Freunde fürs Leben - und dann?

  • Ben stand hinter der Glasscheibe im Krankenhaus und eine große Erleichterung durchflutete ihn. Semir hatte ihn angesehen, ihn erkannt und den Daumen gehoben, zum Zeichen, dass es ihm besser ging. Seit dem schrecklichen Unfall hatte er befürchtet, dass sein Freund und Kollege nicht mehr aus dem Koma aufwachen würde. Andrea war die ganze Zeit an seiner Seite gewesen, aber auch sie war von den Ärzten im Unklaren gelassen worden, was aus Semirs Kopfverletzungen werden würde.
    Langsam ließ seine Anspannung nach und er ließ die letzten Tage nochmals Revue passieren. Als Semir aus dubiosen Kanälen die Tickets für das ManU –Duell gekauft hatte, war er voller Begeisterung gewesen und hatte sich riesig auf einen tollen Fußballabend mit Semir gefreut. Die Plätze waren erste Sahne gewesen und er konnte sich heute nicht mehr vorstellen, warum er einen Abend mit seinem Jugendfreund Jan einer Unternehmung mit Semir vorgezogen hatte. Der hatte ihm zwar mit seinem: „Geh schon!“ signalisiert, dass das in Ordnung war, aber wie er sich dabei gefühlt hatte-vermutlich wie ein abgelegter Freund zweiter Wahl-wollte er sich lieber nicht vorstellen. Er war ein Blödmann gewesen, weil er auf die Gefühle seines Freundes keine Rücksicht genommen hatte und egoistisch einen Ausflug in seine eigene Vergangenheit unternommen hatte.
    Natürlich war er überrascht gewesen, als Jan plötzlich auf der Dienststelle erschienen war, aber seine Freude hatte überwogen und anstatt sich zu diesem Zeitpunkt bereits kritisch zu fragen, warum Jan gerade jetzt auf die Idee gekommen war, ihn zu besuchen, hatte er begeistert dessen Vorschlag angenommen, einen draufzumachen und hatte den Abend in vollen Zügen genossen. Wie in alten Zeiten hatten sie Blödsinn gemacht und die Tatsache, dass Jan im Rollstuhl saß, hatte ihn nochmals unkritischer sein lassen. Was sollte dieser Krüppel auch für eine Gefahr darstellen? Er konnte sich dunkel erinnern, dass die Sprache auf die Route des Transportes gekommen war und er hatte sorglos Dienstgeheimnisse ausgeplaudert, nur weil er der Meinung gewesen war, sein Jugendfreund wäre absolut vertrauenswürdig. Aber wie man gesehen hatte-auch Menschen, die man meint gut zu kennen, konnten sich ändern und aus seinem Freund Jan war ein gefährlicher Racheengel geworden.


    Er hatte auch nicht auf Semir gehört, als der diesen Verdacht gehabt hatte und ihn stattdessen angeschrien, als der seine berechtigten Zweifel geäussert hatte. Vielleicht hatte Semir deswegen die Konzentration vermissen lassen, als der Unfall passiert war? Das war ein blöder, vermeidbarer Fahrfehler gewesen, aber beinahe hätte ihn sein Freund mit dem Leben bezahlt. Aber vielleicht war Semir in der Nacht zuvor wach gelegen und hatte sich gegrämt, weil Ben auf einmal nur noch Augen für seinen alten Freund gehabt hatte? Semir hatte eine Menge Geld für die Tickets bezahlt und war auch ein Risiko eingegangen, denn der Freund, der schwarz mit den Tickets handelte, war sicher nicht ganz sauber gewesen und eigentlich konnte man wegen sowas seinen Beamtenstatus verlieren, wenn einem das nachgewiesen wurde!
    Nichtsdestotrotz hatte er sich doch eigentlich wahnsinnig auf den gemeinsamen Fußballabend gefreut-mit Bier und allem was dazugehört- und dann hatte er Semir fallen lassen, wie eine heiße Kartoffel. Jan, Jan und nochmals Jan! Die gemeinsame Bandvergangenheit, Eva-ach er hatte sich plötzlich gefühlt und benommen, wie viele Jahre vorher. Allerdings war er da jung gewesen und hatte keine Verpflichtungen gehabt. Im Internat, in dem die Kinder reicher Eltern geparkt wurden und wo er Jan kennengelernt hatte, hatten sie gegen die Obrigkeit rebelliert und waren gemeinsam gegen den Rest der Welt aufgestanden-wie man mit 16 halt so war! Aber heute führte er ja eigentlich genau das Leben, das er sich ausgesucht hatte, denn wenn es nach seinem Vater gegangen wäre, dann wäre er ins elterliche Geschäft eingestiegen. Er hatte sich durchgesetzt und war zur Polizeischule gegangen und hatte gegen die väterlichen Widerstände seine Berufswunsch durchgezogen.
    Und nun hatte er vor 5 Jahren Semir kennengelernt. Ihr erstes Zusammentreffen war nicht unproblematisch gewesen, aber inzwischen hatten sie sich zu einem tollen Team zusammengerauft, das sich blind vertraute-na ja, außer es kam so ein Jan dazwischen! Ben fragte sich, warum er eigentlich so blöd gewesen war, aber diese Frage würde er wohl nie beantworten können. Die letzten Tage waren die Hölle für ihn gewesen, denn er hatte immer befürchtet, Semir könnte sterben, oder ein Pflegefall bleiben, ohne dass er die Möglichkeit gehabt hätte, ihm zu sagen, was für ein Hornochse er gewesen war! Er fühlte sich schuldig an dem Unfall und wenn Ayda und Lilly ohne ihren Vater hätten aufwachsen müssen, dann wäre er nicht darüber hinweggekommen. Die schrecklichen Bilder nach dem Crash, als Semir erst bewusstlos im Wagen eingeklemmt war und dann intubiert abtransportiert worden war, hatten sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Wie kostbar war das Leben und die Gesundheit!-dachte er, als er hinter sich die Stimme der Chefin vernahm. Er drehte sich langsam um und hörte zu, was Kim Krüger zu ihm zu sagen hatte.

  • „Jäger, wie geht es Gerkan?“ wollte die Chefin als erstes wissen. „Ich glaube besser, er hat mich angesehen und den Finger gehoben. Ausserdem hat Andrea gelacht, ich glaube, er wird wieder!“ gab Ben seine Vermutung weiter. „Dann ist es ja gut!“ sagte Kim Krüger einen Ticken schärfer, als sie eigentlich vorgehabt hatte. „ Der Grund meines Hierseins-außer mich natürlich um meine Männer zu kümmern- ist, dass Mr. Mc Connor eine Beschwerde gegen sie eingereicht hat und verlangt, dass sie vom Dienst suspendiert werden, weil sie ihn grundlos geschlagen hätten. Leider muss ich ihnen sagen, dass Frau Schrankmann bereit ist, seinem Wunsch Folge zu leisten, es geht einfach nicht, dass sie sich aufführen wie ein Rowdie .Was wirft das für ein Licht auf die deutsche Polizei? Dieser Investor beabsichtigt, eine riesige Menge Geld in eine Bank zu pumpen, die sonst Pleite gehen würde. Wir können froh und glücklich sein, dass es solche Menschen überhaupt gibt!“ erklärte sie ihm ein wenig zornig.


    Ben versuchte sich zu rechtfertigen, vor Zorn über die Fehleinschätzung der Person des Finananzhais und die Ungerechtigkeit seiner Suspendierung stieg sein Blutdruck immens an und eine Ader an seinem Hals begann zu pochen. Mann, gerade jetzt konnte er das nicht brauchen. Er musste einen kühlen Kopf bewahren und wenn er Jans Entschluss , seinen Erzfeind umzubringen, zwar nicht gutheißen konnte, war es ihm aber nach seinen Internetrecherchen klar gewesen, dass dieser Investor knallhart und kein Unschuldslamm war.
    „Frau Krüger, dieser Mann hat keine lauteren Absichten! Er bringt mit seiner Methode, die knapp am Rande der Legalität angesiedelt ist, weltweit die ganzen Kleinanleger von gefährdeten Banken um ihr Vermögen. Er beutet die Firmen gnadenlos aus und wenn er das Letzte herausgeholt hat, stößt er sie ab und hinterlässt ein Meer von Scherben. Er hat dadurch die Eltern meines Jugendfreundes in den Ruin und letztendlich in den Tod getrieben, wie viele andere auch und er hat diesen einen Schlag wirklich verdient!“ stieß Ben hitzig hervor.


    Er begann immer schneller zu atmen und der Schweiß brach ihm aus. In seinem Bauch hatte sich irgendwas getan, das merkte er und dann wurde ihm plötzlich sehr, sehr kalt. Er sah die Chefin, die gerade angefangen hatte, ihm eine Standpauke zu halten noch kurz an, bevor er die Augen verdrehte und einfach umfiel. Frau Krüger hatte zwar bemerkt, dass ihr Beamter erst hochrot im Gesicht gewesen war und dann plötzlich blass wurde, aber sie hatte sich selber derart in Rage geredet, dass sie völlig erstaunt war, als Jäger vor ihr auf einmal umfiel und ungebremst auf den Boden aufschlug. „Jäger, was ist mit ihnen?“ fragte sie erschrocken, während sie sich zu ihm beugte und ihm die Wangen tätschelte. Ben schlug noch einmal kurz die Augen auf, sank aber dann wieder in eine tiefe Ohnmacht zurück.


    Frau Krüger drehte sich um und schaute, woher sie Hilfe bekommen könnte. Sie waren im Wartebereich vor der Intensivstation und außer ihnen beiden war niemand in der Nähe. Sie rief laut um Hilfe, aber als keine Reaktion kam, rannte sie zur Tür der Intensivstation, betätigte den Türöffner und rannte hinein. Als eine Schwester sie erstaunt ansah, rief sie: „Schnell, mein Kollege da draußen ist gerade ohnmächtig geworden, ich weiß nicht, was er hat!“ Die Schwester nickte und holte noch schnell einen Arzt und den Notfallkoffer, bevor sie Kim in den Wartebereich folgte. Die war inzwischen wieder auf die Knie gesunken und versuchte Ben wach zu bekommen. Mann, warum war er bloß umgefallen? Klar belastete ihn die Situation mit Gerkan und er hatte sich die letzten Tage nicht geschont und vermutlich kaum geschlafen. Aber dass er gleich so weg war? Vor Aufregung konnte einem schon mal schummrig werden, aber dass man dann, sobald man am Boden lag, nicht sofort wach wurde, war sehr ungewöhnlich.


    Sie ließ nochmals ihre Worte Revue passieren-hatte sie vielleicht irgendetwas gesagt, was ihn dermaßen mitgenommen haben könnte? Er war aus verschiedenen Gründen schon öfter mal für eine Weile suspendiert gewesen, wie Gerkan auch, aber deswegen hatte er sich noch nie so aufgeregt, dass er gleich ´nen Kreislaufkollaps gekriegt hatte. Unglücklich und hilflos betrachtete sie ihn, während die Profis eintrafen und sich nun um ihren Beamten kümmerten.

  • Der Arzt kniete sich neben Ben, während die Schwester den Notfallkoffer öffnete. Zunächst fasste er ihm an den Hals, um den Puls zu suchen. Er fand ihn sofort, aber er war schnell und fadenförmig. Die Schwester hatte inzwischen den Blutdruckapparat ausgepackt und gemeinsam zogen sie nun Bens Lederjacke aus, da man sonst nicht an seine Arme herangekommen wäre. Eine Stoffjacke hätte man aufgeschnitten, aber die Zeit drängte und deshalb schälten sie erst mal gemeinsam Ben aus seiner Jacke, der immer noch tief bewusstlos war. Auch Frau Krüger half mit, die Jacke von ihrem Beamten zu ziehen und als man danach den Blutdruckapparat anlegte, war der Druck momentan nicht messbar.
    Noch andere Pflegekräfte waren inzwischen erschienen, der eine brachte eine fahrbare Trage und der andere einen Transportmonitor und eine Sauerstoffflasche mit. Der Arzt hatte Bens Beine nach oben genommen und bat Frau Krüger, die einen Augenblick zu halten, bis er einen Zugang gelegt hatte.


    Während der Arzt den Arm staute und Frau Krüger Bens Beine nach oben hielt, begannen Bens Augenlider zu flattern. „Guten Morgen!“ sagte der Arzt und Ben sah ihn verwundert an. Er hatte momentan keine Ahnung, was geschehen war und wollte gleich aufstehen. Mehrere Hände drückten ihn zurück. „Immer langsam, wir wollen erst mal sehen, warum sie so plötzlich umgefallen sind!“ sagte der Arzt, während er die Venenverhältnisse prüfte. Als er am Unterarm eine erfolgversprechende Vene ausgemacht hatte, nahm er einen Desinfektionsmitteltupfer und nachdem er ein paarmal über die Einstichstelle gewischt hatte, stach der Arzt mit der recht dicken Nadel in den Unterarm des Polizisten. Der zuckte ein wenig zusammen und sah verwundert zu, wie die Venenverweilkanüle vorgeschoben wurde, der Mandrin entfernt und das verbleibende Plastikschläuchlein gut verklebt wurde. Schnell nahm der Arzt noch fünf verschiedenfarbige Laborblutröhrchen ab. Die Schwester hatte inzwischen eine Literflasche Vollelektrolytlösung mit einem Infusionssystem verbunden, hängte alles mit einem Dreiwegehahn an die Verweilkanüle und startete die Infusion.


    Frau Krüger hatte inzwischen Bens Beine langsam wieder zu Boden sinken lassen, woraufhin Ben plötzlich wieder zittrig wurde und begann das Bewusstsein zu verlieren. Schnell packte die Schwester die Beine und hob sie erneut nach oben, woraufhin es Ben wieder besser ging. „Auf jeden Fall haben wir ein Volumenproblem!“ sagte der Arzt und begann nun Ben zu befragen. „Wie heißen sie, wie alt sind sie, was haben wir heute für ein Datum?“ prasselten nacheinander die Fragen nur so auf ihn herein. Er konnte sie aber ohne Zögern beantworten und nun zog der Arzt erst sein Augenlid herunter und bat ihn dann die Zunge herauszustrecken. „Hmm, die Schleimhäute sind sehr blass!“ bemerkte er und fragte dann seinen Patienten: „Hatten sie einen Unfall?“ denn die Schrammen in seinem Gesicht waren noch deutlich zu erkennen.
    Nun mischte sich Frau Krüger ein, die mit Bens hochgestreckten Beinen in der Hand ganz verloren dastand: „Ja, er war der zweite Passagier im Fahrzeug von Herrn Gerkan, der bei ihnen auf der Intensiv liegt!“ erklärte sie.
    Der Arzt und die Schwester wechselten einen Blick. „Das war ein LKW-Unfall, nicht wahr?“ fragte der Arzt „Vor drei Tagen!“ und Ben und Frau Krüger nickten. „Tut ihnen irgendetwas weh?“ Ben überlegte kurz und sagte dann zögernd. „Mein Bauch tut weh, da habe ich mir vom Gurt ganz schöne Prellungen geholt!“ und der Arzt nickte und schob sein Shirt nach oben.


