunde war überdeutlich zu sehen. Als der Rauch von Ben´s Brust aufstieg, meinte Semir fast, den Geruch nach verbranntem Fleisch zu riechen und sein Herz klumpte sich vor Mitleid zusammen. Hartmut indessen hatte aus den Augenwinkeln den Medienmogul betrachtet. Der sah fasziniert auf den Film, der vor seinen Augen ablief, aber anstatt des erwarteten Entsetzens, das wohl jeder normale Mensch beim Anblick solcher Bilder zeigen würde, war eine Art Entzücken in seiner Miene zu entdecken. Er leckte sich unbewusst immer wieder schnell über die Lippen und nach einer Weile war sich Hartmut sicher, dass er die Vorführung genoss.


    Nach ein paar Minuten, in denen man deutlich von allen Seiten Florian gesehen hatte, stoppte Hartmut die Wiedergabe und Semir sagte: „Wir haben anhand dieser Aufnahmen ihren Sohn zweifelsfrei als Täter identifiziert und werden ihn deshalb verhaften!“ Tewett schwang seinen Stuhl herum und sagte: „Sie wissen genau, dass Videoaufnahmen vor Gericht nicht zur Urteilsfindung herangezogen werden dürfen. Wer wüsste besser als ich, welche Möglichkeiten des Betrugs durch geschickte Computeranimation möglich sind. Das Video beweist gar nichts, das wird ihnen mein Anwalt sicher auch nochmal mitteilen! Mein Sohn ist nicht da und ab sofort verweigere ich jede Aussage!“ erklärte er und sagte ab da auch keinen Ton mehr. Beinahe verzweifelt mussten Semir und Hartmut wieder abziehen, denn gerade bei so einem Typen war eine Hausdurchsuchung ohne Durchsuchungsbefehl nicht angebracht. Als sie das Tor passiert hatten, fragte Semir die Wachleute: „Ist Florian mit dem Mini, oder mit einem anderen Auto aufgebrochen?“ und ohne zu zögern antwortete einer der Sicherheitsleute: „Der ist mit zwei Kumpels vor etwa eineinhalb Stunden mit dem Mini weggefahren. Die waren gut drauf und hatten irgendetwas besonders Tolles vor!“
    Semir bedankte sich und Hartmut hatte mittlerweile mit Susanne telefoniert. Wenig später rief Susanne zurück und ein Lächeln überzog Hartmuts Gesicht: „Ich glaube, wir haben ihn-er ist auf Burg Niedereck, die liegt etwa eine knappe Fahrstunde von hier entfernt. Die ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich und steht zum Verkauf-allerdings ohne detailliertes Bildmaterial in den Medien, daher konnten wir auch die Folterkammer nicht abgleichen!“ Semir sah nun Hartmut mit offenem Mund an, während er schon mit quietschenden Reifen losfuhr in die Richtung, die Hartmut ihm wies. Der gab ins Navi die von Susanne angegebene Adresse ein und erklärte Semir. „So wie dieser Tewett geschaut hat, war mir klar, dass er sofort seinen Sohn anruft, sobald wir weg sind-außer wenn er doch zuhause gewesen wäre. Susanne hat die ausgehenden Anrufe verfolgt und festgestellt, wo der Angerufene steckt und das ist eben auf dieser Burg. Das wären schon zu viele Zufälle auf einmal, wenn das nicht passen würde!“


    Sie fuhren eine Weile in hoher Geschwindigkeit und schwiegen beide. Fast gleichzeitig kam ihnen dann allerdings ein Gedanke. Stockend sagte Semir: „Nur wenn Ben überlebt und gegen Florian Tewett aussagen kann, stellt er eine Gefahr dar, denn wie Florian´s Vater schon richtig bemerkt hat-eine Videoaufnahme alleine hat vor Gericht wenig Aussagekraft, wenn sie überhaupt verwendet werden darf. Die werden ihn umbringen!“ und nun fuhr Semir noch schneller, wenn das überhaupt möglich war.

  • Die Chefin hatte inzwischen die örtliche Polizei verständigt und gebeten, doch genau auf der Burg nachzusehen. Noch während Semir und Hartmut in Spitzengeschwindigkeit nach Burg Niedereck fuhren, traf ein Streifenfahrzeug dort ein. Zwei Kleinwagen, davon einer mit auffälliger Totenkopfverzierung standen im Burghof, aber die Türen waren verschlossen und es war alles ruhig, nirgends brannte Licht und als die Polizisten zu einem schweren Verkehrsunfall auf der benachbarten Bundesstraße gerufen wurden, verließen sie ohne zu zögern den Burgberg wieder, was hätten sie sonst auch tun sollen?


    Hieronymus hatte ein paar Kumpels aus der Szene aufgetan, die dachten wie er, allerdings ohne das nötige Kleingeld zu besitzen. Wegen seiner finanziellen Möglichkeiten war er dort der Star und als er ihnen vorsichtig die Idee mit dem Snuff-Video unterbreitete, waren die Feuer und Flamme. Er war zu seinem Vater gegangen und hatte ihm schonungslos die Wahrheit gesagt. „Papa, es war so herrlich, diesen Mann, der sowieso sterben muss, zu quälen. Berghoff muss ihn loswerden, denn es waren auch vor mir schon welche an ihm dran, soweit ich gesehen habe. Wenn der lebend gefunden wird, gibt das einen Skandal, darum haben Berghoff und ich ausgemacht, ein Snuff-Video zu drehen. Das wird dir sicher gefallen, Papa-ein anderes von mir kriegst du auch noch zu sehen, wenn Berghoff es fertig hat-und jetzt brauche ich eine Million von dir, aber ich verspreche dir, du sollst auch was davon haben!“ erklärte er und Tewett willigte nach kurzer Überlegung ein. Er holte das Bargeld aus dem Schließfach seiner Bank-da war immer einiges parat, wenn man mal schnell ein Schweigen erkaufen und jemanden bestechen musste, was in seiner Branche gang und gäbe war, und überreichte es in einem dicken Umschlag seinem Sohn. Fast beneidete er ihn, der zog durch, wovon er immer geträumt, sich allerdings nie getraut hatte. Die absolute Macht über einen anderen Menschen zu haben, ihn zu erniedrigen, zu quälen und schlussendlich wie ein Cäsar mit Daumen nach unten den Tod zu bestimmen, das war der ultimative Kick in einer Welt, die langweilig war, wenn man sich alles kaufen konnte.


    Hieronymus hatte die Zahl seiner Mitspieler, denn für sie war es ein Spiel, auf fünf beschränkt. Dann waren sie miteinander sechs-die Zahl des Teufels! Sie verabredeten sich, um 19.00 Uhr aufzubrechen, alle sollten sich gut schminken und herrichten, damit das Video auch was hermachte. Ein paar Designerdrogen warfen sie auch noch ein, um sich in Stimmung zu bringen und als Hieronymus den Vollmond am Himmel aufgehen sah, war sein Glück perfekt. Das hier war der schönste Tag seines Lebens!


    Ben war inzwischen wieder eingedämmert. Fieberschauer überliefen ihn immer wieder. Er hatte die schmutzige Decke weggeworfen, denn nun war ihm furchtbar warm. Die Schweißperlen standen auf seiner Stirn, er hatte fürchterlichen Durst und die Schmerzen machten ihm schwer zu schaffen. Er wusste nicht, welcher Körperteil am meisten wehtat, er fand keine Lage, die auch nur halbwegs erträglich war. Sein Fuß war inzwischen blauschwarz verfärbt, wo die Fußfessel ihm das Blut abschnürte, sein Kiefer tobte und die Brandverletzungen taten auch schrecklich weh. Er versuchte sich von seinen Schmerzen abzulenken und an etwas Schönes zu denken. Sarah, seine wunderschöne, liebevolle Sarah! Und wegen einer Banalität hatten sie gestritten! Ach wenn er das nur ungeschehen machen könnte! Wenn er jetzt sterben würde, würde sie nie erfahren, dass er vorgehabt hatte, sich zu bessern. Stattdessen war sie in seine unaufgeräumte Wohnung gekommen und hatte vermutlich gedacht, er sei unbelehrbar. Mit Schrecken fiel ihm ein, dass die Wäsche ja immer noch in der Maschine feucht vor sich hingammelte. Das wäre für Sarah sicher der absolute Beweis für seine Unbelehrbarkeit. Gerade als er begann, sich da hineinzusteigern, meinte er etwas gehört zu haben. Kam jetzt Berghoff zurück? Na wer denn sonst-sonst hatte vermutlich niemand einen Schlüssel zur Burg und Semir und die Kollegen hatten auch keinerlei Ansatz, wo sie nach ihm suchen sollten. Er war wie die Stecknadel im Heuhaufen und langsam musste er wohl der Tatsache ins Auge sehen, dass er diesen Ort nicht mehr lebend verlassen würde.

