Auferstanden

  • Kevins Wohnung – 19:00 Uhr

    Zum ersten Mal nach Jahren hatte Kevin eine Nacht ohne Alptraum überstanden. Das Einzige, was er träumte und zuerst dachte, es sei real war die Begegnung mit Janine. Sonst schlief er fest ohne noch einmal aufzuwachen, bis ihn der Klingelton seines Handys störte. Seine Augen blinzelten, und er murmelte unfreundliche Wörter, als sich seine Augen langsam an die Umgebunsghelligkeit gewöhnten und er sich langsam aufrichtete. Er lag noch mit den Kleidern im Bett, und jetzt plötzlich spürte er doch den ein oder anderen Schmerz in den Knochen. Murrend nahm er sein Handy zur Hand und wischte über das „Abheben“-Symbol. „Was’n?“, meldete er sich mit verschlafener Stimmlage. „Hey, hier ist Ben. Ist alles okay bei dir?“ Ben hatte den ganzen Tag am Abschlussbericht gearbeitet, Semir kam am Nachmittag dazu. Irgendwie hatte ihn die innere Unruhe nun doch dazu gedrängt bei Kevin mal nachzuhören, ob alles okay ist, vor allem als er sich an den schlimmen Zustand von vor zwei Tagen zurück erinnerte. Er wollte dem jungen Polizisten nicht das Gefühl geben, alleine zu sein. „Hmm, ja… alles okay.“, murmelte Kevin und rieb sich mit einer Hand in den Augen, was Ben freilich nicht sehen konnte. Er hörte nur das Gemurmel, und sein Magen zog sich ein wenig enger zusammen. „Wirklich? Du hörst dich so…“, besoffen an, wollte Ben den Satz beenden, doch er schluckte es runter. „Ich hab grade geschlafen.“, erwiederte sein Telefonpartner, und bemerkte langsam, auf was Ben hinaus wollte. „Außerdem hab ich gar nix mehr im Haus. Okay?“ Ben fühlte sich ertappt: „Ähm… ja… super, dann ist ja gut. Du, sollen wir heute abend noch was unternehmen, unseren Ermittlungserfolg feiern? Billard spielen, oder so?“ Kevin dachte kurz nach, und erstaunlicherweise sagte sein Kopf sofort zu. Er fühlte sich, von den Schmerzen abgesehen, plötzlich befreiter. War das nur dieser merkwürdige Traum? Die Geschichte gestern endlich mal komplett von A bis Z jemandem erzählt zu haben? Oder half es seiner Seele doch, dass Becker tot war. „Hmm, ja warum nicht? Okay. Holt ihr mich ab?“ Ben war auf der anderen Seite der Leitung angenehm überrascht über die schnelle Zusage seines Kollegen. Er hatte mit schlechter Laune, Müdigkeit und dahin eingehende Absage gerechnet, er hatte damit gerechnet dass Kevin sich weiter in sein Schneckenhaus verkriechen würde. Aber so freute er sich darauf, dass Kevin ihm und Semir Gesellschaft leisten würde. André hatte abgesagt, er hatte kurzfristig einen Flieger für morgen früh bekommen, und wollte noch die restlichen Sachen packen… er würde morgen früh noch kurz auf der Dienststelle vorbeikommen. „Wir sind so um 9 Uhr bei dir. Bis dann.“, antwortete der Kommissar in der Autobahndienststelle und legte auf.

    Kevin legte das Handy beiseite, und ging mit langsamen Schritten ins Badezimmer. Den Drogenmix letzter Nacht hatte er fast verdaut, ein Vorteil wenn man allerlei Scheiß gewöhnt war. Er schaute in den Spiegel und sah in sein recht ramponiertes Gesicht. Ein Schnitt in der Unterlippe, ein Cut auf der Wange und eines über der rechten Augenbraue. Dazu eine rot-violette Schwellung am Unterkiefer. Nein, er sah nicht unbedingt gut aus, dachte er sich selbst als er sich auszog und unter die Dusche stellte. Aber etwas anderes war ihm aufgefallen… die dunklen Ränder unter seinen Augen waren verschwunden. Oder waren sie in dem violet-rot verziertem Gesicht nicht aufgefallen?
    Auch sein restlicher Körper war übersät mit blauen Flecken, über die er nun lauwarmes Wasser laufen ließ. Doch irgendwie fühlte er sich nicht schlecht… zum ersten Mal nach langer Zeit. Er spürte nicht die Anspannung, nicht diesen Druck als würde Janine ihm über die Schulter schauen, um zu sehen dass er endlich ihren Mörder finden würde. Ihr unsichtbarer Geist drängte ihn nicht dazu, und gab ihm nicht dieses Gefühl, wieder versagt zu haben, wenn er ihn am Ende des Tages noch nicht gefunden hatte. Sein Leben fühlte sich ein wenig leichter an, ein bisschen zumindest.
    Kevin stand bestimmt 20 Minuten unter dem lauwarmen Wasserstrahl, als er endlich aus der Duschkabine stieg. Er legte sich ein Handtuch um die Hüfte und begann sich abzutrocknen. Gedanken gingen dem jungen Polizisten durch den Kopf, Gedanken die er zum ersten Mal hatte… verdammt, war diese Bude ungemütlich, dachte er sich als er durch die offene Tür ins Wohnzimmer sah. Durch die Verbindungstür ging es ins Schlafzimmer, wo der Kommissar sich frische Kleider aus dem Schrank nahm. Eine hellblaue Jeans, die an einigen Stellen kaputt war, ein frisches weißes T-Shirt und seine schwarze Kapuzen-Weste. Die halbfeuchten abstehenden Haare wurden mit etwas Haargel endgültig unbändig gemacht.