    Schräg über den Bauch und Brustkorb zog sich ein dicker blauer Fleck in der Breite des Sicherheitsgurtes. Der Arzt löste noch den Knopf und den Reißverschluss der Jeans und begann dann systematisch den Bauch seines Patienten abzutasten. Ben wollte es eigentlich , aber auch auf Aufforderung schaffte er es nicht, seine Bauchmuskeln locker zu lassen. „Abdomen bretthart gespannt!“ bemerkte der Arzt und holte dann mit einer Kopfbewegung die Schwestern mit der Trage näher. Obwohl Ben versuchte zu protestieren wurde er einfach auf die Trage gehoben und gleich das Beinteil schräg und der Kopf tief gestellt.


    „Herr Jäger, wir bringen sie jetzt in den Schockraum und machen ein Notfall-CT!“ bestimmte der Arzt und Ben, der bemerkte, wie ihm erstens schon wieder schummrig wurde und dass man zweitens auf seine Einwände keine Rücksicht nahm, ließ den Kopf, den er kurz angehoben hatte, wieder zurück aufs Kissen sinken. „Ihre Angehörige kann im Aufenthaltsbereich warten, wir sagen ihr Bescheid, sobald wir etwas wissen!“ bestimmte der Arzt noch und bevor Ben irgendetwas dazu bemerken konnte, sah ihn Frau Krüger strafend an. „Sie halten jetzt die Klappe Jäger und tun, was ihnen der Arzt empfiehlt! Ich werde auf sie warten!“ und schon wurde Ben warm zugedeckt und in die Notaufnahme des Krankenhauses gefahren. Man steckte ihm eine Sauerstoffsonde in die Nase und er konnte nichts dagegen unternehmen, dass er immer zittriger wurde und eine große Kälte von ihm Besitz ergriff. Langsam verlor er das Bewusstsein und hörte noch aus der Ferne jemand rufen: „Er kollabiert wieder!“ und dann war er weg.

  • Der Arzt und das Pflegepersonal, die sowieso schon einen Zahn zugelegt hatten, wurden fast noch schneller und kamen innerhalb kürzester Zeit in der Notaufnahme an. „Was haben wir hier?“ fragte der aufnehmende Notfallmediziner und bekam von seinem Kollegen sofort eine kurze Übergabe. „34-jähriger Patient, vor drei Tagen Insasse eines PKW bei einem LKW-Unfall, ist plötzlich kollabiert. Abdomen druckschmerzhaft, Blutdruck erst nach Autotransfusion messbar, deutlich blass, nach eigenen Angaben Schmerzen im Bauch, Prellmarken vorhanden. Ich tippe auf eine blutende Abdominalverletzung und würde ein Notfall-CT favorisieren. Der Patient ist kurz aufgewacht, war orientiert und konnte auch kognitive Fragen richtig beantworten, so dass ich eine Schädelverletzung ausschließen würde. Auf dem Transport hierher, wurde er zunehmend tachykard und der Blutdruck war die ganze Zeit im unteren Rahmen und momentan ist er wieder nicht messbar. Ich würde ein Hyper-Haes vorschlagen und eventuell den Einsatz von Akrinor, oder Noradrenalin. Allerdings sind sie hier der Chef und ich hätte auch auf meiner eigenen Station genügend zu tun!“ übergab der Intensivarzt den Patienten.


    Der Notfallmediziner nickte kurz, bedankte sich für die Übergabe und während der Anästhesist sich wieder mit den Intensivschwestern auf den Weg zurück machte, um seiner normalen Arbeit hinterherzukommen, widmeten sich der Notfallarzt und das Personal des Schockraums ihrem neuen Patienten.
    Ben wurde auf einen röntgenfähigen Tisch umgelagert und schon schnitt man seine verbliebene Kleidung großzügig mit der Schere auf und warf sie weg. Die Vollelektrolytlösung lief so schnell es der Zugang erlaubte und der Notfallmediziner besah und betastete kurz seinen neuen Patienten von oben bis unten. Während er die Reflexe prüfte, hatte eine Schwester Bens Versichertenkarte in seinem Geldbeutel gefunden und in den PC eingelesen. Sofort wurden Laboranforderungsetiketten gedruckt und die mitgebrachten Blutröhrchen zügig per Rohrpost ins Kliniklabor geschickt. Außer den Schürfungen im Gesicht und der blauen Gurtprellmarke sah man auch sonst überall blaue Flecken. „Das muss ein ganz schön heftiger Aufprall gewesen sein!“ bemerkte die Schwester, während sie Ben mit grünen, vorgewärmten Tüchern zudeckte. Der Notfallmediziner zog das Ultraschallgerät näher und sonographierte kurz das Abdomen, aber außer, dass der ganze Bauch mit Flüssigkeit, vermutlich Blut gefüllt war, konnte man nichts Näheres erkennen. Durch den Druck des Schallkopfs auf seinen Bauch kam Ben wieder zu sich und stöhnte auf, so weh tat ihm das.
    „Bitte eine Ampulle Piritramid!“ verlangte der Arzt und die Schwester holte das Verlangte aus dem Betäubungsmittelschrank und zog die Ampulle in eine Spritze auf. Sie machte noch einen Kleber drauf und gab die Spritze dem Arzt, der Ben sofort 3 mg des Opiats intravenös spritzte. Als die Schmerzen auf Nachfrage noch nicht besser waren, bekam er nochmals 3mg und dann war der Schmerz für Ben einigermaßen erträglich.


    Nachdem sein Blutdruck immer noch viel zu niedrig war, hängte man das Hyper-Haes an, das als Plasmaexpander momentan die Kreislaufsituation entspannte und sah nach, ob das Notfall-CT frei war. Ben war in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, der teils durch den Schock und teils auch durch das Opiat hervorgerufen wurde und bekam kaum mit, wie ihm ein Blasenkatheter mit Stundenurimeter gelegt wurde.
    „Herr Jäger, wir fahren sie jetzt rasch durchs CT, damit wir genauer wissen, woher die Blutung in ihrem Bauch kommt und was wir dagegen unternehmen können!“ teilte der Aufnahmearzt ihm mit und schon wurde Ben im Nebenraum zu einem großen Röntgenbogen gebracht. Man legte einen Gonadenschutz auf seine Weichteile und dann verließen alle Beteiligten den Raum. An den Zugang wurde zuvor noch ein Schläuchlein der automatischen Kontrastmittelspritze angebracht. Durch den Lautsprecher sagte immer wieder eine Stimme: einatmen, Luft anhalten, ausatmen und Ben bemühte sich nach Kräften die Anweisungen zu befolgen. Währenddessen fuhr der Röntgentisch durch die Röhre hindurch, dann wurde dasselbe noch mit ferngesteuert injiziertem Kontrastmittel wiederholt und wenige Minuten später waren die Bilder schon am Monitor im Nebenzimmer ausgewertet.
    „Wie ich schon vermutet hatte-eine Milzruptur-aber sonst keine weiteren Verletzungen erkennbar!“ sagte der Aufnahmearzt und griff schon zum Telefon, um sofort einen OP zu reservieren.

  • Danach wurde Ben aus dem Röntgenraum geholt und der Arzt erklärte ihm kurz, was sie gefunden hatten: „Herr Jäger, sie haben eine zweizeitige Milzruptur, die sofort operativ versorgt werden muss. Die Milz wurde bei dem Unfall verletzt, hat aber die letzten Tage in ihre Kapsel geblutet, bis sie heute geplatzt ist. Hatten sie nicht Obberbauchbeschwerden und in die Schulter ausstrahlende Schmerzen?“ wollte der Arzt von ihm wissen. Ben nickte leicht. „Doch, schon, aber ich dachte, das wären Prellungen. Außerdem hatte ich keine Zeit zum Kranksein, ich musste was sehr Wichtiges erledigen!“ erklärte er dem Doktor. „Na ich denke zum Kranksein hat ja eigentlich niemand Zeit, oder Lust, aber jetzt werden sie eine Weile bei uns verbringen müssen. Es besteht akute Lebensgefahr, sie können sich in Kürze verbluten, wenn wir sie nicht sofort operieren. Das ist eine Notfallindikation, da brauchen wir nicht einmal ihr Einverständnis!“ redete er Tacheles mit Ben, der nun wieder blass wurde. Es gab Patienten denen musste man schonungslos die Wahrheit sagen, sonst würden sie einer Therapie nicht zustimmen und Ben war so ein Kandidat, das sah er aus seiner Erfahrung.


    Ben war nun alles noch vorhandene Blut aus dem Gesicht gewichen und seine Herzfrequenz beschleunigte sich nochmals. „Ich werde ihnen jetzt noch sofort einen High-Flow-ZVK in die Halsvene legen, denn es ist möglich, dass wir ihnen schnell viel Blut, oder andere Flüssigkeit zuführen müssen. Wir werden das während der Operation abgesaugte Blut aufbereiten und ihnen retransfundieren. Leider kann ich ihnen nicht versprechen, dass wir auf Fremdblut verzichten können, es ist möglich, dass wir ihnen einige Konserven zukommen lassen müssen, aber das werden wir entscheiden, wenn es so weit ist!“ erklärte er seinem Patienten, während die Schwester schon den Eingriffswagen näherfuhr und alles zum Legen eines zentralen Venenkatheters vorbereitete.


    Der Arzt zog Haube und Mundschutz an, desinfizierte seine Hände, schlüpfte in einen sterilen Kittel und Handschuhe und strich rasch mit Desinfektionstupfern aus dem Abdeckset Bens rechte Halsseite ab. Er deckte ein gefenstertes Steriltuch über seinen Patienten und während er Lokalanästhetikum in eine Spritze aufzog, das die Schwester anreichte, erklärte er Ben, was er nun machen würde. „Sie bekommen da am Hals eine örtliche Betäubung und danach schiebe ich ihnen ein Schläuchlein bis kurz vors Herz in die untere Hohlvene. Damit haben wir dann einen sicheren Zugang, über den wir auch konzentrierte Medikamente, Nährlösungen, oder große Flüssigkeitsmengen zuführen können.“ Noch während er sprach, setzte er die Injektionsnadel an, sagte dann: „ Vorsicht, sticht!“ und betäubte dann mit mehreren Infiltrationen das Punktionsgebiet. Schnell nahm er die nächste Spritze, zog darin die angereichte Kochsalzlösung auf und stach mit einer langen , dicken Nadel in die Tiefe. Die Schwester kippte den Tisch noch ein wenig mehr kopfwärts und ziemlich schnell hatte der Arzt die Vena jugularis interna gefunden und punktiert.


    Ben hatte rasch zu atmen begonnen. Er hatte Angst, was ihm nun alles bevorstehen würde und außerdem hatte er die dicke Nadel gesehen. Erstaunlicherweise drückte es nur ein wenig und er bemerkte kaum, wie der Seldingerdraht durch die Nadel hindurch zu seinem Herzen geschoben wurde. Die Nadel wurde ausgefädelt und der Venenkatheter über den Führungsdraht geschoben. Zur Lagekontrolle schob man den Katheter bis ins Herz vor und als typische EKG-Veränderungen über eine Direktableitung auf dem Monitor erschienen, zog man ihn wieder ein paar Zentimeter zurück. Ben schnappte nach Luft, als sein Herz zu stolpern anfing, aber der Arzt beruhigte ihn: „Das mache gerade ich mit meinem Katheter, ihr Herz ist vollkommen in Ordnung, es ist alles gut!“ und so ließ Ben den angehaltenen Atem wieder fließen und entspannte sich ein wenig, während der Arzt das Schläuchlein noch annähte. Die Schwester klebte einen Verband auf die Einstichstelle und nun kam an den dicksten der fünf Zugänge, die in diesem einen Katheter mündeten, eben dem Highflowzugang gleich eine Infusion und die anderen Schenkel ließ man durchgespült und abgeklemmt bis nach der OP.


    Sie bekommen jetzt noch einen arteriellen Zugang in den Unterarm und dann geht’s los!“ sagte der Arzt und die Schwester hatte sich Bens rechten Arm gegriffen und ein wenig nach außen gedreht und desinfiziert. Nachdem er kurz getastet hatte, legte der erfahrene Notfallmediziner noch einen arteriellen Zugang in die Radialisarterie , was zwar ein wenig mehr wehtat, als das venöse Zuganglegen, aber schnell passiert war. Während auch dieser Zugang vernäht und angeschlossen wurde, hatte jemand die Zudecke zurückgeschlagen und rasierte Bens Bauch bis weit herunter.


    Nun wurde seine Angst immer größer. Er kam sich so ausgeliefert vor, jeder wusste hier anscheinend genau, was er zu tun hatte und er als Person war sozusagen das Werkstück, das gerade bearbeitet wurde. Ihm wurde immer schummriger und man tauschte nach einem Blick auf die Sättigung die Sauerstoffsonde gegen eine Maske ein und bevor er sich versah, war er auf dem Weg in den OP. Jemand sprach zwar beruhigend zu ihm, aber das half recht wenig gegen seine Angst. Wie wäre es, wenn er nun sterben würde? Der Arzt hatte so etwas angedeutet, aber er hatte doch noch so viel vor. Völlig überfordert ließ sich Ben auf das Fließband der Schleuse umlagern und während der Notfallmediziner seinem Kollegen, der die Narkose machen würde, die Übergabe machte, krampfte sich Bens Herz zu einem schmerzhaften Klumpen in seiner Brust zusammen. War das nun sein Ende? Aber bevor er weiter nachdenken konnte, lag er schon zur eiligen Narkoseeinleitung auf dem Operationstisch im OP-Vorraum.