  • Hieronymus und seine Freunde waren Punkt 20.00 Uhr im Burghof eingetroffen. Von Berghoff und seinem noblen Geländewagen war weit und breit nichts zu sehen, aber Hieronymus hatte auch keine Nachricht auf seinem Handy. Gut, dann würden sie eben warten! Sie ließen ein paar Bierflaschen kreisen und genossen die Vollmondnacht. Auch ohne Licht war die Gegend in einen geisterhaften Schimmer getaucht. Die Bäume rund um die Burg rauschten, ab und an schrie ein Käuzchen und als sie nach oben sahen, ragten die Zinnen der Burg trutzig in den Nachthimmel. Nach einer Weile begann Hieronymus unruhig zu werden. Er wollte sein Vergnügen und zwar jetzt und sofort! Er war für seinen Jähzorn bekannt und seine Eltern hatten schon sehr früh begonnen, alle seine Wünsche zu erfüllen, da er sonst sehr ungemütlich werden konnte. Was fiel diesem Berghoff ein? Hatte der kalte Füße bekommen und meinte jetzt, dass er aus der Sache rauskam, indem er einfach nicht erschien? Hieronymus zückte sein Handy-da hatte er die Nummer Berghoffs gespeichert- aber als er anrief ging nur die Mailbox ran. Wenig später rief ihn sein Vater an: „Florian, die Polizei war gerade bei mir, die haben mir das Video gezeigt! Lebt der Mann noch?“ fragte er. „Florian antwortete: „Ja, Berghoff ist noch nicht aufgetaucht!“, aber sein Vater sagte nur kurz: „Du musst das irgendwie zu Ende bringen, wir können keine Zeugen brauchen!“ und Florian nickte, obwohl das sein Vater ja nicht sehen konnte.


    Kurzentschlossen forderte Hieronymus seine Kumpels auf: „Wir schauen, wie wir selber in die Burg kommen, ich lasse mich doch nicht verarschen!“ Die Zugbrücke war zwar unten, aber das große Tor war verschlossen. Der Burggraben war wie in alten Zeiten mit brackigem Wasser gefüllt, aber im Laufe der Jahrhunderte waren Büsche und Bäume an der Burgmauer emporgewachsen. Eine Weide ein Stück hinterhalb war so hoch, das man problemlos die Burgmauer darüber erklimmen konnte und so kletterten die grusligen Gestalten, nachdem sie vorsichtig an dem kleinen Uferstück entlang balanciert waren, über die Weide auf die Burgmauer. Innen waren einige Gebäude angebaut und über die Dächer von zwei Schuppen gelangten die Sechs in den Schlossinnenhof, in dem der Brunnen stand. Als Hieronymus mit einer mitgeführten Taschenlampe in einen Schuppen hineinblickte, waren da Holz und Kohlen gelagert. Da würden sie nachher ein schönes Feuer machen, aber zuerst mussten sie zusehen, wie sie zu ihrem Opfer kamen. Hieronymus erkannte die rohe Holztür, durch die Berghoff mit dem Feuerholz gekommen war-die führte direkt zum Verließ. Wenn sie die aufbrachen, waren sie dort, wo sie hinwollten. Einer seiner Kumpels hatte eine Axt gefunden, die zum Holzhacken im Schuppen parat lag und so begannen sie mit wuchtigen Schlägen auf die Tür einzuschlagen, um sie aufzubrechen.


    Die Chefin hatte sich bei Hartmut gemeldet: „Ich habe eine Polizeistreife gebeten, dort schon mal nach dem Rechten zu sehen!“ und Hartmut und Semir bedankten sich. Wenigstens hatten sie schon Verstärkung vor Ort. Ob sie wohl weitere Einsatzkräfte brauchen würden? Allerdings war es zwar naheliegend, aber nicht absolut sicher, dass Ben tatsächlich auf der Burg war. Sie entschlossen sich, erst mal abzuwarten und selber nachzusehen, was los war. Das SEK konnte man immer noch dazu fordern, aber mit so ein paar schmalbrüstigen Jüngelchen würden sie auch alleine fertig werden! Als sie schon kurz vor dem Ziel waren, sahen sie plötzlich den Schein von Blaulichtern vor sich auf der Bundesstraße. Die war total gesperrt, ein paar Autos stauten sich und vorne am Stau konnte man erkennen, dass da zwei Rettungswagen und ein Streifenfahrzeug standen.
    Semir checkte kurz die Lage, aber als er neben der Straße einen parallelen Feldweg erkennen konnte, stieß er kurz zurück und durchbrach das kleine Gebüsch, das diesen von der Straße trennte. Die Äste und Zweige verschrammten den Lack des BMW, aber das war egal. Semir fühlte, dass Ben nicht mehr viel Zeit hatte, er musste zu ihm und zwar sofort! Er bretterte den Feldweg entlang und fuhr kurz nach der Unfallstelle wieder auf dieselbe Weise auf die Straße zurück. Hartmut klammerte sich krampfhaft an seinem Sitz fest, sagte aber keinen Ton. Semir´s grimmigem Blick nach zu urteilen, hätte das sowieso nichts gebracht und außerdem war auch Hartmut extrem unwohl bei dem Gedanken, dass Ben jetzt mit einer Horde verrückter Freaks alleine auf der Burg war. Gut, er und Semir hatten zwar den Schlüssel, aber man konnte trotzdem nie wissen!

  • Hieronymus und seine Freunde hatten es inzwischen geschafft mit wuchtigen Axtschlägen die Tür aufzubrechen. Ein Teil der Crew hatte derweil angefangen, Holz aus dem kleinen Schuppen zu schleppen und einen großen Haufen im Schlosshof aufzuschichten. Einer der Freaks hielt sein Feuerzeug ans Kleinholz und bald loderten die Flammen zum Himmel. „Das gibt einen klasse Hintergrund und wofür man den Haufen sonst noch brauchen kann-wer weiß?“ sagte er gackernd zu seinem Kollegen. Gemeinsam betraten nun alle sechs nacheinander das Verließ. Als ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, bewunderten die Freaks erst mal die verschiedenen Folterwerkzeuge. Sogar eine eiserne Jungfrau war zu sehen, eine Art zweiteiliger Metallpanzer mit innenliegenden Eisenspitzen, die den Verurteilten durchbohrten, wenn man die Rüstung schloss, so dass lebenswichtige Organe verletzt wurden und der Delinquent so langsam verblutete. „Aber das ist nichts für uns, das ist zu unspektakulär!“ wies Hieronymus seine Kumpels an. Nun traten zwei der Typen in den Kerker und beugten sich zu Ben: „Lebt der überhaupt noch?“ wollte der eine wissen und stieß ihn mit der Stiefelspitze an, aber da hatte Ben schon den Kopf gedreht und ihn mit verquollenen Augen angesehen. „Na Gott sei Dank!“ sagte er und sie begannen, den Schlüssel zu suchen, mit dem man das Kettenschloss öffnen konnte, mit dem Ben an der Wand fixiert war.
    Nachdem sie nirgendwo einen Schlüssel fanden, holte der eine der Jungen die Axt, mit der sie die Tür aufgebrochen hatten. Auch wenn es eine ganze Weile dauerte, aber nach vielen Schlägen zerbrach plötzlich ein Metallglied der Kette und sie konnten Ben aus seinem Verließ holen.