    Bevor ihn seine Kollegen abholten ging Kevin noch schnell in sein Schlafzimmer. Er kniete sich auf den Boden und klaubte die kleinen pinken Pillen wieder ins Röhrchen zusammen. Mit einem leisen Plop drückte er den Deckel drauf und war bereits auf dem Weg zum Mülleimer… doch ein Gefühl hielt ihn zurück. ‚Was, wenn er sie doch nochmal brauchen würde… was wenn der Dämon nochmal zurückkommt?` Kevin würde dann, ohne seine kleinen Hilfsmitteln kaputt gehen. Er stand über dem geöffneten Mülleimer und hätte nur noch die Hand öffnen müssen, dann wären die Pillen hineingefallen, doch etwas hielt ihn zurück.


    Vor Kevins Wohnung – 20:50 Uhr

    „Willst du nicht Kevin mal ein wenig Kapital überlassen, dass der sich mal ne anständige Wohnung leisten kann?“, witzelte Semir in Richtung seines, finanziell recht unabhängigen, Partners als er einen Blick auf die spärlich beleuchtete Plattenbausiedlung warf. „Ich glaube, Kevin braucht das ein bisschen.“, überlegte Ben laut während die beiden Autobahnpolizisten auf ihren Kollegen warteten. Auch Semir hatte sich gefreut, dass Kevin die Einladung heute abend annahm. Ihm war, abgesehen während des Gespräches mit André, die gruselige Szene im Keller nicht mehr aus dem Kopf gegangen… als Becker Kevins Kopf dicht an ihn heranzog, und zischend Kevin das Bild vor Augen malte, wie er gerade seine Schwester missbrauchte und bestialisch umbrachte. Semir hatte es schon mit vielen Verbrechern zu tun, Leuten, die grausige Taten begingen… aber er hatte es nie miterlebt, wie makaber ein Verbrecher mit einem Opfer, das Kevin in dem Falle war, umging. Ohne dem Kommissar körperliche Schmerzen zuzufügen war es wohl die schlimmste Folter, die er Kevin in diesem Moment antun konnte. Semir fühlte sich als Ältester der Truppe verantwortlich, mit seinem Kollegen darüber zu reden… vielleicht heute abend, wenn sie mal für einen Moment alleine waren. Ihm war es nicht bewusst, dass er von den dreien derjenige war, der eigentlich am wenigsten über Kevins Leben wusste. Ben wusste zumindest von Problemen, von dem seltsamen Brief, André wusste alles. „Wie meinst du das“, kam er nun dazu, auf Bens kurzen Satz zu reagieren. Der jüngere Kommissar musste kurz nachdenken, um nichts von seinem Geheimnis Kevin gegenüber preiszugeben. „Naja… ich denke einfach, Kevin ist nicht der Typ für irgendein Penthouse, oder so.“, meinte er grinsend. „Zwischen nem Penthouse und dieser Bruchbude wird’s ja noch nen Unterschied geben, oder?“ fragte Semir sarkastisch. Ben trommelte nervös auf dem Lenkrad herum, ihm brannte es ein wenig unter den Nägeln. Er hatte nicht gerne Geheimnisse vor Semir und auch ihm wäre es viel angenehmer, wenn Kevin auch seinen türkischen Kollegen in seine Geheimniswelt miteinbezog. Doch das sollte nicht das vordergründige Ziel des Abends sein. Sie wollten vor allem ein Auge auf Kevin haben, dass er keine Dummheiten machte… und Ben beruhigte sich etwas, als er den jungen Kommissar mit schnellen und dynamischen Schritten aus der Haustür in Richtung des Autos gehen sah.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Kneipe – 21:45 Uhr

    Drei Bier standen auf dem kleinen Ecktisch, das konstante Geräusch von einigen Leuten, die miteinander redeten und versuchten gegen die mittellaute Musik anzukämpfen war zu vernehmen, genauso wie das zielsichere „Klack“, wenn die weißte Billiardkugel auf eine der farbigen traf. Es stellte sich schnell heraus, dass Kevin und Ben im Billiard Semir Welten voraus waren, und so durfte der kleine Türke immer jeweils zu einem der beiden ins Team, was mehr Behinderung als Hilfe war. Trotzdem hatten die drei ihren Spaß, redeten viel und rissen den ein oder anderen Witz. Auch Kevin fühlte sich recht wohl, der Schlaf hatte ihm gut getan, sein Bier schmeckte ihm und er verschwendete keinen Gedanken daran, dass er seine Pillen nicht weggeworfen hatte. Trotzdem brannte ihm etwas Unwohles auf der Brust, etwas was ihn an diesem guten Abend nicht in Ruhe ließ. Er hörte Andrés Worte in seinem Kopf, die ihm sagten, dass er Semir vertrauen könnte… sein Problem, seine Sorgen. Sie waren ja nun bald keine Kollegen mehr, aber Semir und vor allem auch Ben hatten sich für Kevin in dieser kurzen Zeit, Semir ja bereits beim Fall vorher schon, zu Freunden entwickelt. Beide wussten nichts genaues von Kevins krimineller Vergangenheit, beide wussten nichts von seinem bestehenden Drogenproblem, und je länger der Abend dauerte, desto schwerer wog der Gedanke, den beiden reinen Wein einzuschenken.