  • Der vermummte Narkosearzt beugte sich zu ihm herunter. „Wann haben sie das letzte Mal etwas gegessen und getrunken?“ fragte er Ben freundlich. Der musste kurz überlegen und sagte dann mit rauer Stimme. „Nur Kaffee heute Morgen, mir war nicht so gut!“ und der Arzt nickte. „Für uns ist das gut so-sie dürfen jetzt gleich schlafen!“ und damit nahm er eine blaue Maske und steckte sie an einen dicken Beatmungsschlauch. Auf einem Tischchen neben ihm lagen mehrere aufgezogene Spritzen und bevor sich Ben versah, begann die Anästhesieschwester diese nacheinander nach Ansage des Narkosearztes in den ZVK zu spritzen. Ben wollte noch was sagen, aber da wurde ihm schon schummrig und dann war er ganz schnell weg. Solange, bis das Muskelrelaxans vollständig wirkte, beatmete der Narkosearzt seinen Patienten mit der Maske und als der ganz schlaff war, überstreckte er den Kopf nach hinten und intubierte ihn problemlos. Als die Atemwege gesichert waren, bekam Ben noch eine Magensonde gelegt, damit im Oberbauch möglichst alles leer war und dann machte man ihn mit breiten, gepolsterten Gurten und Handschlaufen auf dem OP-Tisch fest, damit er nicht herunterfallen konnte.


    Die Anästhesieschwester schob den Tisch in den OP-Saal, während der Narkosearzt Ben mit einem Ambubeutel weiterbeatmete und dort wurde er ans Narkosegerät gehängt.
    Ein Springer schob die angewärmten grünen Tücher so weit nach unten, dass der komplette Bauch freilag und strich zügig von den Brustwarzen bis zum Schambereich dreimal mit grellorangem Desinfektionsmittel das Operationsgebiet ab. Eine neutrale Klebeelektrode wurde an seinem Oberschenkel noch befestigt und dann deckten auch schon die drei steril gewaschenen und angezogenen Operateure mit Einmaltüchern den kompletten Ben ab. Nach oben wurden die Tücher an einem Bügel befestigt, hinter dem der Narkosearzt seinen Patienten überwachen konnte. Nun hatte man ein steriles Gebiet, in dem man sich bewegen konnte und während sich die beiden Assistenten gegenüber des Operateurs postierten, begann der schon einen großen Bauchschnitt in der Mittellinie zu machen.


    So gerne man minimalinvasiv arbeitete, aber bei einer solchen Sache war gute Übersicht wichtig und notwendig und man konnte auf optische Dinge keine Rücksichten nehmen. Die kleinen Hautgefäße, die bei der Durchtrennung zu bluten begannen, wurden mit Elektrokoagulation verschorft und so öffnete man sorgfältig Schicht für Schicht den Bauch. Als ins Bauchfell das erste kleine Schnittchen gemacht wurde, lief den Chirurgen schon das Blut entgegen. Die Anästhesieschwester hatte bereits den Cellsaver vorbereitet und nun hielt der zweite Assistent den Sauger in das Loch und schlürfend zog die Maschine das Blut ein, das im Bauch herumschwamm. Es wurde sofort mit Ringerlösung und Heparin versetzt, damit es nicht gerann und man versuchte, soviel wie möglich zur Retransfusion aufzubereiten.
    Als der Sauger momentan nichts mehr förderte, erweiterte der Operateur mit einer Schere den Schnitt im Bauchfell, um die darunterliegenden Organe nicht zu verletzen und man setzte dann einen großen, sogenannten Rahmen ein, an dem mit vier Haken das Bauchgewebe eingehakt wurde und das Abdomen nun weit geöffnet dalag. Das sparte Muskelkraft bei den Assistenten und man hatte dadurch eine gute Übersicht. Ein wenig verborgen unter dem linken Rippenbogen, sahen sie schon eine blutig zerfetzte Milz, aus deren gerissener Kapsel immer noch das Blut sickerte.


    Der Narkosearzt hatte seinem Patienten inzwischen zur Kreislaufstabilisierung viel Volumen zukommen lassen, aber trotzdem bewegte sich der Blutdruck sehr weit im unteren Bereich. Für Ben standen 10 Blutkonserven in einem Kühlschrank bereit, die eingekreuzt waren, also mit seinem Blut auf Verträglichkeit getestet waren. Auch die Mitarbeiter im Labor waren nicht untätig gewesen! Allerdings zögerte man, speziell bei einem so jungen Menschen mit der Transfusion von Fremdblut, nicht nur wegen der trotz alledem immer noch vorhandenen Infektionsgefahr, sondern auch, weil man wusste, dass die Immunabwehr durch die Konserven stark in Mitleidenschaft gezogen werden würde. Der erste Blutwert, direkt nach der Aufnahme hatte ein Hb von 8,3 angezeigt-der Normwert wäre bei 12-18mg/dl gewesen. Gerade bei sonst gesunden, fitten Menschen tolerierte man unter klinischer Überwachung heute Werte bis etwa 6.0.


    Als die Anästhesieschwester aus der Arterie eine Blutprobe entnahm und am automatischen Kleinlabor, das im OP-Flur stand, die Werte ermittelte, zeigte das Gerät nur noch 5,7 an. Die Bauchorgane und sicher auch der Rest des Organismus waren nur schlecht durchblutet und mit Sauerstoff versorgt.
    Während der Narkosearzt noch abwägte, was er tun sollte, wusch der Cellsaver immer noch das abgesaugte Blut. Die Operateure und der Anästhesist besprachen die Problematik und dann drückten sie erst mal mehrere grüne Bauchtücher in die Milzloge, um einen erneuten Blutverlust zu vermeiden und warteten dann kurz, bis der Cellsaver mit der ersten Portion fertig war. Die Anzeige zeigte einen Blutverlust von über zwei Litern und immerhin 1l konnte in einem kleinen Beutel gewonnen werden. Als man das zügig einlaufen ließ, wurden die Organe langsam wieder rosiger, der Kreislauf stabilisierte sich und nach einer Weile forderte der Anästhesist die Chirurgen auf, nun weiterzumachen.


    Frau Krüger lief derweil unruhig in einem Warteraum auf und ab. Der Notfallarzt hatte ihr kurz Bescheid gegeben, nachdem Ben da nichts dagegen gehabt hatte, dass ihr Beamter eine Milzruptur erlitten hatte und nun gerade in kritischem Zustand im OP war. Natürlich konnte sie nichts machen und hätte auch aufs Revier, oder nach Hause gehen können, aber sie fühlte sich irgendwie schuldig und machte sich die größten Vorwürfe. Nervös sah sie immer zur Tür des Warteraums, ob jemand mit Nachrichten kam, aber bisher war sie alleine mit ihren Sorgen, Ängsten und Selbstvorwürfen.

  • Im OP war inzwischen der Liter Eigenblut in Ben verschwunden und nachdem die Werte sich stabilisiert hatten, begann nun das Chirurgenteam die Milz näher zu betrachten. „In Hilusnähe sind keine größeren Gefäßverletzungen erkennbar!“ gab der eine zu bedenken.
    „Aber eine Milzexstirpation wäre jetzt einfacher und weniger belastend für unseren Patienten“ überlegte der andere. Der leitende Operateur traf letztendlich die Entscheidung. „Auf die Gefahr hin, dass wir nachoperieren und letztendlich die Milz doch entfernen müssen, versuchen wir jetzt trotzdem das Organ zu erhalten und es nach Blutstillung in ein Bionetz einzupacken! Er wird sicher momentan mehr Blut verlieren, als wenn wir das Organ entfernen, aber die Prognose ist im Gesamtverlauf besser, als nach einer Milzexstirpation, wo die Ausdauerleistung und auch die Körperabwehr lebenslang gestört bleiben.“


    Die OP-Besatzung nahm die Entscheidung zur Kenntnis und so begann das Team, nachdem es die Bauchtücher entfernt hatte-der Spezialausdruck dafür war Packing-systematisch mit Elektrokoagulation, Ligaturen und Umstechungen eine gewissenhafte Blutstillung vorzunehmen.
    Bens Blutdruck schwankte stark und gegen Ende der Operation brauchte er auch sogenannte Katecholamine, also kreislaufstützende Medikamente, aber nachdem das abgesaugte Blut weiter aufbereitet wurde, konnte man ihm wenigstens einen Teil davon retransfundieren. Als nichts mehr aus dem schwammigen Organ sickerte, packte man ein Vicrylnetz darum und nähte es wie eine Art Beutel zu. „Momentan simuliert das sozusagen die Kapsel und wird im Laufe der Monate vom Körper vollständig resorbiert!“ erklärte die OP-Schwester einem Praktikanten, der auf einem Tritt stehend gebannt die ganze Operation von oben verfolgt hatte.


    Vorsichtshalber kontrollierte der Operateur noch den Rest des Bauches auf Verletzungen, die bisher unbemerkt geblieben waren, konnte aber keine entdecken. Der Schwanz der Bauchspeicheldrüse wurde wieder vor die Milz gelegt und dann legte man im linken Ober-und Unterbauch jeweils eine Easyflowdrainage aus Silikon ein, damit das Wundsekret abgeleitet wurde und man auch sofort eine Nachblutung erkennen konnte. Man nähte die beiden Drainagen an der Haut fest, entfernte den Rahmen und begann schichtweise die Wunde, beginnend mit dem Peritoneum, zu verschließen. In die Muskelschicht legte man eine Redonsaugdrainage ein und als letztes wurde die Oberhaut noch geklammert.
    Der Assistent wischte die Wundränder mit Desinfektionsmittel sauber, klebte zwei Ablaufbeutel über die Drainagen und legte einen sterilen Wundverband an. Nach einem Blick auf die Körpertemperatur, die man über ein Datenkabel am Blasenkatheter ableitete, beschloss man Ben erst einmal nachbeatmet auf die Intensivstation zu bringen und ihn aufzuwärmen, bevor man ihn extubierte. Die Temperatur betrug nämlich nur noch 34°C und da wäre eine sofortige Extubation ein Kunstfehler gewesen. Die zurückgeschlagenen Tücher wurden wieder über ihn gebreitet und dann informierte man die Intensivstation über die Abholung, die zuvor schon informiert worden war, dass sie einen Patienten zur postoperativen Überwachung bekommen würde.


    Der Chirurg fragte, als er den OP verließ, nach Angehörigen und bekam die Info, dass jemand im Warteraum war, der laut Patient informiert werden durfte. Frau Krüger, die inzwischen gefühlte 10km in dem Zimmer hin-und hergetigert war, drehte sich erwartungsvoll um, als der Mann im grünen OP-Gewand zu ihr trat. „Sind sie die Angehörige von Herrn Jäger?“ wollte er wissen und sie nickte. Sie musste ihm ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass sie eigentlich nur seine Chefin war, aber anscheinend war das dem Personal auch egal, wie sie zu dem Patienten stand-wichtig war, dass er vor der OP eine Weitergabe der Informationen erlaubt hatte und so bekam Kim Krüger die Auskunft, dass Ben die Operation überstanden hatte, man die Milz erhalten hatte, und er nachbeatmet auf die Intensivstation übernommen werden würde, wo sie ihn in etwa einer halben Stunde kurz sehen könnte. Der Arzt erklärte ihr noch, bevor er sich verabschiedete, wie sie dorthin kam und hinterließ eine halbwegs erleichterte Kim, die sich noch ein wenig setzte, bis die halbe Stunde um war.

  • Ein Pfleger und der diensthabende Intensivarzt machten sich mit einem Bett, das mit einer Weichschaummatratze ausgerüstet war, einem transportablen Beatmungsgerät, einem Monitor, mehreren Perfusoren und dem Notfallkoffer auf den Weg, ihren neuen Patienten vom OP abzuholen. In der Schleuse wurden sie schon vom Narkosearzt, der Anästhesieschwester und der Schleusenschwester erwartet, die Ben mit dem Tisch bereits neben das Förderband geschoben hatten.


    „Was haben wir denn?“ wollte der Intensivarzt wissen, der die nächste Schicht übernommen und deshalb Ben noch nicht kennengelernt hatte und der Anästhesist machte seine Übergabe: „34jähriger Patient, vor drei Tagen als Beifahrer im PKW verunfallt. Heute ist er plötzlich kollabiert und beim Notfall-CT wurde eine zweizeitige Milzruptur festgestellt. Wir konnten momentan organerhaltend operieren, bitten aber um engmaschige Überwachung, da die Milz mit einem Vicrylnetz versorgt wurde.
    Der Ausgangs-Hb war bei knapp über 8, intraoperativ war der tiefste Wert bei 5,7, allerdings konnten wir bisher durch Eigenblutretransfusion die Gabe von Konserven vermeiden. Er ist katecholaminpflichtig, allerdings mit 0,6 Nor nicht besonders hoch und soll wegen einer Temperatur von nur 34°C noch gewärmt und erst dann extubiert werden. Vorerkrankungen konnten in der Anamnese keine erhoben werden und ausser der Volumenproblematik hat er sich momentan durchaus stabilisiert. Ich habe ihn gerade nochmals mit einem Bolus von 0,05mg Sufenta und 5mg Midazolam sediert, er dürfte also schlafen, bis ihr drüben seid!“


    Die Intensivmitarbeiter hatten, während die Übergabe lief, Ben mit dem Fließband ins Bett befördert. Der Anästhesist hielt solange den Tubus fest und Ben wurde sofort gut zugedeckt. Das transportable Beatmungsgerät wurde angestellt, wie auch der Transportmonitor angeschlossen und dann ging die Fahrt mit dem schlafenden Ben auch schon los.
    Wenig später erreichten sie die Intensivstation und dort wurde Ben an einen Bettplatz rangiert, der Monitor in die Halterung geschoben und nun begannen die routinemässigen Aufnahmeprozeduren.
    Der Arzt stellte die stationäre Beatmungsmaschine ein und steckte den Beatmungsschlauch nach dem Filter vom Transportgerät um. Die Infusion am Highflowschenkel des ZVK wurde umgehängt und das kreislaufstützende Medikament mit Trägerlösung, kontinuierlich weiterlaufend, im Infusionsbaum eingefügt. An alle zuführenden Schenkel wurden Medikamente, oder zumindest klare Lösungen zum Offenhalten derselben angehängt. Die Sedierung lief nun über zwei Perfusoren, die kontinuierlich Sufentanil und Propofol zuführten, damit Ben noch nicht wach wurde, sich beatmen ließ und keine Schmerzen hatte.
    Man nahm nochmals kurz die Decke weg, inspizierte den ganzen Patienten, kontrollierte den Verband und drehte ihn auch kurz zur Seite, um die Hautverhältnisse am Rücken und Po zu prüfen, die aber in Ordnung waren. Dann schloss man noch Ablaufbeutel an die beiden Easyflowdrainagen an, hängte sie ans Bett und dokumentierte alles. Nachdem seine Körpertemperatur auch durch die Auskühlung im OP und den Schock immer noch viel zu niedrig war, legte man eine Decke über ihn, die mittels Thermacair, einem Wärmegebläse, kontinuierlich mit 38°C warmer Luft pustete und ihn so langsam erwärmte. Seine Hände lagerte man etwas erhöht auf zwei kleine Kissen und machte sie mit Fixies am Bett fest, damit er beim Erwachen nicht den Tubus herauszog. Unter seine Knie legte man noch eine kleine Rolle, um den Bauch mit dem großen Schnitt zu entlasten und dann ließ man ihn einfach in Ruhe.