    Der war aus seinem Dämmerzustand erwacht, als die wuchtigen Schläge an der hölzernen Tür zum Hof zu hören waren. Nahte jetzt seine Rettung? Berghoff hatte schließlich einen Schlüssel und würde keine Türen aufbrechen müssen. Ben lauschte, ob er eine bekannte Stimme hören konnte, aber außer gedämpftem, gelegentlichen Gelächter, konnte er nichts wahrnehmen. Gut, das war jetzt unwahrscheinlich, dass seine Polizeikollegen eine solche Aktion dermaßen lustig fanden, dass die gleich vor sich hingackerten, wie eine Horde Schuljungen. Aber wer in Gottes Namen war das dann? Wenig später wurde das Geheimnis gelüftet, als Hieronymus plötzlich vor ihm stand. Ben hatte die Augen kurz aufgemacht, aber gleich wieder geschlossen, denn die Gestalten, die ihn umringten, sahen aus, wie aus Dante´s Inferno entsprungen. Er konnte sich erinnern, wie er als Kind mit Schaudern dieses Buch der Weltliteratur gelesen hatte und nächtelang nicht schlafen konnte, wenn er sich die Teufel und anderen Gestalten der Göttlichen Komödie vorgestellt hatte. Nun standen die fleischgewordenen Abbilder vor ihm, geschminkt, tätowiert und mit farbenprächtigen Umhängen, Teufelshörnern, die aussahen wie echt, Reißzähnen wie sie Werwölfe hatten und anderen geschmacklosen Details verunstaltet. Für diese Freaks allerdings war diese Kostümierung Programm-sie lebten in einer eigenen, düsteren Welt, die eher an ein Fantasyspiel, als an die Realität erinnerte. Das war ihr Weg aus dem grauen Alltag und sie verbrachten auch viel Zeit damit, in interaktiven Onlinespielen mit Gleichgesinnten auf der ganzen Welt zu spielen und sich im fiktiven Kampf zu messen. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion waren schon lange verwischt, dazu kam noch der regelmäßige Drogenkonsum-die Gehirne dieser Jungen waren schon eine ganze Weile nicht mehr als normal zu bezeichnen. Auch Begriffe wie Moral und Ethik kamen in ihrer Welt nicht vor-man tat rücksichtslos das, worauf man Lust hatte und jemand anderen zu quälen und zu erniedrigen war ihnen mehr wert, als alles andere.
    Zwei der Freaks hatten ihre hochwertigen Smartphones hervorgeholt, um ihre Aktion zu filmen, wenn der Mann mit der Profiausrüstung jetzt nicht bald erschien. Nach einem Blick auf die Uhr sagte Hieronymus: „Fangen wir an, ich denke, der wird nicht mehr kommen!“ und schon begannen sie Ben von seinem Strohsack zu zerren. Der schrie gequält auf, als er auf die Füße gezogen wurde. Erstens hatte er keinerlei Kraft, sich hinzustellen und zweitens gab der geschwollene Fuß unter seinem Gewicht nach. Die Freaks langten zu und irgendwie packten sie ihr Opfer und schleiften es über die Treppe nach oben ins Freie.


    Ben hatte vor Qual die Augen geschlossen und nur dumpf gestöhnt, zu mehr hatte er gar nicht mehr die Kraft. Als er nun die Augen öffnete, sah er, wo er war. Das war doch der Schlosshof mit dem Brunnen, wo er sich gewaschen hatte. Es schien ihm eine Ewigkeit her, er konnte nicht sagen, wie viele Tage seitdem vergangen waren. Wo zum Teufel war Berghoff? Er konnte ihn nirgends entdecken, obwohl ihm das wohl auch nichts mehr gebracht hätte. Der war wenigstens ansatzweise noch ein menschliches Wesen, während diese Gestalten, die da in ihren Umhängen um ihn herum huschten, einer anderen Art anzugehören schienen. In der Mitte des Hofs hatten sie einen Tisch aufgestellt, neben dem ein paar Stricke lagen. Grob packten sie ihn, legten ihn der Länge nach hinauf und banden ihn fest. Als Ben die Augen öffnete, sah er direkt in den Nachthimmel. Der Vollmond tauchte die Zinnen der Burg in ein geisterhaftes Licht, es wäre unter anderen Umständen ein schöner Abend gewesen, aber so würde es sein Todestag sein.


    Semir raste derweil mit Höchstgeschwindigkeit den Burgberg hinauf. Hartmut war ganz still geworden und rechnete jede Sekunde damit, dass sie vom Weg abkamen und in den Abgrund stürzten, aber Semir hatte den BMW voll im Griff. Als er mit quietschenden Reifen im Burghof anhielt, sprang er schon heraus, bevor der Wagen ganz zum Stehen gekommen war. Direkt neben seinem Auto standen zwei weitere Fahrzeuge, darunter der Mini, der zur Fahndung ausgeschrieben war. Plötzlich wurde die geisterhafte Stille von einem gedämpften Schrei durchbrochen, der aus der Richtung der Burg zu kommen schien. Semir erkannte sofort, wer da geschrien hatte-es war Ben. Er spurtete sofort los mit seinem Schlüsselbund in der Hand und begann mit zitternden Händen den richtigen Schlüssel zu suchen, der ihnen die Tür ins Innere des Gemäuers öffnete.

  • Die Freaks hatten inzwischen einige Folterwerkzeuge aus dem Keller geholt. Die eisernen Zangen, die Daumenschrauben und eine mobile mit Eisenspitzen besetzte Walze, der gespickte Hase, an einem Holzstiel, wurden von den jungen Männern unter aufgeregtem Gegröle nach oben geschleppt.
    Ben hatte die Augen geschlossen. Wie es wohl sein würde zu sterben? Oft schon war er in schier aussichtslosen Situationen gewesen. Teilweise mit, teils ohne Semir. Sie waren gemeinsam dem Tod mehr als einmal nahe gewesen, aber nun würde sich sein Weg vollenden. Niemand außer Berghoff und seinen Folterknechten hatte eine Ahnung, wo er war und so tendierte die Chance, gerettet zu werden gegen Null. Gerade gestern hatte er ein paarmal einen Anflug von Mitleid bei Berghoff gespürt und gehofft, dass der doch noch ein moralisches Empfinden entwickeln und ihn frei lassen würde. Vielleicht auch gegen das Zugeständnis der Straffreiheit oder zumindest Vergünstigungen im Vollzug, aber gegen dies Freaks in ihren Fantasykostümen war er hilf-und machtlos. Mit denen konnte er auch nicht sprechen, wie mit normalen Menschen, wobei ihm das mit dem gebrochenen Kiefer sowieso schwerfiel. Ob er wohl sehr leiden würde, bis es vorbei war?


    Semir hatte es inzwischen geschafft, den richtigen Schlüssel zu finden. Er sperrte das Schloss auf und wie ein wilder Stier rannte er los, um seinen Freund und Partner zu finden. Hartmut hatte, während Semir noch Schlüssel probierte, Susanne angerufen. „Wir sind in der Burg-leider ist hier keine Polizeistreife weit und breit! Bitte schick uns sofort Verstärkung-dieser Florian Tewett ist auf jeden Fall mit dem gesuchten Fahrzeug hier und ein weiterer Wagen steht daneben. Ich weiß nicht, mit wie vielen Gegnern wir es zu tun haben, aber auf jeden Fall lebt Ben-wir haben ihn schreien hören!“ teilte er ihr mit. Susanne und die Chefin saßen angespannt in der PASt und die Administratorin leitete sofort alles in die Wege, damit schnelle Hilfe vor Ort kam. Die Chefin dagegen sprang auf, griff nach ihrer Jacke und sagte knapp: „Ich fahre jetzt sofort auf diese Burg. Auch wenn vermutlich schon alles vorbei ist, bis ich dort bin-ich kann hier nicht untätig am Computer sitzen, während meine Männer um ihr Leben kämpfen!“ und damit stürmte sie zu ihrem A-Klasse Mercedes.


    Während einer der Freaks seine Handykamera einschaltete und zu filmen begann, inszenierten die anderen Fantasygestalten einen bizarren Tanz um ihr gefesseltes Opfer. Obwohl keine Musik lief, meinten die zugedröhnten Typen Chöre zu hören und tanzten sich immer mehr in Ekstase. Entweder hatten sie scharfgeschliffene, lange, künstliche Fingernägel, oder es waren Rasierklingen in die Enden ihrer Mäntel eingenäht. Bei jeder Umrundung wurde Ben berührt und jede Berührung hinterließ einen scharfen Schnitt an Arm oder Bein. Ben hatte überrascht aufgeschrien, als die ersten Schnitte erfolgten, aber bald seine Lautäußerungen eingestellt. Wie gerne würde er tapfer sein, aber es machte erstens keinen Unterschied, ob er schrie oder nicht und zweitens konnte er auch keine Gnade erwarten. Er hatte auch die anderen Folterwerkzeuge, die auf dem Boden neben dem Tisch lagen, gesehen, aber sich nicht vorstellen können, wofür die dienten.
    Der aktuell filmende Freak hatte den Daumen nach oben gereckt. Es sah einfach toll aus, was seine Kumpels da machten! Wenn sie das auf ihren Videoplattformen international gegen Bezahlung verbreiten würden, konnten sie einen Haufen Kohle machen. Jeder Mitwirkende in diesem grausamen Spiel war die beinahe exakte Kopie eines Fantasywesens mit Superkräften aus dem Computerspiel, das gerade in ihren Kreisen angesagt war-Dantes Inferno.