    Als könne Semir Gedanken lesen, schien er seinem Kurzzeit-Partner auf die Sprünge helfen zu wollen. „Ich wollte mal noch fragen, wie du eigentlich zu Andrés Kampfsportgruppe gekommen bist.“, meinte er kurz nachdem sie das vierte Spiel beendet hatten, und Kevin dabei war die Kugeln neu aufzuteilen. „Du hattest von einer Drogenzeit gesprochen.“ Es war wie ein Zufall oder eine Fügung, ein Gedanke oder eine unsichtbare Verbindung der Gedankenwelten. Jedenfalls für Kevin ein optimaler Zeitpunkt, sich seinen Kollegen ein wenig zu öffnen, ihnen das Vertrauen zu zeigen was er heute Morgen André gezeigt hatte. „Ich war in einer Straßengang damals und war LSD-abhängig.“, war seine kurze Antwort. Ben sah Kevin von der Seite an, nicht schockiert aber mit ernstem Gesicht. In seinem Magen breitete sich ein wenig ein ungutes Gefühl aus, als würde er ahnen dass da noch mehr kam. Semir nickte erst nachdenklich und lächelte dann. „Ich war auch in einer Gang als Teenager. Nur waren Drogen bei uns nie ein Thema, wir hatten uns eher auf Autoradios spezialisiert in Kalk.“, meinte er und zwinkerte Kevin zu, der kurz lächelte und dann wieder ernst wurde. „Ich war in allem drin… und ich hatte Glück dass nie was rauskam, sonst wäre ich heute kein Polizist.“ Diesmal verschwand Semirs Lächeln und er sah Kevin an. Er selbst wusste, dass seine Autoknacker-Karriere mit 14 endete, und sich um solche Bagatellen niemand scherte. Was aber Kevin auf dem Kerbholz zu haben schien, schien ein wenig mehr zu sein. „So schlimm?“, fragte er nach, eher väterlich als vorwurfsvoll. Der junge Kollege nickte, nahm sein Bier in die Hand und trank einen Schluck. Er und Ben lehnten sich neben Semir an den Billardtisch, etwas enger beisammen als vorher. Der Kommissar mit dem Wuschelkopf blieb stumm und ahnte, dass Kevin vor hatte, so etwas wie ein „Geständnis“ zu machen, zumindest ein wenig seiner, manchmal geheimnisvollen Vergangenheit zu erzählen. „Ich hab gedealt.“, begann Kevin und zählte mit den Fingern auf. „Ich hab dreimal im Rausch, zweimal nüchtern mindestens schwere Körperverletzung begangen.“ Kevin fühlte sich ein wenig unwohl, und er war gewiss nicht stolz auf seine Taten… er befürchtete auch immer noch ein wenig, dass seine beiden Kollegen ihn in irgendeiner Form verurteilen würden, denn er hatte sein Taten schließlich nie abgesessen. Die Reaktion konnte er erstmal nicht deuten, es schien eine Art Erstaunen zu sein, mit dem sie Kevin entgegneten. „Kleinere Einbrüche und Diebstähle… und“ auf den letzten Teil hätte Kevin gerne verzichtet, den er schaute kurz zu Boden. „Naja… ein Richter würde es wohl als Totschlag deuten.“ Nun wurden Semirs Augen endgültig größer und Ben entglitt nur ein kurzer „Scheiße…“. Das waren doch Infos, bei denen ein Polizist eigentlich verpflichtet war, zu handeln, vor allem gegen einen Kollegen. Doch das kamen gerade weder Semir noch Ben in den Sinn. „Was ist passiert?“, fragte der türkische Polizist mit ernstem Blick und verschränkte die Arme vor der Brust, während Kevin sie neben sich auf den Billardtisch stützte. „Ich hab damals geboxt, und es war nicht unüblich, dass einer der Kämpfer, oder beide Drogen genommen hatten vor dem Kampf.“ Entgegen seiner Erzählungen über seine Schwester schaute Kevin diesmal beide Kommissare fest an. Ben erinnerte sich daran, dass er es in seiner Wohnung nicht schaffte, dem Kommissar in die Augen zu sehen, während er ihm seine Geschichte erzählte. „Naja, der Kampf war recht ungleich, der Typ hatte keine Chance. Wir hatten ja keine Ringrichter oder so, es wurde geboxt bis einer nicht mehr konnte. Und ich war damals so vollgepumpt dass ich nicht merkte, dass der Kerl eigentlich nicht mehr konnte, und nur noch durch pure Willenskraft auf den Beinen stand.“ Als ihm von heute Morgen bewusst wurde, wer dieser Kerl war, nämlich Beckers Bruder, schaute Kevin plötzlich sofort wieder geradeaus, und Ben bemerkte es. „Wer war der Typ?“, fragte er, wie aus der Pistole geschossen obwohl es zuerst nur ein Gedanke in seinem Kopf war. „Es war Beckers Bruder.“ Obwohl der konstante Lärmpegel nicht abebbte, kam es den drei Polizisten so vor, als wäre auf einmal die gesamte Kneipe mucksmäuschenstill. Kevin sah die beiden Kommissare ernst an, die kurz sich und dann wieder Kevin ansahen, der ein wenig den Kopf schüttelte. „Ich denke, ohne seine Drogen wäre er nicht gestorben. Ich… ich glaube ich konnte nichts für seinen Tod.“ Völlig überzeugt war Kevin nicht. Diese Alpträume würde er wohl ebenfalls niemals los werden, auch wenn später der Tod seiner Schwester diesen Alptraum verdrängt hatte. Semir atmete tief aus und auch Ben war ein wenig überfahren ob dieser Situation. „Ihr werdet keinem etwas erzählen?“, sagte Kevin in einer Mischung aus Bitte, Frage und Verlangen und sah die beiden Männer neben ihm fest an, die sich erneut kurz fragend ansahen. „Naja… ich meine, Nein. Natürlich nicht.“, meinte Semir nach kurzem Überlegen, doch ganz überzeugend war er nicht. Es ging so vieles in dieser Stadt vor sich, was sie nicht wussten… das waren eben Dinge, die nicht herauskamen weil solche Gangs eben dichthielten. Da ging jemand beim Boxen hops, das war einer der zigtausend Drogentoten in Deutschland. „Nein, tun wir nicht.“, wiederholte er nochmal deutlicher, und überzeugter und auch Ben stimmte mit ein. „Bestimmt nicht.“ „Danke…“, meinte Kevin ein wenig leiser, schaute auf den Boden und schien sich den endgültigen Ruck zu geben. Semir schaute, ein wenig besorgt, und Kevins Blick hielt ihn davon ab, sich wieder dem Spiel zu zuwenden. Er spürte, da kam noch was, das war noch nicht alles. Der junge Kommissar schien auf dem Boden der Kneipe für kurze Zeit Wörter zu suchen, mit denen er den nächsten Satz baute, der wohl alles in Ben’s und Semir’s Kopf, was sie über Kevin wussten, zum Zusammenstürzen bringen würde. Der coole Bulle, der zwar in seiner Jugendzeit Scheiße gebaut hatte, einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen musste, der ihn mitnahm aber nicht kaputtmachte… Kevin sah auf. Er blickte beide mit festem Blick an, und obwohl er vorher nicht angekündigt hatte, noch etwas beichten zu wollen, sahen sie ihn erwartungsvoll an. Eine Kommunikation mit Blicken hatte es ihnen verraten. „Ich nehme immer noch Drogen.“, sagte Kevin in die Musik.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • Kneipe – 23:00 Uhr