    Als es wenig später außen an der Intensivtür läutete und Frau Krüger sich erkundigte, wurde sie kurz hereingeführt. Zögernd trat sie an das Bett ihres Beamten, der bis zum Hals zugedeckt dalag. Beeindruckt von den ganzen Geräten und Maschinen um ihn herum, traute sie sich fast nicht näher heran. Der Pfleger erklärte ihr kurz, dass Ben nun erst mal erwärmt werden würde, um dann zu sehen, ob man den Schlauch aus seinem Hals entfernen konnte.
    Mitleidig musterte sie den jungen Mann, denn seine Gesichtsfarbe war so weiß und durchscheinend, dass er sich fast nicht vom blütenweißen Kissen abhob.Nur die schwarzen Bartstoppeln stachen scharf aus seinem Gesicht. Der Schlauch in seinem Mund, die Magensonde und die ganzen blutigen Beutel, die seitlich unter der Decke herausliefen, erfüllten sie mit Entsetzen.
    „Wird er wohl wieder?“ fragte sie den Pfleger, der durchaus sah, wie sehr sie der Anblick mitnahm. „Natürlich gibt es keine Garantie, aber wir tun unser Möglichstes, damit er das folgenlos überstehen kann!“ sagte er mitfühlend und bat sie dann freundlich wieder zu gehen. „Er bekommt momentan eh nichts mit und muss sich erst mal von der Operation erholen. Wir passen auf ihn auf!“ sagte der Pfleger und gab ihr noch eine Informationsbroschüre mit Telefonnummer der Intensivstation mit. Ein wenig wacklig auf den Beinen verließ Frau Krüger die Intensivstation und erschrak fast, als sie jemand erstaunt ansprach.

  • „Frau Krüger, wollen sie Semir besuchen?“ fragte Andrea, die sich gerade auf den Heimweg gemacht hatte und verwundert die Gestalt der Chefin erkannte. „Nein, äh, eigentlich doch!“ stammelte die, was ihr einen verwunderten Blick von Semirs Frau einbrachte. „Soll ich ihnen zeigen, wo sie hinmüssen?“ erbot sich Andrea und wollte sich schon wieder umdrehen, als Kim sie am Ärmel packte. „Nein, Andrea, eigentlich komme ich gerade von der Intensivstation. Ben liegt jetzt auch dort!“ erklärte sie kurz. Nun war es an Andrea, sie mit offenem Mund anzusehen. „Heute Nachmittag bin ich gekommen, erstens um nach Semir zu sehen und zweitens, um Ben seine Suspendierung mitzuteilen. Wir haben uns ganz kurz unterhalten und dann ist er plötzlich umgefallen. Er wurde untersucht und dann sofort operiert, weil er anscheinend vom Unfall her einen Milzriss hatte. Jetzt liegt er an lauter Schläuchen und Kabeln da drin und mir war gerade ganz schummrig, als ich ihn gesehen habe!“ erklärte sie Andrea.


    Die nickte verständnisvoll und sagte: „Das kann ich verstehen, mir ging es genauso, als ich vor drei Tagen den Anruf von Ben bekommen habe, dass Semir bei einem Autounfall schwer verletzt wurde und gesehen habe, wie er da angeschlossen an die ganzen Geräte lag. Als mir dann Ben und die Ärzte gesagt haben, dass mir niemand eine Garantie geben kann, ob er jemals wieder aus dem Koma aufwacht, war ich völlig verzweifelt und Ben musste mich festhalten, sonst wäre ich einfach da reingestürmt und hätte Semir geschüttelt und angeschrien, damit er die Augen endlich aufmacht!“ erinnerte sie sich mit Schaudern. „Ben hat mich da getröstet, aber obwohl er ja genauso verschrammt wie Semir ausgesehen hat, hat er keinen Pieps gesagt, dass es ihm ebenfalls nicht gut geht!“ sagte sie dann verwundert.


    „Anscheinend hat er sich gar nicht untersuchen lassen, sondern seine Beschwerden verharmlost, um den Fall zu lösen. Als ich ihm gesagt hatte, dass er draußen ist und wegen Befangenheit nicht ermitteln darf, war er zornig und hat sich, wie schon so oft, nicht an meine Anweisungen gehalten. Wie wir ja wissen, hat er ganz alleine Jan Behler überführt, diesem McConnor das Leben gerettet und musste dabei mit anschauen, wie zwei seiner Jugendfreunde zu Tode kamen, die eine durch eine Polizeikugel und der andere durch Selbstmord. Jetzt wollte Frau Schrankmann auf die Beschwerde von McConnor reagieren, der von ihm niedergeschlagen wurde und hat mich regelrecht gezwungen, ihn deswegen kurzzeitig aus erzieherischen Gründen zu suspendieren. Ich habe ihm das mitgeteilt, er hat mir widersprochen und sich maßlos aufgeregt und dann war er plötzlich bewusstlos!“ erzählte sie Andrea die Vorkommnisse des Nachmittags.


    Andrea dachte eine Weile nach und sagte dann erschrocken: „Semir hat ja den Wagen gefahren, wodurch das passiert ist. Wenn er jetzt erfährt, dass Ben bei dem Unfall auch schwer verletzt wurde, wird er sich sehr aufregen und schuldig fühlen-ich kenne ihn doch! Wir dürfen ihm das erst sagen, wenn Ben überm Berg ist, sonst bekommt er auch noch einen Rückschlag!“ überlegte sie laut und Frau Krüger stimmte ihr zu.


    Die beiden Frauen beschlossen Stillschweigen zu bewahren und nach kurzer Beratschlagung wollte Frau Krüger nun Konrad und Julia informieren und Andrea konnte nicht anders, sie musste nochmals auf die Intensiv, um Ben mit eigenen Augen zu sehen. Während Frau Krüger nach draußen ging, um die Nummer vom alten Jäger herauszusuchen, drehte sich Andrea um, um wieder an der Intensivstation zu läuten. Die Schwester an der Rufanlage ließ sie herein und als Andrea ihr ihr Anliegen schilderte, war sie erst unschlüssig, ob das wohl in Ordnung war, wenn ihr hilfloser Patient einfach besucht wurde, obwohl er sich ja nicht äußern konnte, ob ihm das Recht war. Frau Krügers Besuch hatte er ja vor der OP sozusagen noch erlaubt, aber jetzt begab sich die Schwester rechtlich auf dünnes Eis, wenn sie Andrea zu Ben ließ. Als sie ihr Anliegen mit ihrem Kollegen besprach, konnte sich der erinnern, dass er Ben und Andrea am Unfalltag Arm in Arm vor der Intensiv gesehen hatte. „Die beiden haben sicher ein enges Verhältnis-lassen wir sie kurz zu ihm und morgen wird er uns dann selber sagen, ob ihm das Recht ist!“ beschlossen die Intensivmitarbeiter gemeinsam.


    Also wurde Andrea zu Ben gelassen und war genauso erschrocken, über die geisterhafte Blässe ihres Freundes, auf den wirklich der Ausdruck- weiß, wie die Wand- passte. Auch sie betrachtete entsetzt die Schläuche und Kabel, allerdings war ihr bewusst, dass Semir auch so schlecht ausgesehen hatte und jetzt schon wieder auf dem Wege der Besserung war. Sie trat vorsichtig näher und griff unter der Decke, die sich von dem Warmluftgebläse wölbte, nach Bens immer noch eiskalter Hand. „Werd´ bald wieder gesund, wir brauchen dich doch!“ flehte sie mit Tränen in den Augen, aber es kam keinerlei Reaktion. Die Schwester bat sie, jetzt zu gehen und Andrea drehte sich langsam um und verließ wie eine Marionette die Intensivstation, um nach Hause zu fahren, wo ihre Mutter mit Ayda und Lilly auf sie wartete.

  • Man kontrollierte engmaschig Bens Blutgase und sonstige Laborwerte. Stündlich leerte man den Urinbehälter, um die Nierenfunktion zu beobachten. Man sah auf den Verband, der zwar leicht durchschlug, aber keinen Anhalt für eine stärkere Nachblutung bot. Nach zwei Stunden saugte man ihn endotracheal ab und provozierte einen Hustenreiz, so dass Ben verwundert kurz die Augen öffnete, aber dann sofort weiterschlief. Auch seinen Nasen-Rachenraum saugte man von Schleim und Speichel frei, was ihm zwar ein Stirnrunzeln hervorlockte, aber er war, obwohl man die Sedierung schon reduziert hatte, noch so weit weg, dass er keine gezielten Reaktionen zeigte. Auch die Temperatur kam kaum über 36.0°C und so beschloss der diensthabende Oberarzt bei der Spätnachmittagsvisite, dass man ihn erst morgen geplant extubieren würde. „Ich denke, er ist so erschöpft, dass es ihm momentan einfach guttut, noch ein bisschen zu schlafen!“ sagte er und ordnete an, zur Nacht die Sedierung wieder zu erhöhen und morgens dann um 7.00 auszuschalten.
    Der Stationsarzt notierte das in der Kurve und alle zwei Stunden drehte man Ben von einer Seite auf die andere, um ein Wundliegen zu vermeiden und auch die Lunge gleichmässig zu belüften. Er brauchte immer noch kreislaufstützende Medikamente und reagierte auch sehr empfindlich, wenn ein Perfusor, oder eine Infusion gewechselt wurden, oder die Tropfgeschwindigkeit verändert wurde. Die Drainagebeutel waren mit einer Mischung aus Blut und Spülflüssigkeit gefüllt und wurden um Mitternacht von der Nachtschwester geleert.Erst da war seine Temperatur endlich im Normbereich und das Thermacair konnte weggenommen werden.


    Obwohl rein äußerlich Ben so aussah, als würde er friedlich schlafen, schossen ihm immer wieder Eindrücke und Gedankenblitze durch den Kopf, untermalt von einer großen Müdigkeit. Er sah Jan wieder und wieder von der Kante in den Tod stürzen und Eva brach auf dem Dach vor ihm tot zusammen, getroffen von einer Polizeikugel. Verzweifelt versuchte er herauszufinden, wo er war und was los war. Als er einmal die Augen öffnete, weil ihn etwas im Hals kitzelte, stand eine junge Frau vor ihm und machte etwas, was ihm gar nicht gefiel und ihn zu einem starken Husten reizte. Er wollte sie wegschlagen, merkte dann aber, dass er festgebunden war und seine Hände nicht freibekam. Seine anfänglichen Abwehrbewegungen erlahmten wieder, als er in Ruhe gelassen wurde und wieder hinüberdämmerte.


    Immer wieder hatte er verschwommene Eindrücke, etwas piepte und pfiff, man rieb ihm den Rücken mit Lotio ein und drehte ihn auf die Seite. So sehr er sich aber bemühte, die Augen offenzuhalten, die Chemie, die sein Hirn vernebelte war stärker. Einmal meinte er Andreas Stimme gehört zu haben, aber er schaffte es nicht, seine Augenlider zu heben, er spürte nur, wie eine warme Hand die Seine nahm und bemerkte erst da wieder, wie unangenehm kalt ihm war. Bevor er allerdings seine Kräfte zusammennehmen und mit Andrea Kontakt aufnehmen konnte, hatte jemand etwas zu ihr gesagt und sie hatte ihre warme, wohltuende Hand zurückgezogen.


    Dann schlief er wieder eine Weile, bis er wieder angefasst und gedreht wurde. Einmal hörte er aus der Ferne die Stimme seines Vaters und Julias, aber auch die waren wieder weg, bevor er sich bemerkbar machen konnte. Deshalb gab er sich jetzt auch gar keine Mühe mehr, wach zu werden, sondern kapitulierte von diesem wohltuenden Schlaf und bevor er sich versah war es Morgen und das Sedativum wurde ausgeschaltet und das Schmerzmittel reduziert.
    Langsam kehrte Ben wieder in die Realität zurück und als er zum wiederholten Mal die Augen geöffnet hatte, fiel ihm plötzlich wieder ein, dass er im Krankenhaus war. Beruhigt schloss er noch ein wenig die Lider und döste vor sich hin, bis das Schlafmittel völlig aus seinem Organismus verschwunden war.

  • „Herr Jäger, können sie mich verstehen?“ drang eine Stimme in sein Bewusstsein. Bereits nicht mehr so mühsam, öffnete er die Augen,
    sah den Frager an und nickte dann. Zuerst hatte er allerdings versucht, etwas zu sagen, aber der Schlauch in seinem Hals, der ihn jetzt megamässig zu stören begann, hinderte ihn daran. Reflexartig hatte er versucht nach oben zu fassen, aber das war nicht möglich, denn er war angebunden. Ein Anflug von Panik machte sich in ihm breit und er begann hektisch gegen die Maschine zu pressen, die daraufhin laut und nervtötend zu pfeifen begann. Moment, er sollte operiert werden, fiel es ihm jetzt wieder siedendheiss ein, Mann die durften nicht anfangen, denn er war ja noch gar nicht weg! Verzweifelt versuchte er sich bemerkbar zu machen und starrte mit weitaufgerissenen Augen den jungen Arzt an. Aua, sein Bauch tat weh und als er nun heftig husten musste, verzog er vor Schmerzen das Gesicht.


    „Ganz ruhig, gleich ziehen wir den Schlauch heraus!“ sagte beruhigend der Doktor und drehte sich zur Schwester um, die schon mit dem Notfallwagen in Standby neben ihm stand. Falls es eine Komplikation gab, oder Ben es einfach noch nicht schaffte, alleine zu atmen, war man immer gewappnet, sofort zu reintubieren. Aber so bereitete man in aller Ruhe den Sauger und eine Blockspritze vor, saugte erst seinen Mund ab, wie beim Zahnarzt, löste dann die Pflaster, mit denen der Tubus in seinem Gesicht verklebt war, was durch die Bartstoppeln ganz schön ziepte und legte eine Ohio-Sauerstoffmaske bereit.


    Man stellte das Bettkopfteil höher und Ben, der inzwischen immer mehr Panik bekam, konnte gar nicht richtig zuhören, was der Arzt und die Schwester zu ihm sagten. Endlich begann die Schwester zu saugen und als man den luftgefüllten Ballon, mit dem der Tubus hinter der Stimmritze geblockt war, entblockte, ging es ganz schnell. Der Tubus wurde herausgezogen, Ben hustete heftig und meinte momentan überhaupt keine Luft mehr zu kriegen, aber dann entspannte sich sein Körper und er holte tief Atem. Man löste auch gleich die Handfixies und stellte das Kopfteil in eine halbsitzende Position. Die Sauerstoffmaske auf seinem Gesicht, begann er sich langsam von dieser Megaanstrengung zu erholen und seine Gedanken zu ordnen. Als er etwas sagen wollte, legte ihm die Schwester die Hand auf den Arm und sagte: „Ganz ruhig Herr Jäger, noch nicht sprechen, sie müssen sich ein wenig Zeit lassen!“ und er nickte, zum Zeichen, dass er verstanden hatte.