  • Semir stürmte, nachdem er die Tür zum Schloss geöffnet hatte durch die Eingangshalle los. Hartmut folgte ihm ein wenig langsamer. Im Gegensatz zu Semir, der nachdem er den Lichtschalter betätigt hatte, einfach blitzschnell weitergerannt war, nahm Hartmut die Dinge, die hier ausgestellt waren, durchaus wahr.
    Semir durchquerte die Wohnräume, aber inzwischen konnte man, zwar gedämpft, aber doch deutlich, wieder hören, wie Ben überrascht und voller Schmerzen aufschrie. Semir suchte, wo es in Richtung der Schreie führte und wenig später fand er sich auf dem Weg nach unten zum Verließ. Als Semir dort anlangte, sah er sich hektisch um. Er war sich so sicher gewesen, seinen Freund da zu finden, aber der Kerker war leer! Allerdings konnte Semir verschiedene Folterwerkzeuge wahrnehmen und dazu Blut auf dem Boden. Ben´s Blut? Momentan war alles ruhig und so suchte er hektisch, wohin sein Freund wohl verschwunden sein könnte. Er erklomm wieder die Stufen nach oben und tatsächlich-vorhin von ihm nicht bemerkt, führte noch ein anderer Weg augenscheinlich ins Freie! Semir kam an der zersplitterten Holztür vorbei und meinte dann, seinen Augen nicht zu trauen, als sich sein Sehvermögen an die Gegebenheiten des Burghofs angepasst hatte.


    Ben, der auch im Halbdämmer und auf die Entfernung nicht gut aussah, lag festgebunden auf einem Tisch mitten im Hof. Nicht weit von ihm loderte ein Lagerfeuer, das unter anderen Umständen sicher romantisch gewesen wäre. Aber so waren die herumtanzenden Gestalten eher einer irren Phantasie, als dem realen Leben entsprungen. Teufel, Vampire und Werwölfe umrundeten den Tisch und bei jeder Berührung mit Ärmel oder Klaue schrie Ben kurz auf. Obwohl das Farbensehen in diesem diffusen Licht schwierig war, konnte Semir erkennen, dass das Blut von Ben´s Armen und Beinen auf den Boden tropfte.
    Als wäre die Choreographie abgesprochen, verharrten die Tänzer abrupt, ein anderer übernahm die Handykamera und der wilde Reigen begann von neuem. Einer der Tänzer ergriff nach einer ganzen Weile, in der Semir fieberhaft überlegte, wie er alleine mit diesen Typen fertig werden sollte, mit einer spielerischen Bewegung die mit Eisenzacken gespickte Walze und setzte sie nachlässig auf Ben´s Oberkörper an. Als sich die scharfen Zacken in die Brust seines Opfers gruben, schrie der erneut gepeinigt auf. In diesem Moment zückte Semir seine Waffe und rief laut und autoritär: „Stehenbleiben, Polizei! Werfen sie die Waffen weg und treten sie mit erhobenen Händen vom Tisch weg!“ Nach einer Schrecksekunde ertönte wildes Gelächter und völlig unbeeindruckt begann der Reigen fortzufahren. Semir trat mit gezogener Waffe näher, aber sobald er in Ben´s Richtung aufrückte, hörten zwei der Gestalten auf zu tanzen und traten drohend auf Semir zu.


    Was sollte er tun? Von Hartmut war nichts zu sehen und außerdem war der, wie fast immer, unbewaffnet. Inzwischen waren die beiden Gestalten so nahe bei ihm, dass er, sogar wenn er schoss, nie alle außer Gefecht setzen konnte. Verdammt, was sollte er bloß tun, um Ben zu retten? Auf einmal nahm er hinter sich eine Bewegung war. Als er sich umdrehte, meinte er vor Schreck erstarren zu müssen-da war noch so ein Typ! Er hatte Teile einer Ritterrüstung an, einen dunkelroten Umhang um und auf dem Kopf prangte eine Art afrikanische Maske. Große Hörner wuchsen aus seinem Kopf und das Ganze war irgendwie unwirklich beleuchtet. Als die Gestalt ihre elektronisch veränderte Stimme erhob, meinte Semir seinen Ohren nicht zu trauen. Zwar verzerrt, aber unverkennbar-das war Hartmuts Stimme. Er hob an: „Meine Freunde, ich bin Minos, der Hadesrichter! Folgt mir, dann werde ich euch zeigen, was Satan für euch, seine treuen Diener, vorgesehen hat!“
    Semir meinte nun, auch seinen Augen nicht zu trauen. Weil ihre Sinne, auch durch den Genuss der Drogen und die Ekstase, in die sie sich getanzt hatten, vernebelt waren und sie nicht mehr zwischen ihrem Spiel und der Realität unterscheiden konnten, kamen zögernd die sechs unheimlichen Gestalten, gingen an ihm vorbei und folgten, wie eine Horde Schafe, der Gestalt, die vorausging. Hartmut-denn er musste das sein- geleitete sie zu einem Kellerraum, den er zuvor ausfindig gemacht und in dem er Licht angemacht hatte. Er bat sie, mit einer höflichen Geste, nacheinander einzutreten und als der letzte darin verschwunden war, warf er die Tür zu und legte den Riegel vor. Es dauerte keine 30 Sekunden, dann bemerkten die Freaks, dass sie gelinkt worden waren und warfen sich zornig von innen gegen die Tür, aber die hielt den Angriffen stand. Hartmut riss sich aufatmend die merkwürdige Verkleidung vom Körper und endlich löste sich auch Semir aus seiner Erstarrung. Während Hartmut sein Smartphone, das er zum Stimmenverzerren genutzt hatte, wieder auf Normalbetrieb umstellte, die Zentrale verständigte und einen RTW und Notarzt bestellte, rannte Semir, so schnell er konnte, zu Ben.


    Der sah ihn, mit vor Schmerz verdunkelten Augen, an und stammelte undeutlich, während Semir in Windeseile die Stricke löste. „Semir, du bist gekommen!“ Der überlegte kurz, was er für seinen Freund tun konnte, aber das Einzige, was ihm sinnvoll erschien, war, den in die Arme zu nehmen und ihn zu trösten, bis die professionellen Rettungskräfte eintrafen, nicht dass er noch mehr Schaden anrichtete, als sowieso schon geschehen war, wenn er ihn bewegte. Der Tisch schien stabil zu sein, deshalb schwang er sich hinauf und bettete Ben´s schweißfeuchten Kopf mit dem geschwollenen, blutunterlaufenen Kiefer auf seinen Schoß. Er nahm dessen beide Hände in die seinen und so saßen sie noch, als wenig später die ersten Polizeistreifen eintrafen.

  • Hartmut war nach einem kurzen Blick auf Ben und das Blut, das immer noch aus seinen verschiedenen Verletzungen floss, zum BMW gerannt und hatte den Verbandskasten herausgeholt. Er ließ alle Türen, die er durchquerte, weit offen, damit die Rettungskräfte auch den Weg zu ihnen fanden. Er stellte den Verbandskasten ab, schlüpfte in die Einmalhandschuhe und begann mit sterilen Verbänden Druck auf die mannigfaltigen, blutenden, frischen Verletzungen Ben´s auszuüben, was dem ein lautes Stöhnen entlockte.
    Semir versuchte ihn zu trösten: „Ben, gleich kommt der Notarzt, dann kriegst du was gegen die Schmerzen!“ und sein Freund nickte unmerklich mit zusammengekniffenen Lidern. Nach kurzer Zeit erschienen vier uniformierte Polizisten mit gezogener Waffe im Burghof und fragten: „Was ist hier los?“ Hartmut und Semir fassten gleichzeitig nach ihren Ausweisen. „Wir sind Polizisten-unser Kollege wurde entführt und gefoltert-die Täter sind in einem Kellerraum eingesperrt, aber wo zum Teufel bleibt der Notarzt!“ schrie Semir fast, der Ben´s Leid beinahe nicht mehr mit ansehen konnte. Die Polizisten steckten die Waffen weg und während der eine versuchte über Funk etwas zu erfahren, positionierten sich die anderen drei vor der Kellertür, zu der ihnen Hartmut mit ausgestrecktem Arm den Weg wies. Das war aber auch nicht zu überhören. Da drin tobten die Freaks und versuchten inzwischen sogar, mit einem Stuhl, den sie gefunden hatten, die Tür aufzubrechen. Die Schreie, die heraus hallten waren irr und voller Wut und Enttäuschung und klangen beinahe nicht menschlich. Den Polizisten lief es kalt über den Rücken, denn man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass der Mann auf dem Tisch schwer misshandelt worden war. Wenn die Insassen des Kellerraums dafür verantwortlich waren, dann waren das hoch gefährliche Verbrecher.


    Hartmut und Semir warteten, was der Polizist mit dem Funk herausgefunden hatte. „Das SEK ist ebenfalls hierher unterwegs, die werden uns dabei helfen, die Verbrecher festzunehmen und abzutransportieren. Wie viele sind es denn?“ interessierte er sich in erster Linie. Semir antwortete wütend: „Es sind sechs Ausgeflippte, die gerade dabei waren, meinen Kollegen umzubringen, aber das ist jetzt völlig egal, ich will wissen, wo der Rettungswagen bleibt!“ sagte er und strich Ben, der erneut stöhnte, als Hartmut den Druck veränderte, tröstend über die schweißnasse Stirn. Der Polizist fragte nochmals nach und sagte dann: „Ein Fahrzeug ist unterwegs, allerdings kommt das von weiter her, denn unsere beiden in der Nähe stationierten Krankenwagen transportieren gerade die Opfer eines Verkehrsunfalls auf der Bundesstraße ins nächste Krankenhaus.“ Nun seufzte Semir auf. Verdammt, da sagte man immer, in ganz Deutschland sei das Rettungswesen so organisiert, dass innerhalb kürzester Zeit Hilfe vor Ort war, aber wie man sah, stimmte das nicht immer!