    Es kam den drei Beamten so vor, als könne man in der Kneipe, in der nach wie vor Musik lief, eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Semir und Ben hatten die Umgebungsgeräusche komplett weggeblendet, sahen nur Kevin an, der ihnen gerade mit 5 Wörtern jegliche Grundlage ihres eigenen Bildes über den gewöhnungsbedürftigen Kommissars genommen hatte. Ben war vordergründig am Überlegen welche Konsequenzen das für ihn hatte, für Kevin hatte, wenn er dieses Geheimnis für sich behielt und Semir musste kurzzeitig an seinen Ex-Partner Chris Ritter denken, der ebenfalls für kurze Zeit nach einem Einsatz drogenabhängig war.
    Kevin hielt den Blicken der beiden nicht lange stand. Ohne weitere Erklärung nahm er seinen Queue und stieß die weiße Kugel in das bunte Dreieck, so dass die Kugeln wild auseinanderstoben und zwei volle Kugeln sofort in den Taschen verschwanden. Ben erinnerte sich an den Morgen zurück, als er Kevin aufweckte, als er davon ausging dass der junge Kommissar sich nur betrunken hatte. "Als ich dich in deiner Wohnung geweckt hatte, hattest du da...?", fragte er vorsichtig, und Kevin nickte sofort. Der Polizist sah seinen Partner Semir ein wenig hilfesuchend an, der gerade auch nach den richtigen Worten suchte. Er wollte Kevin jetzt nicht verteufeln, er wollte nicht wie ein strenger Vater sofort Therapievorschläge unterbreiten... er wollte Kevin verstehen. "Denkst du, es war wegen deiner Schwester.", fragte er bemüht einfühlsam über den Billardtisch hinweg, als Kevin den zweiten Stoß ansetzte, und den Anschein machte, Semir erstmal gar nicht gehört zu haben. Ein Stoß, und die nächste volle Kugel verschwand in der Seitentasche. "Kevin?", hakte der türkische Kommissar nochmal nach, als dieser endlich aufblickte, Semir mit seinen stechend blauen Augen ansah und nickte. Der Verlust seiner Schwester, das Aufladen der Schuld hatte ihn zurück in die Drogenhölle geführt, der Dämon quälte ihn zu heftig und war zu zerstörerisch. "Dann ist es jetzt vorbei?", wollte Semir wissen, der unbedingt erfahren wollte in welchem Zustand Kevin jetzt nach dem Selbstmord von Becker war. So wie er sich gerade jetzt gab schien es ihm besser zu gehen als noch vor Tagen. "Ich weiß es nicht...", sagte Kevin monoton. Heute morgen konnte er widerstehen, doch das konnte er vorher manchmal auch. Als er wochenlang nichts genommen hatte, um zur Polizei zu kommen, oder als er mit eisernem Willen das kleine Päkchen in seiner Manteltasche nicht anrührte, was er in der Wohung der drei Studentinnen gefunden hatte.


    Mit einem Blick und einem leichten Kopfschütteln bedachte Semir an Ben, heute über das Thema nicht mehr zu sprechen. Ben nickte, nahm seinen Queue und war seinerseits an der Reihe. Die beiden schwörten diesmal nicht gegenüber Kevin, Stillschweigen zu bewahren, sie erwähnten nicht die Chefin oder sonst etwas. Der erfahrene Polizist hatte den Eindruck, dass er mit Schweigen Kevin mehr half, als mit Reden, Ratschlägen und sonstigem.
    Der Abend nahm seinen Lauf, auch wenn die Stimmung nicht mehr ganz so fröhlich war wie zu Beginn. Kevin erzählte noch kurz davon, dass er wohl nicht mehr alzu lange bei der Mordkommission bleiben wolle, insgeheim war er nur mit dem Ziel da, eventuell den Mörder von Janine zu schnappen, wenn ein ähnlicher Mord passieren würde. Ausgerechnet bei der Autobahnpolizei hatte es nun geklappt. "Und was willst du danach machen?", fragte Ben interessiert, der hoffte, nach Andrés Absage zumindest Kevin für die Autobahnpolizei zu gewinnen. Kevin lächelte und zuckte mit den Schultern: "Weiß ich noch nicht. Mal sehen."


    Gegen 1 Uhr nachts trennten sich die Wege. Alle drei begaben sich zu Fuß auf den Nachhauseweg, weil alle etwas getrunken hatten. Während Ben und Semir auf direktem Wege nach Hause gingen, nahm Kevin einen Umweg über den Friedhof, wo er eine Stunde vor dem Grab seiner Schwester im Schneidersitz auf dem eiskalten Boden saß, und ihr von den letzten Tagen erzählte. Und er sich entschuldigte...