    Der Arzt und die Schwester, die noch eine Weile neben ihm stehengeblieben waren und den Monitor beobachtet hatten, waren nun zufrieden, denn die Sauerstoffsättigung, die mittels eines Infrarotclips an seinem Finger kontinuierlich gemessen wurde, stieg wieder in den Normbereich, nachdem sie zuerst besorgniserregend abgefallen war. Die Schwester fuhr den Notfallwagen wieder aus dem Zimmer und der Arzt notierte nach einem Blick auf die Uhr, an der Tastatur neben dem Bett, die erfolgreiche Extubation in der papierlosen Patientenkurve.


    Ben war dann ein wenig alleine im Zimmer und die Schwester hatte ihm die Glocke ganz nah an seine Hand gelegt. „Wenn etwas ist, bitte läuten, ich komme sowieso in ein paar Minuten wieder zur Blutgaskontrolle, aber es ist alles in Ordnung, glauben sie mir!“ sagte sie und Ben nickte wiederum.
    Sein Bauch brannte und ziepte, aber ganz anders, als gestern und so schob er nach einer Weile die dünne Decke beiseite und lüpfte das Krankenhaushemd, das sie ihm angezogen hatten. Über seinen Bauch erstreckte sich ein großer Klebeverband und links kamen drei Drainagen aus ihm heraus, von denen zwei in einen blutgefüllten Beutel mündeten.
    Aha, anscheinend war er doch schon operiert und lag auf der Intensivstation, wie er nach einem Blick auf die Kabel und Geräte um ihn herum, konstatierte. Er ließ den Kopf müde wieder sinken und wartete darauf, dass ihm jemand Bescheid gab, was überhaupt gemacht worden war.

  • Wenig später kam die Schwester wieder herein, um wie angekündigt, das Blutgas abzunehmen. Wie geht’s ihnen Herr Jäger?“ wollte sie von ihm wissen und nachdem er kurz überlegt hatte, sagte er krächzend: „Ganz gut!“ war aber erschrocken, wie rauh seine Stimme war. „Das mit der Heiserkeit legt sich in ein paar Stunden“ erklärte ihm die Schwester, während sie aus dem arteriellen Zugang an seinem Unterarm völlig schmerzfrei Blut abnahm, das sie anschließend am stationären Blutgasgerät auf der Intensivstation kontrollieren würde.
    „Was ist jetzt überhaupt bei mir gemacht worden?“ wollte Ben nun wissen und die Schwester erklärt kurz: „Man hat an ihrer schwer verletzten Milz eine Blutstillung vorgenommen und sie in ein Bionetz gehüllt. Nun hoffen wir, dass das hält und sie nicht noch einmal zu bluten anfangen. Deshalb bleiben sie auch hier bei uns auf der Intensivstation, damit wir sie engmaschig überwachen können. Wenn sie sich ein wenig erholt haben, komme ich zum Waschen und der Arzt spricht später auch noch mit ihnen und macht eine Ultraschalluntersuchung.“


    Während die Schwester das Zimmer wieder verließ, dachte Ben darüber nach, was er denn über die Milz überhaupt wusste. Gut, er hatte eine-und wenn man Seitenstechen bekam, dann kam das auch daher-oder doch nicht? Damit erschöpfte sich sein Wissen und er konnte auch nirgendwo sein Handy entdecken, mit dem er via Internet seine Wissenslücken hätte schließen können. Na jedenfalls würde er an den Arzt eine Menge Fragen haben. Obwohl er es eigentlich gar nicht vorhatte, fielen ihm bald die Augen zu und als die Schwester kurz darauf mit ihren Befunden zurückkam, um die in seine Kurve einzulesen, schlummerte Ben selig vor sich hin und die Schwester drehte den Sauerstoff ein wenig zurück und ließ ihn schlafen. So würde er sich am besten erholen und waschen konnte man ihn später auch noch!


    Semir hatte ebenfalls eine gute Nacht verbracht. Er ließ den Unfall nochmals Revue passieren und wenn er daran dachte, dass er und Ben jetzt tot sein könnten, denn Pkw gegen Lkw war einfach eine ungleiche Sache, dann war er froh, dass es für alle Beteiligten doch relativ glimpflich abgegangen war. Als er gestern Ben hinter der Glasscheibe zugewinkt hatte-na ja, wenn man dieses Fingerzucken so nennen wollte – dann war er wieder zurück im Leben und die paar Kratzer würden auch in Kürze heilen!
    Andrea war die ganze Zeit bei ihm gewesen und er war ja nach dem Unfall erst Tage später auf der Intensivstation aufgewacht. Es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen, dass einem ein paar Tage einfach so fehlten, denn seine letzte Erinnerung war der Aufprall gewesen und dann erst wieder Andreas Stimme und Gesicht, die ihn gezwungen hatte, die Augen zu öffnen. Na ja und wenn man Andreas Hartnäckigkeit kannte, dann tat man lieber, was die einem sagte, denn die gab sonst sowieso keine Ruhe mehr!
    Inzwischen war er von den Ärzten aufgeklärt worden, dass er ein Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades erlitten hatte, was zwar eine zweitägige Bewusstlosigkeit hervorgerufen hatte, aber sonst folgenlos ausheilen würde. Seine sonstigen Verletzungen waren nicht schwerwiegend, wie üblich Schürfwunden und Kratzer, keine Brüche. Das hatte er in seiner beruflichen Laufbahn schon so oft gehabt-das war irgendwie gar nichts besonderes mehr. Er wusste, dass er das aushalten konnte und bald wieder fit sein würde. Außerdem geizten die hier auf der Intensivstation auch nicht mit Schmerzmitteln und so fühlte er sich vergleichsweise wohl in seiner Haut.


    Nachdem Andrea erst nachmittags kommen würde, war er morgens schon duschen gewesen. Die Schwester hatte ihn zwar mit dem Duschstuhl rausgefahren, aber sonst hatte er sich alleine versorgen können. Auch den blöden Blasenkatheter war er schon losgeworden und nachher sollte noch der Krankengymnast zu Gehübungen kommen. Semir bekam schon ein normales Frühstück und vertilgte das am Bettrand sitzend mit Appetit und ohne Übelkeit. Ob Ben den Fall wohl schon gelöst hatte? fragte er sich. Er war sich ziemlich schnell klar gewesen, dass sein Freund aus Verbohrtheit nicht objektiv ermitteln konnte, denn es war für Ben unvorstellbar, dass ein Teil seiner Vergangenheit plötzlich ganz anders sein sollte. Er hatte Jan völlig vertraut und einem Abend mit Jan dem ManU Spiel vorgezogen, zu dem er Semir die Karten mit viel Mühe und nicht ganz legal besorgt hatte. Aber Semir hatte das verstanden und war auch gar nicht sauer gewesen-na ja, vielleicht doch ein bisschen und auch ein wenig eifersüchtig, musste er sich eingestehen. Aber egal, ihre Freundschaft würde das aushalten und nachdem ihm Andrea da keine Auskunft darüber geben würde, würde er einfach Ben fragen, wenn der wieder zu Besuch kam, was sicher bald der Fall sein würde.
    Wenig später kam der Physiotherapeut zu Semir und brachte einen Gehwagen mit, um mit ihm die ersten Schritte zu üben. Seine Infusionen wurden abgestöpselt, er bekam einen Bademantel über das hinten offene Flügelhemdchen gezogen und marschierte nun mit seiner Begleitung los.


    Ben war inzwischen aufgewacht, weil der Arzt mit dem Ultraschallgerät vor ihm stand. „Herr Jäger, ich muss jetzt mit dem Sono einen Blick auf ihren Bauch werfen, denn es ist jederzeit möglich, dass die Milz wieder zu bluten beginnt und dann müssen wir sie unverzüglich wieder in den OP bringen und das Organ entfernen!“ sagte er. Ben, der selig geschlafen hatte, sah den Arzt mit gerunzelter Stirn an, der schon dabei war, das Hemd hochzuschieben und den Oberbauch mit Sonographiegel dick zu benetzen.
    „Ich hätte da auch noch ein paar Fragen!“ begann er, um dann unvermittelt aufzuhören und laut zu stöhnen, als der Schallkopf auf seinen frischoperierten Bauch gedrückt wurde. Mann tat das weh, einmal entfuhr ihm sogar ein kleiner Schrei und plötzlich hörte er Semirs Stimme die alarmiert rief: „Ben, bist du das?“ und er konnte nur gequält zurückrufen: „Ja!“, als schon wieder eine neue Schmerzwelle über ihm zusammenschlug.

  • Semir blieb wie vom Donner gerührt stehen und versuchte herauszufinden, woher die Antwort gekommen war. Er ließ den Gehwagen einfach stehen und ging ohne zu zögern in das Zimmer, das er nach Bens Stöhnen geortet hatte. Der Physiotherapeut fuhr kopfschüttelnd den Gehwagen zur Seite und folgte seinem Patienten. Semir stand inzwischen vor Bens Bett, während der Arzt gerade das Ultraschallgel abwischte und das Hemd herunterzog.


    „Was um Himmels willen tust du da?“ fragte er fassungslos und entlockte damit Ben ein schiefes Grinsen-„Siehst du doch, sambatanzen!“ gab er flapsig zurück, wurde aber dafür gleich bestraft, denn er musste husten und das tat einfach nur schrecklich weh. Ben presste seine Hände auf den Bauch und traute sich fast nicht mehr zu atmen, so starke Schmerzen hatte er plötzlich. Der Arzt reagierte sofort und gab ihm aus dem immer noch laufenden Schmerzmittelperfusor eine Extraration, einen sogenannten Bolus. Ganz ruhig, gleich wird’s besser, Herr Jäger!“ sagte er tröstend und tatsächlich ließen die Schmerzen ziemlich schnell nach. Allerdings wurde Ben dadurch auch wieder schrecklich müde und wollte sich nur noch ausruhen, die Fragen an den Arzt würde er später stellen. Semir hatte sich inzwischen auf den Stuhl gesetzt, den ihm der Krankengymnast hingeschoben hatte, denn nun wurde auch ihm ein wenig schummrig. „Na klasse!“ moserte der Physiotherapeut, während er sich auf die Suche nach einem Rollstuhl machte, um seinen Patienten wieder ins Bett zu bringen.


    Der Arzt musterte die beiden Männer und fragte: „Sie waren bei dem Unfall im selben Fahrzeug?“ und Semir sah ihn ganz entsetzt an. „Ben, was ist mit dir?“ wollte er wissen und der murmelte nur noch: „Das weiß ich selber nicht so genau!“ bevor er vor dem Opiat die Waffen streckte und einfach einschlief. Semir streckte die Hand aus und berührte seinen Freund, der schrecklich aussah, wie er mit Entsetzen bemerkte. Er war weiß wie die Wand und seine Augen lagen in tiefen Höhlen. Semir hatte vorhin kurz einen Blick auf den Bauch seines Freundes erhascht, der von einem großen Verband bedeckt war und aus dem ein paar blutige Drainagen führten.
    Überall führten Schläuche und Kabel zu ihm hin und von ihm weg, eine ganze Latte an blinkenden Infusomaten und Perfusoren versorgten ihn mit Flüssigkeit und Medikamenten und neben dem Ultraschallgerät stand eine Beatmungsmaschine im Standbymodus.


    Vor dem Ultraschall hatte der Arzt noch die Sauerstoffmaske gegen eine Brille eingetauscht, da die Blutgase sehr gut gewesen waren und Ben nicht mehr so viel O2 brauchte. So sah Semir noch die liegende Magensonde und nun wurde ihm momentan ganz schlecht. Der Arzt und der Physiotherapeut packten ihn und setzten ihn in den Rollstuhl, den der Krankengymnast inzwischen hereingebracht hatte. Mit wehenden Fahnen gings zurück ins Bett und erst als Semir wieder flach lag, beruhigte sich sein Kreislauf. Was war bloß mit Ben passiert und warum lag er ebenfalls auf der Intensivstation? Als er den Arzt fragte, der noch kurz neben seinem Bett stehengeblieben war und auf den ersten Blutdruckwert wartete, schüttelte der bedauernd den Kopf. „Tut mir leid, das darf ich ihnen nicht sagen, das unterliegt der Schweigepflicht, da müssen sie ihren Kollegen schon selber fragen, wenn er wieder wach wird!“


    „Aber er wird doch wieder wach?“ fragte Semir ängstlich. Ben hatte ausgesehen, wie der Tod persönlich. Gestern hatte er ihm noch freudig zugewinkt, durch die Glasscheibe und heute lag er selber auf Leben und Tod im Nebenzimmer. Was war da nur geschehen?
    „Doch, doch, so schlecht, wie er gerade aussieht, geht’s ihm gar nicht. Wir haben die Sache in Griff. Jetzt ruhen sie sich nur ein wenig aus. Das war nur ein orthostatischer Kollaps bei ihnen, durch das erste Aufstehen und dann noch den Schreck. Heute Nachmittag denke ich, können sie schon nochmal kurz zu ihrem Freund rüberschauen, vielleicht dann von vorne herein mit dem Rollstuhl, dann ist es für sie auch nicht so anstrengend!“ tröstete ihn der Arzt und war mit dem Blutdruck, der inzwischen gemessen hatte, ganz zufrieden. Alle verließen das Zimmer und ließen einen total verstörten Semir zurück, der sich schreckliche Sorgen und Gedanken um seinen besten Freund machte.
    Was war da passiert und warum hatte der Arzt Bezug auf den Unfall genommen? Aufseufzend ließ Semir seinen brummenden Schädel aufs Kissen zurücksinken und wartete sehnsüchtig, dass jemand kam, der ihm weitere Auskunft geben würde.