    Immerhin hatte der Polizist inzwischen gesehen, was Sache war und besah sich Ben´s Fuß. „Ich glaube, das schaffen wir nicht, die Fessel ohne Werkzeug wegzumachen, aber vielleicht hilft es, wenn wir das Bein ein wenig hochlagern?“ überlegte er und holte auch gleich eine Decke aus dem Schloss, die er unterlegte. „Ist dir kalt, sollen wir dich zudecken?“ fragte Semir besorgt, aber Ben presste zwischen den schmerzenden Kiefern ein: „Nein, heiß!“ heraus, dann wurde er fürchterlich unruhig und sagte immer etwas, was Semir im Augenblick nicht verstand. Er beugte seinen Kopf nahe an Ben´s Lippen und dann hörte er, wie sein Freund fragte: „Sarah, ist sie böse?“ aber nun musste Semir den Kopf schütteln. „Um Himmels willen, nein, Ben. Sie macht sich große Sorgen um dich und sie liebt dich-hat sie mir heute noch gesagt!“ beruhigte er ihn und griff schuldbewusst zum Telefon. Mann das hatte er völlig vergessen, Ben´s Freundin zu verständigen. Die saß sicher auf glühenden Kohlen und wartete auf Nachrichten. Er ließ durchklingeln und beim zweiten Läuten war Sarah, die versucht hatte, sich vor dem Fernseher ein wenig abzulenken, am Telefon. „Ja, Semir, weißt du was Neues?“ fragte sie angstvoll und befürchtete, er hätte schlechte Nachrichten, wenn er sie so spätabends noch einmal anrief.


    „Sarah, wir haben ihn. Ihm geht es zwar nicht gut, aber er lebt und hat schon nach dir gefragt!“ erklärte er ihr und Sarah brach vor Erleichterung in Tränen aus. „Wo ist er, ich komme sofort zu ihm!“ sagte sie und war schon auf dem Sprung. „Sarah, wir sind eine knappe Autostunde von Köln entfernt auf einer alten Burg. Der RTW müsste jeden Augenblick da sein. Ich sage dir, in welches Krankenhaus er kommt, sobald ich es weiß. Warte bitte zuhause, ich melde mich wieder!“ erklärte er. Nun hörte sie im Hintergrund ein undeutliches Geräusch und dann sagte Semir: „Sarah, Ben möchte dir etwas mitteilen, ich halte ihm gerade den Hörer an den Mund, aber erschrick nicht, er kann nicht so gut sprechen, so wie es aussieht, ist sein Kiefer gebrochen!“ erklärte er ihr und Sarah erschauerte bis ins Mark. Als sie genau hinhörte, konnte sie ein „Sarah, ich liebe dich!“ erahnen und dann wurde die Verbindung unterbrochen

  • Der RTW war inzwischen vorgefahren. Allerdings war kein Notarzt dabei, weil der noch mit den beim Autocrash verunfallten Personen ins lokale Krankenhaus unterwegs war. Allerdings war ein erfahrener Rettungsassistent an Bord, der den Ulmer Koffer, den standardisierten Rettungskoffer der Hilfsdienste mittrug, während sein Kollege den Monitor und das Sauerstoffgerät beförderte. Sie hatten über die Leitstelle schon erfahren, dass sie eine schwerverletzte Person vorfinden würden. Auf einen Blick erfasste der junge Mann, der sich mit „Maier“ vorstellte, die Situation. Die Frage: „Was ist denn passiert?“ die er üblicherweise in diesem Augenblick stellte, war unnötig, denn er konnte sofort erkennen, dass sein Patient übelst gefoltert worden war und starke Schmerzen hatte. Trotzdem fragte er Ben: „Wie heißen sie und wann ist ihr Geburtsdatum?“ um festzustellen, ob er ansprechbar und orientiert war. Zwar undeutlich und mühevoll, aber doch verständlich antwortete Ben, der seinen Kopf erschöpft in Semir´s Schoß ruhen hatte: „Ben Jäger!“ und auch die Frage nach seinem Geburtstag konnte er wahrheitsgemäß beantworten. Wenigstens die oberflächlichen Hautblutungen hatten dank Hartmuts zweckmäßiger Versorgung gestoppt werden können, so waren mehrere Verbandpäckchen um Ben´s Arme und Beine gewickelt, aber an dem langsam gerinnenden Blutsee, der auf und unter dem Tisch war konnte der Helfer erkennen, wie groß der Blutverlust der letzten Stunden gewesen war. Ganz abgesehen von den ganzen Verletzungen wirkte Ben völlig exsicciert, er hatte vermutlich schon lange nichts mehr zu trinken bekommen, obwohl ihn immer wieder Fieberschauer überliefen. Der Assistent hatte inzwischen den Monitor und das Sauerstoffgerät am Boden abgestellt und versuchte auf Ben´s Brust ein paar Stellen zu finden, an denen er die Monitorkleber befestigen konnte, die nicht blutig oder verbrannt waren. Auch das Anlegen des Blutdruckmessgeräts gestaltete sich schwierig.


    Ben´s Herzfrequenz war bei 120, also viel zu hoch, aber sein Organismus versuchte auf diese Weise den Volumenmangel zu kompensieren. Der Blutdruck war nur bei 70/ 40 mm/Hg, auch das hatte der junge Mann nicht anders erwartet. Er steckte eine Sauerstoffsonde in Ben´s Nase und drehte die Flasche ein wenig auf, das würde ihm gut tun! Nun begann er sich bezüglich der anderen Verletzungen zu orientieren, er drückte auch kurz auf den Bauch, ohne dass Ben Schmerzen dabei angab und als er den Blick auf den hochgelagerten Fuß geworfen hatte, zog er scharf zischend die Luft ein. Verdammt, der war kurz vorm Absterben, aber er sah momentan auch keine Möglichkeit, die festsitzende Eisenklammer ohne geeignetes Werkzeug zu entfernen. Die altertümliche Hose war ebenfalls schmutzig und blutdurchtränkt und so schnitt sein Kollege die auf sein Geheiß auf, wobei er sofort ein Tuch auf Ben´s Unterkörper legte. Aber schon auf den ersten Blick hatten die beiden Sanitäter erfasst, wie schwer diese Verletzungen waren und welche abartigen Schmerzen ihr Patient da aushalten musste.


    „Tut es am Rücken irgendwo weh?“ fragte der junge Mann Ben fürsorglich, „oder sind sie gestürzt?“ Ben verzog das Gesicht und nuschelte undeutlich: „Beides, ich war auch auf der Streckbank.“ und Semir musste die Gedanken an das Video im Augenblick streng aus seinen Gedanken verbannen, denn sonst würde er selber vor Mitleid in Tränen ausbrechen. Trotzdem drehten die beiden Männer Ben vorsichtig en bloc ein wenig zur Seite, man musste einfach wissen, wie weitreichend die Verletzungen waren, bevor man eine Therapie einleitete. Die aufgeplatzte Haut am Rücken hatte sich vielfach entzündet und der Eiter lief heraus. Überall war eine Art zäher Salbe zu entdecken, die aber die Entzündungen nur verschlimmert hatte. Als der Rettungsassistent allerdings die Wirbelsäule nach Frakturen abtastete, konnte er nichts entdecken und nachdem Ben auch Gefühl in den Beinen hatte, konnten sie einen Transport, zumindest in den Rettungswagen, wo die Lichtverhältnisse besser waren, verantworten.


    Der Sanitäter staute nacheinander Ben´s Arme, aber da waren überhaupt keine Venen zu tasten, verdammt, sie brauchten einen Zugang, um ihrem Patienten Flüssigkeit und Medikamente zuzuführen. Auch an den Beinen sah die Sache nicht besser aus. Am Hals war auf der einen Seite ein hochgradig infizierter Bissabdruck, da konnte man auch nichts legen und durch den Kieferbruch war die vena externa auf der anderen Seite auch nicht punktierbar. Jetzt war guter Rat teuer. Er würde natürlich versuchen, trotzdem einen Zugang irgendwo unterzubringen, aber dazu brauchten sie gutes Licht. Sie würden Ben jetzt, obwohl es eine erneute Tortur bedeuten würde, ohne Schmerzmittel zum Fahrzeug bringen müssen. Hoffentlich kam der Notarzt bald dazu, das würde eine größere Sache werden!