    Dienststelle - 8:00 Uhr


    Trotz Müdigkeit aufgrund der recht späten Heimkehr waren alle drei Polizisten am Morgen pünktlich in der Dienststelle. Kevin reichte der Chefin zum zweiten Mal zum Abschied die Hand, nachdem er damals bereist für Ben ausgeholfen hatte und Semir unterstützte. Völlig ahnungslos seiner Hintergründe sagte die Chefin zu ihm: "Ich würde mich freuen, noch öfters mit ihnen zusammen zu arbeiten." Semir schluckte den bitteren Geschmack der gestrigen Beichte hinunter. Danach wandte sich die Chefin zu André, der ebenfalls da war um sich zu verabschieden. In 2 Stunden würde sein Flieger in Richtung Mallorca abheben, das Gepäck hatte er im Auto und er würde gleich Richtung Flughafen aufbrechen. Sie reichte ihm die Hand und lächelte. "Schön, dass wir die Chance haben, uns gesund zu verabschieden.", meinte sie im Hinblick auf sein damaliges Verschwinden. "Danke, Frau Engelhardt.", meinte André lächelnd, der immer ein gutes Verhältnis zu seiner Chefin hatte.
    Danach machte der großgewachsene Polizist nochmal die Runde, schüttelte Bonrath und Herzberger die Hand, die ebenfalls froh waren, dass sie ihren damaligen Kollegen nun gesund und munter wussten. Bonrath hielt Semir noch an, als André zu Andrea ging. "Du Semir, da ist eben ein DIN-A4 großer Umschlag persönlich an dich adressiert gekommen. Ich hab ihn auf deinen Schreibtisch gelegt." "Alles klar, ich guck später nach.", gab der türkische Kommissar zur Antwort und hatte die Information schnell wieder verdrängt.
    André nahm Andrea in die Arme, sie drückte ihm einen Kuss auf die kratzige Wange. "Danke, dass du dein Versprechen gehalten hast.", sagte sie leise und war sehr froh, dass sie sich damals nicht in ihm getäuscht hatte, dass er auf der richtigen Seite stehen würde. "Machs gut... pass mir auf auf den kleinen Gurkenkopf auf.", sagte André lächelnd, als die beiden sich losließen und er Semir zu zwinkerte. Zuletzt schüttelte der große ehemalige Polizist Ben und Kevin die Hände, bevor er sich mit einem kräftigen Händedruck bei Semir verabschiedete. Er wollte Semir nicht umarmen, und der verstand dies, den er kannte seinen Freund. So etwas war für André eine Ausnahme, die er ihm gezeigt hatte, als sie alleine waren, und er wusste dies wert zu schätzen. "Pass auf dich auf, Semir.", meinte er mit seinem typischen Lächeln. "Du auch, André." gab Semir zurück, bevor der, von den Toten auferstandene Polizist, die PAST verließ und sich auf den Weg zum Flughafen machte.

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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  • Dienststelle - 9:30 Uhr

    André war weg und Semir trauerte diesen Tagen doch ein wenig hinterher. So schnell war die Zeitspanne zwischen unerwartetem Wiedersehen und schnellem erneuten Abschied verflogen, soviel war dazwischen passiert so dass der türkische Kommissar das Gefühl hatte, er hätte sich gar nicht mal mit André unterhalten können wie früher. Doch eigentlich hatten sie es ja getan, eigentlich hatten sie Zeit füreinander gehabt.
    Semir war mit den Gedanken soweit weg, dass er in den Bericht am Computer dauernd Schreibfehler einbaute, auf die ihn Ben und Kevin, die hinter ihm saßen und den Bericht mitgestalten sollten, dauernd hinwiesen. Natürlich ließen sie Kevins Zustand weg und die Einzelheit, dass er kurz davor war, Becker eiskalt zu erschießen und damit Bens Leben zu gefährden. Im Bericht stand, dass Kevin sofort in Notwehr auf Kerler geschossen hatte und Becker unmittelbar danach vom Dach stürzte. Dem jungen Polizisten war zwar etwas mulmig zu Mute, aber Ben beruhigte ihn, dass das das Beste für seine Situation wäre. Kevin befürchtete an diesem Morgen sowieso, dass Semir und Ben ihn nochmal auf sein Drogenproblem ansprechen würden, mit etwas Abstand zum gestrigen Abend bereute er es fast schon wieder, alles gestanden zu haben. Er hätte versucht aus dem Sumpf zu kommen, jetzt nach dem es ihm ein wenig besser ging, und niemand, ausser André, hätte etwas bemerkt. Doch nun war es raus, er hatte alles erzählt, Semir und Ben wussten Bescheid. Er hoffte, dass er den beiden Polizisten wirklich vertrauen konnte...