  • Semir hätte gerne geschlafen, aber irgendwie ging das nicht. Was war nur mit Ben passiert? Er hatte sicher weiter in dem Fall ermittelt und vermutlich war in der Zeit seiner Bewusstlosigkeit etwas passiert, was Ben und Jan betraf. Bei ihm, Semir, war ziemlich schnell der Verdacht gekeimt, dass der in dieser Überfallsache drinsteckte, auch wenn Ben das Gegenteil behauptet hatte. Auch wenn Ben ganz empört gewesen war und das seinem Jugendfreund nie zugetraut hätte, irgendetwas stimmte nicht mit dem, das hatte er gleich gespürt. Nur weil er im Rollstuhl saß, war er deswegen noch lange kein Unschuldslamm. Was hätte ihn denn sonst just zu diesem Zeitpunkt auf die Wache geführt? Einen Kumpel von früher besuchen? Da rief man normalerweise auf dem Handy an und wenn man die Nummer nicht hatte, setzte man sich mit den Eltern in Verbindung, die ja meistens noch am selben Ort wohnten. Konrad hätte ihm selbstverständlich Bens Handynummer und/ oder die Adresse gegeben-es wäre nicht nötig gewesen, dass er auf der Wache erschien.
    Der wollte herausfinden, was der Polizei bekannt war und anscheinend war es ihm durch Bens Indiskretion gelungen. Wie hätte er sonst wissen können, dass das Geld genau an diesem Vormittag in die Asservatenkammer überführt werden sollte? Der Zeitpunkt und der Ort für den Überfall waren den Tätern bekannt gewesen, von wem, außer Ben?


    Gut, er hatte ja alleine herausgefunden, dass Jan beileibe nicht zu einem Wirtschaftskongress nach Köln gekommen war, sondern um McConnor zu töten, der Jans Vater um sein Vermögen gebracht hatte und so zum Tod beider Eltern beigetragen hatte. Jan war, seinen Recherchen zufolge, ein radikaler Aktivist geworden, der der Legalität schon lange den Rücken zugekehrt hatte. Kurz vor dem Unfall hatte er Ben darüber aufgeklärt und beide waren bei der Verfolgung des Lieferwagens, in dem Jan und Eva-Bens Jugendfreundin-saßen, sehr aufgeregt gewesen und durch einen dummen Fahrfehler seinerseits in diesen Bagatellunfall verwickelt worden. Wenn er nicht so unaufmerksam gewesen wäre, wäre ihr Wagen sicher nicht genau an dieser blöden Stelle stehengeblieben und dann vom LKW gerammt worden. Also trug er die Schuld an dem Unfall-und wenn Ben jetzt irgendwelche Spätfolgen davontragen würde, würde er sich das nie verzeihen! Semir wurde immer aufgeregter und steigerte sich in seine Sorge so hinein, dass er schließlich vor Kummer und Zorn in Tränen ausbrach und kurz davor war, alle Schläuche herauszuziehen und zu Ben zu stürmen. Er musste einfach wissen, was los war, sonst würde er keine ruhige Minute mehr haben!


    Gerade als er sein Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, stand auf einmal Frau Krüger vor ihm und sagte „Semir, wie geht es ihnen!“ und dann schluckte er seine Tränen hinunter und fasste sich wieder. Diese Blöße würde er sich nicht geben, vor seiner Chefin rumzuheulen und sie tat auch so, als hätte sie nichts bemerkt. Semir fasste nach einem Taschentuch, das auf seinem Nachtkästchen lag und schneuzte herzhaft, um dann entschlossen die Chefin um Hilfe und Auskunft zu bitten.


    Während Semir sich Sorgen und Vorwürfe machte, lag Ben friedlich in Morpheus Armen und gönnte sich auf den Stress hin erst mal ein kleines Schläfchen. Er fühlte sich momentan gar nicht so schlecht und Semir ging es anscheinend auch ganz gut, weil er ihn schon besucht hatte. Gut, als der Arzt und der Physiotherapeut ihn im Rollstuhl davongefahren hatten, war er etwas blass um die Nasenspitze gewesen, aber das würde schon nicht so schlimm sein-oder doch? Je länger Ben, der inzwischen wieder ganz zu sich gekommen war, darüber nachdachte, desto mehr Sorgen begann er sich um seinen besten Freund zu machen.
    Er war schon sehr blass gewesen-hoffentlich hatte er keine Komplikation gekriegt. Man hörte da ja die tollsten Sachen! Vielleicht hatte er ja deswegen so schnell verschwinden müssen, weil es ihm so schlecht ging und er jetzt mit dem Tod rang? Er würde sich das nie verzeihen können, wenn Semir wegen ihm etwas zustoßen würde. Immerhin war er ja an dieser ganzen verzwickten Situation schuld gewesen! Ben musterte die ganzen Schläuche und Kabel, die ihn umgaben. Konnte man die einfach abmachen, um mal nachzusehen, was mit Semir war? Zögernd begann er sich aufzusetzen und die Beine aus dem Bett zu schwingen. Mann, das tat ganz schön weh im Bauch und ein wenig übel war ihm auch. Aber wenn er sich gefangen hatte, würde er einfach mal nachschauen gehen, was mit seinem Freund los war!

  • Die Schwester, die Frau Krüger hereingelassen hatte, war kurz danach in Semirs Zimmer gekommen. Sie hatte vom Vortag noch die Order, dass eine Frau Krüger zu Herrn Jäger durfte, aber jetzt war die einfach ins verkehrte Zimmer abgebogen. Dort stand sie allerdings vor dem Bett und war anscheinend in ein angeregtes Gespräch mit Herrn Gerkan vertieft. Als die Schwester fragte, ob alles in Ordnung sei, nickte Semir, bat aber im gleichen Atemzug um einen Rollstuhl. „Schwester, ich muss einfach zu meinem Freund, Herrn Jäger. Unsere Chefin wird mich fahren und ich verspreche, mir wird auch nicht schlecht, jetzt weiß ich ja, was mich erwartet. Aber wir waren bei dem Unfall miteinander im Wagen und ich muss mich jetzt einfach mit ihm unterhalten, sonst dreh´ ich hier noch durch!“ erklärte er wortreich und nach kurzer Überlegung drehte sich die Schwester um und brachte gleich darauf einen Rollstuhl. Dann begann sie das Infusionskabel abzustöpseln und wollte gerade Semirs Monitor auf Standby schalten, damit sie die Überwachungskabel abmachen konnte, da erschien auf dem Display eine Alarmmeldung.


    Oben drüber stand der Name: Jäger, Ben und darunter sah man, dass da wohl Kabel abgegangen waren. Im selben Moment ertönte ein dumpfer Schlag und nun rannte die Schwester auch schon los, um nachzusehen. Semir und Frau Krüger, die schon mit den Rollstuhlgriffen in der Hand bereit stand, wechselten einen kurzen Blick und dann zog Semir entschlossen den Blutdruckapparat von seinem Arm, legte den Infrarotsensor von seinem Finger daneben und löste die EKG-Kabel. Genauso hatte das der Krankengymnast vorhin gemacht, das würde schon richtig sein. In Windeseile setzte sich Semir in den Rollstuhl und Frau Krüger schob sofort los. Während sie um die Ecke bogen, rannten noch er Stationsarzt und eine weitere Schwester in Bens Zimmer und je näher sie kamen, desto mehr Angst hatte Semir vor dem Anblick, der ihn jetzt wohl erwarten würde.


    Ben war eine Weile am Bettrand sitzengeblieben. Es ging eigentlich ganz gut und so begann er, mal die ganzen Schläuche zu ordnen. Er holte den Magensondenbeutel näher, hängte den Urinbeutel ab und löste die Drainagebeutel aus der Befestigung an seinem Bett. Dann musterte er das Arterienkabel, packte dann entschlossen den Druckbeutel auch noch dazu und zog einfach das Kabel ab, das den mit dem Monitor verband, gleichermaßen verfuhr er mit den EKG-Kabeln und dem Infrarotsensor. Das wäre doch gelacht, das war auch nur eine technische Sache, das hatte er im Griff! Seine ganzen Schläuche wie ein Bündel in der Hand haltend, erhob er sich langsam von der Bettkante und versuchte sich hinzustellen. Der Monitor hatte inzwischen begonnen laut zu alarmieren und gerade, als Ben den ersten Schritt zu seinem Freund tun wollte, wurde ihm plötzlich sehr schwindlig und ohne dass er irgendetwas dagegen machen konnte, zog es ihm die Füße weg. Ein kurzer Ruck an seinem Hals war zu spüren, aber dann wusste er nichts mehr und sank einfach bewusstlos zu Boden.


    Als die Schwester das Zimmer erreicht hatte, erwartete sie der Anblick, den sie ehrlich gesagt erwartet hatte. Am Boden lag in einer Blutlache ihr bewusstloser Patient, um sich herum lauter verdrehte Schläuche und Kabel. Sie zog in Windeseile Handschuhe an und hörte auch schon, wie mehrere Kollegen ebenfalls gerannt kamen.
    „Mann, warum müssen die immer alleine aufstehen!“ motzte hinter ihr einer ihrer Kollegen, der gerade in seine Einmalhandschuhe schlüpfte. Die Schwester hatte inzwischen einen Packen steriler Kompressen vom Pflegewagen im Zimmer genommen und presste ihn fest gegen Bens Hals, aus dem das Blut aus der Wunde strömte, wo kurz zuvor noch der zentrale Venenkatheter gesessen hatte. Nun war auch schon der Arzt hinter ihr und prüfte die Vitalzeichen, die aber durchaus noch vorhanden waren. Der Kollege hatte inzwischen das Bett mit lauter Einmalunterlagen abgedeckt und mit der Ansage:“Auf drei!“ hoben sie den blutüberströmten Ben gemeinsam ins Bett. Während der Arzt nun den Druck auf die Halswunde übernahm, verbanden die Schwester und der Pfleger Ben erstmal wieder mit dem Monitor. „Was für eine Sauerei!“ schimpfte erneut der Kollege und seine Kollegin warf ihm einen entnervten Blick zu. „Du weißt genau, dass man das nicht verhindern kann und du kannst deswegen nicht vorsichtshalber wache Patienten ins Bett binden-das kommt einfach vor!“ und dann nullte sie erst mal die Arterie.


    Bens Blutdruck war nur bei 60/30 mm/Hg ,aber Gott sei Dank lag an seinem Unterarm noch ein peripherer Zugang, den man für eventuelle Bluttransfusionen hatte liegen gelassen. Schnell schloss die Schwester daran das Noradrenalin mit seiner Trägerlösung an und auf Anordnung des Arztes holte der Kollege gleich noch einen Plasmaexpander, der im Schuss infundiert wurde. Das Bett wurde in starke Kopftieflage gebracht und kaum begannen die Maßnahmen Bens Blutdruck wieder zu steigern, fingen seine Augenlider an zu flattern. Verständnislos sah er in die ganzen Gesichter über sich, er wusste momentan gar nicht, was los war.
    Der Arzt hatte inzwischen das blutige Hemd weggenommen und seinen Körper kurz durchgesehen, aber keine weiteren äußeren Verletzungen feststellen können. Der nächste Blick galt dem ZVK, ob der auch vollständig draußen war. Wenn ein Stück abgerissen worden wäre, könnte das leicht vom Blutstrom ins Herz gezogen werden und dort schwerste Herzrythmusstörungen hervorrufen, aber Gott sei Dank war der vollständig und nur noch ein Faden, mit dem er angenäht gewesen war, hing an Bens Hals. Langsam hörte durch den Druck die Wunde zu bluten auf und man machte noch einen Druckverband darüber.


    „So Herr Jäger, ich weiß ja nicht, was für ein Teufel sie da geritten hat, aber jetzt müssen wir einen neuen Cavakatheter legen, es hilft nichts!“ seufzte der Arzt und während die Schwester kurz die Decke bis zur Hüfte über ihren Patienten legte, holte der Kollege auch gleich den Eingriffswagen.
    Von der Tür her fragte eine entsetzte Stimme: „ Was ist mit ihm?“ und alle Anwesenden drehten den Kopf. „Es ist alles gut, Herr Jäger wollte nur einen kleinen Ausflug machen!“ beruhigte der Arzt den geschockten Semir, der in seinem Rollstuhl, geschoben von Frau Krüger, die Blutflecke und den etwas benommenen Ben, der in extremer Kopftieflage blutüberströmt in seinem Bett lag, musterte. „ Gehen sie wieder in ihr Bett, wir holen sie, wenn wir hier fertig sind!“ befahl nun der Arzt mit Autorität in der Stimme. Ben, dem inzwischen alles wieder eingefallen war, fragte angstvoll: „Semir, geht’s dir gut?“ und der Angesprochene antwortete erleichtert. „Auf jeden Fall besser als dir!“ und dann schob ihn die Chefin in sein Zimmer zurück und half ihm ins Bett.

  • In Bens Zimmer wurde inzwischen von der Reinigungskraft kurz der Boden gewischt und desinfiziert, damit man Bens Blut nicht mit den Schuhen auf der ganzen Station verteilte und dann bekam er auf der anderen Halsseite einen neuen ZVK gelegt. Ben war jetzt ganz still, denn er fühlte sich erstens hundeelend und zweitens schalt er sich inzwischen selber, wegen seiner Unvorsichtigkeit. Als hätte die Schwester seine Gedanken erraten, sagte sie zu ihm, während sie dem Arzt, der sich derweil steril angezogen hatte, die benötigten Dinge anreichte: „Herr Jäger, darf ich sie inständig bitten, in Zukunft einfach auf den Klingelknopf zu drücken, wenn sie aufstehen wollen, oder sonst was brauchen! Sie sehen selber, es ist sonst für alle Beteiligten unangenehm und mit Mehrarbeit verbunden, außerdem haben sie sich selbst in akute Lebensgefahr gebracht. Wo wollten sie eigentlich hin, wenn ich fragen darf?“
    Ben, der inzwischen beinahe vollständig unter dem sterilen, grünen Tuch verschwunden war, antwortete dumpf darunter hervor: „Ich wollte nachsehen, wie es meinem Freund, Herrn Gerkan geht. Der war zuvor bei mir gewesen, aber dann wurde ihm schlecht und man hat ihn mit wehenden Fahnen in sein Zimmer zurückgefahren. Ich habe mir solche Sorgen um ihn gemacht!“


    Der Arzt und die Schwester wechselten einen Blick und dann sagte der Arzt: „Ich denke, das beste wird sein, wenn wir die beiden in die Nebenbox legen, die nach der Verlegung des Patienten dort frei wird. Sonst fällt denen nur noch mehr Blödsinn ein!“ und die Schwester nickte. Ben war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte, aber die nächsten Worte der Schwester bestätigten, dass er sich nicht verhört hatte. Sie rief nämlich ihren Kollegen, der auch gleich danach seinen Kopf ins Zimmer steckte. „Andreas, könntest du bitte Herrn Gerkan in die Drei legen, wenn die nachher frei wird? Sobald wir hier fertig sind, schieben wir Herrn Jäger ebenfalls um, damit dieser Pendelverkehr endlich aufhört!“ und der nickte und verschwand wieder aus dem Zimmer.