  • Eigentlich führte ein Tor vom Burghof nach draußen in den Vorhof, allerdings war das ein massives, großes Holztor und als Semir Hartmut bat, doch zu schauen, ob ein Schlüssel vom Schlüsselbund passen könnte, kam der gerade gleichzeitig mit dem SEK im Vorhof an. Der neutrale Bus mit den getönten, uneinsehbaren Scheiben öffnete sich und etwa 20 Kollegen sprangen schwarz vermummt, lautlos heraus. Der Leiter der Truppe erkannte Hartmut und fragte kurz: „Was genau ist los?“ denn er hatte zwar schon Informationen von der Zentrale, aber vor Ort sah so eine Situation oft ganz anders aus.


    „Wir haben sechs gewalttätige, zugedröhnte Personen, die gerade dabei waren, unseren Kollegen zu foltern, in einen Kellerraum eingesperrt, dort toben sie gerade rum und müssten jetzt von euch überwältigt und abgeführt werden!“ erklärte Hartmut, ohne seinen besonderen Part bei dieser Sache extra zu erwähnen. „Das wird zu schaffen sein-haben sie Schusswaffen, oder andere Waffen, soweit ihr gesehen habt?“ wollte der SEK-Beamte noch wissen und Hartmut erklärte: „Soweit ich mitgekriegt habe, nur Rasierklingen und scharfgeschliffene Fingernägel!“ woraufhin ihn der andere Beamte ein wenig verwundert ansah, sich aber eine Bemerkung verbiss. Hartmut lief mit dem Schlüsselbund voraus in den Burghof und zeigte seinen SEK-Kollegen den Kellerraum, vor dem immer noch die drei uniformierten Polizisten mit der Waffe im Anschlag standen. Während sich die SEK-Leute formierten und die uniformierten Polizisten sich zurückzogen, ging der Leiter der Truppe noch kurz zu Semir und Ben, die er schon lange kannte. Als er sah, wie Ben zugerichtet war, versteinerte einen Moment seine Miene. Mit weicher Stimme sagte er: „Gute Besserung Ben-wir verhaften jetzt die Typen, die dir das angetan haben, ich wünsch´ dir alles Gute!“ und damit zog er entschlossen seine schwarze Gesichtsmaske nach unten, trat zu seinen Männern und nickte. Einer der Männer holte ein Megaphon heraus und rief Richtung Kellertür: „Hier spricht das SEK-sie sind umstellt, kommen sie mit erhobenen Händen heraus und ergeben sie sich!“


    Die Freaks, die zuvor immer noch geschrien und getobt hatten, wurden nun doch still und als einer der Beamten den Schlüssel herumdrehte, kamen die sechs jungen Männer tatsächlich mit erhobenen Händen nacheinander heraus. Diese Übermacht der schwarzvermummten Gestalten mit Schusswesten und Helmen, die sich entschlossen vor der Tür aufgebaut hatten, schüchterte sie ein. Rechts und links im Abstand standen noch zwei Beamte mit dem Gewehr im Anschlag und so wurden einer nach dem anderen überwältigt, auf den Boden gedrückt und mit Kabelbindern die Hände auf dem Rücken fixiert. Als man sie wieder auf die Beine zog, schrie Hieronymus frech: „Das werden sie noch bereuen, mein Vater schickt uns die besten Anwälte, ihr könnt uns überhaupt nichts beweisen!“ aber bevor er sich versah, war er schon auf dem Weg zum Bus, mit dem sie zum nächstgelegenen Polizeirevier gebracht werden würden, um dort erkennungsdienstlich behandelt zu werden. Die anderen Freaks, die ja keinen so reichen Vater in der Hinterhand hatten, waren nun allerdings völlig verstummt und begannen zu zweifeln, ob der Videodreh so eine gute Idee gewesen war.


    Hartmut hatte inzwischen alle Schlüssel am Bund ausprobiert, aber keiner passte an das große Tor. „Wir tragen ihn mit dem Tragetuch zum RTW!“ beschloss nun der Rettungsassistent und sein Kollege holte dasselbe aus dem Fahrzeug. Ben hatte inzwischen die Augen geschlossen. Ihm war schwindlig, aber als Semir vorsichtig seinen Kopf hochnahm und vom Tisch rutschte, damit man das Tragetuch unterlegen konnte, riss er sie wieder auf und murmelte bittend: „Semir geh´ nicht weg!“ und der sagte schlicht: „Ich lass dich nicht alleine, Ben!“ Vorsichtig drehten sie ihn auf das Tuch und von allen Seiten sprangen Polizisten hinzu, die mit anfassten und die kostbare Fracht treppauf, treppab zum RTW trugen. Mitsamt Tuch wurde er auf die Trage gebettet und erst im hellen Licht im Rettungswagen sah man, wie schwer die Verletzungen wirklich waren. Semir durfte mit einsteigen und stellte sich ans Kopfende der Trage und legte seine Hand beruhigend auf Ben´s Schulter, während der Rettungsassistent nun erneut versuchte, einen Zugang zu legen. Es piekte hier und da, aber die Venen waren alle kollabiert, weil Ben´s Körper versuchte, seine lebenswichtigen Funktionen halbwegs aufrechtzuerhalten, wozu die Versorgung der Extremitäten nun einfach nicht gehörte.
    Der Sanitäter nahm nochmal Kontakt mit der Zentrale auf. „Wir brauchen dringend einen Notarzt!“ gab er durch und nach kurzer Zeit kam der Rückruf: „Der Notarzt hat inzwischen im Krankenhaus die Patienten übergeben und ist jetzt auf dem Weg zur Burg!“ und nun atmete der Rettungsassistent auf. Ihm war die Sache hier zu heiß, sein Patient brauchte dringend eine Infusion und natürlich gab es da Möglichkeiten, aber da hatte er doch lieber einen Arzt dabei.

  • Inzwischen war die Krüger bei der Burg angekommen. Überrascht stellte sie fest, dass der RTW noch im Hof stand, während ihr der SEK-Bus schon unten am Burgberg entgegengekommen war. Die Zentrale hatte sie verständigt, dass die Aktion erfolgreich abgeschlossen war, die sechs Täter verhaftet und die Spurensicherung nun unterwegs zur Burg war. Vorsichtig öffnete sie die hintere Tür und sah in dem grellen Licht Ben mit seinen ganzen Wunden da liegen, von denen sie leider nur zu gut wusste, wo die herstammten. „Wie geht´s ihm?“ wollte sie besorgt wissen, denn die ernsten Gesichter aller Insassen fielen ihr sofort auf. „Nicht so gut!“ antwortete Semir stellvertretend für die anderen. „Wir warten auf den Notarzt, er braucht dringend was gegen die Schmerzen!“ und wie zur Bestätigung stöhnte Ben gerade auf, weil er versucht hatte, sich ein wenig anders hinzulegen. „Ben, halten sie durch, das wird schon wieder!“ versuchte die Krüger ihn ebenfalls zu trösten, aber dann schloss der Sanitäter entschlossen die Tür von innen.


    Die Chefin ging nun durch die offenen Tore in die Burg und kam wenig später im Verließ an, wo Hartmut bereits begonnen hatte die Einrichtung näher unter die Lupe zu nehmen. „Wie zum Teufel haben sie es geschafft, zu zweit diese Übermacht auszuschalten? Und so wie´s aussieht, ist ihnen und Semir ja auch gar nichts passiert!“ wollte sie nun verwundert wissen. Hartmut grinste ein wenig und lief dann die paar Schritte, zu einem Haufen aus Rüstungsteilen, Tüchern und merkwürdigen Masken, die am Boden lagen. „Wollen sie es wirklich wissen?“ fragte er und als die Krüger nickte, befahl er: „Umdrehen!“ und sie machte folgsam, was er von ihr verlangte.
    Als sie sich auf sein Geheiß wieder zurückdrehte, sah sie die Gestalt vor sich erst fassungslos an, um dann in lautes Gelächter auszubrechen. „ Was ist denn das für eine Maskerade?“ wollte sie wissen und nun erklärte ihr Hartmut, dass die anderen Kostüme der Folterer, als er von oben aus dem Fenster gesehen hatte, ihm so bekannt vorgekommen waren. Als er kurz nachgedacht hatte, war ihm das interaktive Computerspiel „Dante´s Inferno“ eingefallen, das in der Szene gerade wahnsinnig gerne gespielt wurde. Da ging es darum, dass Dante, der Dichter, sich durch verschiedenen Höllen gemäß der literarischen Vorlage kämpfen musste, um möglichst viele Punkte zu erreichen. Seine Gegner waren die unterschiedlichsten teuflischen Fantasywesen und so eines hatte er eben versucht, nachzuspielen. Vom verstorbenen Burgherrn waren diese riesigen Hörner als Trophäe von irgendeiner Großwildjagd an der Wand gehängt, dazu eine afrikanische Gesichtsmaske, Teile einer Rüstung als Arm-und Beinverkleidung und zur Krönung ein Vorhang, den er von einem hohen Fenster gerissen hatte, als Umhang. Er zeigte der Krüger noch, wie er mit seinem Smartphone seine Stimme verzerrt hatte und wie er dabei mit einer Taschenlampe das Ganze noch wirkungsvoll beleuchtet hatte. „Die sind mir gefolgt, wie die Lämmlein!“ erzählte er und die Krüger sagte nur noch kopfschüttelnd: „Sie sind doch ein Teufelskerl!“, woraufhin Hartmut unter seiner Maske grinsen musste.