    Anderthalb Stunden nachdem André sich verabschiedet hatte, waren die drei Kommisare mit ihrem Bericht fertig. "Damit wird die Abteilung für Organisierte Kriminalität einen ordentlichen Schlag gegen Horns Männer vorbereiten können.", meinte Ben zufrieden und Semir nickte. "Ich hätte mir nicht Träumen lassen, dass mich dieser Fall nochmal einholt.", murmelte er und sah seine beiden Kollegen an. "Und dass André noch lebt.", setzte er noch leiser hinzu. "Aber jetzt ist es vorbei. Du weißt, dass es André gut geht, und dass er sein Leben jetzt wohl genießt. Ist er schon in der Luft?", meinte Ben mit einem Blick auf seine Armbanduhr, während er seinen Drehstuhl auf die andere Seite des Schreibtisches schon und Semir sich an dem großen Briefumschlag zu schaffen machte. Kevin stand an dem kleinen halbhohen Wandschrank in Semirs Rücken, der Ben antwortete: "Gegen zehn, glaube ich, soll seine Maschine abheben.", gab der türkische Kommissar zur Antwort und schnitt den Umschlag, der einige Blätter Papier enthalten musste, mit einem Brieföffner auf. Er ließ den Inhalt auf seinen Schreibtisch gleiten und seine Miene verfinsterte sich, als er einen Blick darauf warf. Ben sah seinem Partner ins Gesicht, und bemerkte wie dessen Gesichtszüge entglitten. "Oh mein Gott...", flüsterte Semir als er das erste Bild betrachtete. Kevin ahnte bereits was darauf zu sehen war, als er das erste Bild sah und schloß die Augen... geistesgegenwärtig drehte er sich um, ließ die Jalousien an den Fenstern herunter und drehte den Schlüssel in der Bürotür um.
    Semir sah wie entgeistert auf das Bild vor ihm. Ein Gefühl, als würde man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen, ein Gefühl der vollkommenen Ohnmacht erfüllte ihn. Wie betäubt ließ er das oberste Foto weggleiten um das zweite, dritte, vierte und fünfte zu betrachten. Er schüttelte den Kopf, immer und immer wieder entfuhr ihm ein leises "Nein" oder "Oh mein Gott." Ben fragte gar nicht, was los sei und kam um den Schreibtisch herum, während Kevin keinerlei Anstalten machte die weiteren Fotos zu begutachten... er kannte die Geschichte die dahinter stand. "Ach du Scheisse...", murmelte Ben geschockt, als er das erste der Bilder sah. Ein felsiges Gelände, herrlicher blauer Himmel, einige Ginsterbüsche, Kakteen und anderes Gestrüpp machte sich in der südlichen Landschaft breit. Im Zusammenhang war es nicht schwer zu erraten, dass diese Bilder aus Mallorca oder Spanien stammten. Ein Mann kniete ihm Dreck, die Augen mit einem schwarzen Tuch verbunden die Hände auf dem Rücken gefesselt. Neben ihm ein weiterer Mann der auf den Mann, der hinter dem Gefesselten mit einer Waffe stand, einredete. Die Waffe war auf den Hinterkopf des Opfers gerichtet... und der Mann, der diese Waffe hielt, war André. In seinem schwarzen Shirt und seiner Kette war er deutlich zu erkennen, sein Gesichtsausdruck war angestrengt, beinahe ein wenig hilflos. Man sah ihm an, dass er das, was er tat eigentlich nicht wollte. Die weiteren Bilder ließen sich wie ein Daumenkino ansehen, der Rauch vom Schuß, das kurzzeitig aufspritzende Blut, der fallende leblose Körper, und wie auf dem letzten Bild André mit gesenkter Waffe da stand und beinahe fassungslos war, was er da getan hatte. "Nein...", hauchte Semir erneut und seine Augen wurden glasig.

    Ben wandte sich ab und raufte sich die Haare. Das war es also, was Horn gegen ihn in der Hand hatte. Offenbar wurden die Fotos heimlich gemacht, offenbar sollten sie sowieso irgendwann als Druckmittel dienen. Und André hatte gedacht, dass niemand ihm die Tat beweisen könne, offenbar hatte er dafür bzgl der Waffe und der Leiche selbst Vorsorge getroffen. Er wurde Opfer eines Komplotts, aber letztendlich stand erstmal die Tat da, ein hinterhältiger vorsätzlicher Mord auf den in Deutschland lebenslange Haft wartete. "Das hat er uns also verschwiegen.", murmelte er und sah Kevin an, der recht blass um die Nase war aber immer noch keinerlei Anstalten machte. "Du hast es gewusst?", fragte Ben misstrauisch und Kevin nickte "Ja...". André hatte es ihm im Krankenhaus erzählt.
    Semir verlor die Nerven, als er hörte dass Kevin von Andrés Mord wusste. Plötzlich sprang er auf, die Wut und Enttäuschung über die Lüge seines Freundes packte ihn, dazukam die Verschwiegenheit von Kevin. Er drehte sich und packte Kevin am Kragen, drückte ihn mit dem Steiß gegen den kleinen Schrank. "Du hast es gewusst? Und kein Wort gesagt?? Seit wann hast du das gewusst?", stieß Semir mit zitternder und lauter Stimme hervor, während Kevin sich gegen den aufbrausenden Türken nicht zur Wehr setzte. Ben war mit einem schnellen Schritt bei ihnen, er kannte Kevin nicht gut genug als dass er genau wüsste, dass dieser nicht plötzlich sich wehren würde. Beruhigend legte er eine Hand auf Semirs Schulter. "Seit gestern abend. Wir haben uns im Krankenhaus unterhalten." Semirs Atem und sein Herz raste, er wollte schreien, weinen, irgendwas kaputtschlagen. Er hatte André vertraut, von Anfang an, immer mit dem Misstrauen im Hinterkopf dass nie verschwinden wollte. Am Ende war er so glücklich, dass sich alles zum Guten gewendet hatte, und jetzt dieser Schlag mit dem Vorschlaghammer. Langsam öffnete sich der harte Griff seiner Hände um das Shirt von Kevin, der immer noch keinerlei Anstalten machte sich gegen Semir zu wehren. Er verstand dessen Erregung, er hätte es sogar verstanden wenn Semir ihm ins Gesicht geschlagen hätte. Er war nicht ehrlich zu seinen beiden Freunden gewesen, die immer versucht hatten ihm zu helfen.
    Semir wandte sich von Kevin ab, plötzlich kraftlos und gebrochen. Ben wollte nicht böse auf Kevin sein, zuviele Gedanken schwirrten ihm gerade durch den Kopf. Ein Mord war kein Vergleich zu Kevins Taten in der Vergangenheit, vor allem wenn er vor kurzem geschah, mit Vorsatz und auf Fotos dokumentiert. "Wir müssen am Flughafen anrufen... die müssen André festnehmen, bevor er in die Maschine steigen kann.", sagte Ben. Seine Stimme war gefasst und voller Ernst, obwohl er mit André diese Tage zusammenarbeitete um Kevin und Semir zu finden, so hatte er doch am wenigsten emotionale Bindung zu ihm. Sein Partner und Freund wusste, dass er Recht hatte... sie mussten was tun... sein Kopf sagte ihm, es wäre richtig André jetzt festzunehmen, aber sein Herz würde es nicht verkraften, André lebenslang hinter Gitter zu bringen... gerade nach dem der ihm das Leben gerettet hatte. "Aber... ich kann doch nicht...", stammelte Semir verzweifelt und sah auf das Telefon. Eine Träne drückte sich durch die Lider und ein leichtes Zittern überfiel ihn. Ben presste die Lippen zusammen. "Wir sind Polizisten, Semir." "Willst du Kevin dann auch ans Messer liefern, he?" keilte Semir zurück und deutete auf den stummen und abseits stehenden Polizisten. Doch auch Semir wusste, dass es kein Vergleich mit Kevin gab. "Gut, dann rufe ich an.", sagte Ben entschlossen und ging auf die andere Seite des Tisches. Insgeheim fürchtete der um seinen Job, denn die Fotos würde man sicher irgendwann finden, und wenn Semir und Ben diese Tat verheimlichen würden, würden sie wohl alle drei sicher ihren Job verlieren. "Nein!" rief Semir. Er wollte das nicht Ben überlassen und nahm zitternd den Telefonhörer in die Hand. Er spürte, wie ihm schwindlig wurde, als er die ersten beiden Ziffern wählte um ein Freizeichen zu bekommen, als ihn plötzlich eine Idee erfasste.