    Gerade wollte sich Ben bedanken, da sagte der Arzt: „Achtung sticht!“ und dann war er die nächsten 15 Minuten mit etwas anderem beschäftigt. Denn auch nachdem die Lokale saß, ging das nicht so gut mit dem ZVK-Legen. Immer und immer wieder bohrte der Arzt mit der langen, dicken Nadel in seinem Hals auf der Suche nach dem Gefäß herum. Ben biss sich auf die Lippen, konnte aber trotzdem ein gelegentliches Stöhnen nicht verhindern.
    Das Bett wurde noch mehr in Kopftieflage gebracht, das Noradrenalin höher gestellt und durch die periphere Nadel Volumen gegeben, aber dennoch war es für alle Beteiligten sehr schwer. Sowohl dem Arzt unter seiner Vollvermummung, als auch Ben unter seinem großen Tuch brach der Schweiß aus. Als der Arzt das Blutgefäß endlich punktiert hatte, ließ sich der Führungsdraht erst nicht vorschieben und nur mit viel Mühe und Tricks, wie heftiges am Arm –Ziehen brachten sie endlich den ZVK an die richtige Stelle. Heute waren die Extrasystolen, als der Draht im Herzen war noch viel ärger ausgeprägt, als vor der OP. Auch war Ben da so geschockt und abgedopt gewesen, dass er das nicht so ganz richtig mitgekriegt hatte, während er jetzt innerlich zu beten anfing, dass die Tortur doch endlich fertig sein möge. Er verfluchte sich selber dafür, was er doch für einen Blödsinn gemacht hatte und als endlich der Venenkatheter angenäht wurde, was nochmals piekte, weil nun die Betäubung schon abgeklungen war, schwor er sich, dass das nächste Aufstehen nur in Begleitung erfolgen würde.


    Endlich war er fertig und während der Arzt noch die scharfen Teile vom Instrumententisch entfernte, begann die Schwester nun Ben erst zu verbinden und dann sauberzumachen. Das Blut war inzwischen schon angetrocknet und durch die Kopftieflage teilweise in seine Haare gelaufen. Eine Waschschüssel nach der anderen brauchte die Schwester Wasser und der Arzt bat noch um eine Röntgenaufnahme der Lunge, damit man eine Verletzung der Pleura bei der schwierigen Katheteranlage ausschließen konnte. Ben wurde noch geröntgt und dann kamen zwei Pfleger und legten ihn in ein frisches Bett.


    Endlich nahm man seinen Transportmonitor mit und fuhr ihn ins Nachbarzimmer, wo er schon von einem freudestrahlenden Semir erwartet wurde. Alle Infusionen wurden mit frischen Systemen wieder angebaut und es dauerte nochmals 10 Minuten, bis am neuen Bettplatz alles an Ort und Stelle war. Die Schwester entnahm noch Blut aus der Arterie, um am stationseigenen Kleinlabor die Blutgas-und Hb-Werte zu ermitteln. Der Blutverlust hatte doch ganz schön beeindruckend ausgesehen und war tatsächlich auch an den Werten abzulesen. „Herr Jäger, jetzt darf aber nichts mehr passieren, sonst kommen wir nicht ohne Fremdblut aus!“ drohte sie ihm und Ben, der die ganze Zeit schon Semirs Blick gesucht hatte, nickte folgsam.


    Semir sagte ganz überzeugt: „Keine Angst, Schwester, jetzt bin ich ja da und werde auf ihn aufpassen!“-wie sonst halt auch-setzte er in Gedanken nach und betrachtete liebevoll seinen sehr geschafft und blass aussehenden Freund, der ihm dafür ein schiefes Grinsen schenkte, bevor er die Augen schloss und einfach wegdämmerte.

  • Nach einer Weile, in der auch Semir vor sich hingedöst hatte, öffnete Ben die Augen wieder. Als er sich ein wenig drehte und dabei mit einem scharfen Schmerzenslaut Luft zwischen den Zähnen einsog, sah Semir ihn sofort alarmiert an. „Ben, was ist los, geht’s dir nicht gut?“ wollte er besorgt wissen, aber Ben schüttelte lächelnd den Kopf. „Geht schon wieder, nur das Umdrehen hat wehgetan!“ erklärte er seinem Freund der nun erleichtert ausatmete.
    Nun traute sich Semir erst zu fragen: „Ben, was ist denn eigentlich mit dir passiert und warum bist du am Bauch operiert worden?“ stellte er nun die Frage, die ihm schon eine ganze Weile unter den Nägeln brannte. Ben überlegte kurz und erzählte dann: „Als ich dich gestern besucht hatte und du mir zugewinkt hattest, war ich total erleichtert. Gerade als ich gehen wollte, stand Frau Krüger vor mir und hat mich vom Dienst suspendiert, weil ich McConnor, diesen Finanzhai, umgehauen habe. Plötzlich ist mir schummrig geworden, ich bin umgefallen und dann ging das alles ganz schnell. Bevor ich mich verschaut habe, war ich schon im OP und die haben meine Milz, die ´nen Riss hatte, geflickt und angeblich in ein Netz gepackt. Ich weiß selber noch nichts Näheres, denn irgendwie kam immer was dazwischen, wenn ich gerade fragen wollte!“ erklärte er in Kurzform und Semir sagte nur: „ Aha!“ und dann beschlossen sie nach einer Weile, dass sie jetzt mehr Informationen brauchten und Ben drückte auf den Rufknopf.


    Eine Stimme kam aus der Sprechanlage. „Ja bitte, was ist los?“ und Ben sagte: „Könnte ich bitte mal einen Arzt sprechen, was genau jetzt bei mir operiert wurde?“ und die Schwester versprach, einen Chirurgen vorbeizuschicken. Wenig später kam der zur Tür herein, holte sich einen Stuhl und setzte sich an Bens Bett, zwischen die beiden Patienten. „So, sind sie jetzt wach und aufnahmebereit genug, dass wir besprechen können, was eigentlich in ihrem Bauch so los war?“ fragte er und Ben nickte. „Darf Herr Gerkan das auch hören, oder sollen wir das unter vier Augen besprechen?“ wollte er dann noch wissen, aber Ben schüttelte lächelnd den Kopf. „ Nein, den interessiert das genauso wie mich und er darf das gerne wissen!“ wies er den Arzt an und der begann zu erklären.


    Bei dem Verkehrsunfall, den sie beide erlitten haben, sind starke Scherkräfte entstanden und vermutlich durch den Gurt und die Heftigkeit des Aufpralls kam es bei ihnen zu einer zweizeitigen Milzruptur. Das bedeutet, dass die Milzkapsel momentan die Verletzung des Organs abgedeckt hat und es zwar durch Gefäßabrisse zu einer Blutung kam, die aber durch den Druck der Kapsel von außen momentan daran gehindert wurde, weiterzubluten. Das hat wie ein Druckverband im Bauch gewirkt. Aus welchem Grund auch immer-meist ist es ein plötzlicher Blutdruckanstieg-ist dann drei Tage später die Kapsel gerissen und das Blut, das sich bisher schon angesammelt hatte, konnte ungehindert in die Bauchhöhle strömen und mangels innerlichem Druckverband hat die Milz dann auch munter weitergeblutet.
    Durch den plötzlichen Blutdruckabfall ist es bei ihnen zum Kollaps gekommen und deswegen sind sie umgefallen und bewusstlos geworden. Seien sie froh, dass das im Krankenhaus passiert ist, wenn sie da alleine in ihrer Wohnung liegen und das Telefon nicht bei sich haben, können sie da ziemlich schnell verbluten!“ erklärte er geduldig und Semir und Ben sahen ihn jetzt gleichermaßen geschockt an.


    „Warum habe ich da denn gar nichts davon gemerkt?“ wollte Ben wissen. „Gut, es hat schon ein wenig gezogen im Bauch, aber das habe ich auf die Prellungen vom Gurt zurückgeführt. Hätte das nicht viel mehr wehtun müssen?“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „ Ich verstehe sowieso nicht, warum sie nach dem Unfall nicht durch den Notarzt oder hier bei uns untersucht wurden?“ sagte er. Nun sah Ben betreten zu Boden. „Ich habe mich nicht untersuchen lassen, denn wir waren gerade an einem wichtigen Fall und ich habe befürchtet, die würden mich dann stationär aufnehmen und ich könnte dann nichts mehr unternehmen, deshalb habe ich das abgelehnt.“ erklärte er. Der Arzt nickte mit dem Kopf, aha, so war das also gelaufen, er hatte sich schon den nachlässigen Notarzt vorknöpfen wollen, aber der hatte Ben ja schließlich nicht zwangsuntersuchen können.
    Nun mischte sich Semir ein. „Das heißt, wenn man das rechtzeitig entdeckt hätte, hätte man vielleicht eine Operation verhindern können?“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „In diesem Fall nicht, da waren viel zu viele Gefäße eingerissen, das hätte man konservativ mit Bettruhe und engmaschiger Überwachung nicht hingekriegt, aber man hätte rechtzeitig operiert und den großen Blutverlust vermeiden können, den sie dadurch erlitten haben ,der ja jetzt durchaus Einfluss auf ihre Genesung hat und die ordentlich verzögert!“


    Nun nickte Semir und sagte vorwurfsvoll zu seinem Freund: „Siehst du, da hast du dich mit deiner Sturheit ganz schön in Gefahr gebracht!“ und der konnte leider nicht widersprechen.
    Nun fuhr der Arzt fort: „Wir haben nun bei der Operation eine sorgfältige Blutstillung vorgenommen und ihnen das Organ zumindest momentan erhalten. Als ich von ihrem versuchten Ausflug vorhin gehört habe, ist es mir kalt den Buckel runtergelaufen. Wir haben zwar ein resorbierbares Kunststoffnetz um die Milz gelegt, das die Aufgabe der Milzkapsel annähernd übernimmt, aber trotzdem kann die jederzeit bei Blutdruckanstieg oder Anstrengung wieder zu bluten beginnen. Wir waren während der Operation sowieso nahe daran, sie komplett zu entfernen, also eine Splenektomie vorzunehmen, aber der Oberarzt hat sich durchgesetzt und das Organ erhalten.“


    Nun fragte Ben ganz zaghaft, dem gerade wieder bewusst geworden war, was er schon wieder für einen Blödsinn gemacht hatte, mit seinem Aufstehversuch: „Wozu ist so eine Milz eigentlich gut?“ und der Chirurg erklärte: „Die Milz hat beim Erwachsenen überwiegend zwei Aufgaben, die Speicherung und Vorhaltung der weißen Blutkörperchen, insbesondere der für die Immunabwehr wichtigen, und dann noch die Ausfilterung der alten roten Blutkörperchen. Sie ist sozusagen das größte Organ des lymphatischen Systems. In Kindertagen stellt sie sogar selber Blutkörperchen her, eine Aufgabe, die beim Erwachsenen vom Knochenmark übernommen wird. Die Immunabwehr nach einer Splenektomie ist lebenslang gestört. Außerdem wirkt die Milz wie ein Pufferspeicher und wenn sie bei Ausdauerleistungen vermehrt Blut brauchen, dann stellt sie das dem Organismus sofort zur Verfügung. Man kann ohne Milz zwar leben und alt werden, aber so ganz folgenlos ist das nicht, deshalb versuchen wir dieses Organ ja zu erhalten, obwohl es intraoperativ dadurch zu einem höheren Blutverlust, als bei der Splenektomie kommt.“


    Ben und Semir nickten-das war gut erklärt und beide hatten ehrlich gesagt, etwas Neues erfahren, das war nicht so geläufig dieses Wissen um die Aufgaben der Milz.
    „Und wie geht´s jetzt weiter?“ fragte Ben und der Chirurg sagte: „Wir werden sie weiterhin ruhig halten und engmaschig überwachen, um etwaige Komplikationen zu erkennen. Also vorerst mal Bettruhe und erst langsam ansteigende Mobilisation, wenn da Ruhe im Bauch herrscht. Dazu Atemgymnastik und dann muss ihr Organismus einfach das verlorengegangene Blut nach und nach ersetzen und das Netz einwachsen. Sie werden also noch eine ganze Weile noch unser Gast sein und bitte keine Experimente mehr!“ sagte er mit einem Augenzwinkern, räumte seinen Stuhl beiseite und verabschiedete sich. Ben bedankte sich für die Information und ließ dann den Kopf wieder aufs Kissen fallen, um über das Gesagte nachzudenken.

  • Nach einer Weile drehte er den Kopf zu Semir der ebenfalls mit ernstem Gesicht in seinem Bett lag. „Das war ganz schön knapp, meinst du nicht auch?“ fragte er und Semir nickte nachdenklich. „Ich glaube, ich muss Frau Krüger dankbar sein, dass sie mich hier im Krankenhaus so aufgeregt hat. Zuhause hätte mich so schnell keiner gefunden, das hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass ich ihr und der Schrankmann einmal wegen einer Suspendierung dankbar sein würde!“ Nun musste Semir doch ein wenig grinsen. So hatte er das noch gar nicht gesehen.


    Allerdings merkte er selber, dass ihn der Vormittag ganz schön mitgenommen hatte. Sein Kopf dröhnte und ihm war auch leicht übel. Als kurze Zeit später die Schwester ihm sein Mittagessen bringen wollte, bat er sie, es wieder mitzunehmen, weil ihm sofort kotzschlecht wurde, wenn er nur an Essen dachte. Die Schwester nickte, kam aber kurz darauf mit einer Taschenlampe wieder und leuchtete ihm in die Augen. Danach holte sie den Arzt, der dasselbe wiederholte. „Herr Gerkan, ich veranlasse jetzt ein Kontroll-CCT, damit wir eine Komplikation bei ihnen ausschließen können!“ informierte er ihn und nun sah Ben plötzlich angstvoll zu seinem Freund. „Semir was ist mit dir?“ fragte er, aber er bekam keine Antwort. Wenig später wurde sein Freund mit dem Bett, aber mit Infusion und Überwachungsmonitor zur Untersuchung gefahren und zurück blieb ein angstvoller Ben, der sich schreckliche Vorwürfe machte.