    Im RTW hatte sich inzwischen die hintere Türe wieder geöffnet, aber diesmal war es der Notarzt, der hereinkletterte. Ein PS-starkes Fahrzeug mit Fahrer stand im Burghof, das ihn mit Blaulicht an seinen neuen Einsatzort gebracht hatte. Auch er war zwar von der Zentrale informiert, dass er ein Folteropfer zu versorgen hatte, aber über das Ausmaß der verschiedensten Verletzungen auf den ersten Blick doch sehr erschrocken. Er schlüpfte in Einmalhandschuhe und der Rettungsassistent berichtete ihm, was er gefunden hatte und auch über seine frustranen Venenpunktionsversuche. „Das ist klar, dass sie da keinen Zugang reinbringen-ich schaue ihn mir noch kurz an und sie bereiten inzwischen eine ossäre Nadel vor!“ gab er dem Sanitäter vor und der nickte. Genau das hatte ihm auch vorgeschwebt, aber ohne vitale Indikation hätte er sich die nicht alleine zu legen getraut.

  • Zunächst aber untersuchte der Notarzt, der um die vierzig war, sich als Dr. Schindler vorstellte und große Kompetenz und Ruhe ausstrahlte, seinen Patienten von oben bis unten. Wie der Rettungsassistent begann er beim Kopf, leuchtete Ben in die Augen und suchte nach Verletzungen. Auch er fragte Ben etwas, nämlich nach dem heutigen Datum, was aber Ben ganz schön ins Schlingern brachte, weil er ja zwischendurch immer bewusstlos gewesen war und sein Zeitgefühl völlig verloren hatte. Die Fragen zur Person konnte er dann aber mühsam und undeutlich, aber richtig beantworten. Als der Arzt sein Kiefer betastete, schossen ihm gleich die Tränen in die Augen, so weh tat das. Als der Arzt versuchte, Ben´s Mund ein wenig zu öffnen, schrie er auf und der Doktor hörte auch sofort mit dem Versuch auf. „Ich hoffe, dass wir nicht intubieren müssen, infolge Kieferfraktur geht da durch den Mund nämlich gar nichts!“ bemerkte er und seine Blicke kreuzten sich mit denen des Rettungsassistenten, der den gleichen Gedanken gehabt hatte. Natürlich konnte man es blind durch die Nase versuchen, oder einen Luftröhrenschnitt vornehmen, allerdings würde das besser in der Klinik gemacht werden, denn da hatte man technisches Equipment dafür. So würden sie eher versuchen, Ben so weit zu stabilisieren, dass man ihn gefahrlos transportieren konnte, aber auf eine Intubation verzichten. Sicher wäre es für ihn schöner gewesen, einfach schlafen zu dürfen und vom Transport nichts mehr mitzubekommen, aber das ging nun einfach nicht.


    Der Arzt besah sich die frischen und alten Verletzungen am Oberkörper Die Blutungen hatten dank Hartmuts Druckverbänden aufgehört, aber auch so waren die vielfachen Wunden und vor allem die Verbrennung dritten Grades mittig auf der Brust, die teilweise verkohlt war, mit deutlichen Gewebezerstörungen in die Tiefe, deutlich zu sehen. Erst jetzt fiel Semir auf, dass die die Form eines S hatte-da würde sicher eine hässliche Narbe bleiben.
    Als der Arzt mit dem Oberkörper fertig war, nahm er mit einem Blick auf Semir das Tuch von Ben´s Unterleib. „Herr Jäger, ist das in Ordnung, dass ihr Freund dableibt, oder sollen wir ihn lieber rausschicken, wenn ich sie untenrum untersuche?“ fragte er, aber Ben schüttelte heftig den Kopf. „Nein, er soll dableiben!“ presste er zwischen den schmerzenden Kiefern hervor. Semir hatte ihn schon oft unbekleidet gesehen, sie waren zusammen in der Sauna gewesen, waren zusammen im Krankenhaus gelegen, da konnte er sein Schamgefühl gut hintan stellen. Allerdings war er dankbar, als Semir nach seiner Hand griff und ihn fest ansah. „Ich hab´ dir doch versprochen, dass ich dich nicht alleine lasse!“ sagte er schlicht und sah ihm fest in die Augen, während der Notarzt mit einigen Kompressen in die Tiefe ging und sich das Ausmaß der Genital-und Beckenbodenverletzung ansah, was Ben ein schmerzerfülltes Stöhnen entlockte. „Da muss dringend der Urologe ran, es ist alles voller Hämatome, verschwollen und infiziert!“ bemerkte er und deckte Ben, nachdem er noch auf den Bauch gedrückt hatte, wieder zu. Soweit er durch Tasten feststellen konnte, war die Blase zumindest nicht prall gefüllt-sonst hätte er sofort eine Urinableitung durch die Bauchdecke vornehmen müssen-denn auf normalem Weg konnte Ben unmöglich pinkeln, bei der Schwellung. So konnte man das auf die Klinik verschieben.


    „Wie ist seine Temperatur?“ fragte er den Rettungsassistenten und der antwortete: „39,2°C.“ und der Arzt nickte. Das hätte er auch in etwa geschätzt, so heiß, wie sich sein Patient anfühlte.
    Der Fuß, den man wieder höher gelagert hatte, erfüllte ihn mit Sorge. Einerseits musste die Eisenklammer dringend entfernt werden, andererseits würden dann massive Stoffwechselgifte in Ben´s Organismus anfluten, die ihrerseits wieder eine Schocksymptomatik hervorrufen würden. Als er die Wade betastete, konnte er auch die abgerissene Achillessehne diagnostizieren. Die musste ebenfalls genäht werden, aber das konnte man auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.
    Zuletzt drehte er Ben noch mit Hilfe seines Assistenten zur Seite und auch er war nicht besonders glücklich über die infizierten Wunden, die durch die zähe Salbe entstanden waren. „Wer hat denn da versucht, sie so unsachgemäß zu verarzten?“ fragte er Ben, während er ihn vorsichtig zurückgleiten ließ. „Das war Berghoff, mein Entführer!“ erklärte ihm der undeutlich und nun fiel Semir ein, dass er ja noch vergessen hatte, seinem Freund etwas mitzuteilen. „Ben, Berghoff ist tot, der ist auf der Flucht vor mir in seinem Fahrzeug verbrannt!“ erklärte er seinem Kollegen und der nickte stumm. Er konnte jetzt nicht sagen, dass er das traurig fand. Auch wenn Berghoff ihm gegenüber, außer mit dem Taser, nicht direkt brutal geworden war und ihn sogar ansatzweise versorgt hatte, so hatte der ihn doch durch eine List in seine Gewalt gebracht und den Folterern wie eine Ware zur Verfügung gestellt. Nein, er würde ihm keine Träne nachweinen-der hatte seine gerechte Strafe erhalten und vor allem, er konnte ihm nichts mehr antun! Und das war gerade sehr wichtig für ihn.