    Ein kurzer Blick auf die Uhr, sie zeigte viertel vor zehn. Er ließ den Hörer fallen, schnappte sich den BMW-Schlüssel und sprang aus dem Stuhl. Ben ahnte, was Semir vor hatte und folgte ihm sofort durch die Tür, nachdem Semir mehr schlecht als recht die Tür wieder aufschloß. Auch Kevin bewegte sich zur Tür, nachdem er einen Blick auf die Bilder warf und erstarrte. Da stimmte etwas nicht... er nahm das obere Bild, das André am weitesten weg zeigte, und betrachtete es kurz, bevor er in einen schnellen Sprint verfiel um noch mit Semir und Ben ins Auto zu steigen. Die Fotos nahm er mit, damit niemand einen Blick darauf werfen konnte.

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienstwagen - 09:50 Uhr


    Semir schaltete die Blaulichtanlage seines Dienstwagens an, Ben hatte gerade noch Zeit sich anzuschnallen während Kevin auf die Rückbank kletterte. "Semir, was soll denn das? Willst du ihn selbst festnehmen? Das schaffen wir doch nicht mehr!!", polterte Ben, als sein Partner den BMW aus der Auffahrt auf die Autobahn driften ließ. Er sah stumm, starr über das Lenkrad hinweg, hatte sich die zwei Tränen aus den Augen gewischt. Ben sah ihn an, er wusste dass er keine Antwort bekommen würde. Wenn Semir sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es unmöglich, ihn davon abzuhalten, vor allem wenn er emotional gerade so eingebunden war wie jetzt.
    Kevin lehnte sich nach vorne und steckte den Kopf zwischen die beiden Vordersitze. "André hat mir erzählt, dass er gezwungen wurde.", sagte er mitten in das hitzige, aber einseitige Gespräch. Semir sagte nichts darauf, die Bilder hatten ihn zu sehr beeindruckt. Doch Kevin war noch nicht fertig und zeigte auf die Bilder. "Er hat mir erzählt, dass einer von Horns Männer ihm eine Pistole in den Nacken gedrückt hatten." Ben sah irritiert auf das erste Bild, das Kevin ihm auf den Schoß legte herab und zog die Stirn in Falten. "Ich seh hier niemanden.", meinte er ein wenig perplex, und auch Semir warf einen kurzen Seitenblick auf das Bild. Er war merkwürdig still, 1000 Gedanken schwirrten ihm im Kopf herum. Was würde er sagen zu André, wenn er ihn festnahm. Was würde André sagen, wie würde er reagieren. Großer Gott, er wollte nicht dass dieses Abenteuer so endet. "Dann hat er dich belogen, Kevin.", meinte Ben und Kevin ließ sich nach hinten in die Sitze zurückfallen und aufseufzen. "Das kann ich mir nicht vorstellen. Warum sollte er? Er ist doch clever genug zu wissen, dass ihm das ohne Beweise niemand glaubt." Semir überholte in diesem Moment hupend auf dem Standstreifen. "Und ausserdem hat er bei mir keinen Grund seine Story abzuschwächen", fügte der junge Polizist auf der Rückbank hinzu und Ben verstand. Kevin, als jemand der selbst Dreck am Stecken hatte aus der Vergangenheit, wäre wohl nach Semir der letzte Polizist auf Erden, der André sofort verraten hätte. Und André wusste das ganz genau. Für einige Minuten war Ruhe im Auto, nur der Motor jaulte, die Blaulichtanlage dröhnte.


    Irgendwann meldete sich Kevin wieder von der Rückbank: "Und wenn das Foto bearbeitet wurde? Der Mann raus retouschiert wurde." Ben sah erneut auf das Foto, besonders auf die Stelle hinter André. Wenn der Mann nicht mindestens 1m Abstand von ihm hatte, müsste er auf dem Bild deutlich zu erkennen sein. War er aber nicht, hinter André war Sand, Felsen und Kakteen. "Bekommt Hartmut sowas raus? Ob das Foto bearbeitet wurde?", durchbrach Kevin erneut die aufkommende Stille. Ben zuckte mit den Schultern. "Versuchen können wir es... aber erstmal sollten wir uns anhören was André sagt, wenn wir ihn noch erwischen."