    Wenn er nicht Semir so ausgegrenzt hätte und gemeinsam mit ihm neutral an Jan Behler herangegangen und sachgerecht ermittelt hätte, dann wäre es zu diesem blöden Unfall gar nicht gekommen. Aber nein, er hatte beim Anblick seines Jugendfreunds und ehemaligen Bandkollegen die Gegenwart und die Realität völlig vergessen und war auch noch alleine zu Jan ins Hotel gefahren, als er schon einen Verdacht hatte, anstatt da Semir zu verständigen, damit sie das gemeinsam machten, wie sonst üblich. Als ihn Eva und Jan gemeinsam überwältigt hatten und im Bad an das Waschbecken gefesselt und geknebelt hatten, wäre er wohl dort bis zum nächsten Morgen, bis der Zimmerservice gekommen wäre, gelegen. Aber Semir hatte mit kriminalistischem Spürsinn herausgefunden, was Sache war und sich auf die Suche nach Behler und auch ihm gemacht. Während sie Jan und Eva verfolgt hatten, hatten sie zwar kurz über die Sache gesprochen und Semir hatte ihn über seine Ermittlungsergebnisse aufgeklärt, aber sie waren beide unaufmerksam und nicht bei der Sache gewesen. Dieses grenzenlose Vertrauen, das sonst ihre Zusammenarbeit ausgezeichnet hatte, hatte sie in dieser Situation verlassen gehabt und machte sie beide traurig und eben auch unkonzentriert. Nur deshalb war es zu diesem Bagatellunfall gekommen, der im Nachhinein so schlimme Folgen nach sich gezogen hatte.


    Ben erinnerte sich noch mit Entsetzen, als er plötzlich den LKW auf sie zurasen hatte sehen, aber bevor er nur in irgendeiner Weise hatte reagieren können, hatte die Zugmaschine sie erfasst und er war erst wieder zu sich gekommen, als der Rauch sich schon fast verzogen hatte. Diesen Anblick, als er Semir neben sich bewusstlos im Gurt hatte hängen sehen und sich nicht sicher war, ob er das überlebt hatte, würde er nie vergessen. Diese Ängste um seinen besten Freund hatten ihm ungeahnte Kräfte verliehen, er hatte sich abgeschnallt, war ausgestiegen und ums Auto herumgelaufen. Einerseits war er glücklich gewesen, als er noch einen Puls gespürt hatte, aber als er Semir dann nicht alleine aus dem Auto gebracht hatte, war die Verzweiflung über ihn hereingebrochen. Nichts machen zu können und warten zu müssen, bis die Feuerwehr seinen Freund geborgen hatte, war entsetzlich gewesen. Man hatte ihm eine Decke um die Schultern gelegt und aus der Entfernung, zurückgehalten von einem Sanitäter, hatte er zugesehen, wie die Semir mit dem Spreitzer aus dem völlig verbeulten und verzogenen Fahrzeugwrack befreit hatten. Danach hatten sie ihn auf den Boden gelegt und sofort intubiert. Er war ebenfalls ins Krankenhaus mitgenommen worden, allerdings vorne neben dem Fahrer sitzend, so dass er nur undeutlich mitgekriegt hatte, was die im Fond mit seinem Partner gemacht hatten. Er hatte schroff die Frage des Notarztes abgewehrt, ob er ihn untersuchen dürfe-der sollte sich gefälligst um Semir kümmern und nicht seine Zeit mit ihm verplempern-und war völlig verzweifelt vor den Türen der Notaufnahme stehengeblieben, wo sie ihn von seinem Freund getrennt hatten.


    Als dann Andrea angekommen war, völlig aufgelöst, hatte er sie zurückhalten und trösten müssen, sie war völlig zusammengebrochen, nach der Nachricht. Ewig hatten sie vor der Notaufnahme gewartet, bis sie endlich Auskunft gekriegt hatten, dass Semir nun auf die Intensivstation gebracht würde, er im Koma liege und man nicht wisse, ob und wann er aufwachen würde. Schon da war er von Schuldgefühlen zerfressen gewesen. Ohne seine Blödheit wäre das nicht passiert. Er hatte sich gar nicht getraut, Andrea die näheren Umstände zu erklären, so fertig war die gewesen.


    Auch um sich abzulenken, hatte er seine ganze Kraft dann in den Fall gesteckt, obwohl ihm das Frau Krüger eigentlich wegen Befangenheit untersagt hatte. Als er auf dem Dach zugesehen hatte, wie erst Eva von einer Polizeikugel, die eigentlich Jan gegolten hatte, tödlich getroffen worden war und dann Jan aus Rache statt dem Flugzeug von McConnor, den Polizeiheli vom Himmel geholt hatte, war er völlig entsetzt gewesen und hatte sich als Geisel nehmen lassen, obwohl Jan doch im Rollstuhl saß. Diese Polizistenkollegen hatten auch nur ihren Job getan und weil sie sich an seine Anordnung: Nicht schiessen! gehalten hatten, waren sie nun tot. Jan war nach den Begebenheiten in der Bank auch tot, aber diese Polizisten hätten nicht zu sterben brauchen. Schon wieder hatte er aus persönlichen Gründen eine Situation falsch eingeschätzt und andere hatten dafür bezahlt.
    Völlig verzweifelt ließ Ben nun den Kopf aufs Kissen sinken. Mann was war nur mit Semir, warum hatte der Arzt so besorgt gewirkt? Angstvoll und ungeduldig blickte er zur Tür, ob sein Freund nicht endlich zurückgebracht wurde.

  • Endlich öffnete sich die Schiebetür und Semir wurde hereingefahren. Man hatte das Bettkopfteil hochgestellt und er hatte eine Brechschale vor sich. Er hatte die Augen geschlossen und der Arzt und die Schwester, die den Transport begleitet hatten, wirkten sehr ernst. Man hängte den Transportmonitor und die Infusion wieder um und der Arzt sagte. „Gleich wird der Neurochirurg zu ihnen kommen und das weitere Vorgehen besprechen!“ Semir nickte müde, verzog aber dann das Gesicht vor Schmerz.


    „Semir, was ist mit dir?“ fragte Ben alarmiert. „Der wagte nicht einmal den Kopf zu drehen, weil es ihm sonst vor Kopfschmerzen den Schädel fast gesprengt hätte und sagte leise. „Ben, die haben beim CCT festgestellt, dass ich eine Hirnblutung habe, die wahrscheinlich sofort operiert werden muss!“ Während Ben noch versuchte das Gesagte zu verarbeiten, kam schon ein Arzt in grüner OP-Kluft, worüber er einen weißen Arztkittel gezogen hatte zu Semir und gab ihm die Hand.
    „Herr Gerkan, können sie mich verstehen?“ fragte er ihn. Semir sagte leise und tonlos nur: „Ja!“ und der Arzt fuhr schon fort. Gerade habe ich mir die CT-Bilder ihres Schädels angeschaut und muss ihnen leider mitteilen, dass sich der Verdacht des Stationsarztes bestätigt hat und sie ein sogenanntes arterielles epidurales Hämatom entwickelt haben. Das ist eine klassische Unfallfolge nach einem Aufprall mit dem Kopf und bedeutet, dass sich zwischen ihrem Gehirn und dem Schädelknochen ein Bluterguss gebildet hat. Das Problem bei der Sache ist, dass der an dieser Stelle nirgendwohin ablaufen kann und nun nach innen drückt und dem Gehirn Platz wegnimmt. Daher kommen auch diese starken Kopfschmerzen und die Übelkeit, das sind Hirndruckzeichen. Wir müssen nun baldmöglichst den Druck entlasten, denn sonst kommt es zu Hirnschäden, die dann vielleicht nicht mehr reversibel sind. Das bedeutet für sie, dass wir sie jetzt dann in Narkose trepanieren werden, also den Schädel eröffnen und dadurch den Bluterguss absaugen und das Gehirn so entlasten werden. Sie werden danach gleich wieder aufwachen und sie werden sehen, dann geht es ihnen besser!“ sagte er tröstend, als er sah, wie geschockt Semir auf diese Mitteilung reagierte. Der sagte nur kurz: „Meine Frau, kann die vorher noch kommen?“ aber der Arzt schüttelte den Kopf. „ Leider eilt es und wir werden sie zwar verständigen, aber wir können nicht warten, bis sie da ist.
    Wenn wir jetzt zuwarten, werden sie in Kürze bewusstlos und mit jeder Minute steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Spätfolgen zurückbleiben!“ „Dann muss es wohl so sein!“ sagte Semir schwach und schloss wieder erschöpft die Augen, die er krampfhaft versucht hatte offenzuhalten. Die Schwester war schon ins Zimmer getreten und hatte begonnen, ihm Gummistrümpfe anzuziehen und zückte dann den Rasierer, um Semirs Kopf kahlzuscheren. Es wurde nur kurz eine Einmalunterlage druntergelegt und dann fiel der Rest der sowieso immer spärlicher werdenden Haarpracht.


    Während der Neurochirurg schon in den OP vorausging, um sich vorzubereiten, brachte eine weitere Schwester Semirs Unterlagen und bevor er sich versah, wurde das Bett wieder gepackt, der Monitor und die Infusion umgebaut und die Fahrt in den Operationssaal ging los.
    Ben konnte nur noch kurz sagen: „Viel Glück!“ Semir erwiderte „Danke!“ und dann war das Bett wieder verschwunden. Zurück blieb ein verzweifelter Ben, der noch gar nicht fassen konnte, was er soeben gehört hatte. Hoffentlich konnte man Semir helfen! Was wäre, wenn er sterben würde, oder behindert bleiben würde? Die Minuten des Wartens zogen sich zu Stunden und plötzlich stand eine völlig aufgelöste Andrea vor ihm. „Ben, was ist mit ihm?“ fragte sie verzweifelt. Sie war ohne zu klingeln einfach nach dem Anruf der Klinik in die Intensivstation gestürmt, war zuerst in Semirs altes Zimmer gerannt, wo schon ein anderer Patient lag, dann in Bens voriges Zimmer gegangen, das ebenfalls wieder belegt war und war dann von einer verständnisvollen Schwester zu Ben geschickt worden, mit dem Versprechen, in Kürze zu ihnen zu kommen und ihnen Auskunft zu geben.
    Voll banger Sorge begann sie im Zimmer auf und abzulaufen, was Ben fast wahnsinnig machte. „Bitte Andrea, könntest du dich bitte hinsetzen!“ bat er matt, während sein Blutdruck vor Aufregung langsam anstieg. Andrea setzte sich endlich und dann kam auch schon die Schwester, gerade als Bens Monitor nun zu alarmieren anfing.

  • Mit routiniertem Blick erfasste sie die Situation und stellte zunächst einmal das Noradrenalin, das zuerst noch künstlich den Blutdruck hochgehalten hatte, aus. Im Moment hatte Ben so viel körpereigenes Nebennierenmarkhormon zur Verfügung, dass man da nichts künstlich zuführen musste. Allerdings war trotzdem der Blutdruck kurzfristig bei knapp 200 mm/Hg gewesen. Vorsichtig schob sie die Decke ein wenig zur Seite und schaute, was aus den Drainagen kam. Es war mehr, als bei ihrer letzten Kontrolle, aber noch nicht besorgniserregend viel. Sie beschloss zwar den Stationsarzt um einen erneuten Ultraschall zu bitten, aber vielleicht würde sich das von alleine wieder beruhigen, wenn der Blutdruck im Normbereich war. Als Ben schon ein wenig das Gesicht verzog, als nur die Zudecke seinen Bauch berührte, gab sie ihm sofort aus dem Perfusor einen Schmerzmittelbolus. Das Sufentanil hatte man auslaufen lassen und durch einen Piritramidperfusor ersetzt, denn das wirkte nicht so sedierend, wie das Sufenta, war allerdings auch schwächer in der Wirkung. Ben merkte zwar, wie die Schmerzen leichter wurden, aber er war nicht so abgeschossen, wie am Vormittag.


    Als die Schwester die bangen Blicke der beiden sah, die sich schreckliche Sorgen um ihren Mann und Freund machten, begann sie zu erklären, was bei Semir vorgefallen war.
    „Herr Gerkan hat bei dem Unfall ja ein sogenanntes Schädel-Hirntrauma erlitten. Im ersten CCT, das sofort nach dem Unfall gemacht wurde, konnte man keine Blutung erkennen, aber anscheinend wurde doch eine kleine Hirnarterie verletzt. Die hat nun langsam vor sich hingeblutet, ohne dass man das momentan von der Klinik her erkennen konnte. Das Zeitfenster für die Symptomatik ist zwar relativ lang, aber es gibt in der Medizin eben nichts, was es nicht gibt. Vielleicht ist auch sein Blutdruck, als wir ihn bei der Mobilisation nicht überwacht haben, ziemlich angestiegen und hat dazu geführt, dass ein Gefäß, das schon eine Weile nicht mehr geblutet hat, nun wieder aufgerissen ist. Auf jeden Fall befindet sich die Blutung nicht im Gehirn, sondern außerhalb der harten Hirnhaut und macht die Probleme eigentlich überwiegend wegen dem Druck, den es aufs Gehirn ausübt. Durch den Bluterguß kommt es zwangsläufig zu einer Schwellung des Gewebes und nachdem das Gehirn sich ja nicht nach außen ausdehnen kann, erhöht sich der sogenannte intrakranielle Druck. Die Symptome dafür sind Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen.


    Als Herr Gerkan heute nichts zu Mittag wollte, habe ich die Pupillen kontrolliert. Auffallend war, dass die eine Pupille grösser, als die andere war und träger reagiert hat, deshalb hat man sofort das Kontroll-CT des Schädels veranlasst, das unseren Verdacht dann ja bestätigt hat.
    Man muss nun sofort das Gehirn entlasten, damit es keinen Schaden nimmt und das geschieht gerade im OP. Das ist eine häufig durchgeführte Operation und hier in der Klinik haben wir viel Routine mit neurochirurgischen Eingriffen. Das Gute an so einer Blutung ist auch, dass man ja die Hirnhäute nicht eröffnen muss, sondern sich darauf beschränken kann, die Blutung abzusaugen, evtl zu trepanieren, oder schlimmstenfalls zu entdeckeln!“


    Nun sahen Andrea und Ben die Schwester völlig entsetzt an. Wie hörte sich das an-„entdeckeln!“ Andrea traute sich fast nicht zu fragen, aber nun wollte sie es doch genau wissen. „Wie läuft das ab?“ Die Schwester antwortete ungerührt; „Da zieht man die Kopfschwarte zur Seite, sägt einen Teil des Schädelknochens ab und nimmt ihn heraus. Wenn man dann die Blutung gestillt hat und das Grad der Hirnschwellung beurteilt hat, setzt man entweder das Knochenstück wieder ein, oder wenn die Hirnschwellung stark ist, lässt man es momentan draußen, hüllt es in feuchte Nährlösung und setzt es nach ein paar Tagen wieder ein. Ins Gehirn kommt dann eine Hirndruckmesssonde, die die Druckverhältnisse anzeigt. Aber Herr Gerkan war nicht so schlecht, ich denke eher nicht, dass das gemacht werden muss.“
    Nun fragte ein mitgenommener und geschockter Ben leise: „Und, kann man sowas folgenlos überleben, oder bleibt da was zurück?“ Die Schwester zuckte nur mit den Schultern und verließ das Zimmer, um den Stationsarzt wegen dem Ultraschall zu holen.

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