    Inzwischen hatte der Rettungsassistent eine kleine Akkubohrmaschine hergerichtet und dazu den steril verpackten Aufsatz mit der ossären Nadel. „Herr Jäger, ich lege ihnen jetzt ins Schienbein einen intraossären Zugang, darüber können wir ihnen Flüssigkeit und Medikamente zuführen und wenn ihr Kreislauf sich ein wenig erholt hat, bekommen sie im Krankenhaus dann einen zentralen Venenkatheter, aber fürs Erste müssen wir uns so behelfen!“ erklärte er und Semir und Ben nickten. Sie hatten bei ihren Erste- Hilfe-Pflichtfortbildungen schon mal gehört, dass es sowas gab, aber sich über die Technik der Anlage keine Gedanken gemacht.
    Der Arzt desinfizierte gründlich seine Hände und schlüpfte dann in sterile Handschuhe. Es war sehr wichtig, dass man gut desinfizierte und den Knochenzugang nach möglichst sterilen Kautelen legte, denn sonst konnte es da eine üble Osteomyelitis als Komplikation geben. Allerdings gab es bei Ben einfach keine Alternative und so strich der Arzt den Zugangsort am Schienbein, kurz unterhalb des Knies dreimal mit desinfektionsmittelgetränkten Tupfern gründlich ab. Er richtete sich noch ein kleines Ansatzschläuchlein mit Dreiwegehahn her, das er gleich mit steriler Kochsalzlösung, die ihm der Rettungsassistent anreichte, füllte. Den Rest in der Spritze legte zur späteren Testung bereit. Dann nahm er in die eine Hand, die nun unsteril werden durfte, die Spezialbohrmaschine und steckte das halbautomatische, steril verpackte System mit der anderen Hand, die steril blieb, auf. Als er nun testete, ob sich der Bohrer auch drehte, erschauerte Semir. Das war ja wie im Hobbykeller und überhaupt, das musste doch schweineweh tun, wenn man da ohne Betäubung sozusagen angebohrt wurde, aber erstaunlicherweise blieb Ben ganz ruhig, während sich der sterile Bohrer in sein Schienbein versenkte und verzog nur ein wenig das Gesicht. Als der Arzt mit der Tiefe des Bohrlochs zufrieden war, zog er den sterilen, dünnen Bohrer heraus und zurück blieb die ossäre Nadel, für die der Bohrer wie ein Mandrin gewirkt hatte. Der Arzt spritzte zu Testzwecken 7ml Kochsalzlösung im Schuss hinein, was Ben jetzt mehr weh tat, als die Bohrung, und als er zufrieden die optimale Lage festgestellt hatte, schloss er das Ansatzschläuchlein hinten an die Nadel an und der Rettungsassistent verklebte sie mit einem speziellen Pflaster, damit sie nicht herausrutschen konnte.
    Der Sanitäter hatte inzwischen die Infusion vorbereitet und auch gleich in einen Druckbeutel gesteckt. Nach dem Anschließen begann die lebensrettende Flüssigkeit in Ben zu laufen und der Arzt ließ sich nun auch gleich Fentanyl, ein Opiat geben. „Jetzt wird´s gleich besser!“ sagte er tröstend zu seinem Patienten und der schloss tatsächlich, kurz nachdem er das starke Schmerzmittel erhalten hatte, die Augen und gab sich dem Gefühl der Schwerelosigkeit hin, die ihn umfasste.


    Während der Sanitäter nach vorne auf den Fahrersitz ging und den Motor startete, wurde Ben noch auf der Trage festgeschnallt und auch Semir, der Rettungsassistent und der Notarzt legten den Gurt an. „So, jetzt müssen wir nur noch feststellen, wo es hingeht!“ sagte der Notarzt, während sich das große Fahrzeug schon vorsichtig in Bewegung setzte. „Wir brauchen eine Klinik die eine Urologie, Kieferchirurgie, Allgemein-und Orthopädische Chirurgie und einen Intensivplatz hat!“ erklärte er und nun sagte Semir: „Seine Freundin arbeitet in der Kölner Uniklinik und er wurde da auch schon mehrfach behandelt!“ und der Arzt nickte. „Das ist ein guter Vorschlag und in einem knappen Stündchen könnten wir auch da sein!“ überlegte er und rief gleich dort an. Als die Klinik die Aufnahmebereitschaft und ein freies Intensivbett bestätigte, stand das Ziel fest und nun machte sich der RTW mit Blaulicht auf den Weg über die nächtlichen Straßen Richtung Köln.

  • Semir griff nach einer Weile, in der er Ben beobachtet hatte, der nun mit geschlossenen Augen, aber immer noch schwer atmend vor ihm lag, nach seinem Telefon. „Darf ich?“ fragte er den Notarzt und der sagte: „Natürlich!“ woraufhin Semir Sarah´s Nummer wählte. Die war sofort am Apparat und wartete schon gefühlte Stunden auf eine Nachricht Semir´s. „Wo seid ihr und wie geht´s ihm?“ fragte sie bang. „Sarah, wir sind auf dem Weg in die Kölner Uniklinik, das könnte aber noch 45 Minuten dauern, wir sind eben erst losgefahren!“ erklärte ihr Semir. „Ist, ist er bei Bewusstsein?“ fragte Ben´s Freundin. Nach einem kurzen Blick auf seinen Freund antwortete Semir: „Na, wie man´s nimmt!“ und das konnte alles und nichts bedeuten.


    Natürlich war Sarah klar, dass in Deutschland, anders als in Amerika das Rettungswesen so organisiert war, dass die Patienten vor Ort erst mal ordentlich versorgt und dann in die Klinik transportiert wurden. Das konnte schon mal dauern, aber trotzdem machte sie sich sofort auf den Weg zu ihrer Arbeitsstelle und nervte das Personal der Notaufnahme, weil sie ständig hin-und herlief und alle 30 Sekunden auf die Uhr sah.
    Man hatte ihr ja nicht näher gesagt, was mit Ben geschehen war, bisher wusste sie nur von dem Kieferbruch. Endlich bog der RTW in die Einfahrt des Krankenhauses ein. Man hatte Ben auf der Fahrt bisher eineinhalb Liter Flüssigkeit zukommen lassen-mehr passte nicht durch die intraossäre Nadel und das Schmerzmittel wirkte zwar noch, aber er war jetzt wacher als bei er Abfahrt. Als das Fahrzeug ausrollte, wollte er wissen: „Wo sind wir?“ denn er hatte vorhin nicht zugehört-zu schlecht war es ihm gegangen, als sie losgefahren waren. „Wir sind in der Kölner Uniklinik, da kennen sie dich bereits-und Sarah wartet sicher schon auf dich!“ erklärte ihm Semir und Ben nickte. Obwohl es ja inzwischen weit nach Mitternacht war, legte der Rettungsassistent eine dünne Decke über seinen Patienten, um ihn vor neugierigen Blicken zu schützen. Als die hinteren Türen aufgingen und der Sanitäter und der Rettungsassistent die fahrbare Trage heraus rollten, war Sarah nicht mehr zu halten. Sie stürmte an Semir vorbei, der gerade aussteigen wollte und kletterte in den RTW. Der Notarzt sah sie verwundert an: „Immer langsam mit den jungen Pferden!“ sagte er besänftigend und wunderte sich, dass man Angehörigen Zutritt zu diesem Teil der Notaufnahme gewährt hatte. Allerdings sagte Semir schnell: „Seine Freundin ist hier im Haus doch Intensivschwester!“ und das erklärte alles.


    Ben hatte die Augen geöffnet und als Sarah nun in sein Blickfeld trat, zog ein Lächeln, soweit das mit dem gebrochenen Kiefer überhaupt möglich war, über sein Gesicht. Seine Sarah war da, sein Freund war neben ihm, jetzt war egal, was die mit ihm anstellten, die würden gemeinsam auf ihn aufpassen. Endlich konnte er sich ein wenig fallen lassen. Der Notarzt hielt die Infusion im Druckbeutel hoch und achtete darauf, dass die ossäre Nadel nicht herausrutschte. Sarah war gleich klar, als sie diesen speziellen Notfallzugang sah, wie schlecht es Ben gehen musste. Er hatte sonst Venen wie Wasserleitungen und wenn sich die nicht mehr punktieren ließen, dann war seine Kreislaufsituation sicher völlig am Boden.
    Man rollte ihn in einen Behandlungsraum und als der diensthabende Arzt in der Notaufnahme den ganzen Diagnosen lauschte, die der Notarzt gestellt hatte und ihm jetzt übergab, wurde sein Gesicht lang und länger. „Da haben wir ja mehrere Baustellen!“ sagte er und bat dann darum, dass man Ben auf die Liege in der Notaufnahme umlagerte. Als der Rettungsassistent nun die Decke wegnahm, konnte Sarah nur völlig entsetzt auf den geschundenen Körper ihres Freundes blicken. Dass der mit diesen hochschmerzhaften Verletzungen überhaupt noch lächeln konnte, war ihr völlig schleierhaft und beinahe wären ihr vor Mitleid die Tränen gekommen. Nun schluckte sie allerdings trocken und versuchte ihren professionellen Blick einzusetzen und ruhig zu bleiben, denn alles andere hätte Ben nur beunruhigt und evtl. dafür gesorgt, dass sie rausgeschickt wurde.


    Obwohl ja das Opiat noch wirkte und alle Beteiligten sehr vorsichtig waren, als sie ihn mit dem Tragetuch hinüberzogen, musste Ben nun doch aufstöhnen. Man drehte ihn auch gleich noch zur Seite, erstens um die Rückseite zu beurteilen und zweitens, um das inzwischen verschwitzte Tragetuch unter ihm herauszunehmen und so konnte Sarah auch diese eiternden Verletzungen sehen. Als man ihn wieder zurückdrehte und der Aufnahmearzt nun begann, sich selbst ein Bild von seinem neuen Patienten zu machen, während sich die Rettungskräfte nun verabschiedeten, musste Sarah sehr um ihre Fassung kämpfen. Was um Himmels Willen hatte man mit Ben nur angestellt und wer war dafür verantwortlich?

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