    Nur wenige Minuten hielt Semir den silbernen BMW mit quietschenden Reifen am Flughafeneingang auf dem Behindertenparkplatz. Ohne den Wagen abzuschließen rannten die drei Männer durch den gläsernen Eingang in die riesige Flughalle und steuerten zielsicher den ersten Info-Schalter an. Semir zeigte gehetzt seinen Ausweis vor: "Ist die Maschine nach Palma schon abgehoben." Die Frau an der Info-Theke hatte scheinbar die Ruhe weg und schien sich von den drei heftig atmenden Männer gar nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. "Einen Moment, da muss ich mal nachsehen." Semirs Augen hetzten von links nach rechts, Kevin drehte sich um als wäre jemand hinter ihnen her. "Geht das auch ein bisschen schneller?", fuhr der türkische Kommissar die Frau am Schalter lautstark an, die wohl erst dann den Ernst der Lage erkannte. "Die... die Passgiere sind gerade beim Einsteigen.", sagte sie ein wenig unsicher. "Scheisse...", meinte Semir ein wenig panisch und sah sich erneut um. "Wo ist das?", rief er und Ben sah sich instinktiv nach einer der großen Anzeigetafeln um. "Gate 3... da runter.", meinte die Dame und zeigte mit den Finger in die linke Richtung. Kevin setzte sich als erstes in Bewegung, wurde aber schnell von Semir eingeholt.


    Der Wartebereich war bereits leer als die drei Polizisten ankamen. Semir lief an die Fensterscheibe und schaute auf das wartende Flugzeug, in das gerade eine Schlange Menschen strömte. Im ersten Reflex wollte er durch die Sicherheitstür laufen, doch etwas hielt ihn zurück, als er klar und deutlich André sah, in seiner schwarzen Lederjacke, wie er sich, offenbar gedankenverloren, auf dem Rollfeld umblickte, bevor er kurz davor war, in die Maschine zu steigen. "Los komm, Semir!", rief Ben, der bereits auf dem Weg zur Sicherheitstür war, doch betreffender hörte die Stimme seines Freundes ganz weit weg. Vor Semirs innerem Auge zog gerade eine Flut von Bildern vorbei... ihr erster Fall mit dem entführten Baby... André, der bewusstlos und vergiftet im Wald lag, und von Semir gefunden wurde... André, der Semir in letzter Minute davor rettete von dessen Jugendliebe erschossen zu werden... André, der von einem Bordell-Besitzer als Geisel genommen wurde... André, der auf einem fahrenden LKW-Auflieger sprang, um mit einem Bagger den flüchtigen LKW zu stoppen... André, der versuchte über einen Kanal zu springen und Semirs BMW im Kanal versenkte... André, der zitternd auf der Autobahn lag, von einem Scharfschützen schwer verletzt... André, der angeschossen ins Meer fiel, weil Semir zu lange gezögert hatte, auf Carlos Berger zu schießen... und schließlich André, wie er mit erstauntem Gesicht in der Karateschule Semir anblickte, nachdem der das Licht angeschaltet hatte, wie sie zusammen in Semirs Wohnung saßen, und beide gemeinsam an Andrés Grab standen... all diese Bilder zogen vor Semir vorbei, im Bruchteil einer Sekunde.
    Kevin sah Semirs Gesichtsausdruch, als dieser durch die Scheibe blickte, und blieb stumm. Er konnte fast erkennen, was den türkischen Kommissar bewegte, und wie er sich entschied, als er mit halboffenen Mund und erneut feuchten Augen durch die große Glasfront blickte, als André die ersten Stufen des Gangways betrat.
    "SEMIR!", rief Ben erneut und sah seinen Freund an, als er nun auch dessen Gesichtsausdruck sah. Der erfahrene Polizist blickte Ben aufgewühlt an. "Er ist weg... es ist zu spät.", sagte er ohne Betonung, mechanisch. Ben sah ihn mit offenem Mund fassungslos an. "Wir müssen ins Flugzeug, wir...", begann er, aber er wurde von Semir unterbrochen, der Ben am Jackenärmel fasste. "Er ist weg, Ben! Hast du verstanden, ER IST WEG!" Ein Blick durchdrang den jungen Polizisten, wie er ihn noch nie von seinem Partner bekommen hatte... verzweifelt aber durchdringend, zornig und doch konsequent, aber doch zerbrechlich. Ben wusste nicht was er tun sollte... sie würden vermutlich einen Mörder laufen lassen... aber er konnte doch nicht gegen Semirs Willen dessen Freund verhaften. Er sah auf Kevin, der still bewegungslos neben Semir stand und einen recht ausdruckslosen Gesichtsausdruck hatte. Doch ein leichtes Kopfschütteln zeigte Ben, dass er wohl auf Semir's Seite stand. Beide kannten André besser als Ben.


    Semir wandte sich von Ben ab und ließ dessen Jackenärmel los. Er atmete hörbar, zitternd aus und bewegte sich langsam von der Fensterscheibe weg. Er hätte André nicht verhaften können. Er hatte Semir das Leben gerettet, mehrmals und umgekehrt. Nein, das konnte einfach nicht sein. Aber er wusste für einen Moment nicht mehr weiter... er wollte weg... einfach alleine sein, mit niemandem reden.
    Ben und Kevin blieben einen Moment stumm zurück. Ben in seinem Gesichtsausdruch aufgewühlt und fassungslos... einmal, weil Semir nichts unternommen hatte und natürlich, weil er Semir, seinem Freund, in diesem Moment nicht helfen konnte und gehen ließ. Verzweifelt sah er ihm hinterher, und blickte dann wieder auf Kevin. Der stand da, wie der Kevin, der er früher war. Mit einem festen, recht undefinierbaren Gesichtsausdruck, als könne kein Sturm ihn trüben, sah er Semir nach. In diesem Moment, wenn andere Menschen Probleme hatten, deutete bei ihm nichts auf eigene Probleme hin. Er verstand seinen türkischen Kollegen...




    ENDE

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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